Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.
MOMENT: In Umfragen spricht sich regelmäßig eine Mehrheit für höhere Besitzsteuern aus. Politisch scheitert es jedoch immer wieder. Gibt es überhaupt einen signifikanten politischen Willen dafür?
Florian Fastenrath: In öffentlichen Umfragen stimmt eine sehr große Mehrheit zu, Vermögenssteuern wieder einzuführen. Der politische Wille dafür ist auch da. Das haben alle Politiker.innen, mit denen wir gesprochen haben, sehr authentisch zum Ausdruck gebracht. Warum die Vermögenssteuer dennoch nicht durchgesetzt wird? Die von uns interviewten Politiker:innen sind überzeugt, dass es eine große Zustimmung dafür gibt, das Thema aber für viele Bürger:innen nicht wahlentscheidend genug ist.
Umfragen kommen auch zu unterschiedlichen Ergebnissen, wenn es von allgemeinen Fragen zu höheren Steuern für Reiche zu konkreten Steuerformen geht. Bürger:innen haben teilweise das Gefühl selber davon betroffen zu sein. Politiker:innen haben den Eindruck, dass offensive Steuerpläne negative Folgen für sie hätten. Sie berichten uns, dass man mit Steuererhöhungen zwar keine Wahlen gewinnen kann, aber durchaus welche verlieren.
Dazu gibt es in den progressiven Parteien, die Vermögen höher besteuern wollen, nicht immer eine einheitliche Linie. Während sich beispielsweise die SPD im diesjährigen Wahlkampf sehr geschlossen für die Vermögensteuer einsetzte, war es in der Vergangenheit so, dass der linke Parteiflügel dafür war, der pragmatische eher dagegen votierte. Das liegt auch daran, dass das Umsetzungspotenzial als eher gering eingeschätzt wird, da Steuergesetze in Deutschland zustimmungspflichtig sind. Dies bedeutet, dass auch eine Mehrheit im Bundesrat erforderlich ist, die derzeit aufgrund der vielen CDU-Beteiligungen an Landesregierungen nicht zu erwarten ist. [...]
Aufgrund der unterschiedlichen Traditionen und Identitäten der Parteien sind sie in Bereichen wie der Steuerpolitik sehr ungleich aufgestellt. Politischer Nachwuchs tritt in linke Parteien eher ein, um sich um Arbeit und Soziales zu kümmern und weniger um Finanzfragen. Bei den Konservativen gibt es Wartelisten dafür, in die Finanzausschüsse zu kommen. Mitte-Links Parteien suchen dafür händeringend Leute. Da die Steuerpolitik nicht das Herzensthema linker Parteien ist, gibt es auch deutlich weniger Politiker*innen, die hier die notwendige Sattelfestigkeit besitzen. (Andreas Bachmann, Moment)
Das Hauptproblem ist schlicht, dass diese Meinungsumfragen wertlos sind. Ich weiß gar nicht, wie oft ich das noch sagen soll, aber die Umfragen von "Wie stehen Sie zu Politik X" sind für den Popo. Im luftleeren Raum finden Wählende eine Menge gut, aber wenn es zur konkreten Wahl geht spielt es entweder keine Rolle für die Wahlentscheidung oder die vorherigen Zustimmungsraten lösen sich angesichts der parteipolitischen Polarisierung in Luft auf.
Mein Lieblingsbeispiel dafür sind das Ende des Afghanistaneinsatzes und die Einführung des Mindestlohns. Die LINKE und die Linke haben in den 2000er gebetsmühlenartig die Umfragen gewedelt, nach denen über 70% der Deutschen dafür waren, aber es gab halt keine Partei außer der LINKEN, die beides im Programm hatte. Half der Partei fuck all. Warum? Im Vakuum waren die Leute dafür, aber deswegen LINKE wählen? Bah. Genauso sind Leute im Vakuum für die Vermögenssteuer, aber wenn es konkret würde, lösten sich diese Zustimmungsraten in Luft auf.
Gleiches gilt übrigens für Steuersenkungen. Sind auch alle dafür, aber sobald es konkret wird, lösen sich diese Mehrheiten schnell auf. Es ist mehr das Versagen der linken Parteien, dass sie es oft nicht so gut schaffen, die Folgen (höhere Schulden oder Kürzungen) begreiflich zu machen, auch, weil ihre eigene Kommunikation so scheiße ist.
Und da sind wir dabei, dass keine Expert*innen in linken Parteien vorhanden sind. Das ist ein eigenes Problem, aber kein Grund dafür, diese Steuern nicht einzuführen. Seit wann schließlich ist für politische Maßnahmen Expertise erforderlich? Nein, wenn es den politischen Willen und den Druck gibt, dann kann man alles einführen, auch wenn man keine Ahnung hat. Das Problem erwächst eher daraus, dass keine konsistente Botschaft besteht, die auch nur einen oberflächlichen Debattenbeitrag von Hans-Werner Sinn überlebt.
Direktor des neuen Instituts ist Christoph Schaltegger, Professor und Dekan der Wirtschaftsfakultät der Universität Luzern. Schaltegger hat sich einen Namen als Hardliner gemacht: Steuern für Reiche, Schulden sowie Staatsausgaben müssten runter, fordert er auch in der aktuellen Coronapandemie. Als Geschäftsführer des Instituts hat er sich eine nicht minder radikale Stimme geholt: den Journalisten René Scheu, der über fünf Jahre lang das Feuilleton der NZZ mit Beiträgen gegen Political Correctness und vermeintliche «Cancel Culture» auf Kurs gebracht hat. Das Institut hat sich zum Ziel gesetzt, die Stimmbevölkerung in wichtigen Entscheidungen zu Sozialstaat, Steuern, Arbeitsmarkt oder öffentlichen Investitionen zu beraten. [...] Finanziell getragen wird das Institut von rund zwanzig Personen, verriet Schaltegger der NZZ. Sie werden jährlich bis zu drei Millionen Franken spenden, mit denen fünfzehn Vollzeitstellen finanziert werden. Wer diese Geldgeber:innen sind, bleibt jedoch geheim. [...] Ebenso einseitig wurde auch das Forschungspersonal des IWP besetzt. [...] Das IWP in Luzern ist allerdings lediglich die jüngste Bastion eines weitverzweigten Netzes [...] (Thomas Schwendener, Wochenzeitung)
Nicht, dass die noch eine Denkfabrik bräuchten. Gibt wahrlich genug von den Dingern. Ich lasse das hier hauptsächlich als Beleg dafür da, dass mitnichten "die Universitäten" irgendwie links sind. Das war noch nie so und wird nie so sein. Bestimmte Fakultäten klar; in Literatur, Theaterpädagogik und Kunstgeschichte etwa halten sich die Konservativen in Grenzen. Aber Jura und Wirtschaftswissenschaften waren noch nie Zentren linken Revoluzzertums. Roland Koch hat auch um 68 rum studiert, als Joschka Fischer noch Steine schmiss, und konnte ziemlich problemlos mit Anzug und Aktentasche in der stockkonservativen juristischen Fakultät Netzwerke bauen. Jura und WiWis sind und bleiben Kaderschmieden einer konservativen und liberalen Elite.
3) "Das sind Leute mit Gewalterfahrung" (Interview mit David Begrech)
ZEIT ONLINE: Welche Rolle spielt die Generation Bomberjacke der Neunzigerjahre?
Begrich: Es ist erstaunlich, zu sehen, dass die fast alle wieder da sind. Ich habe in Magdeburg, aber auch in anderen Städten, frühere Führungsleute der rechtsextremen Szene gesehen. Die sind jetzt Mitte vierzig, Anfang fünfzig – und merken, ihre Zeit ist da. Ein Momentum ist entstanden, ganz ähnlich wie in den Neunzigern. Das liegt auch daran, dass dem jedenfalls bisher keine Grenzen gesetzt werden. Und so treten sie auch gegenüber der Polizei auf. Etwa in Magdeburg, wo rechtsextreme Hooligans dieses Alters eine unangemeldete Demo von mehr als 3.000 Leuten angeführt haben. Das sind Leute mit Gewalterfahrung, die austesten, wie weit sie gehen können. [...]
ZEIT ONLINE: Bei den Pegida-Protesten wurde die Polizei noch von den Rednern bei jeder Gelegenheit als Verbündete gefeiert. Ist das jetzt anders?
Begrich: Es gibt bei den Aufmärschen den permanenten Appell an die Polizei, sich auf die Seite der Demonstrierenden zu stellen – "solange dafür noch Zeit ist". Das ist die gleiche Rhetorik, wie wir sie 1989 erlebt haben. Dieses "solange dafür noch Zeit ist" ist ja im Grunde eine Drohung. Ihr Subtext: Wenn wir an die Macht kommen, werdet ihr zur Rechenschaft gezogen. Die Überzeugung derjenigen, die auf die Straße gehen, ist ja tatsächlich, dass der Zeitpunkt dieses Umsturzes nicht mehr fern ist. Das ist eine politische Endzeiterwartung, wie wir sie schon bei Pegida erlebt haben. [...]
ZEIT ONLINE: Reagieren die Behörden adäquat darauf?
Begrich: Die Polizei hat immer noch große Schwierigkeiten, Leute einzuordnen, die nicht ihrem klassischen Feindbildraster entsprechen. Wenn Mülltonnen auf die Straße geschoben und angezündet werden, ist die Sachlage klar. Bei den derzeitigen Protesten aber laufen vorn rechtsextreme Hooligans, in der Mitte die Mitte Vierzigjährigen in bürgerlicher Kleidung und dahinter kommen dann die Muttis mit den zehnjährigen Kindern. Polizeiführer sind es gewohnt, nach Delinquenz Ausschau zu halten, nach Extremisten und nach Straftätern. Das Ergebnis ist oft, dass die Demonstranten trotz Verbots oft einfach erstmal laufen dürfen. (Christian Bangel, ZEIT)
Mittleres Alter ist kein Hinderungsgrund für Extremismus, das ist sicher richtig. Warum sollten die auch plötzlich ihre Sozialisierung verlieren? Klar, die übliche Straßengewalt kommt eher von frustrierten jungen Männern, das war schon zu allen Zeiten so, aber gerade in diesen verlorenen Regionen gibt es durchaus auch ältere Leute, die dieses Muster erfüllen. In den richtigen Strukturen kann ich auch mit 50 noch gewalttätig und aktiv sein, man denke nur an Bikerclubs.
Wie gut geeignet klassische Polizeimethoden sind, um dem Herr zu werden, weiß ich nicht. Selbst wann man die offenkundige Sympathie gerade der sächsischen Polizei für diese rechtsextremen Milieus außer Acht lässt und annimmt, dass sie mit derselben Energie gegen Rechte vorgehen würden wie gegen Linke - die Polizeimethoden, die auf Demos gegen Linke eingesetzt werden, beruhen ziemlich auf Gewalt und eskalieren regelmäßig - natürlich auch, weil selbige Linke die Eskalation aktiv suchen, aber es ist nicht so, als hülfe die Polizeitaktik da. Und es ist nicht eben so, als wären die Rechten weniger eskalationsbereit, die lässt man nur im Gegensatz zu den Linken gewähren.
Nein, wenn man die Polizei rufen muss, um rechte Gewalt in den Griff zu bekommen, ist das Kind schon in den Brunnen gefallen. Diese Strukturen müssen vorher aufgebrochen werden, und dafür braucht es entsprechendes Investment, sowohl an professionellem Personal (Sozialarbeiter*innen etc.) als auch zivilgesellschaftlichem Engagement. Nur, wo soll das herkommen?
4) Fünf hervorragende Nachrichten aus diesem Jahr
Der Siegeszug der erneuerbaren Energien ist nicht mehr aufzuhalten, auch wenn man, sah man sich deutsche Wahlkampfdebatten an, einen anderen Eindruck bekommen konnte. [...] Für Länder mit weniger Möglichkeit, Wasserkraft zu nutzen, ist die wichtigste Nachricht aber: Die Preise für Wind- und Solarstrom fallen noch immer exponentiell – es könnte allerdings sein, dass die aktuelle Ressourcenknappheit diese Beschleunigung in den nächsten Jahren abbremst, warnt die IEA. Trotzdem sind Wind- und Solarstrom in weiten Teilen der Welt die billigste Form der Energieerzeugung. Die IEA erwartet, dass zusätzliche Kapazität zur Stromerzeugung weltweit bis 2026 zu 95 Prozent auf erneuerbare Energien zurückgehen wird, mehr als die Hälfte davon durch Fotovoltaik. [...] Biontech versprach dieses Jahr, einen noch wirksameren Impfstoff gegen Malaria zu entwickeln, wieder auf mRNA-Basis, und auch Curevac forscht an mRNA-Impfstoffen gegen die Krankheit. Vakzine und Medikamente, die auf dieser neuen Technologie basieren, werden die Medizin in den kommenden Jahren dramatisch verändern. An der Yale University in den USA etwa wurde dieses Jahr ein Kandidat für einen mRNA-Imfstoff gegen Borreliose und andere durch Zecken übertragene Krankheiten entwickelt, Biontech selbst verspricht mRNA-Medikamente gegen Krebs und Impfstoffe gegen diverse Infektionskrankheiten, darunter Tuberkulose. Und noch eine weitere Menschheitsgeißel wird demnächst womöglich endlich mit Impfstoffen bekämpft werden können, wenn auch mit herkömmlicheren Methoden: das HI-Virus, das Aids auslöst. (Christian Stöcker, SpiegelOnline)
Marcel Fratzscher aus der ZEIT hat weitere gute Nachrichten auf Lager. Ich hab zwei Gedanken zu den zitierten Auszügen.
Erstens bin ich bei Stöcker, dass das Potenzial der Erneuerbaren deutlich unterschätzt wird. Deutschland wird glaube ich noch ziemlich dumm aus der Wäsche gucken, wenn andere Volkswirtschaften da davonziehen und die Früchte eines rechtzeitigen Breiteninvestments ernten, das wir so mutwillig weggeschmissen haben, nachdem wir in den frühen 2000er Jahren noch weltweit führend waren. Eine weitere Hinterlassenschaft der Merkel-Ära und eines großen CDU-SPD-FDP-Konsens'.
Zweitens ist die Aussicht auf einen AIDS-Impfstoff etwas, das angesichts der mittlerweile vergleichsweise guten Medikamente nicht mehr den oooomph von noch vor 15 Jahren hat, aber ich glaube, es ist generell unterschätzt welche Auswirkung AIDS auf die Gesellschaften weltweit hatte, auf das Sexualleben. Wenn AIDS tatsächlich weggeimpft werden könnte, würden Kondome vermutlich drastisch an Beliebtheit verlieren - und umgekehrt vielleicht die "Pille für Männer" kommen. So oder so könnte es zu einer Umwälzung der Sexualmoral führen, wie es die AIDS-Epidemie in den 1980er Jahren auch tat.
5) Wenn der Mitmensch nur noch als latente Gefahr betrachtet wird
Können Sie sich noch an Aids erinnern? Das Virus tauchte in den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts auf – wie eine dunkle, bedrohliche Wolke am Horizont der modernen Gesellschaften. Zunächst wusste man wenig: eine tödliche Sexseuche? Wer erkrankte daran, und wie waren die Übertragungswege? Konnte man einen Aids-Kranken ohne Risiko in den Arm nehmen? Traf es nur schwule Männer? Gab es irgendeine medizinische Abhilfe? Manche extrem konservativen Christen betrachteten Aids als eine Art göttliche Strafe für eine allzu permissive Gesellschaft. Die meisten Menschen sahen das glücklicherweise anders. Lernten etwas über die Krankheit. Umarmten Aids-Patienten – weil das tatsächlich ungefährlich ist. Der Staat betrieb gesundheitliche Aufklärung und warb für Kondome: „Gib Aids keine Chance!“ Niemand, wirklich niemand, nicht einmal die reaktionärsten Kräfte, kamen auf den Gedanken, zum Schutz vor Aids Sex zu verbieten und das von der Polizei kontrollieren zu lassen. [...] An den vergangenen Weihnachtstagen wurde besonders deutlich, wie sehr klassisches Gottvertrauen und Nächstenliebe durch moralischen Rigorismus und zwischenmenschliches Misstrauen verdrängt worden sind. Feiern wurden abgesagt, Ungeimpfte ausgeladen, alte Eltern blieben unbesucht – die Angst vor Ansteckung und die Angst davor, was die Nachbarn sagen könnten, hielten sich bei den Begründungen die Waage. (Susanne Gaschke, Welt)
Die Hervorhebung in kursiv und fett ist im Originalartikel von Gaschke. Bevor sie das schrieb, hätte sie - oder vielleicht ein* weniger im Tugendfuror und moralinsauren Ideologiesumpf steckender Lektor*in - einmal gegenchecken sollen. Denn die Reaktionären unter Gauweiler und Strauß taten damals genau das. Ebenso wie Gaschke und der Rest der Springerpresse versanken sie im Moralisieren, zwangen ihre Moral durch staatliche Zwangsmaßnahmen einer schutzlosen Minderheit auf. 2017 erschien in der SZ ein Artikel über jene Zeit. Polizisten stürmten Saunas, verlangten Auskunft, wer mit wem Sex gehabt hatte, stellten Verdächtige bewusst in der Öffentlichkeit bloß. Die Politik, allen voran Gauweiler, der große selbstinszenierte Kämpfer für das Grundgesetz, trieb eine massive Hetzkampagne voran, die die AIDS-Kranken in den Untergrund trieb und maßgeblich zur Verbreitung der Krankheit beitrug - genauso wie zeitgleich die evangelikalen Radikalen im Weißen Haus, die in den USA die AIDS-Pandemie aktiv verschlimmerten. Dass Gaschke davon nichts wissen will, ist nachvollziehbar. Ihre Moral Panic beruht wie die gesamte Linie ihres Konzerns darauf, das nicht zu wissen. Und wenn der Lebensunterhalt davon abhängt, Dinge nicht zu sehen und nicht zu wissen, dann sieht und weiß man die nicht.
6) Lufthansa kündigt 18.000 Leerflüge an - Grund ist eine absurde EU-Regelung
Corona beutelt den Luftverkehr einmal mehr, diesmal ist es die Variante Omikron, die zu kurzfristigen Umplanungen zwingt. Daher wird die Lufthansa im Winterflugplan deutschlandweit 33 000 Flüge streichen. Besonders im Zeitraum Mitte Januar bis Februar beobachte man „einen scharfen Abriss in den Buchungen“, berichtet eine Sprecherin gegenüber unserer Zeitung. Es wären vermutlich noch weit mehr Flüge, die die Lufthansa nicht durchführen würde, wenn es nicht das Problem mit den Slot-Rechten geben würde. Slots sind feste Zeitfenster für Starts und Landungen, die der deutsche Luftfahrtkoordinator, eine Behörde des Bundes, den Luftfahrtgesellschaften zuteilt. Werden sie nicht wahrgenommen, verfallen diese Rechte – es gilt das Prinzip „use or loose“ (nutze es, oder verliere es). Das führt zu einer aberwitzigen Entwicklung, die Lufthansa-Chef Carsten Spohr gegenüber der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ beklagt hat: „Wir müssen im Winter 18 000 Flüge durchführen, nur um unsere Start und Landerechte zu sichern.“(Dirk Walter, Merkur)
Beknackte Regelungen wie diese sind echt ein Ärgernis. Das wäre einmal mehr die große Hoffnung, die ich gerade in die FDP habe. Smarte Regulierungen statt doofe Regulierungen. Oder übersehe ich einfach nur die versteckte Brillanz der Slot-Regelung? Mag ja auch sein. Aber so ist das Resultat, dass wir der Lufthansa Milliarden an Corona-Hilfen in den Unternehmenspopo pusten, damit die Leerflüge durchführt und CO2 in die Luft haut, was jetzt nicht unbedingt der Sinn der Übung sein sollte.
7) Warum wir sie nicht retten konnten
Doch Deutschland besitzt keine nennenswerte Wasserkraft, und die Kernkraft schafft es ab. Der Atomausstiegsplan von 2011 wird gnadenlos durchgezogen. Geboren wurde er in einem Zustand kollektiver Panik nach Fukushima, die auch das im Normalbetrieb nüchterne Kalkül der damaligen Kanzlerin Angela Merkel hinwegfegte. Vollendet wird er nun von einer Regierung, in der Ideologie über Klimapragmatik gestellt wird. Man peitscht den Plan durch – die Grünen können gar nicht anders, weil am Antinuklearismus ihre politische Identität hängt. Man peitscht den Plan durch – nicht, weil man ihn wirklich plausibel begründen könnte, sondern weil es der einzige Plan ist, den man in dieser ansonsten planlosen Energiewende hat. [...] Um es gleich vorauszuschicken: es gibt kaum eine maßgebliche Akteursgruppe in Deutschland, die daran nicht eine Mitschuld trüge, und es sind nicht nur die Grünen und die Anti-AKW-Bewegung als übliche Verdächtige. [...] Im heutigen Klimadesaster hängen sie also alle drin, von ganz links bis zur CSU. [...] Nicht besser wird es dadurch, dass die immer lauter werdenden Befürworter der Kernenergie es in Teilen nicht besser machen. Tumbes Grünen-Bashing, hanebüchen faktenbefreite Urteile über die Potenziale der Erneuerbaren Energien, Blackout-Angstmache, Liebäugeln mit autokratischen Regimes, die Kernenergie nutzen – alles ist dabei. Hass frisst Hirn auf beiden Seiten. Distanzierungsleistungen sind auf beiden Seiten leider kaum festzustellen. (Anna Veronika Wendland, Salonkolumnisten)
Ich will mich an der Stelle nicht zum Erhalt bestehender Atomkraftwerke äußern; die Diskussion hatten wir letzthin ja eh. Mir geht es um drei andere Aspekte.
Erstens wäre, dass der Neubau von Atomkraftwerken eine Idiotie sondersgleichen ist, wie man an einem französischen Projekt gerade sehen kann (EDF: Bau des Atomkraftwerks Hinkley Point C verzögert sich und wird teurer). Atomkraft war auch noch nie günstig; ohne massive staatliche Subventionen konnte sie nie existieren. Das allein macht sie nur für bestehende Kraftwerke diskutabel.
Zweitens ist sie bei weitem nicht so zukunftssicher, wie von ihren Befürworter*innen gerne behauptet wird. Sie ist nämlich ziemlich anfällig gegenüber dem Klimawandel; einerseits stehen die Dinger gerne an der Küste, andererseits an Flüssen, weil sie auf das Wasser zur Kühlung angewiesen sind. Wenn aber dank Klimawandel Meeresspiegel steigen und Flusspegel wilder fluktuieren, kann das die ganze Funktionsweise mächtig durcheinander wirbeln.
Drittens ist der im Artikel genannte politische Aspekt. Ja, die Grünen haben sich in eine politische Sackgasse manövriert, aber da sind sie, wie im Artikel erwähnt, in guter Gesellschaft mit allen anderen deutschen Parteien. Es war ein kollektiver Blindflug, von der Dauerblockade durch Union und FDP zur Kohlefreundschaft der SPD, bei der jeder sein Steckenpferd durchsetzen konnte und am Ende das schlechteste aus allen Welten zusammenkam: homöopathische Erneuerbare, massive Stromkohleerzeugung und Atomausstieg. *slow clap*
8) Why Americans Are More Afraid Than They Used to Be
For one thing, fear doesn’t exist in a vacuum–larger cultural forces have a way of influencing how people respond to questions. “If you think that the society around you expects courage, you may be scared as the dickens but you’re not going to say it to a pollster,” says Peter Stearns, author of American Fear: The Causes and Consequences of High Anxiety. “Currently, fear has become in some ways slightly fashionable, so maybe people are even exaggerating a little bit.” There are also differences in threats that can affect how people perceive fear. For example living through the Cold War, with its constant specter of nuclear attack, required an ability not to live in a perpetual state of fear in order to function, Stearns notes. The last decade, by contrast, has seen a steadily high level of fear punctuated by jarring spikes, rather than a gradual acculturation. Another notable difference today is that many people feel that they may have to confront threats on their own. The attack on Pearl Harbor wasn’t so scary because even people who disagreed with Roosevelt’s policies largely believed that the U.S. military could defend the nation and eventually win the war. (Lily Rothman, TIME)
Das Argument, dass es einfach modisch ist, Angst zu haben, mag durchaus eine Rolle spielen, und auch, dass die Bedrohungen so irreal sind - im Gegensatz zur realen Bedrohung des frühen Kalten Krieges - ist ein Paradox, das hier durchaus Erklärungsgehalt hat. Ich halte aber das Kabelfernsehen für einen Hauptverantwortlichen, den der Artikel überhaupt nicht nennt. Medial hat der Aufstieg der 24/7 "Berichterstattung" einen riesigen und immer noch weitgehend unterschätzten Wandel hervorgerufen, vom Aufstieg von FOX News einmal ganz abgesehen. Beides zusammen ist der Elefant im Raum, um den immer herumgetanzt wird.
9) "Trumps Popularität war immer ein Mythos" (Interview mit David Frum)
Ex-Präsident Donald Trump ist zurück auf der politischen Bühne, hält Wahlkampfreden, gibt fleißig Interviews. Die wohl wichtigste politische Frage der nächsten Jahre lautet: Tritt er noch mal an?
Wenn seine Gesundheit es mitmacht, macht er es. Aber selbst wenn er kandidiert, wird er vor demselben Problem stehen: Die meisten Amerikaner finden, er sollte kein Präsident sein.
Über 74 Millionen Menschen wählten ihn 2020.
Und 82 Millionen wollten ihn nicht. Das ist ein deutlicher Abstand. Trumps Popularität bei den Leuten war immer auch ein Mythos. Wenn man die letzten sechs US-Präsidentschaftswahlen nimmt, hat Trump den geringsten relativen Stimmanteil von allen Kandidaten eingefahren, egal ob Demokrat oder Republikaner. Die einzige Ausnahme war John McCain 2008. Während seiner Präsidentschaft gab es keinen einzigen Moment, wo Trump in Umfragen auf eine Zustimmung von über 50 Prozent kam. [...]
Sie meinen die Sprechchöre der Trump-Anhänger während der Erstürmung des Kapitols am 6. Januar 2020. "Hängt Mike Pence" riefen sie unter anderem, weil dieser sich weigerte, bei Trumps Sabotage des Wahlergebnisses mitzumachen.
Republikaner nennen diese Leute, die vermummt und mit Kabelbindern in die Herzkammer der US-Demokratie gestürmt sind, mittlerweile "großartig". Oder Ashli Babbitt, die beim Sturm auf das Kapitol erschossen wurde: Trump hat sie jüngst als "unschuldige und fantastische" Person bezeichnet, kein Republikaner widersprach. Im Gegenteil: Babbitt wird mittlerweile als Märtyrerin aufgebaut, die für die gute Sache starb. Wie eine amerikanische Version von Horst Wessel. (Daniel Mützel, T-Online)
Es ist immer wieder wichtig darauf zu verweisen, dass die Republicans und Trump ein Minderheitenregime sind. Zu keinem einzigen Zeitpunkt konnten sie mehrheitliche Zustimmungsraten vereinigen, niemals kamen sie auch nur ansatzweise an eine demokratische Mehrheit der Bevölkerung. Sie können Wahlen gewinnen, weil die USA ein Wahlsystem haben, das Minderheitsregierungen massiv bevorzugt - das war in der Konstruktion der Verfassung so angelegt, von Anfang an, und zieht sich wenig überraschend bis heute durch. Dass ich völlig bei Frum bin, was die protofaschistischen Tendenzen der GOP anbelangt, ist glaube ich mittlerweile eh bekannt. Wenn man sieht, mit welcher Geschwindigkeit die sich radikalisieren, das ist echt beängstigend.
Lindner ist nun klug genug, die Fotoshootings vorm Eiffelturm beim Staatsbesuch in Paris Annalena Baerbock und den Grünen zu überlassen. Stattdessen ist der FDP-Chef nun Herr über viele Geldtöpfe und kann die Fiskalpolitik nach eigenen Vorstellungen gestalten. Und das heißt Steuersenkungen. Um 30 Milliarden Euro will er Bürger und Unternehmen in der aktuellen Legislaturperiode entlasten, sagte Lindner der Bild am Sonntag. Beispielsweise werde man künftig die Beiträge zur Rentenversicherung voll von der Steuer absetzen können. Auch die EEG-Umlage auf den Strompreis werde abgeschafft. Doch das ist nicht alles. 40 Milliarden Euro sparen Unternehmen nach Berechnungen des DIW-Wirtschaftsinstituts in den kommenden Jahren zusätzlich – mit der „Superabschreibung“ auf Klimaschutz- und Digitalisierungsinvestionen. Ein großzügiges Geldgeschenk für die eigene Unternehmer-Klientel. Sparen sollen dagegen die anderen. Die Spielräume seien eng, die anderen Kabinettsmitglieder sollen „ihre Vorhaben priorisieren“. Das heißt vermutlich unter anderem: Höhere Hartz-IV-Sätze und eine auskömmliche Kindergrundsicherung könnten dem Rotstift zum Opfer fallen. [...] Es ist genau die FDP-Klientelpolitik, für die die Partei seit jeher kritisiert wird. In Sachen Bürgerrechte knickt die vermeintliche Freiheitspartei dagegen ein. Er sei, so Lindner, nicht mehr prinzipiell gegen eine Impfpflicht. (Jörg Wimalasena, taz)
Ich finde es ja gut, dass Lindner zu einer verantwortungsvollen Corona-Politik gefunden hat, seit er im Kabinett sitzt. Aber Wimalasena hat natürlich Recht, wenn er darauf verweist, dass die hehren liberalen Prinzipien als erste geopfert werden, während Steuergeschenke für die eigene Klientel genauso wie 2009 die höchste Priorität haben. Es ist auch ein Bruch der Abmachungen innerhalb der Koalition, die klar die Linie "keine Steuersenkungen" ausgegeben hat. Ich bin gespannt, ob Lindner damit durchkommt (er verkündet das ja ziemlich klar als "das wird kommen") oder ob er Pushback bekommt. Solche Sabotageakte innerhalb der eigenen Koalition sind kein gutes Zeichen. Das ist keinesfalls FDP-exklusiv, diese Showeinlagen machen alle. Lindner trumpft nur wesentlich größer auf, weil er es sich zumindest bisher leisten konnte. Frage ist, ob er irgendwann den Bogen überspannt.
11) Wir stellen die falschen Fragen
Stellen Sie sich vor, Sie hören, wie eine hochseriöse Journalistin in einem hochseriösen Programm eines hochseriösen Radiosenders zu einer hochseriösen Sendezeit einem hochseriösen Politiker eine Frage stellt, die eine Prostituierte ihrem Freier stellen könnte: „Was macht das mit Ihnen?“ [...] Mittlerweile trifft man diese Frage überall da, wo das Geschäft mit Fragen gemacht wird: „Impfgegner organisieren sich im Netz. Was macht das mit der Gesellschaft?“ (Das Erste) – „Weihnachten online – was macht das mit uns?“ (Der Tagesspiegel) – „Die Städter ziehen aufs Dorf. Aber was macht das mit dem Land?“ (FAZ) … Und auch die entsprechende Antwort wird inzwischen wie eine Nachricht behandelt: „Die taz-Fotografin Marily Stroux wurde 28 Jahre lang vom Hamburger Verfassungsschutz observiert. ‚Das macht was mit mir‘, sagt sie.“ [...] Politiker aber werden für das Preisgeben innerer Zustände weder gewählt noch bezahlt. Sondern dafür, dass sie ihren Job machen. Werden sie als Menschen mit Gefühlsleben befragt, nimmt man sie aus ihrer Verantwortung. Nicht, was etwas mit ihnen macht, sondern was sie selbst machen, ist das, was wir von ihnen wissen wollen sollten. [...] Vielleicht wird auch einfach viel zu viel gefragt: Tausend Talkshows, tausend Podcasts – ständig wird irgendwer zu irgendwas befragt, und man fragt sich schon, wann die Leute eigentlich was machen, wenn sie ständig darüber reden, was das mit ihnen macht. Dabei ist die Frage als solche, also der Interrogativsatz, ein Gut von höchstem Wert. Man sollte sie auch so behandeln. Als ein Objekt mit Würde. Denn nur, weil es heißt, dass es keine dummen Fragen gäbe, ist nicht ausgemacht, dass diese Aussage einer wissenschaftlichen Überprüfung standhalten würde. (Doris Akrap, taz)
Ich weiß nicht, wie so viele Leute es schaffen, die Polittalkshows von Anne Will und wie sie alle heißen anzuschauen; ich kann da keine Minute zusehen, ohne aggressiv zu werden ob der schon fast offensiven Weigerung, irgendwelche Neugier über andere Positionen oder die eigentlichen Themen an den Tag zu legen. Die professionellen Talkshowgäste haben das Format mittlerweile so verinnerlicht, dass sie ohnehin nur noch in Dominanzritualen und gegenseitigen Unterbrechungen operieren, und die Talkshowmoderator*innen sind Profis darin, zuverlässig das Thema zu wechseln, sobald es interessant werden könnte. Leider ist das nicht auf Talkshows beschränkt, sondern betrifft große Teile der medialen Berichterstattung. Die von Akrap kritisierte Unseriosität des ganzen Geschäfts ist einfach furchtbar und für die Prozesse alles, aber nicht zuträglich.
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