Mittwoch, 28. August 2019

Sächsische Flüchtlinge werden im südchinesischen Meer von sozialistischen Großkoalitionären aufgesammelt - Vermischtes 28.08.2019

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Eine Idee vor dem Durchbruch?
Der Gründer der "Europäischen Stabilitätsinitiative" hat den EU-Türkei-Deal erfunden und Alternativen zur jetzigen Integrationspolitik entwickelt, nun reist er zwischen Afrika und Europa hin und her, um Unterstützer für seinen "Gambia-Plan" zu finden. Dieser sieht bilaterale Abkommen zwischen einem oder mehreren europäischen Staaten auf der einen und den Herkunftsländern der Migranten auf der anderen Seite vor: Europa hilft mit Geld und Know-how vor Ort, Lebensperspektiven zu verbessern und Fluchtursachen zu vermindern, und bietet zudem legale Wege zur Einwanderung in den europäischen Arbeitsmarkt. Im Gegenzug erklären sich die Herkunftsländer bereit, ihre irregulär nach Europa eingereisten Staatsbürger ab einem bestimmten Stichtag rasch zurückzunehmen. Knaus ist überzeugt: "Wir müssen den Herkunftsstaaten etwas anbieten, wenn wir wollen, dass sie mit uns kooperieren." Wenn sich der Deal herumspricht, meint er, würde der Flüchtlingsstrom versiegen. Um zu zeigen, dass es funktioniert, könnte das kleine westafrikanische Gambia als Modell dienen. "Der Plan wäre für alle Seiten eine Win-win-Situation", sagt Sozialdemokrat Fechner. Damit ließe sich das Leiden in libyschen Lagern und das Sterben im Mittelmeer beenden und die Gewinnung dringend benötigter Arbeitskräfte ebenso forcieren wie die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber und Krimineller. (Sigrun Rehm, Badische Zeitung)
Das größte Hindernis an allen dieser "Fluchtursachen bekämpfen"-Ideen ist es, dass sie völlig konträr zur jahrzehntelangen Praxis der Entwicklungshilfe laufen. Diese wurde fast immer vor allem als ein Investitionsprogramm für die heimische Industrie verstanden und war überwiegend entweder an strategischen Interessen ausgerichtet (gerade während der Zeit des Kalten Kriegs) oder eben an denen der Wirtschaft; Dirk Niebel hat in seiner unrühmlichen Amtszeit diesen Subtext ja sogar zum Text gemacht und die Entwicklungshilfe offen auf Subventionen für die deutsche Industrie umgestellt. Das Geschrei genau der Konservativen und Liberalen, die jetzt wortreich Fluchtursachenbekämpfung statt Rettung fordern, wenn man tatsächlich wie im obigen Plan beschrieben Gelder schickt, kann ich mir jetzt schon vorstellen. Was an dem oben beschriebenen Deal in jedem Falle der entscheidende Hebel ist ist das Schlüsselwörtchen "bilateral". Auf eine gesamteuropäische Lösung zu hoffen ist aktuell schlichtweg reine Träumerei. Weder sind die osteuropäischen Länder oder andere Rechtsausleger wie Finnland bereit, das mitzutragen, noch wäre Deutschland selbst bereit dazu, das hat man in den letzten Jahren hinreichend deutlich sehen können. Bilaterale Verträge haben daher den Vorteil, ohne die schwerfälligen EU-Institutionen auszukommen, die mangels klarer Auftragenübertragung hier ohnehin wenig handlungsfähig sind, und andererseits auf die konkreten Probleme des jeweiligen Landes eingehen können. Die Vorstöße sind daher sehr zu begrüßen.

2) How the US Could Lose a War With China
The question is what could actually cause the United States to fight China. What if China invades and occupies Taiwan, a democratic U.S. partner and arms customer? Would America actually risk World War III? What if China forces its claim to the Senkaku Islands, which the United States considers to belong to Japan? Does that fall within America’s treaty commitments to defend its ally? There’s no guarantee that a U.S. president, especially Trump, would resort to war in either case. But these are among the scenarios war-gamers at the Rand Corporation have studied to see if the United States could prevent China from claiming territory by force. It’s not clear that the U.S. could. Notably, the likeliest U.S.-China war scenarios take place in Asia—it’s not that a Chinese “victory” means the Chinese Communist Party takes over Washington, but that the U.S. can’t successfully eject China from Japanese-claimed territory or Taiwan. In an attempt to do so, besides cyberattacks, the United States could attack Chinese forces from the air or sea. The problem is that China has spent at least the past 20 years, partly informed by observations of how the U.S. conducted the Gulf War in the 1990s, preparing for exactly this kind of conflict, and investing in defenses that could violently thwart a U.S. approach. [...] “The Chinese don’t have to comprehensively defeat the United States militarily in order to achieve their near-term objectives,” David Ochmanek, a senior international and defense researcher at Rand, told me. “If their objective is to overrun Taiwan, that in principle can be accomplished in a finite time period, measured in days to weeks.” (Kathy Gilsinan, Defense One)
Die realen sicherheitspolitischen Bedrohungen, die in der kommenden Dekade auf uns zukommen, sind anhand solcher Beispiele erkennbar. Da die glaubhafte Drohung des nuklearen Weltkriegs nicht mehr existiert, wird regional begrenzte militärische Aktion selbst zwischen Großmächten zu einer realistischen Option. Und die US-Armee mag groß und mächtig sein, aber Chinas Aufrüstung hat es in die Lage versetzt, dem amerikanischen Riesen in seinem eigenen Hinterhof wenigstens einen empfindlichen Schlag zu verpassen. Gerade die Angreifbarkeit der Flugzeugträger wird schon seit Jahren beklagt. Für uns in Europa ist das wahrscheinlichste Szenario dieser Art der Konflikt mit Russland. Gerade die unklare Haltung der Bundesrepublik öffnet gefährliche Spielräume. Ist es denn sicher, dass die NATO tatsächlich die territoriale Integrität der Baltenstaaten verteidigen würde, wenn Putin beschließt, einen weiteren Mosaikstein in seinen Traum von der Wiedererrichtung des Sowjetimperiums einzubauen? Meinungsumfragen sprechen da eine dezidiert ambivalente Sprache, und Ambivalenz ist das Gift, das militärische Auseinandersetzungen erstrebenswert erscheinen lässt. Wir werden uns, ob wir wollen oder nicht, in den kommenden Jahren mehr solche Gedanken machen müssen - und dabei nicht wie früher auf uneingeschränkte US-Hilfe bauen können.

3) Wir sind Konsumnation
An dieser Stelle wird es kompliziert. Denn so unzweifelhaft die Erkenntnis ist, dass die Konsumsteigerung zu irreversiblen Folgeschäden führt, und so klar die Einsicht, dass insbesondere westliche Gesellschaften ihr Verbrauchsniveau signifikant senken müssten – die Konsumkritik umfasst in der Praxis dennoch eine Reihe fundamentaler Widersprüche, von denen viele sich kaum auflösen lassen. Es ist mittlerweile zwar im öffentlichen Bewusstsein angekommen, dass die Hochkonsumkulturen soziale und ökologische Verwerfungen nach sich ziehen. Aber das individuelle und kollektive Verbraucherverhalten ändert sich nur sporadisch. Es geht hier weniger um ein Erkenntnisdefizit als um ein Handlungsdefizit. Es stimmt zwar, dass es beispielsweise noch immer Skeptiker des Klimawandels gibt, allen voran Donald Trump, der bekanntlich gerade das Pariser Klimaabkommen aufgekündigt hat. Zumindest auf der Ebene des globalen Konsums dürfte das dennoch nicht das Hauptproblem sein. Ausschlaggebender ist heute vielmehr bloßes Desinteresse oder, vermutlich sogar noch häufiger, das Handeln wider besseres Wissen. [...] Sie kommt ab einem bestimmten Punkt nämlich nicht umhin, zwischen vermeintlich authentischen und künstlichen – das heißt: überflüssigen – Bedürfnissen zu unterscheiden, etwa zwischen dem Waldspaziergang auf der einen und dem Nachmittag vor der Playstation auf der anderen Seite. Ganz abgesehen davon, dass unklar bleibt, wer die Unterscheidung zwischen "richtigem" und "falschen" Konsum letzthin treffen sollte, läuft eine solche Form der Konsumkritik nicht selten dann doch auf die ökologisch kostümierte Reproduktion bürgerlicher Distinktionsbedürfnisse hinaus: Manufactum-Mittelschicht gegen Discounter-Proletariat. Was nicht zuletzt auch deshalb so bigott ist, weil es die Bedeutung vom "Trost der Dinge" unterschlägt. (Nils Markwardt, ZEIT)
Ich verstehe das völlig. Ich bin schamloser Konsumist; der von Markwardt angesprochene "Trost der Dinge" gilt ja nicht nur für die Unterschicht. Ich erfülle mir gerne und häufig Konsumwünsche, das ist einer der Hauptgründe, warum ich mehr arbeite als ich für den Lebensunterhalt müsste. Wer so tut, als sei Konsum etwas Verachtenswertes und Niederes, bedient dabei zwar diverse parallel laufende Narrative (Konsumverachtung ist ein merkwürdiges Ding, es findet sich von der sozialistischen Linken zur alternativen Linken zu den Konservativen zu Nazis; nur die Liberalen und Sozialdemokraten waren immer schambefreite Konsumfans). Und ja, diese Widersprüche sind unauflösbar, vor allem auf der Ebene des Privatkonsumenten. Ich habe mittlerweile Teile meines Konsums angepasst, um klimafreundlicher zu werden, aber wie in zahllosen Artikeln dieser Tage bereits bewiesen wurde, hat das kaum spürbaren Effekt. Es dient vor allem meiner eigenen moralischen Hygiene. Gerade aus meiner Position als Konsumfan heraus muss ich aber auch feststellen, dass das alles nichts hilft. Wir werden uns umstellen müssen. Es führt einfach kein Weg daran vorbei. Zu erwarten, dass Privatkonsumenten das stemmen, ist völlig absurd. Ohne tiefgreifende systemische Veränderungen geht gar nichts.

4) Wie Hefe in Deutschland
Nicht wenige Ostdeutsche haben ein zweispältiges Verhältnis zum Staat: In der DDR sorgte er zum einen über zwei Generationen hinweg für eine basale soziale Sicherheit. Daher rührt die verbreitete Erwartung, dass nicht der Markt, sondern der Staat aktuelle Probleme lösen solle. Zum anderen lebten viele DDR-Bürger in Distanz zum Staat. Skepsis gegen die „Obrigkeit“ war weit verbreitet, selbst unter SED-Genossen. Das Denken in Dichotomien des Nichtverstehens – „die da oben“ und „wir hier unten“ – war deshalb so prägend, weil die Ignoranz der Funktionäre gegenüber den Bedürfnissen und Problemen der Bürger der Theorie des Sozialismus so eklatant widersprach. [...] Sachsen, das nur kurzzeitig europäische Machtpolitik betrieben hatte, ansonsten aber durch Kunst und Gewerbe bekannt geworden sei, wurde für unzufriedene und kritische Geister zum Gegenentwurf und zum Vehikel der Distanzierung von einem Staat, dessen soziale Leistungen selbstverständlich geworden waren, dem man aber nie so richtig trauen mochte. [...] 1990 verstand der aus dem Westen kommende CDU-Spitzenkandidat Kurt Biedenkopf sofort, welches politische Kapital sich aus einem lebendigen sächsischen Regionalbewusstsein schlagen ließ. Sachsen war im Unterschied zu den neuen Bindestrich-Ländern des Ostens und dem 1920 aus Kleinstaaten zusammengefügten Thüringen das einzige Land, das sich annähernd glaubwürdig als historisches Kontinuum imaginieren und als Tradition erfinden ließ. [...] In Sachsen, wo die bayerischen und baden-württembergischen „Transformationspaten“ aus dem zutiefst konservativ und antikommunistisch geprägten Süden der alten Bundesrepublik einflogen, formte die CDU 1990 ein Denkmuster, das die politische Kultur lange prägen sollte: Duldung und Offenheit nach rechts, Feindbildrhetorik und scharfe Abgrenzung nach links. Der rechtskonservative Rand mit gelegentlich rechtsradikalen Tendenzen wurde toleriert, die Rechtslastigkeit von Polizei und Justiz kleingeredet. Noch im Jahr 2000, als sich in einigen Regionen des Freistaats längst eine gewaltbereite rechtsradikale Szene etabliert hatte und ganze Gebiete als „national befreite Zonen“ galten, verkündete Kurt Biedenkopf, die Sachsen seien von Hause aus dagegen „immun“. (Simone Lässig, FAZ)
Dieses insgesamt sehr lange Essay über die Kultur- und Mentalitätsgeschichte Sachsens ist in seiner Gänze empfehlenswert. Ich wollte vor allem obige Teile herausgestrichen wissen, weil sie mir bisher noch nicht klar waren. Die Erfahrung der DDR-Bürger mit dem Staat macht, wie das oben beschrieben wird, absolut Sinn. Aber das Klischee ist ja üblicherweise gerade Nähe zum Staat, die durch den Realsozialismus entstanden sein solle. Ebenso war mir der Aspekt der starken Regionalidentität Sachsens nicht so präsent. Da gibt es eine gewisse Parallele zu Adenauer, der für die BRD eine rheinische Identität in klarer Ablehnung vom vorherigen Preußen konstruierte. Und dann haben wir eben die Kehrseite der Medaille, nämlich die nachhaltige Stärkung des rechten Extrems. Für die Sachsen-CDU ist das so eine Strategie, die ziemlich lange funktioniert hat. Wie so oft mit solchen Strategien funktioniert es immer, bis es nicht mehr funktioniert, und dann kommt die Rechnung, mit Zinsen.

5) Lauter Verweigerer
Und doch trifft Grenells Schein-Drohung einen Punkt: Denn es stimmt, dass die Deutschen nicht einhalten, was sie zugesagt haben. Nicht beim Geld. Und nicht beim Versprechen, mehr Verantwortung zu übernehmen. Gleich bei zwei Nato-Gipfeln, 2002 und 2014, verpflichteten sich zwei Bundesregierungen, eine rot-grüne und eine große Koalition, die Militärausgaben bis 2024 "auf den Richtwert von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zuzubewegen", wie es offiziell heißt. Lange Zeit bewegten sich die Ausgaben aber nicht darauf zu, sondern davon weg. Schiffe, die nicht schwimmen, und Kampfjets, die nicht fliegen, prägen seitdem das Bild der Bundeswehr. [...] Bei der finanziellen Ausstattung der Bundeswehr geht es um eine Grundsatzfrage, über die in Deutschland erstaunlich wenig geredet wird: Welche Armee wollen wir eigentlich haben? [...] Die Straße von Hormus ist ein Nadelöhr des Welthandels und für die Exportnation Deutschland von zentralem Interesse. Dass die Briten von ihrer Idee eines militärischen Geleitschutzes unter dem Dach der EU Abstand nahmen und sich an einen US-Einsatz hängten, war in Berlin Anlass, jedes Nachdenken über ein Engagement der Bundeswehr zu beenden. Dabei wäre es viel besser, Deutsche und Franzosen würden eine eigene Mission zusammenstellen – und sich dann mit Amerikanern und Briten abstimmen. Trump beschimpfen und die anderen machen lassen, wenn es schwierig wird: Das ist eine Haltung, über die man selbst als wohltemperierter Europäer zum Grenell werden könnte. (Peter Dausend, ZEIT)
Dausends zentraler Punkt ist meines Erachtens nach die angesprochene Grundsatzfrage: Welche Armee wollen wir in Deutschland eigentlich haben? Wir bauen sie seit mittlerweile fast drei Jahrzehnten in Trippelschritten nach dem Motto "ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück" von der früheren Verteidigungs- zur Interventionsarmee um. Die Probleme darin, die seit 2001 offenkundig geworden sind - der Mangel an geeigneter Ausrüstung (oder überhaupt Ausrüstung), die fehlende Erfahrung, die starren Richtlinien, die mangelnden logistischen Kapazitäten - haben verhindert, dass das irgendwie sinnvoll passiert, aber umgekehrt wurde die Verteidigungsarmee weitgehend demobilisiert. Dass man solange an der zur Karikatur ihrer selbst gewordenen Wehrpflicht festhielt, verbesserte die Lage auch wenig. Ich bleibe dabei, dass die besten Aussichten zum Angehen dieser ganzen Problemkomplexe eine größere europäische Integration mit einer weitgehenden Aufgabenteilung ist. Das hat den zusätzlichen Vorteil, dass über langjährige Zeiträume selbst bei Auflösung der EU keine EU-Armee gegen die anderen eingesetzt werden kann, weil sie viel zu verflochten sind. Zudem spart es Geld und kann Synergieeffekte nutzen. Und dass die Deutschen eine komplette Interventionsarmee aufbauen, halte ich für werder erstrebens- noch erreichenswert.

6) Does Male Suffering Matter?
Do men suffer? Should anybody care when they do? Somehow these questions are part of an active and bitter debate about the status of men in modern society. A Gillette advertisement and new guidelines from the American Psychological Association sparked outrage by characterizing masculinity as largely or essentially “toxic.” It’s also controversial to suggest that male suffering can be the result of the exigencies and caprices of modern romantic dynamics. [...] Yang reminds us that male pain is, indeed, often overlooked. For instance, Yang writes of Asian men: “Maybe they were nerds, maybe they were faceless drones, but did anybody know they were angry? What could they be angry about?” [...] People don’t suffer as a pretext for hurting others; they hurt simpliciter, though they sometimes find no other way to express their suffering. People don’t, by and large, join and assist one another in order to develop a certain narrative of themselves. They do it because they feel called to, by the fully real other people with whom they’re dealing. Vulnerability, and recognizing the vulnerability of others, including of men, is not the symptom or the disease, nor one of Roupenian’s derivative monster figures. It’s the cure for the strange culture, so intricately networked and yet so hopelessly atomized, in which both these authors write and we all live. (Oliver Traldi, The American Conservative)
Der obige Auszug ist exemplarisch für das Problem, dass auf konservativer Seite häufig völlig missverstanden wird, was der Begriff "toxische Maskulinität" eigentlich meint. Aus eigener Erfahrung kann ich aber auch sagen, dass es wenig hilft, es zu erklären; das Missverstehen dieses Themas scheint bei manchen essenzieller Teil der eigenen Identität zu sein. Umso spannender ist, dass Traldi dann genau das beklagt, was auch die Kritik an toxischer Maskulinität ist: dass es Männern in unserer Gesellschaft nicht erlaubt ist, ihre Gefühle - vor allem Leid und Trauer - auszuleben. Die Problembeschreibung kommt ja tatsächlich vor allem aus dem konservativen Spektrum. Jungen sind in der Schule im Schnitt schlechter als Mädchen. Sie sind aggressiver. Sie können ihre Gefühle nicht ausleben. Und so weiter. Gleichzeitig verschließt man sich aber beharrlich der Erklärung dafür, sondern sucht die Ursache in den schrecklichen modernen Zeiten, die angeblich Männlichkeit nicht mehr wertschätzen, und hofft auf eine Rückkehr in ein früheres, besseres Zeitalter - das ja aber genau diese Probleme erst hervorgebracht hat.

7) GroKo hält viele Versprechen - punktet aber nicht beim Wähler
Demnach hat die Regierung aus Union und SPD in ihren ersten 15 Monaten zahlreiche Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag umgesetzt. 47 Prozent der Versprechen seien vollständig oder teilweise erfüllt, 14 Prozent "substanziell in Angriff genommen" worden. Das sei deutlich mehr als die - ebenfalls schwarz-rote - Vorgängerregierung zur Halbzeit geschafft hatte. [...] Die Autoren der Studie untersuchten 296 "echte Versprechen": Vorhaben, bei denen sich klar überprüfen lässt, ob sie umgesetzt wurden. Ihr Fazit: Die Bilanz der jetzigen Koalition sei "rekordverdächtig". Sollte die Regierung in ihrem jetzigen Tempo weiterarbeiten, könnte sie bis zum Ende der Legislaturperiode fast alle Versprechen eingelöst haben. [...] Von den 296 Wahlversprechen stammen der Studie zufolge 73 (etwa ein Viertel) aus dem Wahlprogramm der SPD und 32 (elf Prozent) aus denen von CDU und CSU. 46 Vorhaben (16 Prozent) finden sich in den Programmen beider Koalitionspartner wieder. 145 der im Vertrag genannten Projekte stammen in dieser Form aus keinem der Wahlprogramme. [...] Die Studie zeigt aber auch: In der Bevölkerung wird die Arbeit der Koalition deutlich kritischer wahrgenommen. Nur jeder Zehnte in Deutschland ist der Überzeugung, dass SPD und Union ihre Versprechen zum großen Teil eingelöst haben. 79 Prozent glauben hingegen, dass von den Koalitionsversprechen "kaum welche" oder "etwa die Hälfte" umgesetzt werden. Selbst die Anhänger der Regierungsparteien sehen die Arbeit der Großen Koalition kritisch. Nur 20 Prozent sagen, die Regierung löse "alle" oder zumindest "einen großen Teil" ihrer Versprechen ein. Am geringsten ist der Glaube an einen Erfolg der Großen Koalition unter AfD-Anhängern: Nur fünf Prozent gehen davon aus, dass die Koalition ihre Versprechen zum großen Teil umsetzt. (Sophie-Marlene Garbe/Alexander Sarovic, SpiegelOnline)
Dieser Artikel bestätigt zwei meiner zentralen Thesen zum politischen Prozess, die ich seit Jahren wiederhole. Erstens: Politiker halten ihre Versprechen üblicherweise; das Klischee der lügenden und Wahlversprechen sofort vergessenden Politiker ist genau das, ein Klischee. Zweitens interessiert keine Sau, wenn sie sie umsetzen. Besonders die SPD ergeht sich seit Jahren in der Illusion, dass sich irgendjemand für den pragmatischen Kleinkram interessiert, mit dem sie hausieren geht. Das habe ich ja auch schon beschrieben.

8) Was eine CO2-Steuer bringt
Bei diesen Sätzen ergäbe sich jedenfalls ein gewaltiges steuerliches Zusatzaufkommen. Zum Vergleich: Im Jahr 2019 dürften die Einkommensteuern, die wichtigste staatliche Einnahmequelle, 340 Mrd. Euro erreichen, die Umsatzsteuern 240 Mrd. Euro. Es ist daher klar, dass weder 180 noch 640 Eurodie anfänglichen Steuersätze sein können. Das kann die Wirtschaft nicht verkraften. Längerfristig kommen diese Werte schon eher in Betracht. Allerdings vermutet das Bundesumweltamt, dass die Klimakosten nicht konstant sein werden, sondern im Zeitverlauf steigen, im niedrigeren (180 Euro) Szenarium bis 2030 auf 205 Euo und bis 2050 auf 240 Euor, während sie sich im anderen Szenarium auf 670 und 730 Euro je Tonne erhöhen. CO2-Steuern sind regressive Steuern, wie etwa die Mehrwertsteuer: Sie belasten die ärmeren Schichten der Bevölkerung mehr als die Wohlhabenderen. Das ist der Grund, weswegen die Steuer möglichst auf einer gleichmäßigen pro-Kopf-Basis zurückerstattet werden sollte, so wie es etwa in der Schweiz gemacht wird – das hätte einen kompensierenden progressiven Effekt auf die Haushaltseinkommen. Gewinner wären diejenigen, die nur geringe CO2-Emissionen verursachen. [...] Noch zwei Punkte zum Schluss: Am besten wäre eine CO2-Steuer, die in allen EU-Ländern gleich hoch ist, damit es unter Umweltaspekten keinen Wettbewerb um die Ansiedlung CO2-intensiver Unternehmen gibt, also keine CO2-Arbitrage. Zum Zweiten muss die sogenannte CO2 leakage vermieden werden, indem durch Zölle Einfuhren von Produkten verteuert werden, die in Ländern außerhalb der EU ohne Rücksicht auf Klimafolgen hergestellt und dann hier billig angeboten werden. Umweltsünder dürfen EU-Unternehmen in dieser Hinsicht keinen Schaden zufügen. Solche Schutzzölle sind offenbar durch die internationalen Handelsregeln der WTO abgedeckt. (Mark Schieritz, ZEIT)
Das Wichtigste ist, dass man mit dem Ding überhaupt anfängt. Genau wie beim Mindestlohn wäre es vorstellbar, dass eine unabhängige Kommission eingesetzt wird, die dann - mit einem entsprechenden Mandat ausgestattet - die Steuersätze anpasst. Quasi eine Art EZB des CO2-Handels, die als Mandat bekommt, bis zu einem Stichtag (2050 oder 2045 oder was weiß ich) sich selbst abzuschaffen, indem bis dahin null Emmission erreicht ist. Vielleicht wäre das sogar eine Idee, hinter der sich Konservative und Liberale eher versammeln könnten? Ab in die Kommentare mit euch! Zentral finde ich auch noch den Aspekt der EU-weiten Anwendung. Wir können als Deutschland zwar anfangen (und sollten das gegebenfalls auch!), aber es muss dringend EU-weit ausgerollt werden. Die Schutzzölle auf Klimasünder sind dabei wirklich fundamental, weil sie Marktverzerrungen entgegenwirken. Wir sind der größte Wirtschaftsraum der Erde; es wird Zeit, dass wir das Gewicht endlich mal sinnvoll in die Waagschale werfen.

9) Why Democrats shouldn't be afraid to talk about socialism
While Trump suggests that running on socialism will cause Democrats to lose in 2020, research indicates that the opposite was true in 2016: had Clinton leaned into socialist policies, she may have turned out some of the many Democrats and progressives who stayed at home on Election Day, costing her several swing states by razor-thin margins. In particular, this includes a large share of young, black progressives — demographics with some of the highest favorability of socialism. Even Democratic Super PAC Priorities USA — far from Marxist propagandists — concluded that a populist economic message would be key to getting this vital group out to the polls. [...] No matter the specific reason, the data shows that too many Democrats are fundamentally misunderstanding voters' view of socialism. If the party wants to have any hope of holding the House and winning the Senate and White House in 2020, they need to follow the lead of Ocasio-Cortez, Sanders, and state and local politicians across the country: talk more about socialism. Voters like what they hear. (Aaron Freedman, The Week)
Was in Artikeln dieser Art gerne durcheinandergeworfen ist die grundsätzliche Attraktivität populistischer Lösungsansätze (die braucht jede Partei, wenn es ihr nicht so ergehen soll wie der SPD) auf der einen Seite und die Attraktivität sozialistischer (sprich: sozialdemokratischer) Ideen auf der anderen Seite. Denn das ist nicht dasselbe, und klar, wenn man den Leuten in einer neutralen Situation erklärt, was Bernie Sanders mit Sozialismus meint, finden sie es dufte. Daraus Rückschlüsse darauf ziehen zu wollen, wie der Begriff in den Zeiten des Wahlkampfs läuft, ist bestenfalls naiv.

10) Wie man mit Fanatikern redet - und warum
Als Angela Merkel diese Woche einen AfD-Lokalpolitiker in Stralsund über Meinungsfreiheit aufklärte, umschiffte sie eine Tatsache elegant: Die beiden sprechen nicht dieselbe Sprache. Als der AfD-Politiker von "Meinungsfreiheit" sprach, von "Pressefreiheit", "Propaganda" und "Menschenwürde", da meinte er etwas anderes als Merkel. Und auch etwas anderes als die meisten Menschen außerhalb der AfD und anderer rechtsradikaler Organisationen. Die Tatsache, dass Vertreter und Fans der AfD permanent behaupten, es herrsche keine "Meinungsfreiheit" in Deutschland liegt an eben diesem Definitionsunterschied. Für jemanden, der der Ideologie der AfD anhängt, heißt Meinungsfreiheit: Es gibt nur eine Meinung, und zwar unsere. Wenn AfD-Politiker und -Anhänger aber ihre Meinungen äußern, haben andere Menschen oft die Frechheit, diese Meinungen nicht zu übernehmen. Ja, sie geben sogar Widerworte! [...] Eine Diskussion ist "sinnlos, wenn die Kontrahenten sich nicht über die Bedeutung der zentralen Begriffe einig sind", schreibt der Wiener Philosoph Hubert Schleichert in seinem eingangs zitierten, ungemein lesenswerten Buch. [...] "Der Abtrünnige gefährdet diese Illusion, also muss er besonders nachhaltig verflucht werden", schreibt Hubert Schleichert. Das erklärt auch die enorme Wut, die bei Vertretern der radikalen Rechten so oft zu beobachten ist. So jemanden überzeugen zu wollen, ist sinnlos, denn, so besagt es ein sehr altes Prinzip der Logik: Contra principia negantem non est disputandum. Zu deutsch: Mit jemandem, der schon unsere Prinzipien bestreitet, kann man nicht diskutieren. Sinn kann aber ein Austausch wie der zwischen Merkel und dem AfD-Politiker trotzdem haben: Und zwar für das Publikum. Selbst unter den Wählern der AfD gibt es vermutlich viele, die mit den unausgesprochenen Dogmen ihre Probleme hätten, würden sie einmal offengelegt. (Christian Stöcker, SpiegelOnline)
Stöcker hat einige gute Punkte beieinander hier. Die falsche Verwendung von "Meinungsfreiheit" und den verwandten Begriffen erinnert mich auch eklatant an die NachDenkSeiten; da herrscht ein ähnlicher Duktus vor. Man muss auch feststellen, dass man sehr leicht in diese Art der Kritik verfällt. Ich erwische mich ja selbst immer wieder bei dieser unreflektierten Medienschelte, und genauso finden sich hier in den Kommentaren auch die jeweiligen, eher AfD-nahen Gegenstücke von den angeblich so grün dominierten Medien. Da braucht es einfach permanente Selbstkontrolle, und die wird bekanntlich dadurch gefördert, dass man sich konstant mit anderen Meinungen auseinandersetzt, auch wenn man ihnen nicht zustimmt. Wie in so einem Debattenblog, quasi.

11) Republicans Sabotaged Obama’s Economy and Assume Democrats Are Doing It to Them
When Congress was debating a taxpayer-funded bailout in September 2008, Paul Ryan lectured his GOP colleagues that they needed to think of the country: “We’re Americans,” he said. “And if we don’t do something, this economy is going to crash.” However, Alberta notes, “[i]n truth, Ryan feared not just the crash itself” but the prospect such a crash would lead to a Republican wipeout at the polls; he warned that a crash would lead to “FDR on steroids.” After Obama took office, the entire Republican legislative calculus revolved around the premise that Republicans were engaged in zero-sum competition — anything that helped Obama pass a stimulus bill hurt their party. When Obama expressed openness to their stimulus ideas in a private meeting, Alberta reports, they reacted with panic. “If he governs like that, we’re all fucked,” Eric Cantor’s communications director, Brad Dayspring, told his boss. Alberta reports that Republicans declined to address infrastructure spending in their counterproposal to Obama precisely because they believed House Republicans would support it. “Boehner and Cantor both knew that the one thing that could buy off their members was big spending on roads and bridges,” Alberta reports. They declined to include any such spending in their offer, because the goal was not to improve the economic-rescue bill but to block it. Throughout Obama’s presidency, Republicans not only demanded contractionary fiscal and monetary policy but staged a series of dangerous showdowns in order to force Obama to accept it. They managed to succeed in forcing cuts to domestic and military spending as a hostage payment for their threat to default on the national debt, parading the cuts as a trophy. The painful austerity they forced Obama into accepting helped slow the recovery. They likewise denounced the Federal Reserve for keeping interest rates too low, warning of inflation and a debased currency. Of course, once a Republican had assumed office, they immediately reverted to the deficit-increasing spendthrifts they had been the last time they held office. Their views on monetary policy have followed suit. [...] Cynical people tend to assume everybody shares their cynicism. Republicans seem to assume their adversaries would do everything in their power to harm the economy when the opposition holds power because that is how the Republican Party operates. (Jonathan Chait, New York Magazine)
Man muss immer und immer wieder daran erinnern, dass die Republicans mit der US-Wirtschaft genauso zu verfahren bereit waren und sind wie Bolsonaro gerade mit dem Regenwald. Alles wird niedergebrannt, wenn es nur den eigenen Zwecken dient. Ich finde die permanente Überraschung auf Seiten der GOP, dass die Democrats es nicht genauso handhaben, ja irgendwie süß. Sie sind einfach, jedenfalls verglichen mit der GOP, die Guten. Die Republicans wussten, dass Obama ein Politiker moderaten Mitte war und überparteiliche Kompromisse suchten. Und sie wussten, dass ihre ohnehin ständig prekäre Minderheitenposition dann erst Recht unhaltbar werden würde. Also rissen sie lieber das eigene Land mit den Abgrund, als ihre Macht zu gefährden. Sie sind feige, verantwortungslos und schlichtweg böse.

Samstag, 24. August 2019

Der Ökozid der Greta Thunberg von rechts

Für einige Wochen ging ein Gespenst um im deutschen Feuilleton: Es war das Gespenst Greta Thunbergs. Eine 16jährige versetzte gestandene Leitende Redakteure in komplette Panik vor der kommenden Revolution. Bald keine Dienstwagen-Limousine mehr, keine Kurzurlaube in Monaco 1. Klasse, und eventuell muss sogar die Luxus-Edition des Weber-Gasgrills auf der Terrasse vor dem (gedämmten!) Bürgerpalast im beschaulichen Vorort künftig Gemüse grillen. Schauderhaft. Die beinahe existenzielle Furcht, die das schwedische Mädchen in das Blätterrauschen brachte, hat nun ihre Entsprechung auf der Rechten gefunden. Wir haben ein Symbol all dessen, vor dem sich Klimaschützer aller Couleur fürchten dürften: Jemanden, der aktiv Ökozid begeht, der Umwelt und Klima nicht trotz, sondern wegen der Folgen schädigt. Dem Sujet entsprechend ist sie weder jung noch Mädchen, sondern mittleren Alters, männlich und hoch aggressiv. Es geht um den brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro.

Dieser gewann kürzlich unter aufsehenserregenden Umständen die Präsidentschaftswahl in Brasilien. Zusammen mit dem philippinische Massenmörder Rodrigo Duterte gilt Bolsonaro als der Trump seines jeweiligen Landes: Voller Aggression, populistisch bis zum Anschlag, rücksichtslos, brillanter Mobilisierer und von einer völligen Gleichgültigkeit gegenüber bestehendem Recht und Normen geprägt. Bolsonaro verdankte seine Wahl einem Bündnis traditionell konservativer Interessengruppen, die glaubten, in dem ungehobelten und über die Stränge schlagenden Populisten ein willfähriges Werkzeug gegen die verhassten progressiven Gegner zu finden. In Brasilien waren dies, wie so oft, vor allem die Landwirtschaftsverbände, denen die indigene Bevölkerung und die Umweltschützer gleichermaßen ebenso ein Dorn im Auge sind wie all jene Kräfte, die Brasiliens Weg in eine moderne Volkswirtschaft und offene Gesellschaft fortsetzen möchten.

Bislang fiel Bolsonaro vor allem durch seine Liebe zu Schusswaffen und seinen Hang zur Gewalt auf, die selbst die absurdesten Bekenntnisse amerikanischer Rechtsradikaler in den Schatten stellt und nur in Dutertes mörderischem Treiben eine Steigerung findet. Seine Anhänger ziehen mit vollautomatischen Sturmgewehren durch die Straßen und feuern diese - natürlich nur zur Bekundung ihrer patriotischen Unterstützung des Präsidenten, nicht um politische Gegner zu bedrohen - in die Luft und posieren in Stadtvierteln der Opposition, während die Polizei angewiesen ist, sie gewähren zu lassen. Gleichzeitig spieh der Präsident bei jeder seiner Reden sexistische, rassistische und nationalistische Tiraden übelster Machart ins Mikrofon. Kurz: Es war eine Ekel-Show.

Wie sich nun zeigt, war das nur der sichtbarste Teil, quasi die Fassade. Wie aus der Plattform "DemocracyNow" geleakten Dokumenten hervorgeht, hat die Bolsonaro-Regierung ihre Dienststellen angewiesen, eine Reihe von riesigen Bauprojekten im Amazonas (die so genannte "Triple-A") voranzutreiben und dabei Umweltschutzbewegungen als Hauptgegner ausgemacht. Gegen diese hat sie die komplette Staatsmacht mobilisiert. Eine der Hauptstrategien der Regierung besteht im Legen von Bränden: über 72.000 Brände hat man allein dieses Jahr gezählt. Die brasilianische Weltraumbehörde bekam von Bolsonaro einen Maulkorb, nachdem sie vor den verheerenden Folgen dieser Brände warnte - eine Parallele zu dem Verhalten konservativer Regierungen in den USA, die die NASA davon abhalten, Informationen über den Klimawandel zu sammeln und solche Informationen die sie bereits haben zu teilen.

Die Brände entsprechen zwar der sinnlosen Zerstörungslust Bolsonaros; in seinen Wahlkämpfen titulierte er sich selbst als "Mr. Kettensäge" und ging mit der Forderung hausieren, so viel Wald wie möglich niederzuholzen. Sie haben aber auch eine wirtschaftliche Funktion: es geht um die Gewinnung von Flächen für Ackerbau und Viehwirtschaft. Daher auch Bolsonaros enge Beziehung zur Agrarlobby, die seine gewalttätige Politik decken: Für die ist jetzt, wie aus den geleakten Dokumenten hervorgeht, Zahltag.

Die Brände werden dabei auch rücksichtslos in Reservate gelegt, um die dortigen Einheimischen zur Flucht zu zwingen. Ihr eigentlicher Zweck ist es, das Unterholz abzubrennen um die Flächen nutzbar zu machen, das aber eine kritische Rolle für die Ökologie des gesamten Kreislaufs spielt, wie der Wissenschaftsjournalist Lars Fischer beschreibt:
Das ist oft der Anfang vom Ende des Waldgebiets, denn schnell wachsende Gräser besiedeln die offene Fläche. Sie liefern nicht nur zusätzlichen Brennstoff für zukünftige Feuer, sie halten den Wald auch offen. Zuvor schon von Feuer betroffener, weniger dichter Wald brennt leichter und öfter, was wiederum benachbarten, noch ungeschädigten Primärwald bedroht. Die Gräser, die sich in geschädigte Waldflächen hineinfressen, sind aber nicht nur Opportunisten der Gegenwart – möglicherweise zeigen sie die nahe Zukunft großer Teile des Amazonasbeckens. Fachleute fürchten, dass der Wald bald auch ohne menschliche Mithilfe kollabiert.
Hintergrund dieser Sorge ist, dass der Regenwald nach Ansicht vieler Fachleute die Grundlage seiner eigenen Existenz überhaupt erst schafft: Nur dadurch, dass bereits Wald vorhanden ist, kann im Amazonas-Becken überhaupt Wald wachsen. Das klingt paradox, hat aber eine einfache Ursache. Analysen zeigen, dass die Region nur halb so viel Wasser aus den globalen Luftströmungen erhält, wie tatsächlich an Niederschlag fällt. Die andere Hälfte der Niederschläge erzeugt der Wald selbst. Der Wald speichert Wasser und lässt enorme Mengen davon verdunsten, die wiederum ein bisschen weiter westlich wieder abregnen – Isotopendaten zeigen, dass das Wasser von Ost nach West fünf bis sechs dieser Zyklen durchläuft.
Bolsonaro folgt auch in anderer Hinsicht dem Trump'schen Handbuch: Erst verleugnete er die Existenz der Brände komplett, dann behauptete er einfach, dass dafür "internationale NGOs" von Umweltschützern verantwortlich seien. Auf Nachfrage weigerte er sich zu benennen, welche NGOs er denn meine. Diese offene, dreiste Art zu lügen ist ebenfalls aus den USA hinreichend bekannt. Es ist die ständige aggressive Forderung, ihn doch der Lüge zu bezichtigen - oder aber einzuknicken und sie neutral als "Aussage" in die Schlagzeilen zu hieven, eine Herausforderung, auf die die Medien immer noch keine Antwort gefunden haben.

Bolsonaro stellt dabei nur den logischen Endpunkt einer Entwicklung der Rechtspopulisten dar, die ebenfalls seit 2017 in den USA zu beobachten ist. Trump setzte - wie Bolsonora - aktive Klimawandelleugner ins Umweltministerium, er hob - wie Bolsonaro - Umweltschutzbestimmungen im Dutzend billiger auf, er trieb - wie Bolsonaro - die von mächtigen Spendern geforderte Erschließung von Ressourcen in Naturschutzgebieten voran. Begleitet wird all das von einer aggressiven Attitüde rechtsradikaler identity politics.

Anders als bei den Konservativen und Liberalen Europas sind Schädigungen von Klima und Umwelt kein bedauerliches Nebenprodukt wirtschaftlicher Tätigkeit; sie sind ein aktives Ziel. Diese Leute begehen Ökozid am gesamten Planeten. Wären sie nicht die Oberhäupter von Staaten, müsste man sie Ökoterroristen nennen. Aus Berlin kommt dazu vor allem - dröhnendes Schweigen. Das einzige westliche Staatsoberhaupt, das sich von Anfang an emphatisch gegen Bolsonaros Ökozid stellte, ist Emmanuel Macron, der die internationale Gemeinschaft (bislang vergeblich) zum Handeln aufforderte.

Dabei ist es nicht so, als wäre solches Handeln nicht möglich. Bolsonaro ist extrem abhängig von Exportmärkten für die Agrarprodukte Brasiliens, deren Herstellung er durch seinen Ökozid zu steigern hofft. Würde die EU ihre Märkte dafür schließen - was sie unter der bestehenden Rechtslage tun könnte - würde sie ein mächtiges Signal setzen. Auch finanziell ist Bolsonaro auf Investitionen in seine megalomanischen Bauprojekte angewiesen.

Genozidale Massenmörder finden üblicherweise keine Aufnahme am Tisch der internationalen Gemeinschaft. Es wird Zeit, dass das selbe für ökozidale Täter ebenso gilt. Bolsonaro ist der erste Testfall, eine bis in die Karikatur überzeichnete Version eines Rechtspopulisten. Wer hier schweigt, macht sich gemein.

Biden löst die Klimakrise in Hongkong mit Niedrigzins und den Gewerkschaften - Vermischtes 24.08.2019

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Wer hat Angst vorm Zuhören?
Das ist beim Identity-politics-Bashing das zentrale Problem: Es immunisiert sich im Namen der richtigen Werte gegen einen Aushandlungs­prozess, in dem auch die eigene Position zum Gegenstand des Streits werden kann, ja muss, wenn wir gemeinsam demokratisch voran­kommen wollen. Es geht um einen Austausch über die Frage, wer aus wessen Sicht «ihr» und wer «wir» ist – statt einfach zu behaupten, dass in einem gemeinschaftlichen Wir sowieso alle eingeschlossen seien. Deshalb lohnt sich das Zuhören. Hinter so manchen Anekdoten von «übertriebenen» Formen der Identitäts­politik stecken genuin moderne, zur Demokratie gehörende Kämpfe um Partizipation, um die Teilnahme am politischen, kulturellen, ökonomischen Leben. Es sind Kämpfe darum, ebenfalls zu denjenigen zu gehören, die an Universalismus, Menschen­rechten, Demokratie, Gerechtigkeit und Solidarität teilhaben. Statt sich mit den eigenen Befindlichkeiten zu befassen und mit pauschaler Kritik den Kräften zuzuarbeiten, die Emanzipations- und Gleichheits­forderungen bekämpfen, sollten alle, die guten Willens sind, daran arbeiten, wie wir gemeinsam diese Ziele erreichen können. Auf dem Weg dahin muss die Spannung zwischen dem Projekt des Universalen und einer Praxis des Partikularen ausgehalten werden. Daraus folgen paradoxe Emanzipations­formen, nämlich solche, die zunächst Differenz betonen müssen, um sie langfristig zu relativieren. Daraus folgt aber auch eine (selbst-)kritische Befragung der Gruppen­logik insgesamt, auch in ihren emanzipatorischen Absichten. Wer diese Komplexität nicht sehen will, hat womöglich mehr nervige identity politics verdient, als ihm oder ihr lieb ist. (Paula-Irene Villa/Andrea Geier, Republik.ch)
Schöne Zusammenfassung. "Identity politics" abzulehnen ist ein Luxus, den man nur als Mitglied der Mehrheit haben kann. Es ist wohlfeil als weißer Mann zu sagen, dass man nichts mehr von den Anliegen anderer Gruppen hören mag. Glaube ich sofort. Allein, es hilft halt nichts. Diese Gruppen haben ebenfalls ein Recht gehört zu werden, und dass das der aktuell privilegierten Gruppe nicht in den Kram passt, ist zwar eine historische Konstante, macht es deswegen aber nicht richtiger. Dazu kommt, dass der Begriff ohnehin nur als Angriff gebraucht wird. Identity politics machen immer die anderen, man selbst natürlich nie. Dabei merkt man nur nicht, wenn man von den eigenen Identity politics angesprochen wird, weil sie der Normalfall sind. Natürlich mag man es nicht, wenn diese Normalität erschüttert wird. Aber es muss geschehen.

Waldbrände, überhitzte Ozeane, schmelzender Permafrost: Der Klimawandel zeigt sich schon jetzt in sichtbare Konsequenzen. Wie drängend das Problem ist, verdeutlichen mehrere aktuelle Studien – besonders große Sorgen bereiten dabei Ergebnisse von kanadischen Forschern, die in dieser Woche veröffentlicht wurden. Der Klimaforschung und denen, die Maßnahmen gegen die Erderhitzung fordern, wird zwar häufig unterstellt, sie seien Angstmacher oder quasi-religiöse Apokalyptiker. Sie würden in überzogenen Katastrophenszenarien Panik schüren. Sogar von "Climate Porn" oder "Doom Porn", also der pornographisch-lustvollen Zurschaustellung am Untergang ist die Rede. Ein Blick auf neuere Studien legt aber den Schluss nahe: Die Warnungen und Prognosen sind eher vorsichtig, eher konservativ, eher zu zurückhaltend als zu apokalyptisch. Allein im vergangenen Jahr haben zahlreiche Studie gezeigt, dass die Erderhitzung schneller voranschreitet als gedacht. Ein Überblick. (Jonas Schaible, T-Online)
Empfehlenswerter Artikel für all die Klimawandelleugner unter uns, die beständig der Überzeugung sind, das alles sei völlig übertrieben. Und je mehr relativiert und abgebügelt wird, desto mehr verhärtet sich deren Position, weil die Kosten, die eigene falsche Stellung zu räumen, immer höher werden.

3) Niemand schafft's allein
Wenn es selbst einer Greta Thunberg mit dem riesigen Aufwand und den gewaltigen Strapazen, die sie für ihre Reise auf sich nimmt, nicht gelingt, den Atlantik wirklich klimafreundlich zu überqueren, dann zeigt das eindrücklich, dass manche Probleme eben nicht auf persönlicher Ebene gelöst werden können. Individuelle Verhaltensänderungen können als Denkanstoß oder als Vorbild sinnvoll sein, sie können Lösungen demonstrieren und politische Veränderungen einleiten. Wer freiwillig Fahrrad oder Bus statt Auto fährt, tut nicht nur sich und der Umwelt etwas Gutes. Sondern schafft langfristig auch Druck, den Raum in den Städten umzuverteilen und damit den Autoverkehr insgesamt zurückzudrängen. Wer Biolebensmittel kauft, sorgt nicht nur unmittelbar für weniger Gift und Dünger auf den Feldern, sondern liefert auch einen Beweis, dass Menschen sich nicht nur für den Preis der Nahrung interessieren. Doch schon auf diesen Handlungsfeldern, auf denen praktikable Alternativen existieren, stößt der individuelle Ansatz bald an seine Grenzen. Um die Umwelt- und Klimakrise abzuwenden, reicht es nicht, wenn nur diejenigen ihr Verhalten ändern, die von sich aus die Notwendigkeit sehen und sich die Alternativen unter den bestehenden Verhältnissen leisten können. Dafür braucht es Regeln, die die Probleme unabhängig von individuellen Entscheidungen lösen. Private Pkws aus Innenstädten zu verbannen und im Gegenzug einen funktionierenden, kostenlosen Nahverkehr zu schaffen bringt am Ende einfach mehr als ein Appell, das Auto doch mal stehen zu lassen. Genauso nützt ein flächendeckendes Verbot von Glyphosat und quälerischer Tierhaltung der Sache mehr als ein paar weitere KundInnen, die freiwillig aufs Biosiegel achten. (Matke Kreutzfeld, taz)
Die Kritik an Thunbergs Atlantiküberquerung ist ohnehin nicht ernst zu nehmen. Man stelle sich mal die Reaktion von FAZ und Konsorten vor, wenn sie tatsächlich geflogen wäre. Der Artikel von Kreutzfeld trifft dagegen den Nagel auf den Kopf, und ich denke, dass gerade die Grünen sich da endlich ehrlich machen sollten. Das würde auch diese beknackten Debatten über Lebensstilvorschriften und individuellen Verhaltensänderungs-Unfug beenden. Ein globales Problem wie der Klimawandel kann nur angegangen werden, wenn auf staatlicher Ebene etwas passiert. Und einzelne Staaten können nur darin wirken, dass sie Lösungen und Methoden entwickeln, die andere dann übernehmen können. So können wir uns an diversen Länder und Metropolen um uns herum, etwa in den Niederlanden, anschauen, wie man Alternativen zum Auto innerhalb weniger Jahre um ein Vielfaches attraktiver und genutzter machen und autofreie Innenstädte designen kann. Man kann sehen, wo andere Länder Erfahrungen mit regenerativen Energiequellen gemacht haben, auf die wir zurückgreifen können. Man kann schauen, wie andere den Kohle- und Atomausstieg managen. Und so weiter. Aber dazu muss man etwas tun. Ich schaue gerade mal mit zusammengekniffenen Augen in Richtung Kretschmann.

4) Bitte nicht
Betrachtet man Scholz' politischen Lebenslauf, ist da eigentlich nur eine Konstante: Er scheint zu glauben, die SPD brauche an der Spitze Politiker, die genauso auch in der CDU sein könnten. Politiker, die im Zweifel die eigene Partei links liegen lassen, um damit Stimmen aus der CDU zu lösen. Diesen Glauben hat er nicht allein. Er ist ein fester Bestandteil der SPD, ja, man könnte sagen, die Kanzlerschaften Helmut Schmidts und Gerhard Schröders sind vor allem aus diesem Glauben heraus erklärbar. Scholz hatte ja auch durchaus politische Erfolge: Zweimal gewann er in Hamburg die Bürgerschaftswahlen. Nur ist Hamburg nicht Deutschland und die politische Mitte, die Scholz mit seiner stilisierten Apathie offenbar ansprechen will, ganz woanders, als er es vermutet. Die SPD hat – anders als vielleicht noch in den Neunzigern – keine Chance, Rechte für sich zu gewinnen, die Scholz für einen schneidigen Mann halten. Denn abgesehen davon, dass Scholz alles andere als schneidig ist: Enttäuschte Konservative wählen die AfD. Erreichbar sind dagegen die vielen Merkel-Wähler, die von der SPD kamen und nach dem enttäuschenden Beginn Annegret Kramp-Karrenbauers dazu tendieren, sich den Grünen zuzuwenden. Vielleicht, weil sie sich in einem kosmopolitischen Lebensgefühl angesprochen fühlen. Oder weil sie bei ihnen politische frische Luft vermuten. Oder weil sie etwas Radikalität in den ökologischen und sozialen Fragen unserer Zeit nicht mal für so falsch halten. Mit nichts davon kann Scholz dienen. (Christian Bangel, ZEIT)
Ein weiterer Beitrag aus der beliebten Reihe "Wenn die SPD das macht was ich gut finde wird sie wieder erfolgreich". Ich stimme dem Artikel ja sogar zu. Aber das Dilemma der SPD ist nicht gerade ein Mangel an guten Ratschlägen. Denn die Fraktion, die erklärt, dass es gerade einen Klare-Kante-Typen wie Scholz bräuchte, der etwas vom alten Schröder-Charisma kanalisieren kann, hat ja auch etwas für sich. Letzten Endes bleibe ich dabei: Die Partei muss sich für IRGENDEINEN Weg entscheiden. Ihre konstante Weigerung, entweder nach links oder rechts, vorne oder hinten irgendeine Bewegung zu vollziehen, wie das Kaninchen vor der Schlange, ist ihr Untergang. Möglicherweise killt die Bewegung sie. Aber sitzen bleiben macht es nur länger und schmerzhafter.

5) Da lacht die Rezession
Nehmen wir zum Start (Fortsetzung folgt) die umstrittene Abschaffung des Soli-Zuschlags, die für das Gros der Soli-Zahler 2021 geplant ist und jetzt im Kampf gegen die Rezession vorgezogen werden sollte, wie es diese Woche hohe Vertreter der FDP oder der Chef des Münchner Ifo-Instituts Clemens Fuest gefordert haben. Die Idee klingt erst einmal gut. Was den Abschwung derzeit beschleunigt, ist ja, dass vor allem Deutschlands Industriefirmen die Aufträge wegbrechen - ob als Folge des schwelenden Handelskrieges, der die Exporte trifft, oder weil es all die irrlichternden Trumps und Johnsons und Salvinis schwer machen zu kalkulieren, was morgen ist. Das lässt viele Firmen mit größeren Ausgaben zögern. Die deutsche Autoindustrie produziert mittlerweile weniger als in der großen Rezession nach dem Lehman-Crash. Sollte es da nicht helfen, den Deutschen schon im Januar via Soli-Aus netto mehr Geld zu lassen? Damit sie einen Teil des Absatzeinbruchs ausgleichen, also mehr Autos kaufen und so? Nicht so sicher. Die Sache könnte in der Praxis ziemlich teuer enden, ohne dass sie eine Rezession auch nur ansatzweise verlangsamt. Warum? Weil der Soli, anders als es die Werbekampagnen der Abschaffungsfans vermuten lassen, nur einen Teil der Bevölkerung nennenswert angeht. Wegen diverser Freibeträge zahlt nach gängigen Schätzungen die untere Hälfte der Einkommensbezieher in Deutschland so gut wie keinen Soli - kann sich also mangels steuerlichen Entlastungspotenzials auch gar nicht als Konjunkturmotor betätigen. Obwohl bei dieser Gruppe eine recht hohe Bereitschaft vorliegt, mehr Geld auszugeben. Wenn es denn da wäre. Nach Schätzungen geben zwei von drei der untersten Einkommensgruppen monatlich mehr aus, als sie haben. Die gäben den Zaster sofort konjunkturwirksam aus, würden bei der Soli-Abschaffung nur eben gar nichts kriegen. (Thomas Fricke, SpiegelOnline)
Den Soli abzuschaffen, um die Rezession aufzufangen, ist so eine Idee, wie sie nur von der FDP kommen kann. Wenn deine Antwort auf alles "Steuern senken" ist, egal ob Boom oder Rezession, Strukturwandel oder Infrastrukturverfall, dann ist natürlich auch hier nichts anderes zu erwarten. Eine weitere Steuerreform, von der praktisch nur die oberen Schichten profitieren, fände ich allerdings obszön. Klar hätte ich gerne mehr Geld in der Tasche, aber wenn ihr schon irgendwo was senken wollt, dann macht das doch bitte unten und nicht oben. Und bitte, noch mal die Autoindustrie pushen? Wir haben das schon in der Finanzkrise gemacht. Wenn irgendwelche Fördergelder in die Abwendung der Rezession gehen sollen - also deficit spending - dann bitte in Zukunftsbereiche und nicht in irgendwelche Sackgassentechnologien. Da gibt es wahrlich genug zu tun. Und wenn es eine Fahrradkaufprämie ist. Alles vernünftiger als noch mehr Geld in Autos zu stecken.

6) Trump’s Foreign-Policy Crisis Arrives
Presidents are constrained in what they can say. We should cut Donald Trump some slack. But even taking those constraints into account, Trump’s response could hardly have been worse. Not only was Trump silent on America’s core values. He also increased the risk of a major miscalculation by China with seismic geopolitical consequences. It may prove to be the greatest mistake of his presidency. Trump’s folly began with a phone call to China’s president, Xi Jinping, on June 18. According to the Financial Times and Politico, Trump told the Chinese leader that he would not condemn a crackdown in Hong Kong. The commitment was made on the fly, without prior consultation with his national-security team. [...] Much will be made of the immorality of Trump’s position, how he has abdicated the role of leader of the free world, and why his stance makes violence more likely. That is all true—but Trump’s stance is even worse than it appears. [...] A violent crackdown would make it much more difficult to calibrate competition with China. China will have revealed itself to be a totalitarian dictatorship guilty of the excesses associated with such regimes. Cooperation will become difficult, if not impossible, even on matters of mutual interest. Having crossed the Rubicon and incurred the costs, Xi may be even more willing to flex China’s muscles in the South China Sea and East China Sea, increasing tensions with its neighbors and the United States. If China handles Hong Kong in a heavy-handed way, that would also have repercussions for Taiwan, which would see its suspicions of the mainland confirmed. A violent crackdown would also accelerate economic decoupling, with Western investors fleeing Hong Kong as it becomes just another Chinese city. More than 1,300 U.S. firms have a presence in Taiwan, including nearly every major U.S. financial firm. There are 85,000 U.S. citizens in Hong Kong. They would likely leave. A violent crackdown would almost surely lead to the imposition of sanctions by the U.S. Congress, if necessary with a supermajority to overcome a presidential veto. The decoupling would not be confined to Hong Kong. The tariffs and restrictions imposed to generate leverage in trade negotiations would become permanent. (Thomas Wright, The Atlantic)
Es ist und bleibt ein Fakt, dem sich jede Regierung stellen muss: Niemand kann in der Außenpolitik gewinnen. Einfach niemand. Das Beste, auf das man hoffen kann, ist das Vermeiden von Desastern und das möglichst schmerzfreie Managen von Krisen. Aber wann hat das letzte Mal jemand seit der deutschen Einheit außenpolitische Meriten erworben, wo danach alle begeistert gesagt haben: Ist ja toll wie X das Problem gelöst hat? Auf der anderen Seite: Was will man machen? Wer glaubt, dass Nichtstun eine Alternative sei, bei der man sich nicht die Hände schmutzig macht, ist Deutscher. Auch Nichthandeln ist Handeln. Wer China nicht offen kritisiert oder sonstige Maßnahmen ergreift, der teilt Peking mit, dass es völlig in Ordnung ist, was dort getrieben wird. Das ist das ganze beschissene Dilemma jeglicher solcher Außenpolitik. Und ein letzter Kommentar: Es ist ein echtes Wunder, dass bei Trumps Politikstil so etwas nicht schon längst passiert ist. Der Mann ist null informiert und haut am Telefon eben mal irgendwelche Versprechungen raus, nur um seinem Gesprächspartner zu gefallen (oder Drohungen, je nachdem). Auf die Art ist er schon durch die nordkoreanische Diplomatie hindurchgestolpert, aber im Umgang mit einem Land wie China wird das existenziell bedrohlich.

7) In Big Non-Surprise, Trump Turns on Labor Unions

I know this analogy gets used too often, but it really is like the frog who agreed to carry a scorpion across a river. Halfway across, the scorpion stung the frog and they both drowned. But why? “It’s what I do,” the scorpion shrugged. Donald Trump may have the knack of talking to blue-collar workers, and I suppose union leaders need to do their best to work with whoever’s in the White House. But as Trump said to them about unions, “they cost me a lot of money.” That part was real. The little laugh that followed wasn’t. Unions cost Trump and the rest of the business class a lot of money, and they’ve spent the last 50 years conducting a scorched-earth campaign to destroy them. So when, one way or another, it turned out there was no Trump infrastructure bill and never would be; and Trump started whittling away at public sector union rights; and Trump repealed the “overtime” rule put in place by President Obama; and Trump’s NLRB overturned a couple of key labor rules; and Trump appointed Eugene Scalia to be the next Labor Secretary; and Trump said not a peep when Boeing workers tried to organize in South Carolina; and Trump’s trade war started hurting union jobs—well, you’d be foolish to wonder why he did all that. The answer is simple. He’s a Republican. It’s what he does. Any union that supports Trump’s White House and Mitch McConnell’s Senate deserves whatever they get. Any union that backs a Trump initiative that screws other unions as long as they themselves are exempted should hardly be surprised when that exemption is suddenly in danger. (Kevin Drum, Mother Jones)
Es gibt nur wenige Sorten von Artikeln neben "Hillary Clinton wird sicher gewinnen" und "Trump wird nicht so interventionistisch wie Hillary", die so schlecht gealtert sind wie die, die ihn als Champion der Arbeiterklasse darstellten. Zwar teilt er seine instinktive Ablehnung des Freihandels mit der Linken, aber die war auch ein Feature der reaktionärsten Eliten des Kaiserreichs, und die waren nicht eben dafür bekannt, dass ihre Politik für die 99% sinnvoll gewesen wäre. Davon abgesehen ist Trump ein pathologischer Lügner. Der Mann hatte noch keinen Geschäfts- und Verhandlungspartner, den er nicht belogen und verraten hätte, keinen Verbündeten, den er nicht fallen ließ. Oder in den Worten Rick Wilsons: Everything Trump touches dies. Dass er immer und immer wieder Leute findet, die glauben, mit ihm Geschäfte machen zu können, ist eines der erstaunlichsten Feautures an seiner gesamten Vita. 
 
8) Let's have open borders for people and closed borders for capital
Specifically, the left-progressive position on borders should be something like: maximum enforcement against the movement of financial capital, moderate enforcement against goods and services, and minimal enforcement against people. [...] What of international trade and competition? That's trickier. On the one hand, trade between countries really can be a win-win, providing one side with jobs and the other with a higher standard of living. But elite capitalists' tendency to invoke this (potential) reality most often serves as cover for their desire to construct global supply chains that maximally exploit natural resources and labor populations while serving nothing other than their own profits. Meanwhile, even if a company were 100-percent worker-owned, it could still get knocked out by competition from abroad, decimating livelihoods and towns and communities along the way. Liberals and progressives should not favor hard nationalist barriers, necessarily; but judicious and pro-active management of trade flows in goods and services. [...] It isn't that elites never want to "import cheap labor," as the right-wingers accuse. It is that such "importation" is most useful as a convenient afterthought, and political ploy: It is wealthy elites' absolute power over the course and makeup of economic production that destroys places and lives, and then it is immigrants who take the blame for the blight. More to the point, every flesh-and-blood person who comes to our country brings with them the intrinsic need for food, shelter, services, and everything else out of which jobs are made. There is no inherent reason why the supply of labor in America should ever outpace the demand for it, no matter how many people cross our borders. If it does, that is a choice by policymakers. And it was a choice made to benefit the elite captains of global finance capitalism — to ensure that no part of the American economy can live and flourish if it does not serve their profits. (Jeff Spross, The Week)
Spross' Vorschlag hat den Vorteil von Kohärenz mit anderen linken Positionen, den die Proponenten von Forderungen, die Linke solle einfach auch auf Ausländer und Einwanderer einschlagen (gerne wird Dänemark als Beispiel bedient) nicht haben. Ich denke, beide Positionen haben dabei einen Teil der Wahrheit. Auf er einen Seite haben Leute wie Spross Recht damit, dass die oben beschriebene Positionierung sowohl von der policy als auch von der Kohärenz wesentlich sinnvoller sind. Auf der anderen Seite wollen aber viele der Wähler, die von der Linken zu Parteien wie der AfD oder zu Politikern wie Johnson (vergleiche Fundstück 1 aus dem letzten Vermischten) und Trump abgewandert sind, explizit diese harte Linie gegen alles Fremde. Ich bleibe aber sehr skeptisch, dass letztgenannte Gruppe überhaupt für die Progressiven zurückzugewinnen ist - oder für Konservative wie die CDU, nebenbei bemerkt. 
 
9) How climate change could fuel the far right
A world in which many times the number of migrants from Africa, the Middle East, and South Asia are forced to flee their homes in search of food is exceedingly unlikely to produce a diametrically opposite political response. On the contrary, it's overwhelmingly likely to produce a very similar response, though on a vastly greater scale. That's because the scale of the coming migration crisis is likely to be vastly greater. [...] When it comes, this shift will be driven primarily by public opinion. Right-wing movements benefit from fear, and the prospect of throngs of poor and needy migrants requesting entry to Western countries, especially when these migrants look different and act and worship in a different way than these countries' majorities, is a scary thought to many. Critics may be right to judge this a severe moral failing, but describing it as such won't make the feeling go away — especially when right-wing demagogues are sure to do everything they can to intensify and exploit them for political gain. Those who oppose the lurch toward xenophobia won't stand a chance amidst the maelstrom. [...] As I argued in May, democracies are notoriously bad at making hard choices — and whether to accept slower growth, sharply higher costs, and dramatically increased environmental regulations on the basis of scientific probabilities and predictions is one of the hardest choices of all. Responding to bad events that have already happened is far easier, and that's likely to be the right's approach. With each new flood, drought, and storm, Republicans will react by offering to help clean up the mess while doing little to forestall future environmental shocks. It's an approach that just might work politically, especially if it's combined with tough, far-right border restrictions that keep out the flood of refugees from the south. That will enable the GOP to portray itself as a party working above all to protect the country and its prosperity in a time of heightened adversity. Add it all up and we're left with multiple signs that a world enduring climate change could be one in which the far-right thrives as never before. (Damon Linker, The Week)
Ich halte das oben beschrienene Szenario für absolut realistisch. Zuerst treibt die Rechte die Welt in den Abgrund, und dann profitiert sie davon. Es wäre wahrlich nicht das erste Mal. Die Verwerfungen durch den Klimawandel werden zu Chaos und Abschottungswünschen führen, und mit ihrer brutalen Bereitschaft sowohl zur Durchsetzung von Ordnung gegenüber wehrlosen Minderheiten als auch mit ihrem eher lockeren Umgang mit Grund- und Menschenrechten wird die Rechte hier immer die Nase vorne haben. Wir werden dann zwar sagen können, dass wir es immer schon prognostiziert haben, aber kaufen kann man davon nichts. Und wie bereits im Fundstück 1 des letzten Vermischten erwähnt hat die Rechte auch die nötige Flexibilität dazu. 
 
10) Forget ‘Lanes.’ The Democratic Primary Is A Whole Freaking Transit System.
So if you run through this list, you certainly do see some major highways that connect Sanders and Warren. But there are also a lot of ways to get from Sanders to Biden. And there are some byways that link Sanders to several of the second-tier or minor candidates, most notably Gabbard, Buttigieg, Yang and O’Rourke. The one major candidate who doesn’t have a lot of obvious connections with Sanders is probably Harris. It’s sort of like trying to get from the West Village to the Upper East Side. You can certainly do it, and they aren’t that far apart as the crow flies, but it requires an extra transfer or two. [...] Among the major candidates, there are quite a few Sanders 2016 –> Biden 2020 voters, although not nearly as many as there are Clinton 2016 –> Biden 2020 voters. Harris gets her support mostly from Clinton voters; relatively little comes from 2016 Sanders voters, consistent with our hypothesis. Warren is, by contrast, drawing about equal shares of Clinton 2016 and Sanders 2016 voters. Maybe you’re surprised that Warren’s numbers aren’t more slanted to former Sanders supporters, but keep in mind that (i) there are plenty of connections between Clinton and Warren too, e.g. in their appeal to college-educated women; (ii) whereas Clinton’s voters need to look around for a new candidate, Sanders 2016 voters have the option of picking Sanders again. One way to look at it is that 44 percent of Sanders 2016 voters are voting for either Sanders or Warren this time around, while just 24 percent of Clinton 2016 voters are. So there almost certainly is a robust left policy/ideology lane in the Democratic primary. It’s probably even one of the more well-traveled routes. It’s just far from the only road in town. (Nate Silver, 538)
Die komplexen und vielfältigen Querverbindungen zwischen den einzelnen Kandidaten, die zudem häufig nicht auf den ersten Blick eingängig oder ersichtlich sind, sind ein zentraler Grund für die Schwierigkeit, Vorhersagen über den Verlauf der primaries zu treffen, wenn erst einmal Kandidaten mit ernstzunehmender Unterstützung wegbrechen. Man muss daher extrem vorsichtig mit Generalisierungen sein, wessen Anhänger später zu welchem anderen Kandidaten wechseln könnten. 
 

Biden is expressing one of his most deeply held beliefs, which is his boundless faith in the goodness of the Senate. This is the point Biden was attempting to make in his controversial nostalgic riff about his history of working with segregationists. The Senate brings people together, even people as different as Joe Biden and the segregationists. (Biden failed to anticipate that some Democrats would interpret this to mean that Biden and the segregationists were not so different after all.) [...] Senatitis is an irrational reverence for the folkways and culture of the upper legislative chamber. Those afflicted believe that the Senate gathers together 100 of the finest statesmen in American life, or at least transforms ordinary politicians into such giants through its mystical traditions. To the extent they see any problems with the operations of their beloved chamber, it can only be ascribed to the corrupting effects of non-senatorial politics, and the solution is always to make American politics more senatorial. If you hear somebody unironically use the phrase “world’s greatest deliberative body,” you have located an acute sufferer. The Senate is undemocratic by design, giving disproportionate representation to residents of low-population states (which tilt rural and white.) It compounds this quality with a supermajority requirement, the filibuster, which senators often justify as permitting “unlimited debate,” but which does not require any speechifying and is typically used to prevent debates from taking place. For decades, the filibuster was primarily used to block even modest civil-rights measures, like anti-lynching measures. After decade upon decade of the Senate serving as a graveyard for civil-rights legislation, the movement finally broke through in the 1950s and 1960s. (Jonathan Chait, New York Magazine)
Ich habe die Befürchtung, dass Biden den Mist, den er da von sich gibt, tatsächlich glaubt. Das ist mein zentrales Problem mit dem Mann. Es liegt auch im Herzen der Kritik zu seinen früheren Äußerungen und seinem früheren Abstimmungsverhalten. Das war etwa bei seiner Lobpreisung gegenüber segregationistischen Kollegen zu sehen. Biden fehlt es offenkundig an der Erkenntnis, welche Rolle die von ihm geliebten Institutionen früher eigentlich gespielt haben.
Meine Hoffnung ist die, dass er seine Bekenntnisse zum Erhalt der filibusters und bipartisanship als Taktik benutzt. Glaubte er wirklich daran, dann wäre ihm nicht zu helfen. Mein Wunschkandidat bliebe er zwar trotzdem nicht. Aber wenigstens wäre sein Sieg erträglicher. - Aber wir haben noch über ein halbes Jahr, bis die Entscheidung fällt, und bis dahin fließt noch viel Wasser den Potomac hinunter.

Im Lehrbuch verwenden Unternehmen die Ersparnisse privater Haushalte für produktive Investitionen, woraus die Möglichkeit entsteht, einen Zins zu zahlen. Mit der digitalen Revolution nimmt aber das Interesse der Unternehmen an kapitalintensiven Investitionen in Fabriken, Maschinen und Anlagen ab; stattdessen wissen viele nicht, was sie mit ihrem Geld machen sollen. Darüber sind die Unternehmen in den Industrienationen in ihrer Gesamtheit selbst Sparer geworden – das heißt, ihr Interesse an Ersparnissen der privaten Haushalte ist gering. Wenn noch der Staat zum Sparer wird wie in den vergangenen Jahren in Deutschland – eine Reduzierung der Staatsverschuldung entspricht volkswirtschaftlich einer Ersparnis – darf man sich über niedrige Zinsen nicht wundern. „In Deutschland übersteigt die Geldanlage von Staat und Unternehmen deutlich deren Kreditaufnahme. Damit sind in Deutschland sowohl die privaten Haushalte als auch die Unternehmen und der Staat Netto-Sparer und sorgen für die Herausforderung, dieses Geld anzulegen“, heißt es bei Julius Bär. „Diese Entwicklung führt fast zwangsläufig zu negativen Zinsen, denn Zinsen können als der Preis verstanden werden, der beabsichtigtes Sparen und beabsichtigte Kreditaufnahmen in ein Gleichgewicht bringt.“ Joachim Fels von der Fondsgesellschaft Pimco schreibt: „Negative Zinsen sind die neue Normalität.“ Da die demografischen Trends und die Transformation der Industrienationen in weniger kapitalintensive Wissensökonomien sich fortsetzen werden, dürfte sich an den niedrigen Zinsen so schnell nichts ändern. (Gerald Braunberger, FAZ)
Wenn sich Negativzinsen tatsächlich als neuer Standard herausbilden, wäre das eine mehr als interessante Entwicklung. Die aktuelle Finanzpolitik ist darauf überhaupt nicht vorbereitet, und die Volkswirtschaftslehre genausowenig. Mir kommt der von Keynes beschworene "Tod des Rentiers" in den Sinn, aber ich kenne mich zu wenig aus, um das richtig einordnen zu können. Vielleicht kann da ja der eine oder andere Kommentator helfen. Sollte aber - und da steckt ein großer Konjunktiv dahinter - der Negativzins das neue Normal werden, ist die gesamte bisherige Wirtschafts- und Finanzpolitik hinfällig, die darauf basiert, dass steigende Zinsen die natürliche Gegenreaktion sind. Wie werden dann künftig Blasen verhindert? Was ist die Wechselwirkung auf die Inflation? Wir würden uns Terra Incognita bewegen.

Dienstag, 20. August 2019

Boris Johnson bricht mit dem Segen von Heinz Erhardt in Bidens Wohnung ein - Vermischtes 20.08.2019

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Boris Johnson is not Churchill but de Gaulle
While the new prime minister may have courted Churchillian comparisons, perhaps his true political precursor is a continental one — the first president of France’s Fifth Republic, Charles de Gaulle. [...] Dirigisme is back. In addition to transport infrastructure, expect a revival of development corporations. These could be the emblem of Johnsonism — creations of Margaret Thatcher’s environment secretary Michael Heseltine, using powers established by a Labour prime minister, Clement Attlee. [...] By delivering Brexit, Mr Johnson will have the largest amount of political capital that a Tory leader has had with their right since Thatcher won the miners’ strike. This will give him almost total freedom. Already he has established message discipline, and the political discourse has shifted from “people’s vote vs Brexit”, where the government struggled, to “no deal vs no Brexit”, where the Tories are the champions of the voice of the people. The prime minister will use his freedom to marshal new constituencies. Not just the northern working class, but all patriots who worry about Mr Corbyn’s uncritical approach to Russian president Vladimir Putin. Expect a large increase in defence spending. The work of Mr Gove to “green” the image of the Conservatives will continue, with legislation on animal rights and agricultural subsidies for carbon-neutral means of production. And don’t be surprised if the legalisation of cannabis moves closer — young people need a reason to vote Tory too. Intervention. Infrastructure. Optimism. Patriotism. A renewal of politics to rescue the nation. Soon we will hear the prime minister’s clarion call: “Anglaises, Anglais, aidez-moi!” (John McTernan, Financial Times)
John McTernan ist da an was dran. Dieses Basteln an einer völlig neuen Koalition ist etwas, das ja etwa auch Trump, mit deutlich weniger Erfolg, in den USA versucht hat. Die AfD in Deutschland versucht sich auch an einer elektoralen Strategie mit dieser Stoßrichtung. Die Idee ist generell, die frühere sozialdemokratische Kernwählerschaft anzugehen und nachhaltig an die neue Rechte zu binden (ich weiß nicht, inwieweit man das noch als konservativ bezeichnen will? New Conservative als Parallele zu New Labour?). Ich stimme McTernan völlig zu, dass das ein sehr erfolgversprechender Ansatz ist und die Dominanz der Partei für eine neue Generation festigen könnte - so, wie die "geistig-moralische Wende" im Sinne Thatchers, Reagans und Kohls mehr als eine Generation lang dominierte. Ebenfalls richtig liegt er damit, dass es Zeit ist, politisches Kapital auszugeben. Merkel hat effektiv dasselbe getan, als sie ihre zahlreichen Kehrtwenden beging, um Grüne und SPD kleinzuhalten, vom Atomausstiegsausstieg bis zum Mindestlohn. Hier hat Johnson, wie jeder Konservative, einen entscheidenden Vorteil: wo die Linke seit mittlerweile 15 Jahren unter Qualen darüber diskutiert, wie viele Zentimeter man sich denn nun vom Agenda-Konsens entfernen könnte, ohne unglaubwürdig zu sein, können Konservative wie immer ihren Adenauer auspacken und sagen: "Was geht mich mein dummes Geschwätz von gestern an!" Diese Flexibilität ist die größte Stärke der Konservativen, schon immer gewesen, und einer der Hauptgründe warum sie an der Regierung so viel erfolgreicher sind als Progressive. Solange die Basis ihre identity politics bekommt, lässt man der Führung fast alles durchgehen. Der Erfolg gibt ihnen Recht. Wenn McTernans These hier sich bewahrheitet, dürfte Johnsons Tories ein ziemlich durchschlagender Erfolg ins Haus stehen - und Großbritannien eine neue Ära von Isolation und schleichendem Niedergang, die von großzügigen schuldenfinanzierten Subventionen für jeden Tory-Anhänger begleitet sein wird. Solange, bis der Schuldenstand hoch ist und die Leute genug haben. Dann können wieder Progressive zum Aufräumen kommen, und die Tories über die Schulden jammern, die sie produziert haben. Auch das ist eine über Jahrzehnte in Ehren gehaltene Tradition konservativen Regierens, die, wenn man das sagen darf, sich bewährt hat.

2) Trump’s Misogynistic Triumph: Democrats Are Afraid to Nominate a Woman
This fear has percolated just under the surface during 2020’s invisible primary and is now being forced into plain view by the recent success of Massachusetts senator Elizabeth Warren. [...] What makes this narrative strange is that this isn’t about Democratic primary voters preferring men to women. It’s about the belief of Democratic primary voters that the general electorate is a more than a wee bit piggy. And why do they believe that? Because a man like Trump beat Hillary Clinton. Put most bluntly, blue America is convinced that red America is deeply misogynistic. So in order to reverse the 2016 outcome, Democrats just can’t take the risk of running even the most highly-qualified woman. [...] Electability, of course, is a slippery concept to begin with, and by the time Democratic voters formally weigh in the prevailing assumption that old white men are vastly more electable than women or people of color could have been eroded by additional evidence. And it’s also possible that the neurotic conviction of so many Democrats that this deeply and persistently unpopular president is so infernally powerful that electability is the only thing that matters could fade. Democrats need to ask themselves questions like this: Is the historic value of electing an eminently qualified women as president worth boosting the odds of a Trump reelection from, say, 20 percent to 22 percent? How about the value of electing a president who can actually get important things done? Personally, having evaluated the “theories of change” being advanced by the various candidates, I think the two Democrats with the clearest visions of how they will accomplish their policy goals happen to be Warren and Klobuchar, not Biden and Sanders [...] So if you have two women, one “progressive” and one “moderate,” who can credibly promise a greater 2020 payoff than just ejecting Trump from office, why keep preferring men who appear to live in a different era (Biden) or country (Sanders)? Yes, Trump has gotten deeply into the donkey’s head, and has convinced Democrats that his dark misogynistic soul is America’s. That’s some serious damage. (Ed Kilgore, New York Magazin)
Es ist sehr schwierig zu sagen, wie viel davon eine Rolle spielt. Es ist nur ziemlich klar, DASS es eine Rolle spielt. Oder glaubt jemand ernsthaft, dass die Democrats 2012 nicht zweimal überlegt hätten einen Schwarzen aufzustellen wenn Obama 2008 verloren hätte? Die Republicans hatten 2016 auch eine Heidenpanik davor, einen anderen Romney aufzustellen; das war sicherlich einer der vielen Gründe, warum es Jeb Bush so schwer hatte (neben der Tatsache, dass er ein grottenschlechter Kandidat war). Und jede Umfrage zum Thema bestätigt ein ums andere Mal, dass Frauen weniger Kompetenz zugesprochen wird und dass sie, gleich in welcher Partei, gleich welcher Hautfarbe, einen Nachteil gegenüber männlichen Kandidaten haben. Klar, der Unterschied ist nicht riesig - Kilgore spricht in seinem Artikel nicht ohne Grund von "20 to 22 percent". Aber bei einer Wahl, die so knapp ausging wie 2016, möchte man als Partei und Wähler auch nur ungern Risiken eingehen. Wenn man sich dann noch anschaut, welche beiden Männer gerade in Führung liegen - Sanders und Biden - und noch einmal "kein Risiko" denkt, dann ist auch klar, warum Biden so erfolgreich ist. Mal von den vielen anderen Gründen abgesehen, die ebenfalls zu seinen hohen Umfragewerten beitragen.

3) What the next Democratic president should learn from the Trumpocalypse
Trump's administration is following in the footsteps of George W. Bush and Reagan before him: extreme goals achieved through procedural maximalism and tendentious legal theories. That's the story of Bush's illegal torture program and his warrantless wiretapping, Reagan's Iran-Contra scandal, and dozens of other atrocities. Republicans always push the envelope as far as they can, especially when they're doing something horrible, and hope the partisan hacks they have installed in the judiciary will rubber-stamp their decisions. Of course, one wouldn't want Democrats to adopt similar goals, and neither should they resort to outright illegality (as Republicans very often do). But they have every right to fight fire with fire when it comes to say, protecting immigrants or the environment, attacking monopoly power, boosting unions, and so forth. Indeed, not doing so directly enables Republican extremism, by making it clear they will actually benefit from Democratic timidity. [...] Many Democrats seemingly believe that a totally one-sided demonstration of good faith will win them Responsibility Points among the electorate. But what it really shows is that they are suckers who are easily bullied. Again, it would not be wise to completely mirror Republican extremism and bad faith. But Democrats could press the attack very much harder than they have of late without trampling on democracy. [...] This approach will result in a lot of losses, no question. But this is how Republicans came to dominate national politics — always attack, always force the enemy to play defense if possible, and never admit defeat. Perhaps someday American politics might become more respectful, but so long as the GOP refuses to play nice, Democrats shouldn't either. (Ryan Cooper, The Week)
Ich fürchte auch, dass kein Weg daran vorbeiführen wird, deutlich aggressiver vorzugehen, um irgendetwas zu erreichen. Die Republicans halten sich an keinerlei Regeln und nehmen null Rücksicht. Ständig nur die andere Wange hinzuhalten macht einen nur zum nützliche Idioten und führt beim Schläger auf der anderen Seite nur dazu, dass er sich bestärkt fühlt. Das Problem ist und bleibt, dass unklar ist, wie es dann weitergeht. Vielleicht - das ist die Hoffnung derer, die eine solche Strategie vertreten - kommen die Republicans wieder zur Besinnung, und man kann gemeinsam wieder vom Abgrund zurücktreten. Oder aber, und das ist historisch gesehen leider deutlich wahrscheinlicher, eskalieren die Rechten einfach nur. Und das ist ein Streit, den die Linken nie und nimmer gewinnen können, schon alleine deswegen, weil die bewaffnete Staatsgewalt eine grundsätzlich rechte Institution ist. Oder glaubt irgendjemand ernsthaft, dass wenn die Gewalt auf die Straßen schwappt, das keine Rolle spielen würde? Man muss nur mal schauen wie das in Weimar lief, oder den Verfassungsschutz ansehen, oder irgendeine Sicherheitsbehörde irgendwann in der Geschichte. Das kann nicht gutgehen. Es ist zum Verzweifeln.

4) The Limits of Trump’s White Identity Politics

In a study of the 2016 election published last year, the Tufts University political scientist Brian Schaffner and two of his colleagues found that the strongest predictor of support for Trump over Hillary Clinton was a belief that racism is no longer a systemic problem. Using results from a large-sample postelection survey called the Cooperative Congressional Election Study, they found that belief dwarfed economic concerns as a predictor of support for Trump. The conviction that discrimination against women is not a problem also proved a more powerful predictor of Trump support than economic concerns, though not as strong a factor as racial attitudes. In an interview, Schaffner noted that a substantial portion of Trump’s supporters backed him simply because they were Republicans and he was the Republican nominee, not because they necessarily shared his views on race or gender roles. But overall, his coalition was largely united by the belief that discrimination against minorities (and, to a somewhat lesser extent, women) is no longer a big problem. The denial of racism “was also the strongest predictor of someone switching from an Obama voter in 2012 to a Trump voter in 2016,” Schaffner said. More recent surveys have also found that Trump supporters are much more likely than other Americans to dismiss concerns about discrimination against minorities and women. [...] Trump’s willingness over the past few weeks to employ more overtly racist language—and then to claim that he and his supporters are the real victims of racist accusations—offers one more piece of evidence that he’s not focused on converting many, or any, of those skeptics in 2020. Instead, he appears to be set again on finding a narrow path through the Electoral College while largely abandoning the goal of winning the popular vote. (Ronald Brownstein, The Atlantic)
Das wäre das etwas optimistischere Gegenstück zu Fundstück 3: Trump und die GOP elektoral schlagen. Dank der einseitigen Radikalisierung durch Wahlunterdrückung und ähnliche Maßnahmen ist das allerdings nicht so leicht, wie es angesichts der Mehrheitsverhältnisse scheint. Die unrepräsentativen Organe des US-Systems arbeiten alle für die GOP, von den Gerichten bis zum Senat. Die Democrats müssen unter den aktuellen, polarisierten Umständen ja schon 7-8% mehr als die Republicans haben, nur um Gleichstand im House of Representatives zu erreichen; im Senat reicht nicht mal das. Das legt auch dieser Strategie schwere Steine in den Weg. 
 
5) Wer hat Angst vorm kleinen Mann?
Interessanterweise wird der Begriff "unsozial" im Zusammenhang mit klimapolitischen Fragen erstmals intensiv auch von Leuten genutzt, die sich bislang fürs Soziale nicht so interessiert haben. Gerade Politiker, die Umverteilung gern als "Gleichmacherei" verurteilen, verweisen plötzlich auf "soziale Gerechtigkeit", wenn es um eine einheitliche CO2-Besteuerung und den Abbau klimaschädlicher Subventionen geht. Es gibt zwei einfache Möglichkeiten, dieser bei Licht betrachtet doch sehr durchsichtigen Argumentation zu begegnen. Erstens: Man weist darauf hin, dass Klimapolitik und finanzieller Ausgleich zwischen Bevölkerungsgruppen vollständig unabhängig voneinander betrachtet werden können. Wenn all diejenigen, die bei, sagen wir mal, höheren Fleischpreisen vor "sozialen Schieflagen" warnen, sich wirklich so für soziale Gerechtigkeit interessieren - wieso regen sie dann nicht einfach mehr Umverteilung an? Zweitens: Die fiktive Familie, in deren Leben sich nichts ändern darf, ist eben genau das - fiktiv. Das Gesellschafts- und Weltbild, das implizit stets heraufbeschworen wird, wenn vor der angeblich so veränderungsunwilligen deutschen Gesellschaft gewarnt wird, stammt aus den späten Fünfzigern bis frühen Achtzigern. Schön Fleisch auf dem Teller, freie Fahrt für freie Bürger, Flugreise ins Pauschaltourismusparadies, fertig ist das Kleinbürgerglück. Wo steht denn geschrieben, dass dieser winzige Ausschnitt aus der Geschichte der Menschheit das Modell für unser aller Zukunft sein soll? Wer will denn wirklich in einem Heinz-Erhardt-Film leben? Tatsächlich sind die meisten Deutschen längst viel weiter. [...] Was diese Gesellschaft braucht, ist ein neues, positives Selbst- und Zukunftsbild. Dieses Bild existiert sogar längst, jenseits dessen, was sich viele Politiker immer noch ausmalen, wenn sie "öko" sagen. Eine nachhaltige Lebensweise hat heute rein gar nichts mehr mit Kleidung aus Jutesäcken, verfilztem Haar, Freudlosigkeit, Humorlosigkeit und geschmacklosem Essen zu tun. [...] Ein nachhaltiges, CO2-neutrales Leben ist ruhiger, entspannter, gesünder, heller, schöner. Wer das "unsozial" findet, hat nicht verstanden, dass Veränderung zum Wesen jeder Gesellschaft gehört. (Christian Stöcker, SpiegelOnline)
Ich wäre bei weitem nicht so optimistisch wie Stöcker, was den gesellschaftlichen Wandel anbelangt. Ja, die Heinz-Erhard-Welt ist alles, aber nicht mehr die Mehrheit in Deutschland. Sie ist aber mit Sicherheit noch eine Pluralität. Und natürlich hat Stöcker damit Recht, dass das Händewringen der Konservativen über die soziale Ungerechtigkeit von Maßnahmen gegen den Klimawandel klare Heuchelei ist, bad faith und nicht ernstzunehmen. Dass der Sender völlig unglaubwürdig ist, ändert aber nichts an der Validität des Arguments. Ich bin der Überzeugung, ebenso wie Stöcker, dass wir weltweit ein nachhaltigeres Lebensmodell werden fahren müssen. Und dass dieses Modell gesünder und besser für alle ist. Aber dieser Wandel braucht lange Zeit und lässt sich nicht komplett verordnen. Was der Staat tatsächlich tun kann ist, Signale und Anreize zu setzen. Von Ökostrom bis Bio-Lebensmitteln, von neuen Verkehrskonzepten über Veggie-Days in öffentlichen Kantinen. Ein Schritt nach dem anderen, jeder begleitet vom ewigen Gejaule des bürgerlichen Feuilletons, bis die Vielzahl der kleinen Schritte sich zum großen Wandel summiert. Ich sehe Ralf schon zur Tastatur eilen und mir widersprechen. :) 
 
6) How a Trump recession could cement Biden's 2020 victory
And yet, in the midst of a recession, the race [of 1992] took a surprisingly centrist tone. After recovering from the exposure of an extramarital affair, Clinton kept his focus on economic growth through traditional methods. This strategy turned out to be so successful that Brown tried changing tactics late in the primaries, swinging right to back a flat tax and abolishing the Department of Education, long a goal of Ronald Reagan conservatives. In the end, however, Democrats went with Clinton and his laser focus on the economy, a centrist who promised less of an economic revolution in the midst of uncertainty in the short recession. If that same dynamic holds in 2020, it won't benefit Warren even if she wins the recession-prediction sweepstakes. Voters will want stability and caution rather than radical shifts in policy, perhaps especially after the drama and unpredictability of Trump's White House tenure. Almost the entire Democratic field has run hard to the left in order to out-Bernie Bernie Sanders; of the viable candidates remaining, only Joe Biden fits the mold. Biden also represents a restoration of the Barack Obama order, which is already attractive enough that Biden's opponents have been forced into the role of attacking Obama to fight Biden for the nomination. That may not be a bad outcome for Democrats. Biden consistently polls as the most competitive candidate against Trump, and Biden has plenty of experience in working the Rust Belt states that Trump took in 2016. Primary voters seem inclined to choose Biden already, but economic turmoil may well cement his nomination as the safest port in a storm. (Edward Morrissey, The Week)
Wenn es etwas gibt, das ich bei den Beobachtern des politischen Prozesses gerade in den USA abstoßend finde, dann diese Bereitschaft, alles zuerst unter dem Prisma "wie wirkt es sich auf die Umfragen aus" anzuschauen. Da wird dann ganz nüchtern diskutiert, welchem Kandidaten eine Rezession mehr helfen würde. Ich habe eine Flut dieser Artikel in der Timeline, aber praktisch keine, die sich mit den Auswirkungen auf die Bevölkerung selbst beschäftigen. - In der Sache gebe ich Morrissey durchaus Recht, und ich glaube es ist gut, dass Progressive nicht auf eine Rezession hoffen sollten. Soweit sollte unser politischer Anstand schon reichen, wenn es schon der der Gegenseite nicht tut. Die haben ja nicht einmal ein Problem damit, absichtlich eine herbeizuführen, wenn sie glauben, dass es ihnen elektoral hilft. 
 
7) Auf der Suche nach der verlorenen Macht
Nun wird niemand etwas in der Politik, der keine Bündnisse auf Zeit zu schmieden weiß. Kommunikationsfähigkeit ist die Kernkompetenz des Spitzenpolitikers. Brandt hatte seine Schwächen, aber in seinem Brief an Schmidt zeigte sich seine Fähigkeit als Brückenbauer. Vor allem aber dominierte die Persönlichkeitsstruktur nicht den politischen Inhalt. Am Ende ging es immer um mehr als um die Eitelkeit von Spitzenpolitikern. Die war bekanntlich weder Brandt, noch Schmidt fremd. Davon ist nichts geblieben. In Nahles Worten wird Politik zum inhaltslosen Begriff, weshalb ihr Bild vom „flüchtigen Reh“ so gut passt. Es beschreibt den Zustand einer Partei, die ziellos über die Lichtung rennt, immer in Angst vor allen möglichen Gefahren. Tatsächlich ist die Macht in der SPD verschwunden und diese Partei seitdem auf der Flucht. Das liegt nicht an intriganten Männern oder vermeintlich naiven Frauen als Rednerinnen in ehrwürdigen Gemäuern. Vielmehr an dem Verlust eines handlungsfähigen Zentrums, das nach innen und außen Orientierung bieten kann. Das etwas von der historischen Verantwortung weiß, weil man erst gemeinsam etwas durchmachen muss, um Wirkung zu erzielen. Das Scheitern von Andrea Nahles machte den Zerfall der SPD als Organisation sichtbar. Die feministischen Deutungen über das Scheitern der Andrea Nahles sind deshalb eine Attitüde ohne Erklärungswert. Oder glaubt jemand ernsthaft, dass es im Präsidium oder im Vorstand dieser Partei noch Männer oder Frauen gibt, die in der skizzierten weltpolitischen Lage Orientierung vermitteln könnten? (Frank Lübberding, Cicero)
Lübberdings Hinweis, dass es in der SPD keinen echten Gestaltungswillen gibt, ist mehr als angebracht. Seit mittlerweile über einer Dekade verwaltet die Partei eigentlich nur noch ihren Niedergang. Es ist dabei glaube ich auch viel weniger wichtig, in welche Richtung sie sich entwickelt. Ein klares Bekenntnis zur Agenda2010 à la Steinbrück oder Scholz wäre genauso eine Option wie ein Bruch mit der Agenda, wie ihn linke Kritiker fordern. Beides hat Risiken, aber was der Partei aktuell das Genick bricht ist das Lavieren, das ständige Hin-und-Her, das dauernde Sowohl-als-auch. Ich fürchte allerdings, dass es mittlerweile ohnehin zu spät ist. 
 
8) Das hat der Mindestlohn bislang gebracht
Fast fünf Jahre nach Einführung des Mindestlohns fällt die Bilanz der Fachleute durchweg positiv aus, die Kassandrarufe sind verhallt. „Wir Ökonomen mussten eingestehen, dass unsere Prognosen komplett falsch waren. Unsere Warnungen waren überzogen“, sagt der Kölner Arbeitsmarktexperte Alexander Spermann. Das glückliche Deutschland habe mit dem Zeitpunkt des Mindestlohnstarts mehr zufällig ein „perfektes Timing“ gehabt: 2015 fiel in die Mitte eines fast zehnjährigen Konjunkturaufschwungs, der Mindestlohn konnte die steigende Nachfrage nach Arbeitskräften nicht bremsen. [...] Gerade auch Niedriglohnbranchen wie die Gastronomie, der Einzelhandel oder die Pflegedienste bauten weiter Personal auf. Negative Beschäftigungseffekte seien kaum nachweisbar gewesen, sagt Philipp vom Berge, der die Auswirkungen für das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) untersucht. „Der stärkste Rückgang lässt sich bei den Minijobs beobachten, der jedoch zum Teil durch Umwandlungen in sozialversicherungspflichtige Teilzeitjobs aufgefangen wurde.“ [...] Doch die Arbeitgeber preisen das Mindestlohnverfahren. „Positiv ist, dass der Mindestlohn der Entwicklung der Tariflöhne und damit einer festen Anpassungsdynamik folgt“, sagt Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände. (Birgit Marschall, General-Anzeiger Bonn)
Es ist schön zu sehen, dass auch einige Ökonomen ihren Fehler eingestehen. Keine der apokalyptischen Vorhersagen über den Mindestlohn hat sich bewahrheitet. Halbwegs aufmerksamen Beobachtern ohne ideologische Verblendung war das bereits vorher klar, weil genau diese apokalyptischen Vorhersagen von immer den gleichen Leuten in jedem Land gemacht werden, wo er eingeführt werden soll, und es in jedem Land dann nicht so kommt. Niemand liegt so konsequent daneben wie Mindestlohnkritiker. Kaputte Uhren gehen ja wenigstens zweimal am Tag richtig. 
 
9) The Democratic Primaries Have Been Surprisingly Stable
There has been very little variation in the five survey results taken beginning in February. Biden began with a commanding lead and has led in all the polls by an “average of 22 percentage points.” He has lost only one point since the last poll, despite a few gaffes and controversies and less than stellar debate performances. The top six candidates in the poll have remained constant. Elizabeth Warren and Bernie Sanders have been in a tight race for second place, polling in the mid-to-high teens, with Kamala Harris slightly below them. Pete Buttigieg enjoyed a brief but modest bump that has dissipated, and he really represents the only significant fluctuation. It’s almost as if nothing that has happened since February has had any real influence on the preferences of South Carolina voters, but they do seem to have changed what they prioritize as issues. What’s most remarkable, in my opinion, is the failure of the lower tier candidates to catch fire. We’re not seeing much rotation or churn near the bottom, as most candidates are registering one percent or less in the results. I’m not sure what explains this, but it bolsters the legitimacy of my first instinct. I felt that Biden and Sanders would begin at the top of the polls and that they would remain there because they both enjoyed a solid and unshakable base of support. Whatever else seems to change, the size of their support seems almost immutable. [...] And yet, the desire within the Democratic Party to find a new generation of leadership is strong. Two old white career politicians aren’t the answer for many voters, and I expected more of a contest for third or fourth place. It seems that Warren and Harris have seized that territory and no one else can break through. Warren appears to be in the strongest position to supplant Sanders as the main alternative to Biden, and she’s polling ahead of him (by a single point) in South Carolina. (Martin Longman, Washington Monthly)
Der Schatten, der hier langwierig ausgetrieben wird, ist der von 2012, als in den republikanischen primaries ein abwegiger Spinner nach dem anderen in den Umfragen hochschoss, um danach im Lichte selbiger Umfragen zu verglühen. Derselbe Blödsinn wiederholte sich 2016, nur dass der Spinner dieses Mal gewann. Demgegenüber waren die demokratischen primaries 2016 ziemlich stabil. Die große Furcht - oder Hoffnung, je nach Ansicht - aller Beobachter war, dass die primaries 2020 für die Democrats eine Auflage der republikanischen von 2012 werden, wo die Hoffnung Romneys, nach den Vorwahlen einen etch-a-sketch zu machen und sich als moderater Republican neu zu erfinden krachend scheiterten. Kandidaten dafür gäbe es genug, von Gabbard bis Williamson. Aber diese Kandidaten haben konsistent Umfrageergebnisse unterhalb der Prozentschwelle; dass sie überhaupt irgendwelche Aufmerksamkeit erhalten liegt hauptsächlich daran, dass der DNC seine Lektion von 2016 überlernt hat und auf keinen Fall selbst die größten Vögel von den Debatten ausschließen wollte - was, wie Ralf in seinen Artikeln auch schön gezeigt hat, vor allem darin endete, dass die Veranstaltungen beknackt waren. Generell aber sind die primaries 2020 ein Hort der Vernunft, verglichen mit dem Bullshit, der ihre republikanischen Gegenstücke in den letzten beiden Zyklen dominierte. 
 
10) Nichts Neues bitte, läuft doch auch so
Und so wird im Falle einer Rezession eben Trump und seiner zweifellos stumpfen Handelspolitik die Verantwortung zugeschoben werden - unter weitgehender Ausblendung der Versäumnisse der deutschen Wirtschaft. Die lassen sich grob so zusammenfassen:
  • Nicht rechtzeitig erkannt zu haben, zumindest nicht in der vollen Breite, dass in Zukunft das Geld weniger mit Hardware und viel mehr mit vernetzter Software verdient werden wird, auch in der Industrie.
  • Nicht rechtzeitig erkannt zu haben, dass die stetige Verbesserung eine andere Art von Innovation ist als die Erfindung von Produkten, die den Markt umwälzen.
  • Nicht rechtzeitig erkannt zu haben, dass die im Vergleich geringen Investitionen deutscher Unternehmen eine katastrophale Sackgasse sind.
Kurz, substanzielle Teile der deutschen Wirtschaft haben nicht erkennen können oder wollen, dass die gestrigen und heutigen Erfolgsrezepte morgen nicht mehr zwingend funktionieren werden. Es funktioniert doch auch so. Das ist das Prinzip von Comicfiguren, die in voller Geschwindigkeit noch ein ganzes Weilchen über dem Abgrund weiterlaufen können, bevor sie erkennen, dass sie längst die Richtung hätten ändern sollen - und herunterfallen. So erfolgreich zu sein, dass der Druck, sich zu wandeln, praktisch auf null sinkt, das ist das große deutsche Luxusproblem. In Zeiten der Digitalisierung ist das gleichbedeutend damit, von der eigenen Substanz zu leben. Die kommende digitale Rezession ist hausgemacht und beruht auf der Hybris, die Wucht und Radikalität der digitalen Transformation einfach ausgeblendet zu haben. (Sascha Lobo, SpiegelOnline)
Ich habe das in meinem Artikel zur Volkswirtschaft Baden-Württembergs schon vor über zwei Jahren zusammengefasst. Deutschland lebt völlig von seiner Substanz, auf allen Ebenen. Seine Konzerne investieren weder ausreichend in neue Infrastruktur noch Forschung und Entwicklung, der Staat (stets dem Goldenen Kalb der Schwarzen Null huldigend) sowieso nicht. Im Kultusministerium wird lieber überlegt, wie man die Schüler vor dem Internet schützen kann, als wie man endlich die Mammutaufgabe der Digitalisierung der Bildung angeht. Und so weiter und so fort. Es ist ein absolutes Trauerspiel. 
 
11) Bundesamt für Einbruch
Aus Seehofers Ministerium stammt ein Gesetzentwurf zur "Harmonisierung des Verfassungsschutzrechts". Nicht nur die Polizei, so heißt es dort, sondern "das Bundesamt für Verfassungsschutz darf Wohnungen auch betreten". Also die Agenten des Inlandsgeheimdienstes. Das ist neu. Zwar ist schon länger geplant, dass sie die Befugnis erhalten sollen, Handys und Computer mit ihrer Spionagesoftware zu infizieren, die Fachbegriffe dafür heißen Online-Durchsuchung oder Quellen-Telekommunikationsüberwachung. Aber: Um die Software aufzuspielen, sollen sie nun offenbar nicht nur an öffentlichen Orten in einem unbeobachteten Moment ein Handy entwenden, sondern auch in Wohnungen einbrechen dürfen. Über diese kleine Passage in Seehofers 41 Seiten starkem Gesetzentwurf ist gerade der Rechtsprofessor Fredrik Roggan gestolpert, der an der Polizeihochschule Brandenburg lehrt. Der Jurist Roggan hat erst kürzlich in der Zeitschrift für öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaft beschrieben, wie hoch die verfassungsrechtlichen Hürden sind, die auch nach 1998 für jeden Eingriff in die Privatheit der Wohnung gelten. Erstens muss der Verdacht einer schweren Straftat bestehen, oder eine dringende Gefahr für Leib oder Leben. Zweitens: Ein Richter muss den Eingriff anordnen. In Seehofers Entwurf indes sei von beidem nicht zwingend die Rede. Die Agenten sollen vielmehr auch in Wohnungen einbrechen dürfen, um den späteren Besuch eines ihrer sogenannten V-Leute dort vorzubereiten. "Im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang" könnten sie Räume technisch präparieren, so heißt es in dem Entwurf. Und sie müssten keinen Richter befragen, sondern nur die sogenannte G-10-Kommission, ein Gremium aus vor allem ehemaligen Bundestagsabgeordneten, das alle paar Wochen geheim tagt. "Es könnte in Zukunft passieren, dass Leute in unserer Abwesenheit in unserer Wohnung gewesen sind", sagt Roggan. "Und kein Richter hat dem zugestimmt." Dies erlaube Artikel 13 des Grundgesetzes eigentlich nicht. (Ronen Steinke, Süddeutsche Zeitung)
Seehofer hat echt den Schuss nicht gehört. Eine Behörde, die konsequent durch Rechtsbrücke, Inkompetenz und subversive Tätigkeit auffällt wie der Verfassungsschutz soll nicht nur unkontrollierten Zugang zu Privatwohnungen bekommen, sondern diesen auch noch V-Leuten verschaffen können. Das wären dann die vom Verfassungsschutz finanzierten und unterstützten Nazis, die gerade im Osten für so viel Gewalt verantwortlich sind; und wir würden dem Verfassungsschutz Unrecht tun würden wir nicht bemerken, dass er natürlich auch Linksextremisten finanziert. Denn wo man irgendwo die Aufklärung verhindern und Straftaten befördern kann, da ist diese Behörde immer zuvorderst mit dabei. Aber was scheren einen gestandenen konservativen Innenminister auch Grundrechte oder so was.