Samstag, 31. März 2018

Das Geschäft mit Sanifair - Kapitalismus im Endstadium?

In seinem Video "Das Geschäft mit den Sanifair-Gutscheinen" kritisiert Rayk Anders die Privatisierung der deutschen Tankraststätten 1998, weil diese dazu geführt haben, dass die Toilettengänge 50 bis 70 Cent kosten, die dann auf einem Gutschein in einem der teilnehmenden Geschäfte beim Einkauf eingelöst werden können. Anders beklagt, dass ein öffentliches Gut wie eine Toilette so von ruchlosen Investoren vermarktet wird und ein körperliches Grundbedürfnis Geld kostet, und dass die Toilettengutscheine einen Anreiz bieten, etwas Überteuertes an den Raststätten zu kaufen, das man eigentlich gar nicht braucht. Inzwischen ist Sanifair auch in Einkaufszentren eingeführt, wo nur wenige der Geschäfte Kooperationspartner sind. Für Rayk Anders ist damit klar: Sanifair ist ein Sinnbild des Privatisierungswahnsinns, ein klares Beispiel für den Irrweg, den diese Form geht. Ich bin da anderer Meinung. Für mich ist Sanifair eher ein Beispiel dafür, was mit einer Investitonsstrategie an sinnvollen Ergebnissen erzielt werden kann. Bevor Sanifair seine Bezahlschranken (im wörtlichen Sinne) und Gutscheine einführte, waren öffentliche Toiletten an Rastplätzen Dreckslöcher, in denen man wirklich nur im äußersten Notfall sein Geschäft verrichten wollte. Die Dinger, die man manchmal an Autobahnparkplätzen noch findet, sind Mahnmale dieser Zeit. Wenn Sanifair eine Toilette übernimmt, habe ich eine Garantie dass sie ordentlich gereinigt und hygienisch ist und ohne schlechtes Gewissen induzierende Klomenschen mit einem Teller Kleingeld auskommt. Kurzum: eine Sanifair-Toilette garantiert mir, dass ich mich auf das Kerngeschäft beschränken kann, ohne Angst vor Ekelanfällen oder den peinlichen fest an die nächste Wand gerichteten Blick, um ja nicht auf den Teller zu schauen.

Kommt es zu den Gutscheinen, von denen Anders in breiter Entrüstung erklärt, dass die Kunden damit angeleitet werden, in den Raststätten teure Waren zu kaufen, kann man kaum anders als zu sagen: No shit, Sherlock! In der Welt gibt es nichts umsonst. Vor der Privatisierung der Raststätten 1998 zahlte ich die Toilettenreinigung mit meinen Steuern, jetzt zahlen sie effektiv die Kunden und die teilnehmenden Betriebe. Ich finde das Prinzip super fair. Die jeweiligen Läden wollen die Infrastruktur zur Verfügung stellen, also bezahlen sie sie effektiv anteilig (je nachdem wo viel eingekauft wird werden auch viele Sanifair-Gutscheine eingelöst), und wer nichts kaufen will, bezahlt den Toilettengang selbst. Klar sind die Sachen in Raststätten teurer, sonst würden die ja kein Geschäft machen. Angebot und Nachfrage, und so.

Dass die Hälfte (oder sogar mehr) der Sanifair-Gutscheine nicht eingelöst werden, ist für mich daher kein Skandal, sondern eher ein Zeichen für gutes Verständnis der Kunden. Sie lassen sich eben nicht ködern irgendwelchen teuren Scheiß zu kaufen den sie nicht brauchen, sondern zahlen halt 70 Cent für die Toilette und gut. Und das ist in Ordnung. Ich sehe nicht, wo ich ein Grundrecht auf saubere öffentliche Toiletten ohne jede Gegenleistung haben sollte. Entweder das macht der Staat (und angesichts der dreckigen Toiletten an Autobahnen sehe ich den Performance-Mehrgewinn keinesfalls) oder irgendein Unternehmen. Ersteren finanziere ich über Steuern, und letztere machen das für den Gewinn. So oder so muss ich für eine saubere Toilette zahlen.

Das von Anders angesprochene Problem, dass in den Einkaufscentern nur wenige Geschäfte Sanifair-Gutscheine einlösen, ist eines, das der Betreiber lösen muss. Das System funktioniert nur richtig, wenn ich in jedem Geschäft den Gutschein einlösen kann. Mir ist nicht ganz klar, warum die Geschäfte, die in diesen Zentren teilnehmen, den Trittbrettfahrern ihr Vorgehen ermöglichen. Vermutlich rechnen sie mit genügend Mehrumsatz. Das ist eben Marktwirtschaft. Entweder Sanifair funktioniert abseits der Autobahnen, oder es wird auf diese beschränkt bleiben. Ich persönlich bin froh, wo ich über ein funktionierendes, von ordentlichen Angestellten unterhaltenes System auf die Toilette gehen kann und nicht darauf angewiesen bin, dass irgendwelche ausgebeuteten Niedriglöhner mit traurigem Blick von Spenden lebend die Dinger sauber halten. Go Capitalism!

Freitag, 30. März 2018

Die rechte Entrüstungs- und Aufmerksamkeitsmaschinerie

Jens Spahn, Alice Weidel, Horst Seehofer und Uwe Tellkamp sind keine Trottel. Man muss das voranstellen, weil so manche ihrer Aussagen nicht unbedingt dazu beitragen, ein derart gefasstes Vorurteil zu entkräften. Stattdessen sind die Politperformer, die in der neuen rechten Entrüstungs- und Aufmerksamkeitsökonomie ihre Nische entdeckt zu haben glauben und ihre politische Zukunft darauf bauen. Es ist ein zukunftsträchtiges Modell. Von Berlusconi zu Trump, Le Pen zu Farage, Orban zu Kaczinsky, überall wird das neue Modell gemolken bis es quietscht. Und es funktioniert, zumindest insofern, als dass die entsprechenden Personen in den Schlagzeile landen und der politische Diskurs nachhaltig vergiftet wird.

Das Modell der Entrüstungsmaschinerie ist immer dasselbe.

Schritt 1: Gebetsmühlenartig beschweren sich die Rechten, dass es in Deutschland keine Debatte mehr gibt. Sie weinen Krokodilstränen über das Meinungskartell, dass nur noch eine richtige Überzeugung zulässt, und befinden, dass ihre jeweilige Position in den Leitmedien nicht vorkommt. Ich weiß das, weil die Leitmedien ständig über diese Klagen berichten und sie in Pro- und Contra-Artikeln diskutieren.

Schritt 2: Man macht ein möglichst absurd überzeichnetes, provozierendes Statement. "Der Islam gehört nicht zu Deutschland" (Seehofer), "Die Demonstranten in Cottbus wehren sich nur gegen messerstechende Migranten" (Weidel), das Gerede von der "Gesinnungsdiktatur" (Tellkamp) oder "Hartz-IV bedeutet nicht Armut" (Spahn) sind alle nicht dazu angetan, eine Diskussion auszulösen. Sie sind dazu da, Widerspruch auszulösen. Einen anderen Zweck haben sie nicht. Es ist Trolling.

Schritt 3: Der so provozierte Widerspruch wird als Beweis dafür genommen, dass es keine Meinungsfreiheit gebe. Während das jeweilige Zitat rauf und runter debattiert wird, der Provokateur zu Talkshows eingeladen wird und die Seiten des Feuilletons Pro- und Contradiskussionen gewidment werden ("Gehört der Islam zu Deutschland?", "Herrscht in Deutschland Gesinnungsdiktatur?"), inszeniert man sich als Opfer einer furchtbaren Hetze. Ominös stellt sich die Frage: darf man das in Deutschland überhaupt noch sagen? Die Debatte, die sie sich angeblich so sehnlich gewünscht haben, ist in vollem Gange.

Schritt 4: Die Rechten beschweren sich darüber, dass sie kritisiert werden. Wo kommen wir da hin in Deutschland, wenn man "nicht einmal mehr sagen kann", dass der Islam nicht zu Deutschland gehört, und das mit dem allseits bekannten Bild des Islam, der Burka, garniert? Schließlich wird ja auch jede Debatte über das Christentum und Religionsunterricht an Schulen mit einem Kreuzritter illustriert, das ist bekannt.

[caption id="" align="alignleft" width="265"] Ja, das ist ein offizielles Bild der CSU.[/caption] Schritt 5: Siehe Schritt 1. Rinse, repeat.

Der Treppenwitz an der Geschichte ist, dass die Rechten damit genau das machen, was sie den Linken immer vorwerfen. Sie betreiben identity politics und pflegen ihre political correctness mit Denkverboten. Die nutzlos provozierenden Statements dienen ausschließlich dazu, irgendwelche Minderheitenthemen zu pushen und eine Abwehrreaktion gegen den gemeinsamen Feind hervorzufen. Man denke nur an die aberwitzige "Debatte" vergangenen Winter, als die große Bedrohung des christlichen Abendlands in der Frage bestand, ob der Weihnachtsmarkt weiter Weihnachtsmarkt heißen dürfe. Er erhobene moralische Zeigefinger der rechten Identity-Politics-Kreuzritter reichte in jedes Wohnzimmer.

Und damit nicht genug. Jeglicher Widerspruch ist natürlich nicht die angeblich so erwünschte Debatte, sondern wird sofort niedergebügelt und als "Gesinnungsdiktatur" oder "Meinungsdiktat" oder was auch immer verunglimpft und als angebliches Denkverbot und Tabu denunziert. Denn den Rechten geht es nicht um den Diskurs; ihnen geht es um die radikale Durchsetzung ihrer eigenen political correctness. Die wird natürlich nicht so genannt, stattdessen wird das gesunde Volksempfinden bemüht. Der erhobene moralische Zeigefinger ist unerträglich. "Hier schau, die Leute sind auf unserer Seite, du bist eine Minderheit, halte gefälligst den Mund und widersprich nicht!" Mit Demokratie oder Debatte hat das alles nichts zu tun, aber aus irgendeinem Grund wird so getan, als ob es das sei.

Dieser Wahnsinn hat Methode; oft genug kann man davon ausgehen, dass Rechte in ihren Vorwürfen projizieren. Konservative Politiker reden von Familienwerten, die von den Progressiven in den Dreck getrieben werden, während sie gleichzeitig irgendwelche Affären verheimlichen (Seehofer fiele einem da spontan ein). Während Reaktionäre mit tränenerstickter Stimme bedauern, dass man in Deutschland gar nicht mehr unschuldig fordern dürfte, doch bitte die Bundeswehr an der Grenze auf Flüchtlinge schießen zu lassen (Storch) ohne dass man sofort Widerspruch ernten würde, wird einem anderen Konservativen die Aussage, dass die vom Bundesverfassungsgericht festgelegte Grundsicherung, unter die in Deutschland kein Mensch rutschen dürfe, keinesfalls etwas mit Armut zu tun habe, nicht etwa als Ausdruck reines Provokationswillens angelastet, sondern debattiert, als habe er einen wertvollen Denkanstoß gegeben. Spahn derweil sonnt sich im Licht der so gewonnenen Aufmerksamkeit und bejammert bei Anne Will, dass man als Nicht-Linker totgeschwiegen werde, nachdem die BILD in ihrer Millionenauflage auf der Titelseite über ihn berichtete.

Kurzum: es ist ein lächerlicher Zirkus, der umso schlimmer dadurch ist, dass er erfolgreich ist. Denn das Schema zwingt die Gegner der Rechten in eine lose-lose-Situation. Ignoriert man die dummen Provokationen und lässt sie unwidersprochen stehen, verschiebt sich das Overton-Fenster einfach nur weiter nach rechts, und sie gewinnen automatisch. Widerspricht man ihnen, werfen sie sich in Opferpose und forcieren mit den Medien und Oppositionspolitikern, denen im Gegensatz zu den Provokateuren tatsächlich etwas an Demokratie und Debatte liegt, eine ernsthafte Diskussion auf einem Schlachtfeld ihrer Wahl. So oder so wäre die einzig effiziente Reaktion, unisono die Provokation zu verurteilen und die Provokateure einem Ostrakismus zu unterwerfen. Und damit würde man sich aus dem demokratischen Rahmen bewegen und die Vorwürfe bestätigen. Es ist ein Teufelskreis, der den Diskurs und die Gesellschaft als Ganzes Stück für Stück in den Dreck zieht, ohne dass ein Ausweg sichtbar wäre. Kein Wunder, dass die Rechten weltweit sich an diesem Vorbild orientieren. Wenn wir nicht bald einen Ausweg finden, graben wir uns und der Idee von Demokratie, Meinungsfreiheit und offener Gesellschaft unser eigenes Grab.

Freitag, 23. März 2018

Geschichte lernen

Letzte Woche hat Bob Blume eine gute Frage auf Twitter gestellt, die mich seither umgetrieben hat:
Tatsächlich ist das keine irrelevante Frage. Gerade in der interessierten Öffentlichkeit steht ja immer noch die Vorstellung im Mittelpunkt, Geschichte lernen bestünde aus Fakten und Jahreszahlen. Die Bedeutung des Fachs ist wenig bestritten, gilt eine Grundkenntnis der Geschichte doch als Voraussetzung für das Dasein als mündiger Bürger. Jede Änderung der Bildungspläne für das Fach wird daher deutlich heißer diskutiert als, sagen wir, die für Biologie. So beklagte die FAZ etwa 2016, die jüngsten Bildungsplanreformen seien "das Werk von Technokraten" die "Geschichte zur Betroffenheitspädagogik" machten; 2015 bezweifelte der Chef des deutschen Philologenverbands, dass "der Geschichtsunterricht noch in der Lage ist, die historische Dimension dieser heutigen Zeit zu vermitteln.“ Die Schüler seien immer weniger in der Lag, "Zusammenhänge zwischen früher und heute herzustellen und Lehren aus der Geschichte zu ziehen". Kritik wie diese findet man zuhauf; Längsschnitte (die Themenkomplexe ungeachtet der Chronologie untersuchen) und Alltagsgeschichte spielen eine größere Rolle in den Bildungsplänen. Angesichts dieser Konzentration auf Kompetenzen und Themenblöcke (hier genauer erklärt) statt Politikgeschichte und Chronologie steht für Schüler oftmals die Frage: wie genau lerne ich eigentlich auf dieses Fach?

Tatsächlich ist es keine ganz so einfache Frage. Vor 50 Jahren wäre die Antwort noch klar gewesen: lern die Biographie der Großen Männer, die Jahreszahlen und die Ereignisse auswendig. Wann war die Schlacht von Issos? 333. Wer gewann bei Borrodino? Napoleon. Was geschah 800 nach Christus? Karl der Große wird Kaiser. Damit hat man zwar bessere Chancen bei Trivial Pursuit, aber ein echtes Verständnis von Geschichte ist das auch nicht. Deswegen geriet diese Art, Geschichte zu betreiben, ab den 1970er Jahren auch in Verruf. Man führte Quellenanalyse und Quellenkritik in den Unterricht ein, begann soziohistorische Fragestellungen einzubringen und die Dominanz von Politik- und Kriegsgeschichte aufzubrechen, und jüngst kamen nun historische Kompetenzorientierungen hinzu, etwa die Fähigkeit, Sachverhalte eigenständig zu erklären oder gar zu erörtern und zu bewerten. Das verlangt von den Schülern einiges ab, besonders wenn sie das Fach nur zweistündig oder gar im Fächerverbund haben. Daher hier eine kurze Übersicht.

Das erste was Schüler verstehen sollten, wenn sie sich auf Geschichtsklausuren oder andere Leistungsfeststellungen vorbereiten, sind die Anforderungsniveaus. In anderen Bundesländern mögen sie anders heißen, aber das Grundprinzip sollte überall dasselbe sein. Wir unterteilen in grob drei Anforderungsgebiete.

Niveau I: Hier geht es um reine Reproduktion. Aufgabenstellungen ("Operatoren") umfassen "Nenne", "Arbeite heraus", "Ordne ein". Beispiele wären "Nenne drei Politiker Es handelt sich letztlich um klassisches Auswendiglernen. Die Idee ist, dass das erfolgreiche Bewältigen aller Aufgabenstellungen auf Niveau I für eine ausreichende Leistung (Note 4) genügt. Das heißt, wenn ich alles auswendig gelernt habe und das in der Arbeit hinschreibe, dann habe ich eine vier. Das dürfte für viele erst einmal ein Eimer kaltes Wasser sein. Was um Gottes Willen muss ich denn mehr tun, als massenhaft Stoff auswendig zu lernen?!

Niveau II: Der größte Teil einer Arbeit findet sich auf diesem Niveau. Es ist geprägt von Operatoren wie "Analysiere", "Erkläre", "Erläutere", "Charakterisiere", "Vergleiche". Dieses Niveau setzt voraus, dass die Schüler Inhalte nicht nur auswendig gelernt, sondern auch tatsächlich verstanden haben. Mit traditionellem "Lernen" war das bei weitem nicht garantiert. Dieses Verständnis allerdings ist auch nur insoweit interessant, als dass wir über das Trivial-Pursuit-Level hinauskommen; echte historische Kompetenz braucht einen weiteren Schritt.

Niveau III: Um in den guten bis sehr guten Notenbereich zu kommen, braucht es Fähigkeiten auf diesem Niveau. Hier finden sich Operatoren wie "Erörterte", "Bewerte" und "Beurteile". Diese Aufgabenstellungen sind schwierig, weil nicht nur sichere Faktenkenntnis und Verständnis erwartet werden, sondern auch die Fähigkeit, ein eigenes historisches Urteil zu bilden, wozu gegebenenfalls Vergleiche zu anderen Epochen und Ereignissen gezogen werden müssen.

In Klausuren sieht das üblicherweise so aus, dass einige Fakten auf Niveau I abgefragt werden, mindestens eine Quelle auf Niveau II analysiert sein will (meist eine Text- oder Bildquelle, häufig beides) und dann eine übergeordnete Fragestellung kommt. Als ein Beispiel aus einer meiner Klausuren zum Kalten Krieg könnte man zwei Stellvertreterkriege nennen, eine Karikatur zum Wettrüsten analysieren und dann beurteilen, wer eigentlich die größte Schuld am Kalten Krieg trägt.

Mit diesem Wissen im Hinterkopf kommen wir zurück zur Ausgangsfrage: wie lerne ich darauf? Der erste Tipp, den ich hierfür geben würde ist mir darüber klar zu werden, was eigentlich mein Ziel ist. Jemand, der eine 5 auf eine 4 verbessern will, geht anders an die Sache heran als jemand, der seine 2- in den 1er-Bereich steigern möchte. In ersterem Falle würde ich dazu raten, überhaupt mal was zu lernen, denn offensichtlich hakte es hieran. Wenn man dann noch schaut, dass man alle Zusammenhänge in groben Zügen verstanden hat, muss schon viel schief gegen dass man noch unter die 4 rutscht; je nachdem, wie ordentlich die Zusammenhänge erfasst wurden, steht da locker die drei vor dem Komma.

Etwas schwieriger sind alle Ambitionen, die darüber hinaus gehen. Ohne ein gewisses Grundinteresse für das Thema und das Fach wird es hier schwierig, weil das Denken in historischen Dimensionen nichts ist, das sich einfach an einem konzentrierten Nachmittag einüben lässt. Die Erfordernis ist hier, ein Breitenwissen zu haben (was Bulimie-Lernen verhindert, bei dem man Fakten für eine Klausur reinpaukt und danach gleich wieder vergisst) und dieses entsprechend verbinden zu können. Für die obige Beispielaufgabe etwa würde es mir wenig helfen zu wissen, dass die Berlin-Blockade 1948 stattfand - ich brauche den Kontext, in dem diese Ereignisse statt fanden, und muss dann für mich selbst entscheiden ob die UdSSR nur auf einen fait accomplis des Westens (die Gründung der Trizone und die Einführung der D-Mark) reagierten, oder ob es sich um einen aggressiven Akt handelte. Keine dieser Varianten ist offensichtlich richtig; was ich als Lehrkraft hier bewerte ist die Begründung, in der die historische Urteilsfähigkeit gezeigt wird. Und die lernt sich nicht am Tafelaufschrieb und einem Wikipedia-Artikel, sondern durch Übung und tatsächliches Anwenden des entsprechenden Denkens.

Für die ursprüngliche Fragestellung scheint mir dieser Teil aber auch nur eingeschränkt relevant zu sein. Schüler, die sich in diesem Operatenniveau bewegen, fragen für gewöhnlich nicht, wie man auf Geschichte eigentlich lernen soll. Sie fragen, warum die USPD eigentlich 1919 der MSPD so viel Angst eingejagt hat und wundern sich, dass die im Kaiserreich so wichtigen liberalen Parteien im Tafelaufschrieb keine Rolle spielten.

Wie also lerne ich, wenn ich meine Note in den sicheren ausreichenden beziehungsweise potenziell in den guten bis befriedigenden Bereich bringen will? Hier empfehle ich mehrere Schritte.
  1. Grundgerüst an Fakten und Chronologie. Hier kommen die viel zitierten Jahreszahlen ins Spiel. Die relevantesten Daten sollte man im Kopf haben, denn wer Hyperinflation (1923) und Weltwirtschaftskrise (1929) im Ablauf durcheinander bringt, der kann gleich deutscher Wirtschaftsjournalist werden und erstere für das gute Abschneiden der NSDAP in den Folgejahren verantwortlich machen (kleiner Seitenhieb). Tatsächlich kommen Verwechslungen von Abläufen häufiger vor als man denkt und machen alle Erklärungen und Analysen als Folgefehler falsch. Das kann man mit nur ein wenig auswendig lernen leicht vermeiden; meine Schüler bekommen immer einen Zahlenkanon mit den rund 20 wichtigsten Jahreszahlen für das gesamte Schuljahr.
  2. Elementare Zusammenhänge. Hier helfen natürlich Tafelaufschriebe, die solche Zusammenhänge verdeutlichen (siehe dieser Artikel), denn sinnvolle Tafelanschriebe sind für den Punkt 1 nicht relevant, dafür gibt es das Schulbuch und/oder Wikipedia. Schaubilder etc., die Zusammenhänge aufzeigen, kann man nur verstehen wenn man die Fakten bereits kennt. Blättere ich als Schüler meine ordentlich gehaltenen (!) Aufschriebe durch und verstehe jeden davon ist das häufig ein guter Indikator. Wenn nicht, weiß ich wo ich nachhaken muss.
  3. Fragen. Am Ende dieses Prozesses stehen Fragen. Warum spielt der deutsche Liberalismus 1918/19 fast keine Rolle? Weshalb spaltet er sich unter Bismarck in zwei Strömungen, und warum gibt es eine davon heute nicht mehr? Diese Fragen helfen mir, Bruchstellen, Umbrüche und so weiter zu identifizieren und in einen größeren Rahmen zu stellen. Natürlich kann ich diese Fragen nicht einfach nur stellen, sondern muss auch aktiv an ihrer Beantwortung arbeiten. Hier bieten sich gute Mitschüler und der Fachlehrer als erste Anlaufstellen an.
  4. Zuletzt kann ich versuchen, die Zusammenhänge selbst zu formulieren. Entweder ich erstelle meine eigenen Schaubilder, die den Stoff umfassend darstellen, oder ich schreibe das als Fließtext auf, oder ich drehe ein Video, oder was auch immer - Leitfragen und andere Problematisierungen helfen hier natürlich massiv ("Warum wird der Kalte Krieg nicht heiß?" deckt Bündnispolitik, Rüstungswettlauf und Stellvertreterkriege ab; "Warum gab es keinen erfolgreichen Widerstand gegen Hitler?" erfordert Kenntnisse über die Gleichschaltung, Hitlers Erfolge in den 30er Jahren, die Gestapo und die Widerstandsbewegungen im Dritten Reich, usw.).
  5. Kontrolle und Vertiefung. Ein letzter Schritt kann nun darin bestehen, das so erworbene Wissen einer Kontrolle zu unterwerfen. Schreiben von Übungsklausuren unter Zeitdruck, mündliche Abfragen mit Mitschülern oder Verwandten, simulierte Kolloqien und vieles mehr eignen sich dazu, letzte Probleme zu identifizieren und im Austausch Schwächen in der eigenen Argumentation zu erkennen und auszumerzen. Das macht man vermutlich nur in Vorbereitung auf das Abitur, aber es stellt letztlich eine wichtige Wegmarke für sehr gute Ergebnisse dar.
Dieser modulare Aufbau ermöglicht einem Schüler auch, jeweils folgende Punkte wegzulassen, wenn man sich davon überfordert fühlt (was natürlich auf Kosten der maximal erreichbaren Note geht, aber solche Entscheidungen sollten Schüler in der Oberstufe zu treffen in der Lage sein). Ich hoffe, dass dies einigermaßen hilfreich in der Beantwortung der Frage war und auch anderen interessierten Lesern einen Einblick geboten hat.  

Donnerstag, 22. März 2018

Von Hunden und Pfeifen

Es gibt manche Begriffe im Englischen, für die es einfach keinen eingebürgerten deutschen Begriff gibt. "Dogwhistling" ist so einer. Zwar kennen wir auch die Hundepfeife, aber im politischen Diskurs hat sie, außer vielleicht in Diskussionen über Hundesteuer-Verrechnungen, bisher keinen Eingang gefunden. Der Begriff bezeichnet das Verstecken rassistischer Rhetorik unter scheinbar unverbundener, eher abstrakter Rhetorik. Lee Atwater, einer der Strategen hinter der Strategie der Republicans, die Wähler der Südstaaten zu gewinnen, erklärte das Prinzip 1981 so:
You start out in 1954 by saying, “Nigger, nigger, nigger.” By 1968 you can’t say “nigger” — that hurts you. Backfires. So you say stuff like forced busing, states’ rights and all that stuff. You’re getting so abstract now [that] you’re talking about cutting taxes, and all these things you’re talking about are totally economic things and a byproduct of them is [that] blacks get hurt worse than whites. And subconsciously maybe that is part of it. I’m not saying that. But I’m saying that if it is getting that abstract, and that coded, that we are doing away with the racial problem one way or the other. You follow me — because obviously sitting around saying, “We want to cut this,” is much more abstract than even the busing thing, and a hell of a lot more abstract than “Nigger, nigger.”
Besonders Linke sind immer wieder erstaunt, dass diese Strategie so gut funktioniert. Gerne schiebt man das dann auf die mangelnde politische Bildung abgehängter Bevölkerungsgruppen, die dann "gegen ihre Interessen" wählen, was ja ein Dauerschlager in diesen Kreisen ist. Aber die Effizienz dieser Strategie fußt weniger auf dem Unverständnis der unteren Schichten als vielmehr in der willful ignorance der Eliten.

Ich habe das Phänomen bereits in meinem Artikel zur Polarisierung durch die klassischen Medien anzusprechen versucht, aber nicht den richtigen Ansatz gefunden. Vor ein paar Tagen stolperte ich dann über ein Zitat von einer Rede Victor Orbans (oder, präziser gesagt, über seine englische Übersetzung, ich kann kein Ungarisch):
We are fighting an enemy that is different from us. Not open, but hiding; not straightforward but crafty; not honest but base; does not believe in working but speculates with money; does not have its own homeland but feels it owns the whole world.
In rechten Kreisen scheint man sich mittlerweile ziemlich sicher zu sein, dass antisemitische Hetze kurz vor Stürmer-Niveau kein Ausschlussgrund aus der Fraktion der Christkonservativen im Europaparlament mehr darstellt. Orban nutzt hier schon ein veritables Hunde-Megafon, keine Hundepfeife mehr. So schien es mir zumindest. Ich habe das Zitat dann auch in meine Abiklasse mitgebracht. Wir haben schon öfter im Unterricht über Ungarn geredet, und letztes Jahr waren Judenverfolgung und Holocaust dran. Für mich war das ein netter Aufhänger um über modernen Antisemitismus zu sprechen. Meine ironische Frage aber, was die Schüler denn glaubten, von dem die Rede sei, brachte nicht das erwartete Ergebnis. Der erste Verdacht waren Flüchtlinge, weil sich gegen die ja gerade Rassismus jeglicher Spielart richtet. Der zweite Verdacht waren dann Sinti und Roma, weil wir über deren Verfolgung im Unterricht sprachen. Als ich es aufklärte waren die Schüler völlig ungläubig: es wollte nicht in ihre Köpfe, dass jemand im Jahr 2018 so etwas sagen würde, und sie versicherten sich mehrfach, dass ich das Zitat nicht erfunden hatte.

Heute stolperte ich dann über eine Rede, in der Trump über die mehrheitlich Weiße betreffende Opioid-Krise sprach und sie auf "immigrants and inner cities" schob. Auch das ist ein wenig subtiles dogwhistling; "immigrants" sind ohnehin ein Standardobjekt seiner Rede, aber "inner cities" ist spätestens seit Nixon eine rechte dogwhistle für Schwarze (die dem Klischee zufolge die heruntergekommenen und kriminellen Innenstädte bewohnen, was zwar empirisch längst widerlegt ist, sich aber hartnäckig hält). Auch die CSU bedient sich natürlich solcher Hundepfeifen (bloß keine Anglizismen im Heimatministerium!), wenn sie den Begriff der "Heimat" zu pachten und gegen ihre politischen Gegner in Stellung zu bringen versucht. Denn selbstverständlich ist diese Heimat, die Seehofer schützen zu müssen glaubt, konservativ, christlich, ländlich und weiß. In Interviews hat er nun auch mehrfach ausgeschlossen, dass Muslime in diesen Begriff hineinzählen könnten. Ein anderes Beispiel ist das ständige Rekurrieren auf "Familie", dessen sich Konservative von Jens Spahn bis Mike Pence bedienen, um ihrer Abneigung gegen Homosexuelle und emanzipierten Frauen Ausdruck zu verleihen, ohne das so offen zu sagen.

Diese dogwhistles sind deshalb so effektiv, weil viele Menschen schlichtweg nicht bereit sind zu glauben, dass hinter den rhetorischen Mechanismen tatsächlich genau diese Ressentiments begraben (oder notdürftig überdeckt) liegen, die tatsächlich das Fundament bilden. Stattdessen rutschen sie in eine reflexhafte Abwehrhaltung gegen diejenigen, die den Sachverhalt benennen. Daher kommen dann die "erhobenen Zeigefinger" und "Moral", die Bitte, man möge Leute doch nicht "in die rechte Ecke stellen" und den relativierenden Verweis, dass die andere Seite bestimmt auch schlimme Dinge tut (notfalls de Zeigefinger moralisierend heben, das ist ein Dauerschlager). Auf diese Weise verschiebt sich der Diskurs nach rechts: die schiere Existenz wird geleugnet, sie wird relativiert und normalisiert. Die Furcht der Leitmedien, Stellung zu beziehen, sorgt dafür dass plötzlich ernsthaft Fragen debattiert werden, die kurz zuvor in höflicher Gesellschaft aufzuwerfen noch unmöglich gewesen wäre. Es steht zu befürchten, dass wenn Horst Seehofer anfinge den Holocaust zu relativieren, eine ernsthafte Debatte darüber in Gang gesetzt würde, mit Pro und Contra, und am Ende verschwindet alles in einer undurchschaubaren Soße, in der halt jeder glaubt, was er glauben möchte - und wieder sind zivilisatorische Tabus gefallen.

Es ist daher notwendig, sich klar gegen dogwhistles zu positionieren und diese zu benennen. Andernfalls verroht unser Diskurs, ironischerweise vorangetrieben hauptsächlich von denen, die sich sonst als seine Hüter aufschwingen, der bürgerlichen Presse. Vor allem die FAZ hat sich hier in letzter Zeit unrühmlich hervorgetan. Auf der anderen Seite haben die Kritiker natürlich Recht wenn sie zu bedenken geben, dass derartige Tabus ebenfalls problematisch sein können. Es braucht eine Balance, aber die findet sich aktuell nicht mehr.

Mittwoch, 14. März 2018

Was macht eine Demokratie mit ihren Kriegsverbrechern?

Im Wahlkampf 2008 schwelte eine Frage beständig im Hintergrund, die heute bereits wie ferne Geschichte anmutet: was soll geschehen mit denjenigen Leuten aus der Bush-Administration, die sich Menschenrechtsverstößen und Kriegsverbrechen schuldig gemacht hatten? Es gab schließlich eine ganze Reihe hochrangiger Offizieller, die von den Folterungen in Abu Ghraib und Guantanamo Bay, von den Bombenangriffen in Irak und Afghanistan, von den Fälschungen der Beweise für die Existenz von Massenvernichtungswaffen und der völkerrechtswidrigen Führung von Angriffskriegen nicht nur gewusst, sondern diese befohlen und und gefördert hatten. Der Irakkrieg war ein dominierendes Thema der politischen Agenda und sicherlich der entscheidende Faktor, der dem aufstrebenden Jungstar Barrack Obama zum Sieg über die eigentlich gesetzt scheinende Hillary Clinton verhalf: deren Stimme für den Krieg anno 2002 stellte sich als eine unüberwindbare Hypothek gegenüber seiner wohldokumentierten Ablehnung desselben heraus. Wie man nach Bush damit umgehen sollte - und auch mit Bush selbst - war damals unklar, deutlich unklarer jedenfalls als es aus der Rückschau wirkt. Unter Trump bricht diese nie verheilte Wunde nun erneut auf.

Ungeachtet Trumps markiger Statements im Vorwahlkampf 2015/2016, die nur völlige Naivlinge für bare Münze nehmen konnten (Hallo, Jakob Augstein), zeigt die bisherige Auswahl von Trumps außenpolitischem Personal eine beeindruckende Kontinuität zu den Neocons von Bushs alter Riege auf. Von John Bolton, dessen einzige Antwort auf außenpolitische Problemfelder das Führen von Krieg ist, hin zu der Batterie von Generälen, die im Kabinett vertreten sind zu der designierten CIA-Vizechefin Gina Haspel, an der sich die aktuelle Debatte entzündete greift Trump auf ein Personaltableau zurück, das 2008 eigentlich von der politischen Bühne verschwunden schien. Besonders Gina Haspel als neue CIA-Vizechefin zeigt diesen Bruch deutlich auf. Haspel organisierte und überwachte 2002 persönlich die Folterung zweier Gefangener in einem geheimen Gefängnis und orderte später die Vernichtung des inkriminierenden Video-Beweismaterials.

Haspel ist darin nicht allein. Ihr direkter Vorgesetzter, Mike Pompeo, den Trump als neuen CIA-Chef einsetzte (dessen Vorgänger soll nun nach dem Abgang des singulär unqualifizierten Rex Tillerson das Außenministerium übernehmen), erklärte emphatisch, dass waterboarding keine Folter sei und dass diejenigen Agenten, die es unter Bush angewendet hatten (Obama verbot die Praxis an seinem ersten Tag im Amt) wahre Patrioten seien. Trump selbst hatte im Wahlkampf vehement gefordert, die Foltermethoden wieder einzuführen, und wählte seinen Sicherheitsberater hauptsächlich deswegen aus, weil er davon ausging, dass dessen Spitznahme "Mad Dog" auf besonders rücksichtslose Praktiken zurückging (er täuschte sich hier, aber seine Weigerung seine Hausaufgaben zu machen lädt zu solchen Fehlern natürlich ein).

Diese Verschiebung der Wahrnehmung unter Trump, die die skandalumrankten dunkelsten Kapitel aus Bushs Präsidentschaft im Nachhinein sanktioniert und sie zur offiziellen Regierungspolitik macht, ist beachtlich. Man kann durchaus annehmen, dass ein potenzieller Präsident Romney 2012 anders verfahren wäre, und dass ein Präsident Bush 2016 von einer derart offensichtlich bösartigen Maßnahme abgesehen hätte. Aber unter Trump, der Skandale und Normenbrüche im Dutzend billiger produziert, registriert ein offenes Bekenntnis zu Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen nicht einmal mehr. Business as usual. Und die gleichen Leute, die jeden Drohnenschlag unter Obama als Beweis für die sinistre Natur der Nation sahen, sind nun merkwürdig still.

Ich erwähnte eingangs, dass eigentlich zu erwarten gewesen wäre, dass diese Leute so gründlich diskreditiert sind, dass sie im politischen Betrieb keine Rolle mehr spielen. Diese Annahme fußte auf der Stimmung 2008: Die Skandale der Bush-Ära, der massive Verfall an moralischer Autorität und Reputation und der schiere Verstoß gegen alles, was den USA als heilig galt machte eine Anklage der Täter bis hinaus zu Bush selbst nicht undenkbar. Dessen Rolle schien damals mehr die eines Richard Nixon zu sein: ein offensichtlich Schuldiger, der seiner gerechten Bestrafung harrte. Die Bush-Zeit ist seither weitgehend vergessen, was dazu führt, dass Bush aktuell selbstironisch auftreten und angesichts der Meldungen aus Trumpland erklären kann, so schlecht schon nicht gewesen zu sein. Doch, war er. Aber das Gedächtnis der Leute ist kurz.

Die Hauptschuld für diese Gedächtniskürze trägt aber Barrack Obama selbst. Auch wenn dies im Angesicht der Radikalisierung der Republicans heute schon völlig vergessen ist trat Obama 2008 als ein Versöhner an, der das unter Bush heillos gespaltene Land wieder zusammenführen wollte ("There is no Red America and no Blue America, there is only the United States of America"). Dies zeigte sich nicht nur an seinen wiederholten Versuchen, einen Kompromiss über die Rettung der USA aus der beginnenden Finanzkrise (der stimulus) oder einer Reform des amerikanischen Gesundheitswesens zu schließen, sondern auch in seinem Entschluss, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen.

Obama erklärte 2008 und erneut 2009, keinerlei Ermittlungen und Anklagen gegen die Verantwortlichen aus der Bushzeit führen zu wollen. Das Ziel war es, die schwelende Spaltung - die Bush mit der "wer nicht für uns ist ist gegen uns"-Rhetorik des Irakkriegs und seiner culture wars heraufbeschworen hatte - nicht in einen offenen (politischen) Bürgerkrieg zu überführen, in dem die eine Seite die andere in politischen Prozessen auch nach der politischen Machtübernahme zu vernichten trachtete. Es war klassisch Obama. Moderat, stabilisierend, rational. Selbstverständlich dankten es ihm die Republicans nicht. Obamas Entschluss war für die Gesundheit der res publica sicherlich der richtige. Historisch einschlägig Interessierte können am Beispiel der späteren römischen Republik verfolgen was geschieht, wenn Wahlgewinner ihre Kontrahenten auch weiterhin politisch verfolgen. Die von Obama hochgehaltene und gestärkte Festigkeit demokratischer Institutionen ist demnach auch alles, was Hillary Clinton vor den Obsessionen des Hobby-Autokraten Trump schützt.

Diese Zurückhaltung Obamas basierte aber auf der grundsätzlichen Annahme, dass beide Seiten demokratische Parteien sind und sich an dieselben Regeln halten. Dies hätte dazu geführt, dass die entsprechenden Täter von beiden Seiten marginalisiert werden und im politischen Leben schlicht keine Rolle mehr spielen. Wie ich hier im Blog aber schon öfter postuliert habe sind die Republicans schlicht keine demokratische Partei. Und es kann nicht funktionieren, dass sich dauerhaft nur eine Seite an demokratische Spielregeln hält und dafür kontinuierlich bestraft wird, weil die andere Seite lachend und feixend die Erfolge ihrer eigenen Regelbrüche einschreibt. Die Basis der Democrats verlangt ja schon jetzt lautstark nach Radikalisierung und versucht mäßigende Stimmen in der eigenen Partei in den Vorwahlen zu besiegen. Ein solcher Prozess kann schnell außer Kontrolle geraten.

War Obamas Zurückhaltung also ein Fehler? Wie sollten Demokratien mit ihren Kriegsverbrechern in höchsten Positionen umgehen?

Die Frage entzieht sich einer einfachen Antwort. Grundsätzlich denke ich dass Obama mit seinem Instinkt richtig lag: hätte er 2009 begonnen, aktiv gegen Bush-Offizielle vorzugehen und zu ermitteln, wäre die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft vertieft worden. Nicht nur hätte dies jegliche Distanzierung der republikanischen Partei von dieser Zeit unmöglich gemacht, es hätte die Abrechnung auch parteiisch eingefärbt und wäre von der Hälfte der USA nicht akzeptiert worden. Zudem hätte Obama seine komplette erste Legislatur unter den Schatten einer politischen Abrechnung gestellt, die vermutlich wenig Raum für andere Projekte gelassen hätte. Schwer vorstellbar, dass eine republikanische Partei, die aus politischen Gründen zu einer unbedingten Verteidigung der Bush-Zeit genötigt gewesen wäre, Obamas Beendigung des Irakkriegs so hingenommen hätte, wie die GOP es in der Realität tat.

Ich bin daher zögerlich, Obamas Entscheidung hart zu kritisieren. Sieht man sich sein Programm von 2009 an, macht die Entscheidung Sinn. Der Irakkrieg wird beendet, die Wirtschaft gemeinsam gerettet, ehe man einen überparteilichen Kompromiss zur Gesundheitsfrage schließt und auf diese Art den Graben der Bush-Ära wieder schließt. Trumps bisheriges Programm zeigt auch, dass die Republicans hier keinerlei policy-Differenzen hatten, es ging ihnen ausschließlich um die Blockade Obamas. Und ohne selbst in die Tiefen des destruktiven Obstruktionismus hinunterzusteigen, der die GOP seit spätestens 2009 kennzeichnet ohne große Schäden am eigenen Programm weiterzumachen - das ist die Quadratur des Kreises, aus der die Democrats gerade nicht herauskommen und die mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit dazu führt, dass sie den Gordischen Knoten durchschlagen und es den Republicans mit gleicher Münze heimzahlen. Der Demokratie kann das nicht gut bekommen.

Dass nun also die eigentlich abgehalfterte Necon-Riege fröhliche Urständ feiert und es als völlig normaler Diskussionsgegenstand gesehen wird, präventive Angriffskriege zu führen und Verdächtige zu foltern zeigt einmal mehr, welche Verwerfungen und Normenbrüche die Radikalisierung der GOP mit sich gebracht hat. Auf diese gewaltige Normenkrise gibt es keine leichten Antworten. Für die Zukunft wird einem da durchaus bang.

Sonntag, 11. März 2018

Die klassischen Medien, nicht die Sozialen Medien, sind das Problem bei der Polarisierung

Wenn es ein Narrativ gibt, das in allen Zeitungen von links bis rechts, liberal bis konservativ, hoch und runter gebetet wird, dann dass soziale Medien wie Twitter und Facebook die Wähler polarisieren und über Fake News aktive Desinformation betreiben. Besonders in der Debatte über die Faktoren, die zur Wahl Donald Trumps geführt haben, dürfen die Filterblase, Facebook und Twitter nicht fehlen, und in geringerem Maß werden sie auch gerne zur Begründung für Jeremy Corbyn und die AfD herangezogen. Das Problem dabei ist nicht, dass nichts Wahres daran wäre. Das Problem ist, dass über diese Diskussion die Hauptschuldigen völlig beiseite gelassen werden.

Zuerst zu dem Teil, der wahr ist am beliebten "die sozialen Medien sind ganz, ganz schrecklich"-Narrativ. Soziale Medien geben allerlei Arten von unangenehmen Personen ein Forum, das sie anderweitig nicht hätten. Fake News verbreiten sich potenziell blitzartig in einem riesigen Leserkreis. Abgeschottete Filterblasen ermöglichen es, sich von anderen Meinungen komplett zu isolieren. All das ist unzweifelhaft richtig. Besonders im Zusammenhang mit Interferenzen von außen - Stichwort russische Einflussnahme auf Wahlkämpfe - sind die sozialen Medien ein fruchtbares Feld.

Einige Elemente der aktuell brennenden Krankheit in der politischen Kultur jedoch haben ihren Ursprung nicht in den sozialen Medien, sondern in den klassischen Medien - Print und TV. Hier nämlich wurde viel vom aktuellen Radikalismus, Rassismus und Anti-Intellektualismus salonfähig, lange bevor russische Trollfarmen begannen, die Schlammecken der Sozialen Netzwerke zu kultivieren. Ein wichtiges Element ist hier die Konsensausrichtung.

In Retrospektive ist der Wandel in der Darstellungsweise der traditionellen Medien beachtlich. Von einer Verachtung der Unterschicht und einer Vergötterung der Eliten während der Agenda-Ära, in der alles gut war was vom Pöbel abgelehnt wurde und immer noch drastischere, noch einschneidendere Reformen gefordert wurden und in denen es als Güteausweis galt, wenn die Wähler etwas verabscheuten, sind wir heute dabei angelangt, dass jeder Widerspruch gegen Ressentiments, und seien sie noch so aus den Urtiefen der Volksseele hervorgerrülpst, als elistische Verachtung der heiligen und simplen Volksseele gilt. Das allein ist bemerkenswert.

Ich sehe den Scheitelpunkt dieser Entwicklung in der völlig außer Rand und Band gelangenden Debatte um Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab". Das Buch bot eine großartige Folie. Einerseits konnte man sich von der früheren, mittlerweile irgendwie peinlichen Begeisterung für Sarrazin lossagen. Es war noch ok gewesen, als er nur Arbeitslose beschimpft hatte; nun, da er sich außerhalb des bürgerlichen Kontexts stellte (und doch gleichzeitig mittenhinein), in all seiner Ungelenklichkeit, und Sigmar Gabriel bereits damals seine völlige Unfähigkeit bewies, mit dem sich auftuenden Problemkomplex fertig zu werden, konnte man orakeln, dass Sarrazin zwar schon irgendwie konkret richtige Punkte berührte, aber irgendwie unantastbar war, und den Erfolg des Buchs bei genau den Volksschichten, die sich vorher noch von ihm und dem von ihm verkörperten Teil der SPD abegstoßen hatten, als Beleg herhalten.

Von da an war "Islamkritik", wie man die rassistischen Ressentiments von an beschönigend zu nennen pflegte, aus dem Diskurs der Presse nicht mehr wegzudenken. Gerade in den Schmuddelecken des Internets, etwa bei Politically Incorrect, begann sich eine Gruppe zu entwickeln, die das Wort von der "Lügenpresse" zwar noch nicht im Munde führte, aber darauf hinauslief. Der Fokus allerdings lag erst einmal auf den "Pleite-Griechen", wo sich praktisch der gesamte deutsche Blätterwald den Diskurs von der ungeniert ins nationalistische Horn blasenden BILD diktieren ließ und den ersten Höhflug der neuen AfD befeuerte.

Am faszinierendsten allerdings war die 360-Grad-Wendung in der Flüchtlingspolitik. Nachdem man das Thema jahrelang ignoriert hatte, wurde der plötzliche Bruch 2015 überwiegend ekstatisch gefeiert. Die BILD setzte sich an die Spitze der Bewegung, feierte sich und die Deutschen in der moralischen Reinheit des Augenblicks und zelebrierte die Willkommenskultur. Kaum ein halbes Jahr später fand niemand etwas dabei, eine 180-Grad-Wendung zu vollziehen und wieder am Ausgangspunkt anzukommen. Diese Entwicklung wurde in einem Großteil der Medien durchgemacht.

Spannend ist dabei, wie sehr die jeweiligen Medien von der sich ändernden öffentlichen Meinung mitgerissen wurden. Als die Willkommenskultur die Mode der Stunde war, überschlug man sich fast vor Begeisterung, und als mit den Übergriffen vom Kölner Hauptbahnhof der große Kater einkehrte setzte man sich auch hier an die Spitze der Bewegung. Problemfrei konnte man so abgeklärt und pragmatisch wirken und trotzdem im wohligen Licht der moralisch richtigen Seite baden.

Dieses Phänomen, den Kuchen sowohl behalten als auch essen zu wollen, kann man immer wieder beobachten. Schließlich war es auch kein erkenntlicher Widerspruch, immer noch härtere Sanktionen im Hartz-System zu fordern und tränenrührende Berichte über die neue Armut daneben zu stellen. Es ist Ausdruck eines Konsensverhaltens, eines Rudeljournalismus, der diese Berichterstattung antreibt.

Ich möchte an dieser Stelle etwas weiter zurückgehen. Als die NachDenkSeiten anno 2004 ihre Mission begannen, eine "Gegenöffentlichkeit" aufzubauen, war das alles andere als abwegig (genausowenig, so steht zu befürchten, wie späteren rechten Unternehmungen in diese Richtung). Zwar wurden abweichende Meinungen, entsprechenden hyperbolischen Statements der Beteiligten zum Trotz, nicht etwa unterdrückt. Ob Spiegel oder BILD, Zeit oder Focus, FAZ oder FR, abweichende Stimmen erhielten auch ihren kleinen Raum und wurden durchaus auch diskutiert. Es war mehr das Gesamtframing, das Fundament, das stark an einem Konsens ausgerichtet war - erst die Notwendigkeit unbedingt harter Reformpolitik, dann das kollektive Einschlagen auf Griechenland, dann der schnelle Wechsel zu Willkommenskultur und "Islamkritik". Der herrschende Konsens bestimmt alle normale Berichterstattung und schafft ein Set allseits akzeptierter Grundannahmen, von dem abzuweichen sehr schwierig ist.

Diesen Konsens darf man sich nicht als mediale Erfindung vorstellen, die dem unschuldigen Volk von oben aufgedrückt wird, vielleicht gar in konzertierter Aktion mit Mächten hinter den Kulissen. Das ist der Verschwörungsunsinn, der in den Fiebersümpfen am politischen Rand gedeiht und mittlerweile durch die Wahlerfolge der Populisten auch im satisfaktionsfähigen Milieu angekommen ist. Stattdessen ist es ein Ausrichten am jeweils herrschenden Grundkonsens in der Bevölkerung, was auch den abrupten Wechsel von der Willkommenskultur zur uniformen Verurteilung Merkels erklärt: die Leute haben ja denselben Wechsel mitgemacht, auch wenn es in der Rückschau immer jeder besser gewusst haben will, mit Ausnahme der bösen Moralisten mit dem erhobenen Zeigefinger, versteht sich.

Für die Minderheit derer, die außerhalb des Konsens' stehen, ist das jedoch ein Problem. Sie finden in den klassischen Medien dann zwar vereinzelt Artikel, die gegen den Strom schwimmen, werden aber vom Gesamtframing abgestoßen. Sie konsumieren solche konträren Artikel dann in den "Hinweisen des Tages" als Artefakte, "wo der Zensor geschlafen hat", und verlassen such auch sonst auf die Gegenöffentlichkeit. Die berüchtigten Filterblasen sind daher keine isolierte Erscheinung des Internets. Sie entstanden auch als Reaktion auf die Konsenssoße in den Medien, mit der man mal mitschwamm, die man meist aber angewidert verdammte.

Diese Furcht der Medien, eine eigene Meinung zu haben, ist ein ernsthaftes Problem. Ihr zugrunde liegt eine falsche Zurückhaltung. Es herrscht der Irrglaube vor, Medien müssten unparteilich sein und objektiv. Das ist aber so unmöglich wie schädlich. Ich hoffe oben dargstellt zu haben, warum die Objektivität ohnehin nicht gegeben ist - hier wurde einfach nur die Übernahme eines Konsens-Framing betrieben. Auf der anderen Seite stellen sich die Journalisten damit aber bewusst jenseits (partei-)politischer Kämpfe. Dies führt dazu, dass eben diese parteipolitischen Auseinandersetzungen aus einer häufig genug abwertenden Distanz beschrieben werden und die Teilnahme an ihnen als etwas Anstößiges erscheint. Das aber delegitimiert den demokratischen Prozess.

Diese Entwicklung ist daher schon allein aus demokratiehygienischen Gründen problematisch. Ein guter Teil der grassierenden Ablehnung "des Establishments" kommt aus dieser schleichenden Delegitimierung. Dabei ist es merkwürdigerweise auch völlig irrelevant, ob die Parteien sich wie in Deutschland stark aneinander annähern und inhaltlich häufig kaum mehr unterscheidbar sind oder ob sie sich wie in den USA voneinander entfernen und polarisieren. In beiden Fällen weigern sich die Journalisten, Stellung zu beziehen und bleiben außen vor.

Das beliebteste Mittel hierfür ist etwas, das in den USA "both-siderism" genannt wird. Gemeint ist hierbei dreierlei: Zum Einen wird beiden Seiten in einer kontroversen Debatte derselbe Raum zugestanden, ganz egal, wie sinnvoll oder begründet das ist, etwa beim Thema globale Erwärmung. Zum Zweiten wird so getan, als ob prinzipiell beide Seiten äquivalent seien, also etwa die Skandale Trumps und Clintons im Wahlkampf 2016. Zum Dritten glauben Journalisten, die adäquate Reaktion sei grundsätzlich die Mitte zwischen beiden Positionen.

Dies ist bereits im politischen Vakuum, in dem beide Seiten keinerlei Wechselwirkung zueinander oder Berührung miteinander haben problematisch, weil es jede Position, die eine Partei (oder eine NGO) einnimmt grundsätzlich als falsch betrachtet (da es immer eine Gegenreaktion gibt und die Medien sich dann in der "richtigen" Mitte positionieren). Aber das ist ja bei weitem nicht alles. Denn Politik findet nicht im Vakuum statt.

Tatsächlich haben Radikale und Extremisten vor allem auf der Rechten erkannt, dass sie diese Mechanismen zu ihrem Vorteil nutzen können. Barack Obamas gesamte Präsidentschaft ist ein hervorragendes Beispiel dieser Strategie: Obama verfolgte vor allem in seinen ersten Regierungsjahren einen äußerst moderaten Kurs, übernahm beispielsweise als Grundlage für seine Gesundheitsreform einen Vorschlag, den die Republicans noch im Wahlkampf 2008 (!) selbst befürwortet hatten, in dem Irrglauben, es mit einer rationalen Medien-Öffentlichkeit und loyalen Opposition zu tun zu haben, die einen Kompromiss ermöglichte. Tatsächlich verweigerten die Republicans jeden Dialog. Anstatt diese Totalverweigerung als solche zu benennen, weigerten sich die Medien, Stellung zu beziehen und wanderten in die Mitte der beiden Positionen. Wenn aber eine Seite bei 40 startet und die andere sich auf 100 festlegt, ist die Mitte nicht 50, sondern 70 - ein klarer Gewinn für die Republicans.

Ähnliche Mechanismen sehen wir auch in Deutschland, wo die AfD oder Pegida das Overton-Fenster deutlich nach rechts verschieben konnten, indem sie vorher völlig absurde Positionen in den öffentlichen Diskurs einbrachten und dadurch sowohl Journalisten als auch sich als objektiv-rational gerierende Politiker zu einem deutlichen Rechtsruck zwangen, nur um weiterhin eine Mittelposition einnehmen zu können.

Diese Mechanismen werden durch die sozialen Befangenheiten der Medienmacher selbst weiter verstärkt. Noch immer sind alle journalistischen Spielarten von weißen, heteronormativ geprägten Männern mittleren Alters geprägt. Hieraus resultiert eine instinktive Ablehnung von Themen, die mit dem eigenen Erfahrungsschatz nichts zu tun haben und die dann gerne als "identity politics" in Bausch und Bogen delegitimiert werden, ein Prozess, der von manchen Kommentatoren dieses Blogs ja auch beobachtet werden kann. Auf der anderen Seite besteht ein schier endloser Vorrat an Mitgefühl für die Wähler Trumps, der AfD etc., deren Anliegen ja keinesfalls rassistisch sein können, da dies ja auch die eigenen Neigungen in ein zwielichtiges Licht rücken würde - ich habe diesen Faktor beschrieben.

Ein großer Teil der Radikalisierung nach rechts in den letzten zwei, drei Jahren und der damit einhergehende Legitimationsverlust sowohl der Parteipolitik als auch der Leitmedien selbst ist daher von diesen selbst mitverantwortet. Die sozialen Medien füllen eine Lücke, die hier entstanden ist, und ebnen das Spielfeld ein. Wo Leitmedien nicht mehr als solche anerkannt werden, kann RT Deutsch schnell als seriöse "alternative" Quelle herhalten. Die Überzeugung von Trumps Pressesprechern, man lüge nicht, sondern nenne "alternative Fakten", ist vor dem Hintergrund, dass die Medien in den USA diese "alternativen Fakten" als eine von zwei möglichen Realitäten darstellen, anstatt sie als die Lügen zu benennen, die sie sind, nur Ausdruck der Ausnutzung von Mechanismen, mit denen sich die Medien selbst ins Abseits gestellt und der Radikalisierung Vorschub geleistet haben.

Dienstag, 6. März 2018

Die irrationale Furcht vor den Gender Studies

Wolf-Dieter Busch hat hier im Blog einen Gastbeitrag veröffentlicht, in dem er hart mit der interdisziplinären Fachrichtung der Gender Studies ins Gericht ging. Die Angriffe sind bekannt: es handle sich um eine rein ideologische Richtung, die radikalfeministisch versuche, ihre Vorstellungen staatlich gefordert einer unwilligen Bevölkerung aufzuzwingen, ohne dabei Ansprüchen auf Wissenschaftlichkeit zu genügen. Seit ihrem Bestehen werden die Gender Studies hart kritisiert. Dass sie dessen ungeachtet ein mittlerweile ordentlich gewachsener und anerkannter Wissenschaftszweig sind, erklärt sich - natürlich - aus der Political Correctness, die es verhindert, dass, abgesehen von wenigen tapferen, vernünftigen und aufgeklärten Zeitgenossen, die doch so offensichtliche Kritik geübt wird. Der Kaiser ist nackt, aber keiner traut sich, es zu sagen. Vielleicht aber ist es tatsächlich nur eine Minderheit, die mit den Gender Studies so hart ins Gericht geht, eine Minderheit zudem, die die grundsätzlichen Prämissen des Fachs als Angriff begreift, und ein Zerrbild der Disziplin als Projektionsfläche nutzt. Vielleicht.

Wenden wir uns zuerst dem Zerrbild zu. In der Vorstellung der Kritiker postulieren die Gender Studies die Idee, dass das Geschlecht ausschließlich sozial konstruiert sei und nichts, aber auch gar nichts, mit der Biologie zu tun habe. Ob eine Person männliche oder weibliche Geschlechtsorgane besitzt, spiele für die Gender Studies demzufolge keine Rolle. Das klingt erst einmal merkwürdig, und das ist es auch. Zwar gibt es in den Gender Studies durchaus einige Aussagen, die in diese Richtung gehen, aber die Mehrheit der Forscher postuliert etwas anderes: dass sich das Geschlecht nicht ausschließlich biologisch, sondern eben auch sozial konstruiere. Die Frage, welchen Anteil beide Faktoren jeweils haben, ist dabei umstritten und Gegenstand vieler Forschungen - wie es in einem wissenschaftlichen Prozess wohl auch sein sollte.

Die mangelnde Wissenschaftlichkeit wird daher gerne auch von denen unterstellt, die ohnehin bereits wissen, dass die Gender Studies Unsinn sind, weil deren Ergebnisse ihren eigenen Wunschvorstellungen, die wie die Welt zu funktionieren habe, nicht genügen. Diese Vorwürfe wären ernster zu nehmen, wenn sie nicht grundsätzlich bei jedem neuen Forschungsansatz auftauchen würden. Die Evolutionsbiologie etwa, die einige der profiliertesten Kritiker stellt, war lange Zeit selbst in höchstem Maße umstritten (und ist es etwa in den USA heute noch, wo den Evolutionsbiologen von Radikalen ebenfalls eine sinistre Agenda zur Unterwanderung der Gesellschaft unterstellt wird). Auch im gesellschaftswissenschaftlichen Bereich finden sich diese Verwerfungen: die Soziologie als Wissenschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts durfte sich dieselben Vorwürfe anhören, und als etwa Mitte des 20. Jahrhunderts die Historiker entdeckten, dass man durchaus auch Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte schreiben könnte, wurden sie von altgedient-konservativen Kollegen, Sie raten es, der Unwissenschaftlichkeit bezichtigt.

Dass die Gender Studies, die mittlerweile über 20 Jahre alt sind, immer noch so heftig angefeindet werden, liegt sicherlich an ihrer starken Verzahnung mit dem Feminismus und dessen eigener Umkämpftheit in der Gesellschaft, die sich durch eine generelle Krise der Männlichkeit auszeichnet. Wem das eine nicht behagt, der mag auch das andere nicht. Aber dasselbe gilt für Kreationisten und die Evolutionsbiologie. Die Kritik kommt daher vor allem aus zwei Quellen: einmal von denen, die mit dem ganzen Feminismus-Projekt ohnehin über Kreuz liegen, und einmal von einigen Naturwissenschaftlern.

Letztere sind natürlich Kronzeugen. Wer kann höhere Ansprüche der Wissenschaftlichkeit von sich behaupten als der Zweig, der durch rigorose Tests und Experimente die Falsifizierbarkeit seiner eigenen Thesen zum Leitbild gemacht hat? Der altbekannte Snobismus der Naturwissenschaften gegenüber den Gesellschaftswissenschaften feiert hier fröhliche Urständ. Es steht mir fern, Evolutionsbiologen die Kenntnisse ihres eigenen Felds strittig machen zu wollen, ich bin schließlich Geisteswissenschaftler. Ich merke daher zwei Punkte an, die deren Kritikan den Gender Studies unabhängig vom biologischem Forschungsstand relativieren.

Die Biologen sind selbst auch Menschen, und als solche nicht frei von Vorurteilen, die dann "wissenschaftlich" verbrämt werden. Max Planck etwa, dessen wissenschaftliche Qualifikation außer Frage stehen dürfte, erklärte auch, dass Frauen zum Studium zuzulassen einen "schweren Eingriff in die Naturgesetze" darstelle. Sein Kollege Edward Clarke, Mediziner und Harvardprofessor, erklärte drei Jahrzehnte zuvor, die geistige Beschäftigung von Frauen entziehe den Eierstöcken Energie, was dann dem "natürlichen" Zweck von Frauen zuwiderlaufe. Alles wissenschaftlich belegt, versteht sich. Auch die Nazis hatten nie einen Mangel an Biologen, die ihren Rasseideen die Patina der Wissenschaftlichkeit verliehen, noch konnte man Mitte des 20. Jahrhunderts einen Mangel an Biologen erkennen, die sich ziemlich sicher waren, dass Schwarze tatsächlich der Veranlagung nach einfach nicht dieselben Leistungen erreichen konnten wie Weiße. Das alles ist nicht zu sagen, dass die Kritiker der Gender Studies Nazis oder Rassisten seien. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass der wehende Mantel der Wissenschaftlichkeit manchmal auch großzügig die eigenen Vorurteile überdeckt.

Der zweite Punkt: Soziales lässt sich nicht biologisch nachweisen. Wenn die Gender Studies etwa feststellen, dass es keine natürliche Veranlagung in Kindern gibt, der Farbe Rosa oder Hellblau zuzuneigen und dass es sich dabei zu 100% um soziale Konditionierung handelt, dann wird sich ein Biologe schwertun, diese Theorie zu falsifizieren - genauso, wie ein Historiker Probleme damit hätte, biologische Erkenntnisse über das menschliche Immunsystem zu falsifizieren. Das Farbbeispiel im Übrigen ist ein Beispiel, in dem die Gender Studies wissenschaftlich absolut korrekt nachweisen konnten, dass ein weithin als natürlich angenommener Zusammenhang in Wahrheit nur soziale Konstruktion war, das nur nebenbei.

Das also ist die Quintessenz: viel Kritik an den Gender Studies ist in Wirklichkeit Kritik am Feminismus und an einem Gesellschaftsbild, das man selbst nicht teilt. Wer der Überzeugung ist, dass die Gleichheit und in einem gewissen Rahmen Austauschbarkeit der Geschlechterrollen und die Aufhebung traditioneller Familienbilder eine schlechte und zu bekämpfende Entwicklung sind, wird sich von den Gender Studies zwangsläufig bedroht fühlen, ob diese nun wissenschaftlichen Ansprüchen genügen oder nicht. Sie dienen als eine weitere Folie für einen Kampf, der auf vielen Ebenen ausgetragen wird. Dass die Prämissen der Gender Studies nicht unbedingt intuitiv sind, hilft den Kritikern dabei, sich vielerlei Kopfschütteln zu versichern, spricht aber nicht grundsätzlich gegen das Feld. Schließlich sind die Prämissen der theoretischen Physik auch nicht jedermann einsichtig, nur berühren diese das Selbstverständnis der Menschen nur eingeschränkt und werden daher meist in Ruhe gelassen¹. Vielleicht sollte man diese Ruhe auch den Gender Studies gönnen, denn die können durchaus wertvolle neue Denkansätze in Wissenschaftsfelder einbringen, die sich vorher keine Gedanken dazu gemacht haben. Das gilt auch für die Biologie.

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¹ Wobei Einstein für seine Relativitätstheorie auch viel mit dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit zu kämpfen hatte. Viele der Angriffe gegen seine Person waren auch untrennbar damit verknüpft, dass er Jude war und die "natürliche" deutsche Physik in Frage stellte.

Freitag, 2. März 2018

Rassismus ist wie Brokkoli

Im Zusammenhang mit der Debatte um die Essener Tafeln stieß ich auf einen FAZ-Artikel, in dem im Tenor heiliger Empörung die Idee für abwegig erklärt wurde, die Entscheidung, nur noch Deutschen Zugang zu den Tafeln zu verschaffen, könne rassistisch motiviert sein. Die Begründung aus dem Artikel ist interessant, weil man ihr permanent über den Weg läuft:
Jörg Sartor ist 61, er war dreißig Jahre lang Bergmann, seit er mit 49 in Ruhestand ging, arbeitet er ehrenamtlich für die Essener Tafel. Einen Ausländerfeind wird man so leicht nicht jemanden nennen können, der sieben Mal in der Woche dafür sorgt, dass Alte, Migranten, Kinder, Obdachlose und eben überhaupt Bedürftige etwas von dem zu essen bekommen, was andernfalls weggeworfen würde oder unverteilt bliebe. [...] Weshalb wird einem Menschen, der in gemeinnütziger Arbeit jahrelang bewiesen hat, kein sozialer Dummkopf und nicht herzlos zu sein, ohne weitere Prüfung unterstellt, er handele unsachgemäß und „nicht gut“ (Merkel)?
Ich möchte an dieser Stelle überhaupt nicht in die Debatte einsteigen, ob Sartor nun ein Rassist ist oder nicht oder ob die Entscheidung für die Tafeln richtig oder falsch, angemessen oder nicht angemessen, zulässig oder nicht zulässig ist. Diese Diskussion hat mein Kollege Stefan Pietsch bereits angestoßen, und sie kann im dortigen Artikel in den Kommentaren geführt werden. Mir geht es um etwas anderes, für das die Zeilen aus der FAZ nur ein Symptom sind: ein zutiefst falsches Verständnis von Rassismus, das sich links wie rechts findet. Dem zugrunde liegt die Annahme, dass "Rassist" ein binärer Zustand ist. Entweder man ist Rassist, oder man ist keiner. Aber das ist falsch. Rassismus ist nicht binär. Rassismus ist wie Brokkoli.

Brokkoli kann, gekocht oder gebraten, mit vielerlei Gerichten kombiniert werden. Er ist ökologisch nachhaltig, enthält wertvolle Vitamine, hat nur wenig Kalorien und ist wenn nicht wohlschmeckend, so wenigstens geschmacksneutral und sättigend. Alles gute Gründe, um Brokkoli beim Kochen zu verwenden. Es kann allerdings beim Essen vorkommen, dass ein Stück Brokkoli zwischen den Zähnen hängen bleibt, ohne dass man es bemerkt. Bei jedem Lächeln sieht das Gegenüber dann den Brokkoli aufblitzen. Das ist unschön.

Höfliche Zeitgenossen werden den unglücklichen Esser daher in einem unbeachteten Moment unauffällig darauf aufmerksam machen, dass sie ein Stück Brokkoli zwischen den Zähnen haben, auf dass das Gegenüber es schnell entfernen kann. Es ist ein kurzes, peinliches Gefühl - man hat gegen gesellschaftliche Konventionen verstoßen, wahrscheinlich ohne es gewollt zu haben, aber nun hat man es beseitigt.

Keine der beiden Seiten wird sich nach dem Vorfall noch lange daran erinnern, und niemand wird annehmen, der unglückliche Brokkoliesser sei in irgendeiner Art und Weise ein verkommener Mensch. Wir sortieren Menschen nicht binär als Brokkolisten ein, weil ihnen einmal ein Stück hängen blieb. Es wäre albern zu befürchten, dass der Hinweisgeber vermute, man stecke absichtlich Brokkoli zwischen die Zähne um seinem Gegenüber unangenehm zu sein, und vehement darauf hinzuweisen, dass man kein Brokkoli zwischen den Zähnen habe, denn das sei unmöglich, schließlich habe man immer Wert auf Reinlichkeit gelegt und das auch den eigenen Kindern so vermittelt. Ein ganzes Leben dreimal täglich Zähne geputzt, und dann so was!

Der aufmerksame Leser wird begriffen haben, wohin diese Analogie führen soll. Rassismus ist wie Brokkoli. Wenn ich in der Bahn sitze und hoffe, dass eben zugestiegene dunkelhäutige Mann sich nicht neben mich setzt, macht mich das nicht zum Rassisten. Ich habe nur ein Stück Rassismus zwischen den Zähnen, und ich sollte es herausnehmen bevor die Menschen um mich herum unangenehm berührt sind oder gar Zahnfäule einsetzt.

Und genau hier wird die binäre Sicht auf Rassismus zu einem Problem. Wenn jeder entweder ein Rassist ist oder nicht, und Rassist etwas böses, dann haben wir am Ende keine Rassisten. Dann ist nichts rassistisch. Die Verrenkungen der Presse, mit denen sie irgendwie versuchen zu erklären, warum Trump-Wähler (oder AfD-Wähler oder Le-Pen-Wähler oder FPÖ-Wähler) keine Rassisten sind, sind vor diesem Hintergrund zu verstehen, genauso übrigens wie die Verrenkungen der Linken die darauf bestehen, dass Bernie Sanders, Jean-Luc Mélenchon, Oskar Lafontaine, Jeremy Corbyn und Sahra Wagenknecht keine Rassisten sein könnten, weil sie ja links sind, und damit per Definition die Guten. Beides geht völlig am Thema vorbei.

Es ist nämlich möglich, sich wie Jörg Sartor jahrelang sozial zu engagieren und trotzdem einer rassistischen Fehlannahme aufzusitzen. Es ist möglich, wirtschaftliches Opfer der Globalisierung zu sein und gleichzeitig Fremde abzulehnen. Es ist möglich, ein guter, ordentlicher, vielleicht etwas wütender Bürger zu sein, der seine Kehrwoche macht und nebenbei zu finden, dass der Islam keinesfalls in Deutschland sein darf. Menschen sind komplexe Lebewesen, und praktisch jedem von uns steckt manchmal ein Stück Rassismus (oder Sexismus oder Ableismus oder was auch immer) zwischen den Zähnen. Die entscheidende Frage ist, wie wir darauf reagieren wenn wir darauf aufmerksam gemacht werden.

Denn hier liegt der Kern des großen Missverständnisses, das tatsächlich von beiden Seiten, rechts wie links, vorangetrieben wurde. Dadurch, dass "Rassist" als Schimpfwort gebraucht wurde, das Menschen diesen Zustand zuschreibt, anstatt "rassistisch" für konkrete Handlungen oder Aussagen zu verwenden (und auch hier: analog zu Sexismus und allen anderen Arten von Diskriminierung), wurde eine instinktive Abwehrhaltung geschaffen. Rassisten sind immer nur andere. Wenn aber die AfD-Wähler Rassisten sind, ich aber die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung kritisieren will, bin ich automatisch gezwungen, die AfD-Wähler vor dem Vorwurf des Rassismus zu verteidigen, um nicht selbst plötzlich als Rassist dazustehen.

So ist recht einfach zu erklären, warum etwa die New York Times seit 2016 zig Seiten äußerst wohlwollenden, weichgezeichneten Porträts von Trump-Wählern geopfert hat - es ist eine instinktive Verteidigung gegen den Vorwurf, sich mit einem Rassisten gemein zu machen. 2012 empfand nämlich niemand die Notwendigkeit, in die Appalachen zu reisen und den durchschnittlichen "Romney-Wähler" zu untersuchen, als sei er ein Lebewesen von einem anderen Stern. Erst seit mit Trump, Le Pen, Petry, Farage und Konsorten das Eklige mehrheitsfähig wurde und konservative bis rechte Parteien nichts dabei finden, den hinterletzten Abschaum als Spitzenkandidaten aufzustellen, ist diese Art der vorauseilenenden Verteidigung notwendig geworden.

Es ist daher gerade die eigentlich angewiderte Mehrheitsgesellschaft, die diese Salonfähigkeit überhaupt erst ermöglicht, weil sie nicht in der Lage ist, zwischen einem Substantiv und einem Adjektiv zu unterscheiden. In Deutschland ist es die FAZ, die in diesem Zusammenhang den beachtlichsten Rechtsruck hingelegt hat. Es ist der Ausdruck einer Unsicherheit, der sich von den bürgerlichen Eliten bis hinunter zum viel zitierten "Mann auf der Straße" zieht.

Jeder weiß, dass Rassist zu sein etwas Schlechtes ist. Deswegen gibt es in Deutschland (und anderswo) auch keine Rassisten. Und genau hier liegt das Problem, weil die Konservativen damit genau das tun, was sie den Linken sonst immer vorwerfen: sie erlegen Sprech- und Denkverbote auf. Denn in einer Atmosphäre, wo die schiere Benennung einer Äußerung oder Handlung als "rassistisch" sofort instinktive Abwehrreaktionen hervorruft, wird paradoxerweise der Rufer in der Nacht zum Bösen.

Dies zeigt sich, um den Kreis zu schließen, denn auch in der instinktiven Abwehrreaktion gegen "Gutmenschen", die in die bürgerliche Komfortzone eindringen. Die Vorstellung, man selbst könnte als "Rassist" oder "Sexist" entlarvt und damit außerhalb der Gesellschaft gestellt werden ist so erschreckend, dass instinktiv versucht wird, die anderen in den Sumpf zu reißen. Wenn alle schlecht sind - etwa weil sie moralisierende Gutmenschen sind, die unvernünftig irgendwelchen unrealistischen Idealen nacheifern - dann ist man selbst vor den Anwürfen sicher. Es ist diese Art der präventiven Selbstverteidigung, die den Diskurs um diese Thematik völlig unmöglich gemacht hat, ohne sofort von epischen, aggressiven Selbstverteidigungen der Betroffenen bombardiert zu werden.

Daher ende ich hier mit einem Aufruf. Diejenigen, die diskriminierende Handlungen oder Äußerungen beobachten, sollten den jeweiligen Menschen höflich beiseite nehmen und ausschließlich bezogen auf die jeweilige Handlung oder Tat deren diskriminierenden Inhalt erläutern - das soziale Gegenstück zum Stück Brokkoli zwischen den Zähnen. Und diejenigen, die auf so etwas aufmerksam gemacht werden, sollten nicht instinktiv in eine Verteidigungshaltung rutschen und jeden Verdacht weit von sich weisen, gar die Integrität des Gegenübers reflexiv und präventiv attackieren, sondern in sich gehen und überlegen, ob die konkrete Aussage oder Tat vielleicht diskriminierend gewesen sein könnte - und in Zukunft Besserung geloben. Wenn wir alle soweit sind, dann können wir auch endlich die Minderheit der echten Rassisten und Sexisten identifizieren die sich hinter diesen toxisch gewordenen Mechanismen verstecken und sie in den dreckigen Sumpf zurückstoßen, aus dem sie gekrochen kamen.