Freitag, 23. Februar 2018

Unbewältigte Vergangenheit in Polen

Polen erlebt seit den letzten Wochen eine ungeheur aufgeladene Debatte über seine Rolle im Holocaust. Hintergrund ist ein Gesetz, das von der rechtsradikalen Regierung verabschiedet wurde und unter Strafe stellt, die nationalsozialistischen Vernichtungslager "polnische Lager" zu nennen. Ist hier nur die Sensibilität der Polen (nicht zu Unrecht) berührt, wird das Gesetz problematisch, wo es darüber hinausgeht. Unter Strafe gestellt wird nämlich auch zu erklären, dass Polen am Holocaust beteiligt waren - und das ist nachweislich der Fall. Nicht als Massenphänomen, selbstverständlich, aber es kam vor. Und wie in ganz Osteuropa gab (und gibt) es auch in Polen einen virulenten Antisemitismus. Und über alledem darf man nicht vergessen, dass die Polen selbst ein Hauptopfer der Nationalsozialisten waren. Das Thema insgesamt ist also hoch komplex und auf vielerlei Ebenen problematisch.

Zuerst die historischen Fakten. Vom ersten Tag des nationalsozialistischen Aggressionskriegs gegen die Polen verübten die Wehrmacht und die ihr nachfolgende SS Massaker an der polnischen Zivilbevölkerung. Bevorzugt wandte sie sich hier gegen die Juden, vollzog aber bereits den Plan, die polnische Elite - Politiker, Lehrer, andere Intellektuelle, Wirtschaftler, etc. - zu ermorden, um sich ein Helotenvolk als billige Arbeitskräfte herzustellen. Nach der polnischen Kapitulation wurde Polen dreigeteilt: ein Teil wurde direkt ins Deutsche Reiche annektiert und die polnische Bevölkerung von dort vertrieben, ein Teil als "Generalgouvernment" in einen besetzten polnischen Rumpfstaat verwandelt und ein letzter Teil ("Warthegau") in eine rechtlose Zone verwandelt, die praktisch ausschließlich von der SS verwaltet wurde, die hier die Keimzelle ihres in den folgenden Kriegsjahren auswuchernden SS-Staats schaffte.

Die Ermordnung der polnischen Elite ging planmäßig weiter, trat allerdings gegenüber der Ermordung der polnischen Juden - von denen es immerhin fast drei Millionen gab - etwas in den Hintergrund und wurde deswegen nie komplett abgeschlossen; eine Rolle spielte auch, dass man genau diese Elite paradoxerweise benötigte, um das besetzte Land zu verwalten. Allein aus diesen Notwendigkeiten ergeben sich auch zwangsläufig Schnittstellen in der Kollaboration, wie dies in jedem besetzten Land der Fall war. Die Juden wurden erst in die Ghettos deportiert - abgeschlossene und isolierte Bereiche in polnischen Städten wie Krakau oder Warschau -, wo sie zu tausenden an Hunger und Seuchen starben.
Als 1942 die "Endlösung" beschlossen wurde, bauten die Nationalsozialisten die Vernichtungslager - Konzentrationslager gab es seit 1933 überall in deutsch dominiertem Gebiet - in der rechtlosen Zone der Warthegau. Das war ein bewusster Akt; man hielt sie damit nicht nur aus der Jurisdiktion der normalen deutschen Institutionen heraus (die dann später behaupten konnten, von nichts gewusst zu haben), sondern auch aus Polen. Im rechtlichen Konstrukt der Nationalsozialisten standen die Vernichtungslager in einem staatenlosen Raum. Allein deswegen ist die Bezeichnung "polnische Lager" auch falsch und irreführend. Nicht einmal die Nationalsozialisten selbst hätten diese Bezeichnung verwendet.
Im Rahmen des Holocausts - vor allem bevor er industriell in der "Endlösung" organisiert wurde - gab es immer wieder Kooperation von Polen (wie in jedem anderen Land auch), die teilweise proaktiv die Sache selbst in die Hand nahmen. Dies war allerdings weder planmäßig noch sonderlich weit verbreitet; für jedes Beispiel von Polen, die Juden ermordeten, gab es auch Beispiele von Polen, die Juden versteckten und schützten (auch hier wie in jedem anderen Land).
Damit kommen wir zurück zur politischen Situation von heute. Im Zweiten Weltkrieg wurden rund 5,65 Millionen Polen von den Nationalsozialisten ermordet (darunter drei Millionen Juden). Das entspricht immerhin knapp 20% der Bevölkerung, ein Anteil, der von kaum einem anderen Land erreicht wurde. Dazu kamen Vertreibungen und weitere 45 Jahre kommunistischer Diktatur. Während dieser gesamten Zeit weigerte sich die Bundesrepublik Deutschland zudem, die Grenzen von 1945 anzuerkennen und behielt sich immer die Möglichkeit offen, diese noch zu ändern (immerhin schloss die sozialliberale Koalition im Grundlagenvertrag 1971 Gewalt aus). Das Thema ist von daher in Polen äußerst sensibel, besonders wo Deutschland involviert ist.
Für Polen ist seine Opferrolle im Zweiten Weltkrieg ein Grundbaustein der nationalen Identität. Im offiziellen Narrativ waren die Polen dabei alle und ausschließlich Opfer. Hoch gehalten wird zudem die Erinnerung an den Widerstand, etwa den Warschauer Aufstand 1944 oder die Exilpolen, die in der alliierten Armee kämpften (und sich etwa in der Luftschlacht um England, der Invasion Frankreichs oder der Schlacht um Monte Cassino verdient machten).
Kompliziert wird die Erinnerung Polens, wo der Holocaust betroffen ist. Polens offizielle Erinnerung macht nämlich keinen Unterschied zwischen Juden und Polen. Was grundsätzlich erst einmal gut ist - zu viele andere Länder konstruieren eine Art jüdischer Nationalität und machten ihre eigenen jüdischen Opfer effektiv zu Ausländern - wird dadurch problematisch, dass Polen den Holocaust zu einem Mord an den Polen insgesamt macht und bewusst die Grenzen verwischt. Die offizielle polnische Erinnerung erkennt den jüdischen Opfern ihren speziellen Status durch die Shoa effektiv ab. Wenn der Holocaust sich aber gegen die Juden als ganzes richtet, kann es auch keine polnischen Kollaborateure geben. Demzufolge trägt Deutschland die alleinige Schuld.
Die polnische Regierung verfolgt daher das Bestreben, den Holocaust zu einer Mordaktion gegen Polen umzudefinieren. In diesem Kontext wird die absurd erscheinende Äußerung des polnischen Kultusministers Jaroslaw Sellin verständlicher, ein Museum für den "Polocaust" einrichten zu wollen. Denn die Polen waren tatsächlich Opfer einer nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Ihr Bestreben, dies anzuerkennen, ist daher ebenso berechtigt wie ihre Exklusion beziehungsweise Vereinnahmung der jüdischen Opfer problematisch ist.
Ähnliche Probleme treten auch in Ungarn oder Rumänien auf. In Ungarn weigerte sich die Regierung stets, im Holocaust zu helfen. Als das Land 1944 die Seiten wechselte und von den Nationalsozialisten besetzt wurde, ermordeten diese in einer beispiellosen logistischen Großaktion innerhalb weniger Wochen praktisch alle ungarischen Juden. Die Frage, ob sich dieser Mord gegen Ungarn richtete oder gegen Juden, erhitzt im Land bis heute die Gemüter. Rumänien seinerseits nahm auch kaum am Holocaust teil, startete aber seinen eigenen Vernichtungsfeldzug gegen die Juden, von dem es heute wenig wissen will. Nun sind wir als Deutsche in einer einzigartigen schlechten Situation, diesen Ländern zu erklären, wie sie ihrer Rolle im Holocaust zu gedenken haben. Zwar ist die deutsche Aufarbeitung der Verbrechen, ungeachtet all ihrer Schwächen und Fehlleistungen, tatsächlich beispiellos. Aber gleichzeitig befinden wir uns hier immer auf dünnem Eis.

Dazu kommt, dass wir dieses Problem in Deutschland ebenfalls haben. Allzuoft nämlich werden die jüdischen Opfer hier nur als "Juden" gesehen, nicht als Deutsche. Man erkennt ihnen einen Teil ihrer Identität ab und macht sie zu Ausländern und Außenstehenden, was paradoxerweise immer das Ziel der Nationalsozialisten gewesen ist. Es zeigt sich also, dass die Vergangenheitspolitik gerade im Bezug zum Holocaust extrem problembeladen und vielschichtig ist. Per Gesetz eine offzielle Vergangenheit festlegen zu wollen ist dabei sicher der falsche Weg, weswegen das Verbot der Holocaustleugnung, das EU-weit gilt, auch so umstritten ist, obwohl es sein faktischer Kern nicht ist. Bei allem berechtigten Anspruch der Polen auf eine Anerkennung ihres Leidens im Zweiten Weltkrieg sollte man der Regierung daher in ihrem Ansinnen widersprechen. Die geschichtliche Version, die sie per Dekret allgemeinverbindlich zu machen versucht, ist nicht nur grob vereinfachend, sondern irreführend. Dass genau das das Ziel des Gesetzes ist, macht es umso schlimmer.

Sonntag, 11. Februar 2018

Demokratische Kaffeesatzleserei

Ein interessanter Kommentar von Ko-Autor Stefan Pietsch zu meinem Artikel bezüglich der Großen Koalition hat mich zum Nachdenken gebracht, und weil wir hier ja schon auch Nachdenkseiten sind, habe ich das Ergebnis davon in diesen Blogpost gegossen. Was, kein Applaus für billige Wortwitze? Ok. Ab in medias res.
Rein aus SPD-Sicht ist das jetzige Verhandlungsergebnis wahnwitzig gut, wenn man nochmal kurz auf das Wahlergebnis guckt.

Das ist der Punkt. Und der Fehler. Ich habe nie verstanden, dass manche Wahlergebnisse so interpretieren. Demokratische Wahlen sollen den Willen des Volkes zum Ausdruck bringen und die Gewählten diesen bestmöglich umsetzen. Das ist mein Verständnis von Demokratie und es ist klassisch. Man kann einiges aus dem Wahlergebnis herauslesen, aber kaum das, was im Koalitionsvertrag steht. Dazu wurde die sozialdemokratische Partei weiter abgestraft, was man nicht zwingend als Auftrag ansehen kann, das eigene Programm 1:1 umzusetzen.

Weißt Du, als Bush im Jahr 2000 unter strittigen Umständen und mit weniger Stimmen als sein Opponent Al Gore die US-Präsidentschaftswahlen gewann, war die einhellige Ansicht, er müsse auf die Unterlegenen zugehen und eine ausgleichende Politik machen. Mehrheit ist eben nicht immer einfach Mehrheit. Dieser Koalitionsvertrag sagt, wir haben nichts verstanden und wir machen weiter wie bisher. Wenn Du das, selbst aus SPD-Sicht gut findest, ist das Deine Sache. Aber ich wie die deutliche Mehrheit der Bevölkerung stören sich erheblich an einer solchen Sichtweise.
Ich halte das für demokratische Kaffeesatzleserei. Die Vorstellung, es gäbe einen "Wählerwillen", den die Politik erkennen und umsetzen müsse, ist ebenso Unfug wie die Idee, dass es unterschiedliche Mehrheiten gibt, die definieren, wie viel vom eigenen Programm die Partei umsetzen darf. Es ist einer dieser demokratischen Mythen, die ständig kolportiert werden, die aber keinerlei Verankerung in der Realität haben und auch nie hatten.

Das fängt schon mit dem Beispiel des Autors an. Bushs gestohlener Wahlsieg von 2000 führte gerade nicht dazu, dass er eine moderate Präsidentschaft geführt hätte, wie er dies im Wahlkampf noch versprochen hatte, als er wusste, dass sich mit radikalen Botschaften keine Wahlen gewinnen ließen ("compassionate conservatism"). Bush begann direkt nach seiner Wahl einen ziemlich unverhohlen rechten Kurs zu fahren, der sich deutlich von dem zentristischen Weg des späteren Clinton unterschied. Dieser reichlich unpopuläre Kurs wurde dann bald von der durch die Anschläge von 9/11 erzeugten Schließung der Reihen hinter dem Präsidenten überdeckt, aber die nicht-existente Mehrheit machte Bush nicht bescheiden; im Gegenteil, sie ließ die Republicans die Macht ausnutzen, solange sie sie halten konnte, wie sie es seit 2016 auch wieder tun. Auch die Democrats nutzten ihre Mehrheiten (die allerdings tatsächlich einer Mehrheit des Wählerwillens entsprangen) von 1992 und 2008 dazu, ihr Programm umzusetzen. Das ist das, was Politiker tun.

Und bevor jemand auf die Größe des Sieges verweist: ganz egal wie groß der Sieg in den jeweiligen Wahlen war, die Wähler sind grundsätzlich danach unzufrieden und wählen den jeweiligen Gegner. Immer. Als Lyndon B. Johnson 1964 die Wahlen mit einem der größten Erdrutschsiege der US-Geschichte erreichte, erzählten danach diverse Leute trotzdem, dass er eigentlich kein Mandat für seine wegweisende Civil-Rights-Politik habe und eine moderate, ausgleichende Politik fahren müsse. Das Narrativ ist immer dasselbe, und es kommt zuverlässig mit jeder Wahl aufs Neue wieder.

Aber das ist blanke Kaffeesatzleserei, was aus mehreren Gründen ärgerlich ist. Einmal gibt es "den Wählerwillen" nicht; "die Wähler" sind eine große Masse von Individuen, die aus den verschiedensten Gründen so wählen wie sie wählen. Ein Neonazi, der die AfD wählt weil er darauf hofft, dass sie insgeheim genau seine Partei ist und nur respektabel tut, hat völlig andere Motive als ein enttäuschter protestwählender Sozialdemokrat, der seinen Arbeitsplatz zwischen Agenda2010 und der Ankunft der Flüchtlinge bedroht sieht. Die Demoskopie kann zu einem gewissen Grad versuchen, diese Disparitäten zu analysieren, aber es ist wohl kein Zufall, dass gerade die professionellen Kaffeesatzleser die Demoskopie entschieden ablehnen.

Andererseits wählt man ein Parlament und gegebenenfalls einen Regierungschef über größere Perioden von vier oder fünf Jahren. Wenn in drei Jahren eine neue Krise auftritt oder ein neues Thema sich ins Rampenlicht schiebt, was ist dann "der Wählerwille"? Auch hier wird hauptsächlich Kaffeesatzleserei betrieben. Dazu kommt, dass die Berufung auf den Wählerwillen zuverlässig nur dann geschieht, wenn dieser mit der eigenen Meinung komplementär läuft und die Regierung dieser gerade nicht entspricht, während im gegenteiligen Fall das verführte/ungebildete/sowieso doofe Volk von den verantwortlich und pragmatisch, ja vielleicht gar alternativlos handelnden Staatsmännern und -frauen zu ihrem eigenen Besten ignoriert werden muss. Man muss gar nicht weiter schauen als zu Organen wie der FAZ, die grundsätzlich wenig Probleme damit hatten als eine All-Parteien-Koalition gegen massives Unbehagen aus der Bevölkerung die Agenda2010 durchpeitschte, aber sich in ehrlicher demokratischer Sorge die Haare raufte, als dieselbe All-Parteien-Koalition die Flüchtlinge ins Land ließ (was im Übrigen noch absurder wird wenn man bedenkt, dass diese Argumentationslinie nahtlos von der Kritik der Minderheit gegen die Willkommenskultur mit einer Inszenierung von "wir sind die wenigen die klar sehen" zu einer selbstgerechten Pose der Volksversteher als "Stimme des vergessenen einfachen Manns von der Straße" wechselte).

Zuletzt aber muss gesagt sein, dass dieser Idee, dass die Politik nur ausführendes Organ des jeweiligen Wählerwillens sei, schlichtweg nicht der Realität entspricht. Es ist ein Mythos. Wir sind eine BundesREPUBLIK, und wir treffen politische Entscheidungen nicht per Akklamation auf der Agora ( wo im Übrigen Entscheidungen auch nicht gerade im Konsens fielen, sondern hauchdünne Mehrheiten 180°-Wendungen in der Politik vollzogen, aber das ist eine andere Geschichte). Wir wählen Repräsentanten für einen vorher festgelegten Zeitraum, und diese Repräsentanten treffen diese Entscheidungen für uns. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes das, wozu Abgeordnete da sind. Deren Entscheidungen mögen einem nicht gefallen. Aber im Gegensatz zu den Journalisten bei der FAZ oder den Schlammschleuderern bei der BILD wurden sie gewählt und besitzen demokratische Legitimation.

Auf der anderen Seite ist es das Recht jedes Bürgers als Individuum und der Presse als Institution, diese Entscheidungen zu kritiseren, zu hinterfragen, zu bejubeln oder lautstark Änderung zu verlangen, ob über einen gesetzten Leitartikel, eine "Volksverräter!"-Brüll-Demo oder einen Kommentar in einem der besten Politikblogs der Republik. Die Politik mag darauf eingehen oder auch nicht. In beiden Fällen ist die Abhilfe, die dem Bürger zur Verfügung steht, die Abwahl der bestehenden Politiker und ihre Ersetzung durch neue.

Es ist an dieser Stelle auch wohlfeil darauf zu verweisen, dass der Bürger die Möglichkeit dazu in der Praxis nicht hat, weil das zur Auswahl stehende Personal von den Parteien in internen Prozessen festgelegt wurde. Das ist ebenso wahr wie irrelevant. Das Gundgesetz gibt den Bürgern nicht nur demokratische Rechte, sondern auch demokratische Pflichten¹. Nirgendwo steht geschrieben, dass nur weil ich in einem Moment gerade mit irgendetwas unzufrieden bin ich plötzlich umwerfen können soll, was andere in Jahren und Jahrzehnten politischer Arbeit aufgebaut haben.

Konkret: Bürger haben das grundgesetzlich verbriefte Recht, sich in demokratischen Parteien zu engagieren. Sie haben kein grundgesetzlich verbrieftes Recht, dass sich die diejenigen Bürger, die lange und harte Arbeit in dieses Engagement investiert haben, von einigen Dauernörglern überstimmen lassen müssen. Deine Partei hat Positionen, die dir nicht gefallen? Dann tritt ein, finde gleichgesinnte und verändere sie von unten. Dass Leute sich ernsthaft darüber beklagen, dass die SPD nicht bereit ist einigen Leuten, die kurz vor knapp eintreten (und danach vielleicht gleich wieder aus) dasselbe Recht zuzugestehen, die komplette Zukunft der Partei zu entscheiden, ist nicht nachvollziehbar.

Und ich schreibe das alles aus Position von jemandem heraus, der nicht Mitglied in irgendeiner Partei ist. Ich habe aus meinen eigenen Gründen ein parteipolitisches Engagement bisher gescheut. Die Vorstellung, ich könnte einer Partei, die in demokratischen Wahlen eine Mehrheit errungen hat, das Recht absprechen Politik zu betreiben ist absurd. Ich kann diese Politik kritisieren und lautstark fordern, sie möge eine andere betreiben. Aber so zu tun, als dürfe sie ihre Politik nicht betreiben, als ob das irgendwie der Demokratie zuwiderlaufe, ist Unsinn, der in einem mythischen Demokratieverständnis fußt, das nichts mit der Realität zu tun hat. Wenn man dann politikverdrossen wird, weil seine eigene Märchenversion nicht umgesetzt wird, ist natürlich schade, aber nicht den Politikern anzulasten, die tatsächlich vorne (oder oben) dafür arbeiten, ihre erklärten Ziele Wirklichkeit werden zu lassen.

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¹ Ich möchte diesen Gedanken hier noch etwas näher ausführen. Das Grundgesetz selbst sagt insgesamt sehr wenig zu diesem gesamten Partizipationskomplex. Relevant ist Artikel 21: "Die politischen Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit", mit dem magischen Zusatz: "Alles Nähere regelt ein Bundesgesetz." Das entsprechende Bundesgesetz, auf das hier verwiesen wird, ist das Parteiengesetz, und dieses geht deutlich mehr ins Detail als der eine dürre Satz aus dem Grundgesetz, das nicht viel mehr tut als die essenzielle Rolle der Parteien endlich formal anzuerkennen.

Das Parteiengesetz legt fest, dass Parteien einigen Grundsätzen gehorchen müssen. Sie müssen die freiheitlich-demokratische Grundordnung anerkennen und verteidigen, innerparteiliche Demokratie üben, Transparenz über ihre Finanzen geben und ein für alle zugängliches Wahlprogramm haben. Neben diesen formalen Anforderungen gibt das Parteiengesetz den Parteien einige weitere Aufgaben an die Hand, die sie erfüllen müssen: sie müssen die Öffentlichkeit informieren (das ist bei weitem nicht das Prärogativ der Medien!), sie müssen "zur Übernahme politischer Verantwortung befähigtes Personal herausbilden", sie müssen sich Wahlen stellen und aktiv zur Übernahme politischer Verantwortung bereit sein (hallo FDP), sie müssen sich selbst der Partizipiation, Kritik und Fragen der Bürger öffnen, etc.

Diese Reihe von Pflichten aus dem Parteigesetz schafft aber gleichzeitig die demokratische Legitimation von Parteien. Wenn ein Bürger nicht daran interessiert ist, sich in die programmatische Entwicklung einer Partei einzubringen oder gar für die Übernahme politischer Verantwortung ausbilden zu lassen, dann überlässt er das jenen, die es tun. Die Kandidatenauswahl findet hier statt, gesetzlich geregelt; nimmt der Bürger nicht daran teil ist das sein gutes Recht, aber er kann sich dann halt auch schlecht darauf berufen, keine Auswahl zu haben. Wer die Verantwortung scheut, übt sie auch nicht aus.

Freitag, 9. Februar 2018

Die kleine Koalition

Der Koalitionsvertrag ist durch, und das politische Deutschland atmet auf. #KeineExperimente ist das Losungswort der Stunde. Die neue Große Koalition ist eigentlich eine kleine. Sie ist voll gestopft von sinnvollen Kompromissen, ordentlichen Ergebnissen, guten Plänen und ordentlichem Personal. Gleichzeitig springt sie wesentlich zu kurz. Es ist ein Paradoxon der gegenwärtigen deutschen Politik, dass die Große Koalition das Beste ist, worauf wir hoffen können, das Beste, was sich unter den gegebenen Umständen erreichen lässt, und gleichzeitig eine viel zu kleine, viel zu kurzsichtige Koalition, die die großen Probleme einfach nur vier Jahre lang weiterschiebt wie eine Dose, die man die Straße hinuntertritt.

Sehen wir uns im Folgenden die Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen im Einzelnen an.

Als erstes hätten wir die Personaldebatte in der SPD. Schulz tritt als Parteichef ab und wird voraussichtlich durch Andrea Nahles abgelöst. Das ist ein sinnvoller Wechsel. Schulz war mit dem Amt offensichtlich überfordert, und die SPD kann sinnvoll ohnehin nicht noch einmal mit einem männlichen Kanzlerkandidaten ins Rennen gehen. Im Außenministerium wäre Schulz eine hervorragende Besetzung gewesen und hätte das wichtigste Projekt der GroKo - die EU-Reform - maßgeblich mitbestimmen können; seine Niederlage in den internen Machtkämpfen ist zwar folgerichtig, aber bedauerlich. Nahles auf der anderen Seite hat zumindest einiges an Potenzial, besonders im Hinblick auf die traditionellen SPD-Wählerschichten. Sie besitzt zudem die notwendigen Ellenbogen und wenigstens ein Mindestmaß an Vernetzung innerhalb der Partei, was für alle Kanidaten seit 2005 nicht galt.

Zum zweiten hätten wir den Zuschnitt der Ministerien. Die SPD hat hier gut verhandelt. Nicht nur sicherten sie sich das traditionell prestigeträchtige Außenministerium, sondern auch das für alle Politik elementare Finanzministerium. Es hat sich endlich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Kontrolle über dieses Ministerium die zweitwichtigste Funktion nach dem Kanzler ist. Da die SPD zudem Arbeit und Soziales sowie dem Familienministerium kontrolliert, sind alle wichtigen Schalthebel progressiver Politik unter ihrer Kontrolle. Der aus meiner Sicht größte Wermutstropfen hier ist die Besetzung des Finanzministeriums mit Olaf Scholz, der wohl als gleichzeitiges Zugeständnis an Seeheimer und Union verstanden werden darf und eine fleischgewordene Garantie dafür ist, dass das Ziel der schwarzen Null erhalten bleibt, was wahrlich keine gute Idee ist.

Der CDU bleibt dagegen das ständig überschätzte Wirtschaftsministerium (wenngleich mit Zusatzkompetenzen), während die CSU ein Super-Innenministerium bekommt und damit den Bremser bei der Migration und Law-and-Order-Politiker geben kann. Die jeweiligen Stärken der Parteien werden somit ausgenutzt und ihre offenen Flanken nach links und rechts abgedeckt. Der für die SPD (und CSU) vorteilhafte Zuschnitt spiegelt deren starke Verhandlungsposition gegenüber Merkel wieder, die Neuwahlen unbedingt vermeiden will.

Zum dritten haben wir die Grundlage für die Europa-Politik. Die Große Koalition ist sicherlich deutlich europa-freundlicher als es eine Jamaika-Koalition gewesen wäre, und durch die Länder der EU dürfte ein kollektives Aufatmen gehen. Zwar ist mit Scholz und der CDU/CSU nicht damit zu rechnen, dass umfangreiche Reformen etwa im Sinne Macrons stattfinden werden, aber die erzielten Einigungen sind bereits größere Schritte als noch vor den Wahlen für möglich gehalten worden wären. Deutschland ist immer noch wesentlich zu sehr ein Bremser in der weiteren Integration, aber die Große Koalition ist für den Kontinent das bestmögliche Ergebnis unter den Umständen.

Deutlich anders sieht es im vierten Gebiet, der Klima-Politik, aus. Bereits vor den Verhandlungen war klar geworden, dass beide Parteien das Klimaziel 2020 abschreiben und generell keine Priorität aus dem Thema machen würden. Angesichts der großen Herausforderungen, vor denen die ganze Welt hier steht, ist das mehr als bedauerlich. Es war allerdings angesichts des Desinteresses beider Parteien am Thema und der starken Lobbys dagegen traurigerweise auch kaum anders zu erwarten.

Zum fünften hätten wir die Steuer- und Haushaltspolitik. Auch hier bleibt ein großer Wurf erwartungsgemäß aus; stattdessen gibt es eine Reihe kleiner Reformen, die aber überwiegend positiv zu bewerten sind. So ist die Abschaffung des Solis für die unteren Einkommen endlich einmal eine vernünftige Steuersenkung, die tatsächlich nur denen hilft, die sie brauchen. Die Koalition will auf europäischer Ebene für eine Finanztransaktionssteuer kämpfen (was mit dem Brexit marginal erfolversprechender als vorher ist, aber trotzdem ein schnönes Signal). Mehrere Feinjustierungen sollen unter anderem Großkonzerne vernünftiger besteuern und leichtere Umwandlungen zu Bauland erlauben. Der wahrscheinlich beste Posten ist die Abschaffung der unsäglichen Abgeltungssteuer.

Zum sechsten hätten wir den Sozialstaat, wo eine Reihe kleiner Reformen für die Rente verabschiedet werden sollen, die die Lage für Rentner etwas verbessern. Das Problem der Altersarmut und des sinkenden Rentenniveaus bleibt aber auch hier weiterhin bestehen. Die SPD setzte durch, dass die Honorare von Ärzten nicht mehr zwischen Privat- und Kassenpatienten unterscheiden dürfen, was einen Schritt zur Beseitigung der Zwei-Klassen-Medizin bedeutet, wenngleich nur einen kleinen. Krankenversicherungsbeiträge werden wieder paritätisch, auch das ist ein Erfolg der SPD. Leider hat sich die Apothekenlobby mit weiteren Verboten von Versandapotheken durchgesetzt; auch die Union will keinen Wettbewerb in diesem Sektor und lässt die Kosten dafür die Bürger tragen. Der Pflegesektor bleibt weiterhin ein Sanierungsfall; die versprochenen 8000 zusätzlichen Pflegekräfte sind kaum mehr als ein Tropfen auf heißem Stein.

Zum siebten hätten wir das leidliche Thema der Flüchtlingsdebatte. Angesichts dessen, dass niemand mehr einer weiteren Massenaufnahme das Wort redet, war die Durchsetzung der CSU beschlossene Sache. Eine Obergrenze kommt, wenngleich in gedämpfter Form und mit kosmetischen Korrekturen für die SPD, die vor allem das ideologisch verbohrte Ablehnen eines vernünftigen Familiennachzugs kritisierte. Für die Mammutaufgabe der Integration der Flüchtlinge ist wenig zu hören - verdächtig wenig. Stattdessen dreht sich die Diskussion um den gleichen absurden Müllhaufen aus der rechten Ecke, doch unbedingt willkürliche Begrenzungen einzuziehen und den Flüchtlingen wo immer möglich zu schaden, statt konstruktive Lösungen anzugehen. An dieser Stelle noch einmal herzlichen Dank an die Öffentlich-Rechtlichen, diesen Stinkhaufen mit meinen Gebührengeldern monatelang befeuert zu haben.

Was also bleibt? Insgesamt ist die neue Große Koalition in mehrfacher Hinsicht eine kleine Koalition. Nicht nur hat sie kaum mehr Stimmen beieinander als klassische Zwei-Parteien-Konstellationen, ihre Themen sind auch alle sehr klein und am kleinsten gemeinsamen Nenner ausgerichtet. Angesichts der großen Herausforderungen bleibt sie auch eigentümlich kleinkariert und doktort an den Ecken herum. Das ist das eine.

Nichtdestotrotz muss man der SPD Respekt zollen. Nicht nur hat sie sich der staatspolitischen Verantwortung gestellt, wo andere Heiße-Luft-Produzenten sie scheuten, sie hat auch aus einer schlechten Position vieles herausgeholt. Es findet sich von ihr nichts in diesem Vertrag, was nicht irgendwie eine gute Idee wäre oder von dem man sagen könnte, es sei ein Fehler. Daher ist die permanente Kritik an der SPD, die ständige Nörgelei, auch so nervtötend. Egal was die SPD macht, sie verliert. Das ist keine sonderlich beneidenswerte Position. Viel davon ist selbst verschuldet, gewiss. Aber wenigstens stellt sie sich der Herausforderung und versucht, das Beste draus zu machen. Gut gemeint mag das Gegenteil von gut gemacht sein, besser als nichts gemacht ist es aber allemal. Es bleibt der Partei daher nur zu wünschen, dass sie ihre Erfolge aggressiver vermarktet und sich ein wenig Selbstbewusstsein zulegt. Die Republik braucht die Alte Tante SPD. Auch wenn die das manchmal selbst nicht glauben mag.