Montag, 22. April 2019

Rubin-Gewalttäter reformieren das Grundgesetz unter dem Existenzminimum - Vermischtes 22.04.2019

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Retiring as a Judge, Trump’s Sister Ends Court Inquiry Into Her Role in Tax Dodges
President Trump’s older sister, Maryanne Trump Barry, has retired as a federal appellate judge, ending an investigation into whether she violated judicial conduct rules by participating in fraudulent tax schemes with her siblings. The court inquiry stemmed from complaints filed last October, after an investigation by The New York Times found that the Trumps had engaged in dubious tax schemes during the 1990s, including instances of outright fraud, that greatly increased the inherited wealth of Mr. Trump and his siblings. Judge Barry not only benefited financially from most of those tax schemes, The Times found; she was also in a position to influence the actions taken by her family. [...] The family also used the padded invoices to justify higher rent increases in rent-regulated buildings, artificially inflating the rents of thousands of tenants. Former prosecutors told The Times that if the authorities had discovered at the time how the Trumps were using All County, their actions would have warranted a criminal investigation for defrauding tenants, tax fraud and filing false documents. Similarly, Judge Barry benefited from the gross undervaluation of her father’s properties when she and her siblings took ownership of them through a trust, sparing them from paying tens of millions of dollars in taxes, The Times found. For years, she attended regular briefings at her brother’s offices in Trump Tower to hear updates on the real estate portfolio and to collect her share of the profits. When the siblings sold off their father’s empire, between 2004 and 2006, her share of the windfall was $182.5 million, The Times found. (Russ Buettner/Susanne Craig, New York Times)
Es gehört zu den völligen Absurditäten der Trump-Ära, dass ein solcher Skandal praktisch keine Rolle spielt. Allein die Vorstellung, Obamas Schwester wäre in nebulöse Finanzgeschäfte verwickelt, von denen Obama selbst auch profitiert hat, und niemand interessiert sich groß dafür, ist völlig unvorstellbar. Das Ausmaß an kriminellen und halbkriminellen Machenschaften, in das die ganze Familie verwickelt ist, ist im 20. Jahrhundert wenigstens ohne jedes Beispiel. Dass die komplette republikanische Partei diese kriminellen Handlungen deckt und jede Aufklärung verhindert, scheint ebenfalls kaum mehr als eine Fußnote zu sein. Das Ganze ist umso lächerlicher, als dass bis heute beständig darauf verwiesen wird, dass Hillary Clinton ja wegen ihrer zahlreichen Skandale verloren habe. Das ist sicher richtig, aber es konnte überhaupt nur passieren, weil Medien und Wähler willentlich die Augen vor dem Ausmaß von Trumps morastigem Untergrund verschlossen und sich bestenfalls zu fadem Bothsiderismus hinreißen lassen. Während die ganze Nation aufgeregt darüber debattierte, dass Bill Clinton auf dem Flughafen Smalltalk mit der Generalstaatsanwälting betrieben hat, trafen sich Trump und sein Umfeld beständig mit Spionen, Verrätern, Kriminellen und anderem Geschmeiß und profitierten davon, ohne dass es zu ähnlichem Interesse gekommen wäre.

2) Trump’s War on Democracy: An Update
That the effort failed allows us to read the story with two minds. On the one hand, we might conclude that the system worked: The department’s lawyers refused to endorse a transparently illegal scheme, and it has now been exposed in the media by a whistle-blower. On the other hand, the bureaucratic resistance to the administration’s demand was followed by a sweeping purge of the department, one specifically predicated on the refusal of its leadership to violate the law. There is little mystery about Trump’s intent to turn the department into an unalloyed instrument of his agenda. So we are left wondering whether the danger has been thwarted, or whether it yet looms over our heads. Trump’s election inspired a wave of concern, sometimes shading into outright panic, over the stability of the republic. It is fair to say that nothing has yet occurred that would irreversibly impair the democratic character of the state or entrench Trump and his allies in power. In this light, an increasingly smug wave of revisionism has taken hold. [...] The most dire outcomes do not have to be the most probable outcomes in order to legitimately command our attention. We know for sure that whatever Trump’s capabilities, the malevolence of his intentions lies beyond dispute. If Trump does win reelection — a prospect that is close to a coin-flip proposition under current economic conditions — that would place us now barely more than a quarter of the way through his presidency. (Jonathan Chait, New York Magazine)
Der ganze Umgang mit Trump und anderen Populisten, die an den Grundfesten der freiheitlich-demokratischen Grundordnung sägen, ist ein paradoxisches Dilemma. Wenn eine Übernahme der demokratischen Institutionen durch die Populisten verhindert wird, sieht es so aus, als ob das Gesamtsystem stabil und sicher wäre. Das Gleiche haben wir beim Klimawandel: wenn Maßnahmen Erfolg haben, scheinen die Warnungen alle übertreiben und die Maßnahmen sinnlos.
Für die "Relativierer" ist durch dieses Paradox auch noch ein Anreiz gegeben, sich aktiv gegen die "Warner" zu stellen: Man sieht am Ende toll rational und mittig aus und kann mit dem Finger auf die "Hysteriker" zeigen (sieht man ja auch an der Sprache, "Klimahysterie", "AfD-Hysterie" und so weiter) und sich clever fühlen. Sie müssen sich dann nicht die Finger schmutzig und mit dem ideologischen Gegner gemeinsame Sache machen. So können Konservative und Liberale Äquidistanz sowohl von Rechtspopulisten als auch vor Klimaleugnern wahren und können vermeiden, auf derselben Seite eines Arguments mit den Grünen erwischt zu werden. Dadurch gefährden sie zwar das Gesamtsystem, aber das ist ihnen natürlich egal. Viel wichtiger ist es, am Ende Recht gehabt zu haben.

Für Familien mit drei und mehr Kindern wächst in Deutschland seit Jahren das Armutsrisiko. Das zeigt eine Untersuchung im Auftrag des Familienbundes der Katholiken und des Deutschen Familienverbandes, die WELT AM SONNTAG vorliegt. Der Grund ist die Belastung mit Steuern und Abgaben, die selbst für Familien mit einem mittleren Jahreseinkommen zwischen 30.000 bis 50.000 Euro brutto schon relativ hoch ist. Zieht man vom Nettoeinkommen das gesetzlich garantierte Existenzminimum von Eltern und Kindern ab, dann rutschen viele Familien sehr schnell in die roten Zahlen. Der Berechnung zufolge liegt das Einkommen einer Familie, die brutto 35.000 Euro im Jahr verdient und zwei Kinder hat, nach Abzug von Sozialabgaben und Steuern monatlich 232 Euro unter dem Existenzminimum. Im Gesamtjahr summiert sich dieses Minus auf 2779 Euro. Für Familien mit fünf Kindern addiert sich der Fehlbetrag sogar auf stattliche 17.839 Euro, zeigen die Datenreihen der Studie. Dabei sind 35.000 Euro Jahresbruttoeinkommen gar nicht so wenig. Der Durchschnitt in Deutschland lag im vergangenen Jahr bei 35.189 Euro. Trotzdem bleibt nach Steuern und Abgaben offenbar zu wenig übrig. Selbst Familien mit 50.000 Euro Jahresbruttoeinkommen fallen mit mehr als drei Kindern bereits in den roten Bereich. Die Lage der Betroffenen hat sich der Studie zufolge nicht verbessert. Im Gegenteil: Vor fünf Jahren fiel das Jahresminus für Familien mit zwei Kindern und 35.000 Euro Jahreseinkommen noch deutlich niedriger aus, es lag bei 807 Euro. Familien mit fünf Kindern verdienten damals netto 14.391 Euro weniger als das Existenzminium. (Jan Dams, Die Welt)
Das Framing der Welt hier ist sehr merkwürdig. Die vorgebrachte Familie am Existenzminimum zahlt pro Jahr kaum 1800 Euro Steuern. Die "Steuerlast" ist sicherlich nicht der Grund für ihr Problem. Selbst wenn man ihre Steuern auf Null reduzieren würde, entkämen sie ja nicht der Armut. Das Problem sind viel zu niedrige Löhne. Man muss sich immer wieder vor Augen halten, dass der DURCHSCHNITTslohn in Deutschland bei 35k im Jahr liegt. Das ist absurd. Und tatsächlich wird es bei Familien ja noch wesentlich schlimmer. Zwar helfen hier Kinderfreibeträge, aber gerade wenn die Eltern nicht verheiratet sind ist das auch nur ein Tropfen auf heißem Stein. Und ich nehme hier Stefan Pietsch gleich vorweg: das Problem sind natürlich nicht nur die vernachlässigbaren Lohnsteuern, sondern auch die Sozialabgaben. Aber ich bleibe dabei, dass das zentrale Problem schlicht zu niedrige Löhne sind, oder im Falle von Familien zu geringe Transferleistungen.

4) There's a reason why Bernie bros and Trump supporters love Julian Assange equally
The Assange saga is also a window into the scrambled ideological politics of the United States in 2019. The most fierce defenders of Assange come from two seemingly disparate ends of the ideological spectrum. First are the fans of Donald Trump, who understand that the leaks of Hillary Clinton’s emails were a political neutron bomb that exploded under her campaign in the closing weeks, the ultimate oppo drop. Joining them are the American Bernie Bros and the Glenn Greenwald demographic of America-can-do-no-good types who look at anything that weakens US influence in the world as a net positive. American political ideology is no longer a line, but a horseshoe, with the extremes looping toward one another in an asymptotic curve of edge-case crazy. [...] Trump’s loudest media cheerleaders — Sean Hannity, Rush Limbaugh, Breitbart, and others — treated WikiLeaks and Assange as the heroes of the play in 2016. They didn’t care about the Russian provenance of the leaks, only that those leaks were an expedient weapon in their hands. A cursory Google search would have turned up US intelligence and law enforcement community concerns that WikiLeaks was an asset of the Russian intelligence services; it’s not that the Trump team and his supporters didn’t know. They didn’t care. (Rick Wilson, The Independent)
Letztlich sehen wir hier doch nur eine Reproduktion der ideologischen Leitlinien aus dem Kalten Krieg. Hier fand sich die politische Linke auch immer zuverlässig auf Seiten der Sowjetunion. Die Rechtsextremen waren damals nur besser in die breite Schicht des Rechts-von-der-Mitte-Konsens integriert und in Folge marginalisiert als ihre linken Gegenstücke. Es ist ja kein Zufall, dass der Linksterrorismus in diesen Jahren das deutlich größere Problem war, während es sich seit der Wende eher gedreht hat. Heute sind unser Problem nicht mehr K-Gruppen, RAF und SDS, sondern die AfD, der NSU und Konsorten. Aber dieser Wandel braucht seine Zeit. Wenn man sich die ideologischen Konturen im frühen Kalten Krieg ansieht, ist das auch bei weitem noch nicht so übersichtlich wie später. Aber durch den gesamten Konflikt hindurch hatten alle Rechten kein Problem damit, sich hinter hartem Anti-Kommunismus zu vereinigen. Der war ein Bindemittel, das einen breiten Konsens ermöglichte. Seit 1990 ist dieser gemeinsame Feind weggefallen, weswegen die Brüche deutlicher zutagetreten. Und das betrifft eben den zentralen Konflikt in der Außenpolitik aller westlichen Staaten, quasi die Gretchenfrage: sag, wie hältst' du's mit den USA? Die Mitte-Parteien haben sich alle mit mehr oder weniger Enthusiasmus hinter die transatlantische Freundschaft gestellt. Die jeweiligen Ränder taten das nie, nur dass der rechte Rand in der Bonner Republik mit Ausnahme einer kurzen Phase in den 1960er Jahren und ganz zu Beginn keine große Rolle spielte. Mir scheint dieser Überlapp von "Bernie Bros" und der "Glenn-Greenwald-Demographie" mit den Trump-Fans daher nicht sonderlich überraschend. Sie alle lehnen, wenngleich aus völlig unterschiedlichen Gründen, den bisherigen Mitte-Konsens ab. Entsprechend feiern sie auch - aus völlig unterschiedlichen Gründen! - diejenigen, die diesen Konsens ebenfalls attackieren.

5) In dieser Sache trifft es den Falschen
„Niemand steht über dem Gesetz“, erklärte die britische Premierministerin Theresa May. Sie meinte damit aber nicht all jene, gegen die 2010 nach der Wikileaks-Veröffentlichung der Daten über Verbrechen im Irak- und Afghanistan-Krieg hätte ermittelt werden müssen – und nie ermittelt wurde –, sondern Julian Assange. [...] Was Wikileaks geleistet hat, trug wesentlich zur Aufklärung der Öffentlichkeit bei. Genau die gleiche Öffentlichkeit allerdings, die es nicht vermochte, politische Konsequenzen zu erzwingen. Dennoch: Es gibt Informationen, die zu veröffentlichen auch Regelbrüche rechtfertigt. Dafür gehört Julian Assange nicht ins Gefängnis, genauso wenig, wie Chelsea Manning je hätte einsitzen dürfen. Aber ein glaubwürdiger Vorreiter für Transparenz und für die demokratische Kontrolle der Macht ist der Selbstdarsteller Julian Assange ganz sicher nicht oder nicht mehr. Der Prozess über die Auslieferung und, wenn diese denn vollzogen wird, das Verfahren in den Vereinigten Staaten werden ihm noch einmal eine mächtige Bühne bieten. Eine, die er eigentlich heute nicht mehr verdient hat. (Bernd Pickert, taz)
Julian Assange ist vor allem ein erfolgreicher Selbstdarsteller. Er ist kein Journalist und sicherlich kein Märtyrer der Pressefreiheit. Seine Veröffentlichungen waren schon immer sehr selektiv. Assange veröffentlichte nie etwas, das den Feinden des Westens geschadet hätte, und er behielt sehr bewusst Informationen über Trump unterm Deckel. Wäre er prinzipiengetrieben, hätte er diese 2016 auch veröffentlicht. Stattdessen arbeitete Wikileaks konzertiert mit der Trump-Wahlkampfzentrale zusammen. Spätestens da, aber eigentlich schon lange vorher, wurde er zum politischen Akteur. Chelsea Manning gebührt jedenfalls wesentlich mehr Aufmerksamkeit und Bewunderung als ihm, und da haben wir mit seiner, gelinde gesagt, problematischen Vergangenheit noch gar nicht angefangen. Dass ausgerechnet die Trump-Administration nun für seine Inhaftierung verantwortlich sein dürfte, ist eine passende Ironie am Ende dieser Geschichte.

6) Was in der Berliner Bildungsverwaltung alles schiefläuft
Berlins Bildungsressort ist ein Höllenkommando. Dieser Eindruck drängt sich zumindest auf, wenn man sich ansieht, wie es den Schulsenatoren seit der Wende so ging: Egal, wer oben saß – er oder sie landete immer sehr schnell im Umfragekeller. [...] Sogar ein bundespolitisches Schwergewicht wie der hoch angesehene rheinland-pfälzische Wissenschaftsminister und stellvertretende Ministerpräsident Jürgen Zöllner (SPD) – erfahren, analytisch, eloquent – hatte 2006-2011 als Berlins Bildungssenator zu kämpfen: Es gelang ihm zwar, die Hauptschulen abzuschaffen und – trotz der Sparpolitik – eine dreistellige Millionensumme in die Schulsanierung zu stecken, aber die Rückkehr zur Lehrerverbeamtung konnte er gegen den damaligen Senatschef Klaus Wowereit (SPD) nicht durchsetzen. [...] Dass in Berlin manches schlechter läuft als anderswo, zeigt nicht nur der Blick auf Hamburgs Schulbau, Personalrekrutierung und Leistungsverbesserung. Es gibt noch ein anderes aussagekräftiges Kriterium, und zwar die Lehrergesundheit: Die hohe Zahl der Langzeitkranken – rund 800 – beschäftigt die Berliner Schulbehörde seit vielen Jahren, weil sie den Unterrichtsausfall hoch treibt und ungeheure Kosten verursacht. Die Dauerkrankenquote liegt bei 2,45 Prozent, vor einigen Jahren sogar bei vier Prozent. [...] „Die Arbeitszeiterhöhungen aus Wowereits Sparjahren wirken bis heute fort“, ist eine der häufigeren Antworten. Damals hieß es: Mehr arbeiten, weniger verdienen. Wowereits Sparsenator Thilo Sarrazin (SPD) war denn auch der Einzige im Kabinett, der auf dem Beliebtheitstreppchen mitunter noch hinter dem Bildungssenator kam: Die Lehrer haben verinnerlicht, dass sie seither schlechter dastehen als die meisten Kollegen im Bund, dabei aber die mutmaßlich schwierigsten Schüler und marodesten Schulen haben. (Susanne Vieth-Entus, Tagesspiegel)
Einmal mehr Sarrazin. Die ideologiegetriebene Kürzungspolitik, die er - wie viele andere seiner Gesinnungsgenossen auch - mit der Subtilität eines Bulldozers und der Durchdachtheit eines Elefanten im Porzellanladen betrieb, hinterließ die verbrannte Erde völlig verfallender Infrastruktur. Wie viel spart ein Land wirklich, dessen Bildungsergebnisse zuverlässig im unteren Bereich der BRD-Vergleiche landen? In dem massig Stellen unbesetzt bleiben und die Leute wegziehen, so schnell sie können? In denen die Krankenstände permanent bundesweite Rekorde aufstellen? Und klar hatte und hat das Land Finanzprobleme. Aber wenn es einen parteiübergreifenden Konsens gibt, von der LINKEn bis zur FDP, dann der, dass Investitionen in Bildung Investitionen in die Zukunft sind. Ein Land, das mit dem Rasenmäher in diesem Ressort kürzt und den Verfall als Tugend feiert, tut sich mittel- und langfristig sicherlich keinen Gefallen.

7) So lösen wir unser Klimaproblem
Noch eine interessante aktuelle Zahl: 15 Billionen Dollar. So viel würde es einer Studie der Internationalen Agentur für Erneuerbare Energien (Irena) zufolge kosten, um die Welt bis zum Jahr 2050 weitgehend auf erneuerbare Energien umzustellen. 86 Prozent des weltweiten Energieverbrauches würden dann mit Strom aus Sonne, Wind, Erdwärme und Wasserkraft abgedeckt. Das sind etwa 480 Milliarden Dollar pro Jahr. Weltweit. Mehr nicht. 480 Milliarden Dollar Ausgaben für die Wandlung zu einer besseren Welt mit Herstellung und Nutzung von Energie ohne Dreck, Gift und Lärm. Das erscheint besonders wenig, wenn man sich ausmalt, wohin die 111 Milliarden Dollar des Aramco-Gewinns so fließen. In teure Uhren und teure Autos für saudische Prinzen. Zum Beispiel. Aktuell ist nicht zu erwarten, dass Aramco und andere Ölfirmen ihren Gewinn in eine bessere Welt stecken, in der kein Öl mehr verfeuert würde. Wo bekommen wir die 480 Milliarden Dollar pro Jahr also her? Die Antwort ist erstaunlich einfach. Einer Studie des Internationalen Währungsfonds zufolge würde eine Besteuerung von CO2-Emissionen in Höhe von 70 Dollar pro Tonne den G20-Nationen eine Menge Geld einbringen: im Schnitt 1 bis 2,5 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes. Das wären, legt man das aktuelle G20-Bruttoinlandsprodukt von 63 Billionen Dollar zugrunde, zwischen 630 Milliarden und 1,58 Billionen Dollar pro Jahr. Legen wir diese Zahlen noch einmal nebeneinander:
  • 480 Milliarden Dollar pro Jahr bis 2050, um auf 86 Prozent erneuerbare Energien umzustellen, weltweit
  • Mindestens 630 Milliarden pro Jahr zusätzliche Einnahmen durch eine flächendeckende Besteuerung des CO2-Ausstoßes mit 70$/t, allein in den G20-Ländern
Diese Steuer wäre sogar noch niedrig angesetzt: Die realen Schäden, die eine Tonne CO2 verursacht, liegen laut Umweltbundesamt in einer Größenordnung derzeit über 200 Dollar. Die "Fridays for Future"-Demonstranten fordern deshalb eine CO2-Steuer von 180 Euro pro Tonne. Aber mit 70 Dollar pro Tonne wäre schon viel gewonnen. Im Moment tragen diese Kosten wir alle, und unsere Kinder und Enkel. (Christian Stöcker, SpiegelOnline)
Die Besteuerung der Emissionen war einmal eine liberale Idee. Die Übernahme dieser Idee durch die Progressiven hat aber nicht dazu geführt, dass sie eine Annahme in der Breite erfahren würde, weil sich auch die Liberalen dahinterstellen würden. Stattdessen verschoben diese die Ziellinie und sind jetzt auch gegen Emissionsbesteuerung (Klima-Hysterie, wir erinnern uns, Fundstück 2)). Es ist das Obama-Problem. Der hat 2009 auch in der Erwartung, die Spaltung des Landes dadurch überwinden und einen überparteilichen Konsens schmieden zu können, überwiegend konservative policies übernommen. Die Republicans schlugen die ausgestreckte Hand aus parteiegoistischen Motiven aus. Dasselbe haben wir hier auch. Lieber nicht regieren als falsch, und so.

8) Die Schuldenbremse ist nicht zeitgemäß
Die Zinskosten des Bundes liegen seit zehn Jahren unterhalb der Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts. In dieser Konstellation kann Deutschland Anleihen permanent überwälzen und läuft keine Gefahr, auch nur in die Nähe einer Schuldenkrise zu kommen. Zwar könnten die Zinsen auch wieder steigen, etwa wenn die EZB ihre lockere Geldpolitik beendet. Doch nach aktuellen Schätzungen des IW Köln hätte selbst das nur einen vorübergehenden und schwachen Effekt. Denn die Haupttreiber der niedrigen Zinsen liegen anderswo: hohe Ersparnisse einer alternden Gesellschaft bei gleichzeitig niedriger Kapitalnachfrage einer sich digitalisierenden Wirtschaft. Diese strukturellen Faktoren werden sich nicht so bald ändern. Deutschland sollte also nicht stur an der Schuldenbremse festhalten, sondern das Jubiläum zu einer Reform nutzen. Nicht zu einer kompletten Abschaffung. Denn es ist auch weiterhin ratsam, Schuldenfinanzierung von Transfers und Sozialausgaben auszuschließen. Aber bei Zukunftsausgaben und Investitionen ist es anders. Sie sollten in einem separaten bundesstaatlichen Vermögenshaushalt abgerechnet werden, für den Kreditfinanzierung grundsätzlich zulässig ist. Das mag zwar theoretisch den Anreiz für Politiker erzeugen, künftig alles als Investition zu bezeichnen, nur um sich verschulden zu dürfen. Aber würde solcher Etikettenschwindel nicht von den Wählern bestraft? Ist die Verfassung der geeignete Ort, um detaillierte Haushaltsvorschriften zu regeln, nur weil man den gewählten Repräsentanten des Staates nicht über den Weg traut? Ein bisschen Vertrauen in die Funktionsfähigkeit unserer Demokratie täte schon gut; dafür spricht übrigens auch die Geschichte bundesstaatlicher Finanzpolitik in früheren Dekaden. Und in Wirklichkeit steht Deutschland vor ganz anderen Herausforderungen. (Michael Hüther/Jens Suedekum, Süddeutsche Zeitung)
Die Schuldenbremse war noch nie zeitgemäß. Es hat sich ja an der gesamten Ausgabendynamik nichts geändert. Es wurde hier in den Kommentaren ja völlig zurecht darauf verwiesen, dass sowohl Steuereinnahmen als auch Staatsausgaben aktuell Höchststände erreichen. Beides geht wegen der guten gesamtwirtschaftlichen Lage. Die Schuldenbremse hat damit nichts zu tun. Wenn die Wirtschaft wieder in schwieriges Fahrwasser kommt und die Bremse greifen würde, genau dann müsste der Staat ja Geld ausgeben. In der Boomphase, wo eine Beschränkung ja keynesianisch gedacht wesentlich sinnvoller wäre, tut die Schuldenbremse gar nichts. Noch wichtiger ist aber der zweite Teil des Auszugs oben. Die Idee, dass wir eine Regel aufstellen, die die notorisch unzuverlässigen Abgeordneten unter Kontrolle hielte, ist sehr antidemokratisch gedacht. Wenn die Schuldenlage tatsächlich zu problematisch würde, würden die Volksvertreter schon tätig werden. Das hat bisher immer funktioniert. Und umgekehrt zeigt der Schuldenstand der letzten fünfzehn Jahre, dass selbst höhere Schuldenstände recht schnell wieder abgebaut werden können, wenn die Wirtschaft halbwegs gut läuft. Wir sind fast wieder innerhalb der Maastricht-Richtlinien, obwohl die Ausgaben nicht merklich zurückgegangen sind. Wie auch die beständigen Unkenrufe von der Inflation, die angeblich bereits im nächsten Jahr "unser" Erspartes auffressen wird, bewahrheiten sich die Warnungen vor dem Schuldendesaster praktisch nie. Der Grund dafür ist derselbe wie in Fundstück 2 beschrieben: wenn die Lage schlimmer wird, wird etwas dagegen getan.

9) Wie robust ist das Grundgesetz? Ein Gedankenexperiment
In Polen waren weder ein offener Staatsstreich noch eine verfassungsändernde Mehrheit nötig, um eine solch zentrale Institution wie die Verfassungsgerichtsbarkeit aus dem Gefüge der Verfassungsordnung de facto herauszubrechen. Wie robust wäre die deutsche Verfassungsordnung in einem entsprechenden Szenario? Dass es das Bundesverfassungsgericht gibt und in welchen Fällen es aktiv wird, steht direkt im Grundgesetz und ist damit nur mit Zweidrittelmehrheit abänderbar, ebenso dass seine Mitglieder je zur Hälfte von Bundestag und Bundesrat gewählt werden. Aber alles andere, von den Details der Richterwahl bis zum Verfahren, überlässt die Verfassung dem einfachen Gesetzgeber. Das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951 (BVerfGG) legt unter anderem fest, dass das Gericht seinen Sitz in Karlsruhe hat, dass es aus zwei Senaten zu je acht Richtern besteht, dass deren Amtszeit zwölf Jahre und die Altersgrenze 68 beträgt und die Wiederwahl ausgeschlossen ist. Es legt außerdem fest, dass die Richter vom Bundestag und Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit gewählt werden. All das entspringt nicht dem Willen des Verfassungsgebers, sondern dem des einfachen Gesetzgebers. Und der kann sich ändern, wenn sich die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag ändern. Er entsteht in der politischen Auseinandersetzung zwischen Mehrheit und Minderheit. Das bedeutet beispielsweise: Eine einfache Mehrheit im Bundestag wäre befugt dazu, das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit bei der Wahl der Richter einfach aus dem Gesetz zu streichen. Sie könnte die Besetzung der Stellen sich selbst vorbehalten, ohne künftig die Opposition zu beteiligen. Sie könnte auch die Zahl der Richter in den Senaten erhöhen und sich so die Gelegenheit verschaffen, auf einen Schlag eine größere Zahl von Stellen mit eigenen Leuten zu besetzen – ein court packing scheme, wie es Viktor Orbán in Ungarn vorgemacht hat. Schließlich könnte sie die Zahl der Senate von zwei auf drei erhöhen (klagt nicht das Gericht seit Langem über seine zu hohe Arbeitsbelastung?) und sich so erstens die Gelegenheit verschaffen, gleich einen ganzen Senat mit neuen Leuten zu besetzen (die Hälfte davon wäre freilich der Wahl durch den Bundesrat vorbehalten) und zweitens die Geschäftsverteilung zwischen den Senaten auf eine Weise neu zu regeln, die die Gefahr verfassungsgerichtlicher Interventionen beim Umsetzen ihres politischen Programms möglichst minimiert. (Maximilian Steinbeis, BpB)
Die völlige Überbewertung des Bundesverfassungsgerichts als Bremse vor einem Zerfall der Demokratie ist so eine Idiosynkrasie von mir. Man begegnet einer Variante dieses Arguments immer bei der Diskussion über Bundeswehreinsätze im Inneren. Die werden aktuell ja durch das Grundgesetz ausgeschlossen, und die Idee, dass dieses Verbot die entscheidende Schranke wäre, die einen Putsch der Armee gegen den Bundestag aufhalten würde, ist gelinde gesagt absurd. Gleiches gilt für das BVerfG. Die Vorstellung, dass das Gericht im Zweifel irgendetwas tun könnte, um einen Putsch aufzuhalten, ist bemerkenswert naiv. Deswegen ist obiges Gedankenexperiment auch so wertvoll. Es zeigt, wie leicht sich selbst eine so alt-ehrenwerte Institution wie das BVerfG aushebeln lässt. Was unsere Demokratie aufrecht hält ist, dass sich alle Beteiligten an die Spielregeln halten. In dem Moment, in dem das nicht der Fall ist, bricht der Laden auseinander. Darin, und nicht in irgendwelchen policy-Fragen, liegt die Bedeutung des Fernhaltens der Populisten von den Schaltstellen der Macht. Oder glaubt jemand, ein Innenminister der AfD würde sich um einen Richtspruch aus Karlsruhe scheren?

10) A Clinton-era centrist Democrat explains why it’s time to give democratic socialists a chance

Zack Beauchamp

I want to start with your notion of “Rubin Democrats.” What does that mean, exactly? What was the movement you identify with?

Brad DeLong

I would say it’s largely neoliberal, market-oriented, and market-regulation and tuning aimed at social democratic ends. It also involves taking a step in the direction of appeasing conservative priorities. The belief is that if you have a broad coalition behind such policy, it will be much more strongly entrenched in America and much better implemented than if it were implemented by a narrow, largely partisan majority. And Rubin Democrats believe that you should prioritize economic growth. Once you have economic growth, electorates want to become a lot less Grinch-y and less likely to feel that redistribution to the poor is coming out of its hide, making them positively worse-off. Economic growth first, redistribution and beefing up the safety net second.

Zack Beauchamp

What you’re describing is a broad theory of political economy, in which a vision for what economic policies are best is intertwined with a particular view of what makes policies popular and sustainable. You say something about this is wrong — do you think it’s the political part, the economic part, or both?

Brad DeLong

We were certainly wrong, 100 percent, on the politics. Barack Obama rolls into office with Mitt Romney’s health care policy, with John McCain’s climate policy, with Bill Clinton’s tax policy, and George H.W. Bush’s foreign policy. He’s all these things not because the technocrats in his administration think they’re the best possible policies, but because [White House adviser] David Axelrod and company say they poll well. And [Chief of Staff] Rahm Emanuel and company say we’ve got to build bridges to the Republicans. We’ve got to let Republicans amend cap and trade up the wazoo, we’ve got to let Republicans amend the [Affordable Care Act] up the wazoo before it comes up to a final vote, we’ve got to tread very lightly with finance on Dodd-Frank, we have to do a very premature pivot away from recession recovery to “entitlement reform.” All of these with the idea that you would then collect a broad political coalition behind what is, indeed, Mitt Romney’s health care policy and John McCain’s climate policy and George H.W. Bush’s foreign policy. And did George H.W. Bush, did Mitt Romney, did John McCain say a single good word about anything Barack Obama ever did over the course of eight solid years? No, they fucking did not. No allegiance to truth on anything other than the belief that John Boehner, Paul Ryan, and Mitch McConnell are the leaders of the Republican Party, and since they’ve decided on scorched earth, we’re to back them to the hilt. So the politics were completely wrong, and we saw this starting back in the Clinton administration. Today, there’s literally nobody on the right between those frantically accommodating Donald Trump, on the one hand, and us on the other. Except for our brave friends in exile from the Cato Institute now trying to build something in the ruins at the [centrist] Niskanen Center. There’s simply no political place for neoliberals to lead with good policies that make a concession to right-wing concerns. (Zack Beauchamp, vox.com)
Ich bin mir nicht sicher, inwieweit ich der Logik "ich finde Position A doof, aber vielleicht hat sie ja elektoral Erfolg" zustimmen will. Brad deLong hat aber völlig Recht damit - wie ich ja in den vorhergehenden Fundstücken schon thematisiert habe - dass der überparteiliche Ansatz völlig in die Hose gegangen ist. Es gibt schlichtweg keinen Grund, in irgendeiner Art und Weise auf die Republicans zuzugehen (ganz anders ist etwa die Dynamik zwischen SPD, CDU, Grünen und FDP). Die Polarisierung der USA ist so krass, dass die policy ohnehin keine Rolle spielt. Egal welche Position die Democrats im Wahlkampf vertreten, sie wird als krassester sozialistischer Extremismus verzerrt werden. Medicare for All oder eine bescheidene Überarbeitung der Exchanges, es wird keinen Unterschied machen. Und es gibt nicht einmal eine Zielgruppe dafür. Die Mitte ist ohnehin ein Mythos, und je eher die Democrats das einsehen, desto eher werden sie sich aus dieser verhängnisvollen Dynamik emanzipieren können.

11) Männlich, mittelalt, angetrunken: Hassgewalttäter in Sachsen
Anfang der 1990er-Jahre waren rechte Gewalttäter meist jugendlich, männlich, hatten untere oder mittlere Bildungsabschlüsse, kamen aus zerrütteten Familien, waren oft arbeitlos und überwiegend polizeibekannt. Ab 2011 fiel in Sachsen auf, dass die rechten Gewalttäter mit durchschnittlich 27 bis 30 Jahren älter waren und nicht mehr der Gruppe "jugendliche Schläger" zugeordnet werden konnten. In der Hochphase der sogenannten "Flüchtlingskrise" fielen immer wieder ältere Männer mit höherem Bildungsniveau auf. In der Studie heißt es dazu: "Offensichtlich gerieten nun auch Individuen in den Strudel der Radikalisierung, die unter anderen Bedingungen nicht gewalttätig geworden wären." Frauen waren meist nur indirekt an Gewalttaten beteiligt. Sie galten eher als Organisatorinnen und waren im Hintergrund für Logistik oder Motivation zuständig. [...] Zu Beginn der "Flüchtlingskrise" stellten die Extremismusforscher öfter spontane Gewalthandlungen mit "Event-Charakter" fest. Das änderte sich, als immer öfter fest strukturierte Gruppen Gewalt ausübten. Wenn bereits rechte Strukturen existierten, erste Gewalttaten juristisch folgenlos geblieben sind, könnte die Gewalthemmschwelle in kurzer Zeit sinken. Dann müssten nur noch Personen mit Gewalterfahrung und technischem Wissen hinzukommen, dass sich Gruppenmitglieder radikalisierten. Als Beispiele für so eine Spirale nannten die Forscher das Wirken der "Gruppe Freital" oder in den Jahren 2006/2007 auch die Gruppe "Sturm 34" in Mittweida. (MDR)
Ich glaube, dieses Phänomen fällt mit in die Entwicklung, die ich die "Selbstradikalisierung der Rechten" nenne. Was wir aktuell beobachten können ist eine sprunghafte Verschiebung des Overton-Fensters nach rechts, die dazu führt, dass früher unsagbare Positionen rechts der Mitte plötzlich mehrheitsfähig werden. Häufig genug läuft das unter der Ablehnung von "political correctness". Auch das ist glaube ich eine Parallele zu der Radikalisierung in den 1970er Jahren, als plötzlich die Frage "Was würdest du tun, wenn die Meinhoff vor der Tür stehen würde?" kontrovers diskutiert werden konnte, so wie heute die Zeit offensichtlich nichts dabei findet, das Ertrinken-lassen von Flüchtlingen als Pro-Contra-Diskussion aufzumachen.

Donnerstag, 11. April 2019

Netanyahu gewinnt Wahl als Bürgermeister von Milwaukee mit Klimaschutz- und Rechtsstaatsprogramm - Vermischtes 11.04.2019

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Trump Demands Homeland Security Secretary Who Will Break the Law
In his first week as president, Donald Trump addressed employees at the Department of Homeland Security and instructed them that their mission would be to carry out the law. “I am asking all of you to enforce the laws of the United States of America … We are going to restore the rule of law in the United States,” he said. [...] The law-and-order façade has been crumbling for a long time. But the firing of Kirstjen Nielsen as secretary of DHS truly reveals how little Trump or his party actually care about the law at all. In recent months, Trump has not bothered to conceal his impatience for legal niceties. He has publicly mocked the idea that courts should oversee asylum hearings (“Get rid of judges”), and claimed unilateral authority to spend federal money on border fencing despite being denied authorization by Congress. [...] One reason Trump has abandoned his pretext of simply following the law is that the immigration crisis is not related to breaking immigration laws. The surge at the border is migrants seeking asylum. They are not sneaking in, but presenting themselves at crossing points legally. Trump’s response has been revealing. He has not abandoned his demand for a wall (which is of course irrelevant to refugees arriving at ports of entry). He has instead switched to insisting the “country is full,” without bothering to explain why, or even that, he has reversed his previous stance of welcoming larger numbers of legal immigrants. The internal mental processes that created this reversal are, as usual, simple and fairly transparent. The wave of enthusiasm Trump unleashed was not a fervor for the efficient administration of immigration law. It was a racialized panic over cultural change. (Jonathan Chait, New York Magazine)
Law and Order, genauso wie das deutsche "ganze Härte des Rechtsstaats", hat sich nie um den Rechtsstaat gedreht. Schließlich waren die ganzen ernsten Verteidiger des Rechtsstaats, wenn es um maximale Härte gegen ausländische Straftäter geht, auch als erste in der Reihe derer, die Gerichtsurteile gegen Abschiebungen attackierten. "Law and Order" ist rechter Code. Er wurde von den Republicans unter Richard Nixon als Wahlkampfschlager en vogue, weil die Partei nach einer Hundepfeife für ihre Southern Strategy suchte (ausführliche Version hier). Ich weiß nicht, wo und wie sich das deutsche Äquivalent definiert. Ich glaube, die moderne Nutzung definiert sich viel aus der 68er-Zeit und der Abwehr der "Chaoten", um die damalige BILD-Sprache zu benutzen. Zumindest ist die Begrifflichkeit bei weitem nicht so rassistisch aufgeladen wie in den USA. - Das ändert aber nichts daran, dass sich dahinter weniger eine prinzipientreue Haltung zum Rechtsstaat verbirgt, sondern eher die Vorstellung, dass ungenehme Positionen und Gruppen bestraft und unterdrückt werden. In vielen Fällen ist das ja auch sinnvoll - wer ist schon gegen Strafe und Unterdrückung von Straftätern aller Art? - aber eben nicht nur.

In allen ostdeutschen Bundesländern außer Berlin hat die AfD teils deutlich mehr Stimmen erzielt als die Linke. Hat also die AfD die Linkspartei als ostdeutsche Regionalvertretung abgelöst? In einem aktuellen Buchkapitel zur Rolle der AfD im Osten argumentiere ich, daß dies (noch) nicht der Fall ist. Warum nicht? Anders als bei der Linken läßt sich die Dominanz der AfD in Ostdeutschland fast vollständig durch die Verteilung der Einstellungen zur Zuwanderung erklären. Diese sind in den neuen Ländern deutlich negativer ausgeprägt, und davon profitiert die AfD. Kontrolliert man dies statistisch, dann zeigt sich kein signifikanter Regionaleffekt mehr. Außerdem schwanken die Ergebnisse der AfD in Ostdeutschland und im alten Westen sehr stark über die Wahlkreise hinweg. Ihre Schwerpunkte hat die AfD vor allem im vorstädtischen und ländlichen Sachsen und in Teilen Thüringens und Sachsen-Anhalts. Bei der Linkspartei gilt das nicht im gleichen Maße. [...] Zwar gibt es auch für die Wahl der Linkspartei eine zentrale Einstellung, nämlich die Frage nach Steuern und Sozialleistungen. Hält man diese konstant, schneidet die Partei in den neuen Ländern trotzdem sehr viel besser ab, als dies eigentlich der Fall sein sollte. Mit den vorhandenen Daten läßt sich nicht klären, ob dies auf die Organisationsstruktur der Linken, eine DDR-Nostalgie oder andere Faktoren zurückgeht. Sicher ist aber, daß die Linkspartei noch immer in besonderer Weise den Osten repräsentiert. (Kai Arzheimer)
Spannende Zusammenhänge. Auffällig ist in jedem Fall, dass, egal wie man es dreht und wendet, Ostdeutschland eine klar abgegrenzte Einheit in Deutschland ist, mit einer eigenen Identität und politischen Regeln. Die Identität als ostdeutsche Regionalpartei dürfte auch einer der Gründe dafür sein, warum sich die LINKE in Westdeutschland so schwer tut und die Partei sich je nach Bundesland so unterschiedlich geriert; die ständigen Betonungen etwa der SPD, dass man mit den ostdeutschen Landesverbänden der Partei zusammenarbeiten könne, mit den westdeutschen aber nicht, stammt ja von diesem Schisma. Die Frage für die Zukunft der AfD dürfte daher davon abhängen, ob sie es schaffen können, sich über das Rassismus-Thema hinaus festzusetzen. Schon jetzt ist ja sichtbar, dass mit dem Absinken der Bedeutung des Flüchtlingsthemas auch die Umfragewerte der Partei absinken. Die sichere Position durch die Verwurzelung im Osten, die einen bestimmten Boden der Wahlergebnisse garantieren, hat die AfD im Gegensatz zur LINKEn ja (noch) nicht. Dagegen dürfte eine Chance bestehen, dass sich in Sachsen als Regionalpartei etablieren. So oder ist vieles im Fluss und regional bestimmt.

3) Kampf um den Alltag, nicht um den Traum von Palästina
Neben dem Bruch der "Vereinten Liste" gibt es noch andere Gründe für Ernüchterung in der israelisch-arabischen Community. Die Erfahrung, dass selbst ein starker arabischer Block in der Knesset bei Fragen, die für ihre Wähler entscheidend sind, machtlos ist. "Wir können unter einer rechtsgerichteten Regierung einfach nicht den grundlegenden politischen Wandel bewirken, den sich unsere Wähler wünschen", sagt Aida Touma-Sliman, Abgeordnete der "Vereinten Liste". [...] Viele arabische Wähler fragten sich nun: "Wie kann es sein, dass sich unsere Situation wirtschaftlich so verbessert hat, wir aber politisch gleichzeitig immer noch so wenig Einfluss haben?", sagt Eran Singer, der beim israelischen Rundfunk über die arabische Gesellschaft berichtet. Diese Stimmung könnte den mehrheitlich jüdischen Parteien nützen. Die arabische Öffentlichkeit sei pragmatisch, Fragen wie Kriminalitätsbekämpfung, Jobs und Bildung seien ihr am wichtigsten, sagt Singer. "Der Kampf um die Stimmen der Araber ist deshalb ein Kampf um Alltagsfragen, nicht um die palästinensische Frage". Gerade hat das Konrad Adenauer Programm für jüdisch-arabische Zusammenarbeit am Moshe Dayan Center der Uni in Tel Aviv auf Initiative der Konrad-Adenauer Stiftung in Israel eine Umfrage durchgeführt: Demnach stürzt die Wahlbeteiligung unter Israels Arabern auf ein Allzeittief. Gleichzeitig würden neun Prozent der Wählenden für Gantz' Bündnis und zehn Prozent für die linke Partei Meretz stimmen - 2015 waren das nur 2,6 Prozent. Es sieht so aus, dass in diesem Jahr deutlich mehr Araber "für Parteien stimmen, die eine echte Chance haben, Netanyahu zu ersetzen", sagt Forscher Rudnitzky. (Anna Reimann, SpiegelOnline)
Der Spiegel hat auch einen guten Erklärartikel zur Wahl in Israel, der vielleicht zur vorherigen Lektüre spannend ist. Die oben beschriebene Dynamik hat zu einer veritablen Panik in Netanyahus Lager geführt, das auf die übliche Art der neuen Rechten reagierte: mit Unterdrückung der Wahl und massiver Einschüchterung. Genauso wie die Republicans in den USA schickte Netanyahus Partei "Wahlbeobachter" mit Kameras und Schlägern zu arabischen Wahllkokalen, um dort die Wahlbeteiligung niedrig zu halten. Das hat auch funktioniert; die arabische Wahlbeteiligung bei den Wahlen war historisch niedrig. Wieviel davon auf die oben beschriebene Enttäuschung zurückzuführen ist und wie viel auf die Einschüchterung und systemische Unterdrückung, ist dabei unklar. Beides spielt aber sicherlich eine Rolle. Zu dem Thema siehe auch Fundstück 8).

4) Die asiatische Alternative für Afrika
Japan will genau da als Alternative auftreten und betont bei seinen Investitionen Qualität und Nachhaltigkeit, gerade angesichts von Rückschlägen bei Projekten mit chinesischer Beteiligung, etwa der Zugverbindung zwischen Nairobi und Mombasa. Das Projekt verzeichnete laut "The Japan Times" nach dem ersten Jahr ein Minus von mehr als 99 Millionen Dollar. Anders als China macht Japan bei seinen Investitionen zudem nicht zur Bedingung, dass von dem geliehenen Geld Aufträge an heimische Firmen vergeben und Arbeiter aus dem Land der Geldgeber beschäftigt werden müssen. Japan unterstützte mit den Investitionen nicht zuletzt auch die regelbasierte Weltordnung, sagt Expertin Sakaki. So bespricht die Regierung in Tokio das Programm in Afrika noch zusätzlich mit den Vereinten Nationen und der Weltbank. Aber im Gegensatz zur derzeitigen China-Politik unter US-Präsident Trump suche Japan mehr Möglichkeiten der Einbindung Chinas, sagt Sakaki. Eine offen konfrontative Haltung sei kontraproduktiv. "Zum einen würde China sich dadurch provoziert fühlen, zum anderen würden Empfängerländer zunehmend zwischen die Fronten geraten und sich gezwungen fühlen, sich zwischen Japan und China zu entscheiden", sagt die Expertin. 2017 hatte sich Japan grundsätzlich bereiterklärt, mit der Initiative "Neue Seidenstraße" zu kooperieren. (Vanessa Steinmetz, SpiegelOnline)
Es ist verblüffend zu sehen, wie viel Engagement die aufstrebenden Volkswirtschaften Asiens, vor allem China und Indiens, gerade in Afrika investieren. Dass nun auch Japan auf den Plan tritt, ist da nur folgerichtig. Die EU und die USA sehen Afrika immer noch vor allem als hinterwälderlichen Rezipienten von Entwicklungshilfe, einen Sumpf aus Korruption und Bürgerkrieg. Es ist schwer zu sagen, ob die afrikanischen Nationen mehr vom chinesischen Ansatz profitieren als vom westlichen (der sich ja nicht eben mit Ruhm bekleckert hat); Fakt ist aber, dass China eine immer größere Rolle auf dem Kontinent spielt, der eines der größten unerschlossenen Wachstumspotenziale der Welt darstellt. Wie auf so vielen anderen Gebieten ist die ständige Nabelschau des Westens und seine obsessive Beschäftigung mit Nebenthemen etwas, das den Blick auf solche fundamentalen Veränderungen verstellt.

5) Combatting climate change: veganism or a Green New Deal?
Changing our diets, even en masse, will do little to challenge this state-backed global food system. Only large scale, well-funded and sustained state interventions will realistically challenge and transform the global food system. A socialist Green New Deal sees states as generating well-paying green jobs and investments in industrial and urban sectors. It also aims to work with farmers ‘to eliminate pollution and greenhouse gas emissions from the agricultural sector’. A socialist GND would entail a major shift in power, away from capital and towards labour. It would entail the democratisation and socialisation of major energy systems and resources by placing working class communities at the heart of the transition. The Green New Deal’s objectives of decarbonising agriculture could be met by redirecting subsidies away from meat-based factory farming towards vegetarian-based family farmers deploying varied cropping systems. This would generate well-paid jobs and contribute to agricultural diversification. Green New Deal policies could also redirect fossil fuel subsidies to finance community restaurants making and selling affordable, nourishing and tasty food, sourced locally from family farms. It could use the state’s mega purchasing power in schools and public health services to generate rising demand for organic food and alternatives to meat. (Benjamin Selwyn, Le Monde Diplomatique)
Dieser Artikel bestätigt, was ich zu dem Thema schon immer gefühlt habe: Individuelle Verhaltensänderungen sind zwar gut und schön, aber für grundlegenden Wandel braucht es zumindest flankierend, eher aber vorangehend, staatliche Maßnahmen. Es ist faszinierend, dass selbst Verhaltensänderungen in großem Maßstab keinen so großen Effekt haben wie selbst verhältnismäßig kleine Regulierungen oder Regulierungsänderungen. Gerade deswegen ist es auch so wichtig, dass sich die Politik parteiübergreifend zum Prinzip vernünftiger policy-Bewertung bekennt, wie sie etwa durch die Simpler-Idee Cass Sunsteins vertreten wird. Es gibt wahrlich genügend philosophische Unterschiede zwischen progressiven und konservativen und liberalen Ansätzen, und häufig genug lassen sich diese gewinnbringend kombinieren. Aber Grundlage dafür ist, dass man in einen konstruktiven Austausch tritt und nicht ideologisch bestimmte Themen ganz ablehnt - egal ob es um Klimawandel oder Wohnungen in Berlin geht.

 6) Redistribution Won’t End Wealth Inequality
Using detailed Census records, Ager et al. measure the effect of the war on the wealth of slaveholders and their sons. This is an interesting question, because it asks: When the government takes away some of your wealth, how quickly can you bounce back? The answer: Very. [...] One reason for this might be that after the failure of Reconstruction to leave deep lasting changes on Southern society, the South implemented a system of sharecropping that was often only slightly better than slavery for black farm workers. To test this possibility, Ager et al. looked specifically at areas where land was redistributed or infrastructure destroyed by General William T. Sherman. Wealthy slaveholding families in these areas lost even more than Southerners elsewhere, often by large margins, due to the seizure or devaluation of their land. But again, within one generation, their sons tended to bounce back and equal or surpass those who escaped the devastation. How did the sons bounce back? One way was by marrying into wealthy families, which they tended to do. The authors see this as evidence that former slaveowners retained social status and connections that gave them advantages in postbellum Southern society. Those connections could have allowed them to get good jobs or raise money to start businesses. [...] But Ager et al.’s research suggests that in order to make the U.S. wealth distribution more equal in a meaningful and lasting way, the government will have to do more than simply reallocate resources. It will have to address the mechanisms by which people actually get rich. (Noah Smith, Bloomberg)
Es ist absolut faszinierend, welche Beharrungswirkung sozialen Netzwerke (mit kleinem s) für die Erhaltung von Status und Besitz haben. Das ist auf der einen Seite eine relevante Erkenntnis für die Grenzen von Umverteilungspolitik; das allerdings ist nur eingeschränkt relevant, weil die meisten Progressiven die Ungleichheit durch Einkommens- und Besitzsteigerungen unten statt -kürzungen oben zu erreichen hoffen. Es ist aber auch zutiefst relevant, dass der natürliche Zustand des Systems der Erhalt der bestehenden Klassen ist. Meritokratie funktioniert nicht von selbst, sondern nur durch Eingriffe des Staates wie etwa die große Bildungsexpansion in den 1960er und 1970er Jahren oder die stärkere gewerkschaftliche Bindung im selben Zeitraum. Eine Verringerung der Ungleichheit durch die Förderung derer, die nicht auf entsprechende Netzwerke zurückgreifen können, sollte eigentlich im Interesse gerade auch liberal eingestellter Zeitgenossen sein. Dass sie dazu nicht auf dieselben Mittel zurückgreifen werden wie Progressive, ist klar (siehe auch Fundstück 5)).

7) Pete Buttigieg & The Religious Left
It is absurd for conservative Christians to believe that Donald Trump is one of them (us) in any meaningful sense. Erick Erickson, who is a Protestant, eviscerated the very silly book The Faith of Donald J. Trump, which, if it had been true to its title, could have been written on a Post-it note. But it is not at all absurd for clear-eyed conservative Christians to vote for Trump, given that any conceivable Democratic alternative — including Pete Buttigieg — is going to be very bad on abortion and religious liberty when it conflicts with LGBT rights. Seriously, how would Buttigieg’s Christianity set him apart politically from any other Democratic presidential contender? My guess is that unlike Trump, Buttigieg could sit down with a serious conservative Christian and have a serious discussion about faith and politics … but in the end, as president, he would push for policies no different from O’Rourke, Sanders, Harris, and all the others. Trump, on the other hand, would probably feel more at home playing golf in Gomorrah than worshiping with the Galatian church, but he doesn’t see conservative Christians as wicked people who need to be punished. I have yet to meet a single religious progressive who does not believe that “religious liberty” is anything but an excuse for bigotry. (Rob Dreher, The American Conservative)
Wenn bislang jemand daran gezweifelt hat, warum Evangelikale ausgerechnet einem so offensichtlich unmoralischen und unreligiösem Menschen wie Donald Trump die Stange halten, sieht hier direkt aus dem Mund eines stramm religiös Konservativen, woran es liegt. Es geht nicht um die moralische Integrität oder persönliche Religiösität des Kandidaten; sonst hätten die Evangelikalen weder ein Problem mit Obama noch mit Clinton gehabt. Beide waren schließlich auf diesen Feldern ohne Fehl und Tadel. Stattdessen geht es um die Positionen. Es gibt nichts Relevanteres für Evangelikale als eine Abwehr von Abtreibung, Einwanderung und Homoehe. Wer diese Ziele vertritt, ist ihr Freund, wer ihnen entgehensteht, ist ein Feind. Rob Dreher formuliert das sehr gut: dass er mit Buttigieg tief und ernsthaft über Religion diskutieren kann ist ja nett, aber am Ende ist relevant, welche policy er durchsetzen würde - und die steht Rob Dreher fundamental im Weg. So ging es mir mit Romney. Der Mann war ja grundsätzlich sympathisch, und sicherlich ein toller Familienmensch. Aber wen interessiert das, wenn er meinen eigenen Vorstellungen diametral entgegengesetzt steht?

8) America's time of reckoning over Israel has arrived
Let's leave Israel's assessment of its national interests to the Israeli electorate. The question that matters for the United States is what it would mean to continue identifying and aligning itself with a state that actively chooses to institute and codify a form of rule that so closely resembles the brutal racial caste system that prevailed in South Africa until 1994. Trump has no problem doing so because he couldn't care less about the promotion of freedom and democracy. But are a plurality of Americans ready to follow him down the path toward explicit endorsement of authoritarian repression? And if so, why? What American interests would be advanced by doing so? Is Israeli intelligence really so irreplaceable? Regardless of how we ultimately answer these questions, there will be no avoiding raising them. A painful, awkward, and nasty national debate awaits us. For no one will that debate be more painful, awkward, or nasty than American Jews. Author Peter Beinart has seen it coming for years — the growing tension between Jewish liberalism and Zionism. For the first several decades of Israel's existence, the two were widely treated as synonymous. But they have been moving apart for years. Younger American Jews are already much less inclined than their parents and grandparents to grant Israel the benefit of the moral doubt in its treatment of the Palestinians. If Israel annexes the West Bank, that gap will become a chasm. The 30 percent of American Jews who support the Republican Party may go along, but many of the rest will not. And that will mark a massive change in the Jewish community of the United States. (Damon Linker, The Week)
Der außenpolitische Wandel, den Israel in den letzten Jahren unter Netanyahu durchgemacht hat, ist wahrlich gravierend. Seit den späten 1960er Jahren hatte Israel sich zunehmend an die USA angelehnt. Diese Zusammenarbeit war vergleichsweise einseitig: die USA geben massive Entwicklungshilfe (ein Großteil des Budgets!) an Israel und verkaufen zu Vorzugskonditionen fast alle Waffen; zudem unterstützen sie das Land bedingungslos in Region und UNO. Israel seinerseits teilt seine Geheimdienstinformationen mit den USA, was angesichts des US-Engagements in der Region keine zu verachtende Ressource darstellt. Nur: dieser Deal war bisher überparteilicher Konsens. Niemand stellte in den USA das Verhältnis zu Israel in Frage, das kam einem politischen Todesurteil gleich. Besonders Israel-Gegner verurteilten die Macht dieser "Israel-Lobby" daher regelmäßig (und gerne in anti-semitischen Tönen). Seit Obama fuhr Netanyahu aber einen konfrontativen Kurs. Statt wie bisher beide Seiten der US-Politik gleich zu behandeln, schlug er sich eindeutig, offen und harsch auf die Seite der Republicans, eine Entwicklung, die ihren Höhepunkt in der Rede Netanyahus vor dem Kongress gegen Obama auf Einladung der Republicans hin fand. Dadurch wurde die Unterstützung für Israel in den letzten Jahren zunehmend zu einem dem Parteienstreit unterworfenenen Thema. Der Aufstieg von israelkritischen Abgeordneten bei den Democrats wie Ilhan Omar ist nur vor dieser Folie verständlich. Kurzfristig hat sich das für Netanyahu ausgezahlt: die Republicans stehen bedingungslos hinter ihm und brachen mit jahrzehntelangen Normen, etwa bei der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt. Wie clever dieser krasse außenpolitische Rechtsschwenk mittelfristig war, wenn der nächste demokratische Präsident die Zahlungen und Lieferungen an das Land drastisch kürzt und das besondere Verhältnis beendet, wird sich noch weisen. Es hat schon seinen Grund, dass sich Staatsoberhäupter üblicherweise nicht in die Innenpolitik anderer Länder einmischen.

9) When Socialism Was Tried in America—and Was a Smashing Success
Instead of fearing mention of the S-word, Democrats can and should approach it as smart Republicans have the L-word—“libertarian.” Republicans frequently borrow from the libertarian lexicon and toolbox, and acknowledge as much, without abandoning their essential partisanship. Democrats ought to be similarly limber. It’s great that the party now has a strong democratic-socialist wing, which includes Sanders and members of Congress like New York’s Alexandria Ocasio-Cortez and Michigan’s Rashida Tlaib. But Democrats who do not identify as socialists can still follow the lead of FDR and the late senator Edward Kennedy, who worked closely with and celebrated the ideas and ideals of democratic socialist Michael Harrington, author of The Other America, a groundbreaking study on poverty. Another 2020 Democratic presidential contender—Pete Buttigieg, the mayor of South Bend, Indiana—gets it right when he says that the old Republican strategy of attaching a “socialist” label to every progressive idea is just that: old. “Today, I think a word like that is the beginning of a debate, not the end of the debate,” explains the most millennial of the Democrats’ presidential prospects. [...] Socialists were proud to point to Milwaukee, which had a Socialist mayor for most of the period from 1910 to 1960, as a model of sound and equitable governance. And they were not alone: During Hoan’s 24-year tenure, Time magazine reported, “Milwaukee became one of the best-run cities in the U.S.” [...] That worked well for Milwaukee in the 20th century—so much so that “socialism” ceased to be a scare word for the city’s residents. What frightens Republicans today is that “socialism” is ceasing to be a scare word in our contemporary national discourse. (John Nichols, The Nation)
Der Erfolg der Sozialisten in Milwaukee (oder auch Vermont, siehe Bernie Sanders) zeigt, dass für die Bewegung nichts wichtiger ist, als örtliche Erfolge zu erzielen. Die Strategie der SPD in der frühen bundesrepublikanischen Geschichte, erst einmal ihre Regierungsfähigkeit unter Beweis zu stellen, trug am Ende ja auch Früchte, denn als die Partei dann in Regierungsverantwortung kam, konnte sie von einem großen Kader an geeignetem Personal zehren, das Regierungs- und Parlamentserfahrung noch und nöcher besaß. Auch wenn die DSA in den USA gerade im Aufwind sind und mittlerweile drei Abgeordnete im Kongress sich als Sozialisten definieren, ist das eher wenig. Sollte Bernie Sanders 2020 zum Präsidenten gewählt werden, stünde er vor einem ziemlichen Personalproblem. Er müsste tausende von Posten besetzen, aber er dürfte bestenfalls über eine kleine dreistellige Zahl geeeigneter sozialistischer Kandidaten zählen. Für den Rest wäre er auf die Democrats angewiesen - oder, falls er sich mit denen überwirft, auf gut Glück irgendwelche Leute von außen holen oder die bestehenden Kräfte nutzen. Ein ähnliches Problem hat ja auch Trump: als Außenseiter, der die Abgeordneten der Partei zwar unter seinen Willen gezwungen hat, die institutionelle Partei und ihre vielen Anhänger selbst nicht, muss er zwangsläufig auf irgendwelche halbseidenen Charaktere zurückgreifen, selbst wenn es nicht seinem Naturell entsprechen würde. Ähnlich sieht das auch für Jeremy Corbyn aus: er hat jetzt zwar die Parlamentsfraktion Labours halbwegs unter Kontrolle und gesäubert, aber würde er Premier, hätte er niemals genug loyales Personal, um die ganzen nachgeordneten Stellen zu besetzen. Das ist ja logisch; er und seine ideologischen Kompagnons waren Jahrzehnte von allen Machtschaltstellen ausgeschlossen. Woher sollte dieses Personal kommen?

10) Elizabeth Warren Had Charisma, and Then She Ran for President
Charisma comes from the Greek word for “divine gift,” and back in 2015, political commentators thought Elizabeth Warren had a lot of it. Vox called the senator from Massachusetts “a more charismatic campaigner than [Hillary] Clinton.” Roll Call said Clinton couldn’t “match Warren’s charisma, intensity or passion.” The polling firm Rasmussen called Warren “Bernie Sanders with charisma.” That was then. Now that Warren is running for president, many journalists have decided the charisma is gone. An article last month in The Week noted that Warren “doesn’t do uplift, which is what people mean when they grumble about her lack of ‘charisma’ and ‘energy.’” In a recent story about Warren’s fundraising trouble, The New York Times suggested that she was suffering because Democrats’ “longstanding fascination with youthful charisma—along with its current, Trump-driven fixation on electability—can outweigh qualities like experience or policy expertise.” What happened? Warren may be a victim of what scholars of women’s leadership call the “double bind”: For female candidates, it’s difficult to come across as competent and charismatic at the same time. To be considered charismatic, leaders must be both appealing and inspiring, both likable and visionary. Unfortunately for women who seek positions of power, they’re rarely perceived as possessing these characteristics while also being deemed competent to do the job. (Peter Beinart, The Atlantic)
Weil die meisten Beobachter - das sieht man ja auch hier im Blog - mit eng angelegten ideologischen Scheuklappen standhaft verweigern, den 2016 grassierenden Sexismus als Faktor in Clintons Niederlage zu sehen, wurde keine Lektion aus der Wahl gelernt. Genauso, wie der Bothsiderismus wieder ebenso dicke wie faule Früchte trägt, kommt die Misogynie with a vengeance zurück. Ich habe das schon vorher mit anderen vorhergesagt, siehe hier Fundstück 8 oder hier, zentral, Fundstück 3. Natürlich werden die Gründe auch dieses Mal wieder gefunden. Irgendeine Rechtfertigung finden die Leute immer, warum ausgerechnet diese Kandidatin nun, leider, leider, nicht likeable, zu extrem, zu schrill, zu emotionslos, zu emotional, einfach irgendwie nicht weiß und männlich genug ist. Und nachher, wenn Trump dann seine zweite Amtszeit kriegt, wird drauf verwiesen, dass man es ja schon immer gesagt hat, und hätte man doch lieber den anderen Kandidaten genommen, der, rein zufällig und völlig ohne Zusammenhang natürlich, männlich gewesen wäre. Schade, schade. 
 
11) Ungarn ist verloren
Ungarn hat Selbstmord begangen – mit ungeschickter Hilfe der EU und vor den Augen der übrigen, hilflosen EU-Mitglieder. Der Totentanz der Demokratie hat begonnen, wie schon einmal im 20. Jahrhundert: Menschenrechte, Pressefreiheit, die Unabhängigkeit von Justiz, Wissenschaft und Kunst sind wieder zum Spielball der Politik geworden; Fakten und Realitäten werden umgedeutet zu Angriffen auf die nationale Identität; Hass und Gesetzesbruch werden zum moralischen Imperativ erklärt. Dies alles geschieht nicht nur in der EU, sondern die EU hat selbst dazu beigetragen, den Wahngebilden der Rechtsextremen Leben einzuhauchen. Denn um nichts anderes handelt es sich bei der fixen Idee, die Brüsseler Bürokratie stelle eine Bedrohung für Ungarns kulturelle Identität dar. Eigentlich ist es nämlich so: Im Namen der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates pumpt die EU-Bürokratie Geld in das Land und sichert damit die Herrschaft eines politischen Führers, der den Kontakt zur Realität verloren hat. Sie lässt damit zu, dass er Ungarn mitsamt allem künstlerischen, literarischen und wissenschaftlichen Leben zerstört, auch indem sie die Grenzen für alle, die aus dem Land vertrieben werden, offen hält. Mit dem Ergebnis, dass der Kalte Krieg zurück ist, nur diesmal in Form eines kalten Bürgerkrieges, der das Land seit 2002 in zwei immer unversöhnlichere Teile reißt. Die treibende Kraft dahinter ist der politische Konservatismus in Form einer Tugendhysterie. Gibt es für Europa einen Ausweg aus diesem Schlamassel, den es angerichtet hat? (Beda Magyar, Die Zeit)
Ich widerspreche dem düsteren Bild, das hier für Ungarn gezeichnet wird, überhaupt nicht. Auch die Schuldzuweisung, die hier unternommen wird, ist natürlich nicht ohne reale Basis. Aber: "Die EU" als ganze Institution verantwortlich zu machen halte ich für problematisch. Es ist ja nicht so als ob "die EU", vor allem ihr institutioneller Kern, nicht schon lange nur zu gerne etwas gegen Orban unternommen hätte. Aber es gab zwei Hauptblockierer: einerseits das von der PiS regierte Polen, wo die eine autoritäre Krähe der anderen kein Auge aushacken wollte, und einmal die EVP, die, wie bereits im letzten Vermischten beschrieben, aus (nachvollziehbaren) machtpolitischen Motiven die Fidesz an sich gebunden bleiben sehen wollte. Die EU ist immer nur so gut, wie die Vetospieler ihr erlauben zu sein.

Montag, 8. April 2019

Alice Schwarzer tritt mit Rammstein in die EVP ein und Axel Voss schaut in Arktis Youtube - Vermischtes 08.04.2019

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Europe’s Largest Party Suspends Its Resident Autocrat—for Now
Practically speaking, the measure accomplishes less than meets the eye. Fidesz will stop participating in internal EPP party business, but its MEPs will mostly go on as if nothing has changed, and their valuable votes and delegates will still benefit the EPP. The reason for the EPP’s soft-handed approach is simple: the party knows it stands a better chance of coming out on top in this May’s European elections if it doesn’t expel Fidesz outright. By opting for a cosmetic measure, the EPP has chosen ambition over principle. That decision may come back to haunt it. [...] Yet power politics have kept the EPP from taking more drastic action. The EPP wants to appear responsive to critics inside and outside the party who have long accused it of sanctioning a rogue government within the EU. But with elections looming, it also wants the big prize that comes with remaining the largest party in the European Parliament: the ability to name the next European Commission president, who wields tremendous agenda-setting power in the EU. Manfred Weber, the EPP’s candidate for the job, knows he may need Fidesz on board to realize his dream. [...] The EPP’s willingness to tolerate Orban may come down to naked political ambition. Orban has been flirting with the idea of creating his own coalition of anti-immigration and Euroskeptical forces to wrest control of the EU’s institutions from centrist parties. Projections put the number of Euroskeptical MEPs in the next parliament as high as 250. Although many of these MEPs would probably be divided across different political groups, Orban might unite enough of them to create a powerful populist force. Orban’s strategy is to campaign on two tracks. He can use the EPP to shield himself from criticism while mulling a run as the leader of a Europe-wide populist insurgency. (Kim Lane Scheppele, Foreign Affairs)
Die Dynamik, die sich in der EVP mit Orban abspielt, ist ein Grunddilemma jeder politischen Organisation: was machst du mit Radikalen in der eignenen Gruppe, besonders dann, wenn sich die Radikalisierung über längere Zeit vollzieht? Dass Fidesz es mit Rechtsstaat und Demokratie nicht unbedingt den EVP-Grundsätzen entsprechend nimmt, ist ja keine Überraschung und schon länger bekannt. Theoretisch gesehen hätte da schon längst ein Bruch stattfinden müssen. Aber Fidesz bringt der EVP eben auch einen nicht unerheblichen Teil ihrer Stimmen im Parlament, was ein machtpolitisches Argument für die Tolerierung der Partei ist. Und zudem kann die Partei auch die Hoffnung formulieren, Fidesz innerhalb der EVP harmloser zu halten als außerhalb, wo es überhaupt keine Begrenzungen für die Radikalisierung mehr gäbe. Die linken Parteien haben dieses Problem ja hauptsächlich deswegen nicht, weil der Linken liebste Beschäftigung das Spalten ist. Warum sollte eine sich radikalisierende linke Partei in der S&D bleiben, wenn sie sich mit anderen Splitterfraktionen zusammentun könnte? Aber das grundsätzliche Problem ist nicht gerade ein konservatives. Eine einfache Lösung dafür gibt es nicht. Einerseits ist es eklig, mit Autoritären wie Orban eine Partei zu teilen und ihm auf diese Art legitimatorische Deckung zu geben. Auf der anderen Seite braucht er die nicht wirklich; er könnte wie viele andere seiner Gesinnungsgenossen Ungarn auch völlig außerhalb des EU-Konsens laufen. So widerspricht er zwar den Idealen, aber die Türe zur Rückkehr des Landes ist offen und Orban tut sich schwerer damit, im eigenen Land eine Wir-gegen-Sie-Propaganda aufzubauen, so dass seine Opposition sich offener zu demokratischen Werten bekennen kann. Aber: Inzwischen ist Handeln notwendig geworden.

2) Der Fluch des vorschnellen Urteils
Wer der Band unterstellt, sie arbeite mit rechten Chiffren, ist wirklich ahnungslos. Rammstein entlarvt diese – in Wort und Bild. Und als Germania, das mythisch verklärte Bindeglied einer romantisierenden deutschen Geschichtsklitterung, firmiert ausgerechnet Ruby Commey, Schauspielerin am Berliner Ensemble – und pechschwarz. Sie ist es, die als Wechselbalg-Gebärende die Geschichte der Pippinschen Reichsteilung und der Multhiethnizität des Transitlandes Deutschland all denen als Friss-oder-Stirb-Argument entgegen schleudert, die von einem Dritten oder sonstigen rassereinen Reich träumen mögen. Diese Träume verwandeln Rammstein in „Deutschland“ nämlich mit Regietheater-Präzision in blutig-verhurte Albträume. Und sie taugen in ihrer Komplexität auch eher nicht zu einem Trailer. Die „Deutschland“-Inszenierung ist eine wirklich meisterhafte Metapher auf alles, was so seit der Varus-Schlacht für deutsch gehalten wird und wurde. Teils rauschhaft durcheinander, teils scheinbar chronologisch – aber immer große Kunst. All diejenigen, den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden eingeschlossen, die eingedenk des Trailers in Schnappatmung verfielen, sei das Statement von Iris Rosenberg, der Sprecherin von Yad Vashem ans Herz gelegt: „Yad Vashem kritisiert nicht generell künstlerische Arbeiten, die an Holocaust-Bilder erinnern. Wir glauben, dass eine respektvolle künstlerische Darstellung des Subjekts legitim sein kann, solange es die Erinnerung an den Holocaust keinesfalls beleidigt, herabsetzt oder schändet. Und nicht nur als bloßes Werkzeug dient, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu gewinnen. Deshalb fordert Yad Vashem Künstler auf, verantwortungsvoll zu handeln und die Erinnerung an die Opfer des Holocaust sowie die Überlebenden zu respektieren, die die Schrecken der Epoche überstanden haben.“ Genau das haben Rammstein getan. Und all die Empörten, sie hätten sich mal besser zu den jüngsten unerträglichen Äußerungen des deutschen UN-Botschafters im Kontext mit Gaza und Israel geäußert. Bei dessen unerhörten Vergleichen von Tätern und Opfern, der Gleichstellung von islamistischen Terroristen mit einem demokratischen Land, da schwieg die Nation – und besonders laut der Zentralrat der Juden. (Daniel Killy, Salonkolumnisten)
Rammstein war schon immer sehr gut darin, den Grat zwischen den politischen Fronten zu wandeln und Anspielungen zu verwenden, um Bezugspunkte für alle möglichen Richtungen zu finden. Sonst wären sie auch nicht so erfolgreich. Ich kann problemlos Rammstein hören und die "neue deutsche Härte" ironisch lesen, während jemand auf der Rechten das deutlich wörtlicher nehmen und stattdessen die Bekenntnisse zu offener Gesellschaft und linker Politik als ironisch gebrochene Deckung gegenüber der doofen Mainstreamgesellschaft sehen. Das hat Rammstein schon immer so gemacht, und das ist Kern ihres Erfolgs. "Deutschland" ist eine so offensichtlich inszenierte Kontroverse, dass ich mich dafür nicht erregen kann. Die Veröffentlichung des Trailers, der die KZ-Szenen aus dem Zusammenhang riss, war genau dafür konstruiert, nun mit dem Video einer schwarzen Germania die lange Nase zu drehen und zu sagen "Siehst du, was regst du dich so auf!" Das eigentliche Lied ist so ungeheuer ambilvalent, dass jeder alles hineininterpretieren kann. Auch das ist der Kern von Rammsteins Erfolg. Zu versuchen, die Band auf eine klare Aussage oder politische Richtung zu definieren ist wie der Versuch, Marmelade an die Wand zu nageln. Sie hat ihr Ziel jedenfalls erreicht: der Song war kontrovers in den Schlagzeilen, es gab viel kostenlose Werbung, und nichts Genaues weiß man nicht.

3) The President As Adolescent Bully
Trump’s use of bullying tactics against his rivals for the Republican nomination in 2015–2016 played a critical role in endearing him to the Republican base. Trump’s rollouts of new terms of abuse for his rivals have become mini-events celebrated by his fans. The Trump campaign capitalized on the new insult by hawking celebratory T-shirts. His continued use of these methods, and the delight it gives his supporters reveals something important about what binds them together. [...] Trump’s innovation of winning the election through adolescent-style bullying has carried over to his presidency. Presidents traditionally inculcate the virtues of decency, gentleness, and generosity as part of their role as ceremonial head of state. One little-noticed feature of Trump’s presidency is how little time and attention he devotes to what used to be the banal presidential work of celebrating charitable good works and public service. Speeches and photo ops with volunteers, do-gooder business leaders, hospital visits and the like, once the barely noticed daily bread of presidential messaging, has all but disappeared. [...] The explanation — or to put it more sharply — rationalization for Trump’s effect on the national discourse is that his white working-class supporters have suffered economic and social injuries. The wounds of their closed factories, or the disdain of the coastal snobs, have driven them into the arms of a man who will strike back at the elite on their behalf. [...] The message of any bully is that he is a winner — as are, to a pointedly lesser degree, his flunkies — and his targets are the losers. What is so remarkable about Trump is that he has no interest or need to conceal his cruelty. Trump is a highly familiar social type: the leader of a gang, taunting his targets while his flunkies guffaw. Before he came along, it was never possible to imagine such a person occupying the Presidency of the United States. (Jonathan Chait, New York Magazine)
Man kann natürlich entscheiden, all das zu ignorieren. Aber nichts ist so sehr der Kern von Trumps Id wie die Projektion von "Stärke", die sich in gewalttätigen Männerbildern ausdrückt. Stark ist, wer seine Umwelt dominiert, offenkundig und ohne jede Subtilität. Für Trump und seine Anhänger wird alles durch das Prisma von Stärke gelesen, wird alles in Gewinner und Verlierer eingeteilt. In Trumps Welt kann es keine Win-Win-Situation geben und keinen Kompromiss. Aus jeder Situation muss ein klarer Sieger und muss ein klarer Verlierer hervorgehen. Man sehe sich etwa an, wie Trump und seine Basis die Brexit-Verhandlungen betrachten. Dass unter Umständen einfach für beide Seiten keine befriedigende Lösung herauskommt, ist unvorstellbar. Einer muss siegen. Für hochkomplexe Verhandlungen ist das, milde ausgedrückt, nicht gerade eine sinnvolle Ausgangssituation. Die andere Auswirkung dieser Sichtweise ist, dass Grausamkeit zum Selbstzweck wird. Das ist besonders im Umgang mit Migranten zu beobachten. Stärke wird dadurch projiziert, dass die Migranten möglichst schlecht behandelt werden. Wenn sich dann Progressive und Liberale darüber echauffieren, umso besser. Das gilt auch als Zeichen des Siegs.

4) Bis zu fünf Grad mehr in der Arktis
Die Erwärmung in den nördlichen Polargebieten geht deutlich schneller als im weltweiten Durchschnitt. Während sich die globale Atmosphäre seit 1880 bisher um 0,8 Grad Celsius erwärmt hat, steigen die Temperaturen in der Arktis doppelt so schnell an. Schon bis 2050, so „Global Linkages“, werden sie im Winter um 3 bis 5 Grad steigen – selbst dann, wenn sofort mit drastischen Reduzierungen bei den Emissionen begonnen werde. [...] Die Erwärmung ist laut Unep-Bericht in Teufelskreisen gefangen: Weniger Schnee und Eis bedeuten mehr dunkle Land- und Meeresgebiete, die sich stärker aufheizen, weil sie weniger Wärme reflektieren als weiße Flächen. Mehr Wärme führt zu einem Auftauen der bislang ewig gefrorenen Permafrostböden, die die Klimagase Kohlendioxid und Methan ausgasen – was wiederum die Erwärmung der Atmosphäre befeuert. „Ein schlafender Riese erwacht“, warnt der Bericht: „Neue Daten legen nahe, dass der Permafrost viel schneller auftaut als bisher gedacht.“ Die Fläche von Permafrost, die bislang 15 Millionen Quadratkilometer umfasse, werde bis 2040 auf 12 Millionen zusammenschmelzen – und bis 2080 sogar auf 5 bis 8 Millionen Quadratkilometer zurückgehen. [...] Die ungewohnte Wärme am Pol bringt offenbar auch zunehmend das Wetter in Eurasien und Nordamerika durcheinander. Anfang des Jahres belegte eine Studie der US-Klimawissenschaftlerin Jennifer Francis eine „robuste Beziehung“ zwischen einer sich schnell erwärmenden Arktis und einem Abschwächen des „Jet-Streams“. Dieses Band aus starken Winden in der Atmosphäre dominiert das Wetter rund um die Arktis und speist sich teilweise aus dem Temperaturunterschied zwischen Arktis und Tropen. Weil sich die Arktis schneller erwärmt, lässt dieser Unterschied nach. Die Folge: Das Windband beginnt nach Nord und Süd zu „flattern“, wärmere Luft gelangt weiter nördlich als normal, kalte Luft weiter südlich. „Unsere Ergebnisse legen nahe, dass sich die Häufigkeit von Extremwetterereignissen durch dauerhafte Jet-Stream-Muster erhöhen wird, wenn die Arktis sich als Reaktion auf steigende Konzentrationen von Treibhausgasen weiter schneller erwärmt als anderswo“, lautet das Fazit der Studie. (Bernhard Pötter, taz)
Ein großes Problem der Klimaerwärmung ist, dass die Dynamiken exponenziell sind: die Erwärmung gebiert weitere Erwärmung. Dies ist wichtig für die Wahrnehmung des Problems: Genauso wie die großen Zeiträume, um die es geht, sind diese Kaskadeneffekte schwer zu fassen und erschweren die Kommunikation der Dringlichkeit. Zudem konzentriert sich die Ikonographie des Klimawandels auf abschmelzende Polkappen; kein Bericht über die Erderwärmung ohne den Eisbär auf der Eisscholle. Dass der Klimwandel auch ganz andere Regionen wie die Permafrostböden der Taiga betrifft, geht da schnell unter.

5) Pyrrhussieg heißt jetzt Voss-Sieg
Und jetzt? Der Pyrrhussieg wird umbenannt werden müssen in Voss-Sieg, nach Axel Voss (CDU), dem wichtigsten Akteur hinter der Reform. Denn sie wird kaum jemandem substanziell nützen, aber Kollateralschäden mit sich bringen. Die Befürworter zeichnet ein für präfaktische Politik typisches, magisches Denken aus. Sie hoffen, dass auf bisher völlig unklare Weise alles gut werde. Dafür spricht: nichts. So lautet die Warnung der Wissenschaft. Das europäische Leistungsschutzrecht wird ein Debakel, wie das deutsche zuvor, weil die Medienlandschaft abseits jeder Realität argumentierte. Google News wird wahrscheinlich einfach abgeschaltet, dann wird geheult und geschrien. Uploadfilter werden einen von Google kontrollierten Markt eröffnen, auf dem - absurde Wendung! - Medienkonzerne wahrscheinlich selbst Google-Technologie kaufen werden, wenn sie je eigene Plattformen gründen oder sich daran beteiligen. Was sie vermutlich tun werden, auch weil die Werbegelder der Welt massiv in diese Richtung strömen. Und in der Richtlinie steht, ein Unternehmen müsse nachweisen, dass es "nach Maßgabe hoher branchenüblicher Standards für die berufliche Sorgfalt alle Anstrengungen unternommen hat, um sicherzustellen, dass bestimmte Werke … nicht verfügbar sind". Die "branchenüblichen Standards" für Uploadfilter setzt niemand anders als Google. Die Entwicklung von YouTubes Filtertechnik "Content ID" hat mehr als 100 Millionen Euro gekostet. Googles Wissensvorsprung eingerechnet könnte die Kreativwirtschaft auch mit 500 Millionen Euro diesen Standard nicht erreichen und stattdessen auf neue oder bereits existente, aber sicherlich nicht bessere Technik zurückgreifen. Der Preis für diesen Unfug ist ein bestürzender Vertrauensverlust einer digital geprägten Generation in die Wirksamkeit ihres Engagements, in demokratische Politik und in die EU. Denn diese Menschen durchschauen ja die Lügen, Beschimpfungen und Absurditäten, die man ihnen zugemutet hat. Ab der wievielten uninformierten, beleidigenden Lüge zur digitalen Welt glaubt man der Politik nicht mehr, dass sie in allen anderen Bereichen demokratisch effizient entscheidet? (Sascha Lobo, SpiegelOnline)
Ich lese dieser Tage unter technikaffinen Menschen viel davon, wie groß die Auswirkungen der Artikel-13-Debatte auf das Wahlverhalten der jungen Generation (bis 35 Jahre) sein werden. Angesichts der dräuenden Europawahlen erhofft man sich da vielerorts eine Art Abstrafen der EVP und S&D durch diese Gruppe. Ich bin da skeptisch. Ich glaube, die Aufregung über Artikel 13 ist ein Blasenphänomen. Ja, es ist hauptsächlich ein Thema junger Menschen, aber innerhalb dieser Demographie interessiert sich halt auch nur eine kleine Minderheit dafür, und ob diese Minderheit das dann auch tatsächlich als Wahlanlass nutzt, sei mal dahingestellt. Die Influencer selbst würden die EVP ohnehin nicht wählen. Ich glaube jedenfalls nicht, dass wir wegen Artikel 13 große Verwerfungen sehen werden. Oder bin ich da zu pessimistisch?

6) The Supreme Court’s Conservatives Just Legalized Torture
Russell Bucklew is a death row inmate in Missouri who suffers from a rare medical condition called cavernous hemangioma. Due to this disorder, his body is covered with tumors filled with blood vessels. Tumors in Bucklew’s neck and throat, his lips and uvula, which make it difficult for him to breathe. They are highly sensitive and frequently squirt blood. A medical expert, Dr. Joel Zivot, has testified that if Missouri administers a lethal injection to Bucklew, he will die a slow, agonizing death. His tumors will rupture and fill his mouth with blood, and he will suffocate to death in unbearable pain, choking and convulsing on the gurney as he dies. To forestall this fate, Bucklew sought to block his execution by lethal injection, arguing that it would violate the Eighth Amendment’s bar against “cruel and unusual punishments.” [...] In Monday’s Bucklew v. Precythe, the court rejected his claim by a 5–4 vote. Justice Neil Gorsuch’s opinion for the court, however, does much more than condemn Bucklew to a harrowing demise. It also quietly overrules, or at least erodes, more than 60 years of precedents, including several written by Justice Anthony Kennedy. Gorsuch embraced a vision of the Eighth Amendment supported by Justices Clarence Thomas and Antonin Scalia that has consistently been rejected as dangerously extreme by a majority of the court. [...] A majority of the court did not adopt Thomas’ view in either case. And in Bucklew, Gorsuch writes that “revisiting that debate isn’t necessary here.” But he then does exactly that—and adopts Thomas’ interpretation of the Eighth Amendment, effectively overruling 60 years of precedent. [...] Why does this matter? Because since 1958, the Supreme Court has rejected an originalist interpretation of the Eighth Amendment—which would, after all, permit the hanging of children, among other ghastly punishments. Instead, the court has asked whether a punishment violates the “evolving standards of decency” of a “civilized society.” Baze and Glossip did not embrace this standard, but they did not reject it, either. After all, by forcing states to use the less painful of two execution methods, the court adopted a resolutely nonoriginalist view that the Eighth Amendment may require a more “civilized” death. In Bucklew, Gorsuch gutted that logic and replaced it with Thomas’ hard-line originalism. (Mark Joseph Stern, Slate)
Ich habe dazu zwei Anmerkungen. Zum ersten strafen diese Vorgänge all diejenigen Lügen, die der Überzeugung waren, dass die Democrats die Wahl Gorsuchs auf den gestohlenen Sitz im Supreme Court unterstützen sollten, weil Gorsuch ja einfach nur ein normaler, moderat-rechter Jurist sei. Das ist offensichtlich nicht der Fall. Selbstverständlich stellen die Republicans keinen moderaten Richter auf. Das machte Obama. Aber im Geiste ständigen Bothsiderismus musste der Unsinn natürlich hundertfach gedruckt werden. Zum zweiten sehen wir einmal mehr die bereits im letzten Vermischten angesprochene Radikalität der conservatives in den USA, die immer auch mit der in 3) angesprochenen Grausamkeit verknüpft ist. Hier geht es weder um die Bewahrung von alterhergebrachten Grundsätzen (also das, was man eigentlich konservativ nennen würde), noch um eine originalistische Auslegung. Das Ziel ist die radikale Umgestaltung der juristischen Landschaft. Dafür wurden diese Leute in den Supreme Court gebracht, und das tun sie. 

Die Technosoziologin Zeynep Tufekci beschreibt im März 2018 YouTube als "große Radikalisierungsmaschine". Vorschlagsfunktion und Autoplay führten in immer schlimmere Tiefen: "YouTube leitet Zuschauer herunter in eine Parallelwelt des Extremismus, während Google die Werbeeinnahmen einfährt." [...] Schon länger bekannt ist, dass YouTube eine wichtige Rolle bei der Propagandaverbreitung des "Islamischen Staats" spielte. Auch frühere Rechtsextremisten sagen, dass YouTube von zentraler Bedeutung für ihre Radikalisierung war. Ex-Googler Chaslot weist darauf hin, dass die Empfehlungssoftware, an der er mitarbeitete, sogar den Brexit begünstigte. "Streit und Entzweiung erhöhen die Zuschauerzeit, und mehr Zuschauerzeit ergibt mehr Anzeigen." Also mehr Geld. Sechs Jahre nach dem Mord an seiner Tochter ist Jeremy Richman am Ende. Er hatte mit anderen Eltern ermordeter Kinder Alex Jones verklagt. Der Hass, die Angriffe wurden noch stärker, er erhielt immer wieder Todesdrohungen. Tage vor seinem Suizid töteten sich zwei Teenager, die das Parkland-Shooting überlebt hatten. Auch sie wurden auf YouTube immer wieder als "crisis actors" beschimpft und in sozialen Medien bedroht. Am 25. März 2019 tötete sich Jeremy Richman. Am 29. März behauptete Alex Jones in einem Gerichtsverfahren, er sei Opfer einer Psychose, deshalb habe er die Verschwörungstheorien über Sandy Hook verbreitet. YouTube entschied sich erst im August 2018, Alex Jones zu sperren. Am 31. März endete das erste Geschäftsquartal. Das Ergebnis von YouTubes Mutterkonzern Alphabet wird demnächst bekannt geben, Experten erwarten für die ersten drei Monate des Jahres 2019 einen Rekordumsatz von etwa 37 Milliarden Dollar. (Sascha Lobo, SpiegelOnline)
Die Rückwirkung, die die Algorithmen der Sozialen Netzwerke und anderen großen Seiten auf die Politik und Gesellschaft haben, scheint mir immer noch weitgehend unterschätzt. Das liegt glaube ich unter anderem daran, dass es sich um private Akteure handelt. Wir wissen, wie wir Propganda und Steuerungsversuche staatlicher Akteure einzuordnen haben. Wenn etwa China ihr riesiges Social-Credit-Programm aufzieht, ist klar, dass hier eine diktatorische Regierung ihre totalitären Ansprüche durchzusetzen versucht. Es passt in ein Schema, das sich historisch auf klare Vorbilder beziehen kann. Stalinismus mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts, gewissermaßen. Aber wenn es um Facebook und Google geht, reden wir von privaten Unternehmen, die offiziell keine politische Agenda verfolgen, sondern "nur" Geld machen wollen. Und ein Kernbestandteil unserer Wirtschaftsordnung ist, dass sie das in so freiem Rahmen wie möglich tun dürfen. Nur verfügen diese Unternehmen wegen ihrer gewaltigen weltumspannenden Größe auf der einen und der Zentralität der Services, die sie anbieten, auf der anderen Seite über ein bisher ungekanntes Wirkungspotenzial. Wahrscheinlich muss man sie eher als völkerrechtliche Subjekte denn als Konzerne begreifen, wenn man mit diesen Themen klar kommen will, aber ich weiß auch nicht wirklich, wie das funktionieren soll. Das normale Wettbewerbs- und Handelsrecht jedenfalls ist für diese Konzerne nicht ausgelegt.

8) F-Jugend - Flach spielen, hoch gewinnen
Bei den 8- bis 9-Jährigen gewannen meist die Teams, die den besten Weitschuss-Schützen in ihren Reihen hatten. FVM-Jugendreferent Oliver Zeppenfeld erklärt: "In einem zwei Meter hohen Tor sind die Keeper in diesem Alter angesichts ihrer Körpergröße einfach nicht in der Lage, hohe Bälle zu halten." Mit finanzieller Hilfe des 1. FC Köln erhielten im September 2018 alle Vereine spannbare Netze, mit deren Einsatz die Höhe der Tore bei den 8- bis 9-Jährigen von zwei Metern auf 1,65 Meter verkleinert wurden. Die Folgen waren erstaunlich: Statt weniger fielen mehr Treffer. Trotz kleinerer Tore. Aus durchschnittlich 4,68 wurden 5,27 Treffer pro Mannschaft pro Spiel. Die Verringerung der Torgröße hatte zudem eindeutige Konsequenzen für die taktische Vorgehensweise im Spiel. Es wurde häufiger geschossen. Allerdings aus kürzerer Distanz. Statt aus durchschnittlich fast elf Metern erfolgte der Abschluss gemittelt aus 8,69 Metern. Anders ausgedrückt: Die Mannschaften spielten sich näher vor das gegnerische Tor. [...] Grundsätzlich konnte beobachtet werden: Aus Teams, die sich vormals auf einen starken Schützen verließen, wurden spielerisch bessere Mannschaften. Patrick Eßer weist auf einen weiteren Vorteil hin: "Die Alternativen bei der Auswahl des Torhüters werden größer. Statt des längsten Akteurs kann nun derjenige zwischen die Pfosten, der dazu am meisten Lust hat und vielleicht auch das größte Torwarttalent besitzt." [...] "Die Konsequenzen sind vielfältig und positiv", sagt FVM-Mann Zeppenfeld. "Langfristig werden Begabungen gezielter gefördert und die kleinen Fußballer erhalten eine spielerisch bessere Ausbildung." (Olaf Jansen, Sportschau)
In dem oben zitierten Artikel ist eine Metapher versteckt. Wir haben eine ähnliche Diskussion nämlich immer wieder im Bildungswesen, wo angenommen wird, dass ein Verändern der Bewertungsmaßstäbe zwangsläufig zu einem Niveauverfall führen müsse. Aber wie immer im Leben sind Aktion und Reaktion, Ursache und Wirkung nicht immer so deutlich und linear aufeinander bezogen. Wie im obigen Fall der Fußballspieler kann es durchaus sein, dass das Einziehen von Hilfestellungen zu verbesserten Ergebnissen und einem größeren Lerneffekt führt. Oft genug werden solche Verbesserungen aber mit dem Argument bekämpft, dass eine Vereinfachung schlichtweg dafür sorge, dass die Ergebnisse inflationiert würden und so Leistung nicht mehr belohnt wird. Man denke nur an das permanente Händewringen über die Abitursquote. Aber das ist schlicht nicht der Fall. Zumindest nicht automatisch.

9) Without a Plausible ‘Theory of Change,’ Progressive Ideas Are Just Fantasies // Theory of change is disarmingly simple
But still, these differences matter, perhaps more than policy differences, since progressive ideas are nothing more than fantasies if you don’t have the means to achieve them. It’s easy for Sanders to say he will mobilize enough support for his policies to overwhelm congressional Republicans and force them to go along. But Obama had a similar theory (one that at the time I labeled “grassroots bipartisanship”), and it turned out simply to be wrong once the presidential election ended and things got real. (Ed Kilgore, New York Magazine)
It’s good that we’re talking about this, but less good that we’re making it more complicated than it really is. All you have to do is take a look at the past and ask what Democrats needed to pass big liberal legislation and the answer suddenly becomes easy: big Democratic majorities in Congress. That’s it. It’s what made the New Deal possible, the Great Society possible, and Obamacare possible. Its lack is what killed Bill Clinton’s health care plan. There are, it’s true, a few counterexamples of big things that were passed on a bipartisan basis: the Civil Rights Act, the Clean Air Act, ADA, the 1986 tax reform, and a handful of others. However, nearly all of these were passed under Republican presidents and all of them were passed more than 30 years ago. It’s been more than half a century since Republicans were willing to cross the aisle to vote for progressive legislation. So here’s the only theory of change that matters:
  • Get a Democratic majority in both houses.
  • Ditch the filibuster.
  • Pass whatever legislation is acceptable to the 50th most liberal senator.
This in turn suggests that two things are important:
  • The coattails of whatever Democrat runs for president, which is basically her ability to persuade the public to vote for liberal change.
  • The ability of the party and the grass roots to elect more liberal senators.
That’s really about it. The precise level of progressiveness of the president matters only slightly since the bottleneck for legislation will almost certainly be Congress. Elizabeth Warren may be more progressive than Kamala Harris, but Harris would still be the better choice if you think her coattails would be stronger, her public appeal for liberal change would be stronger, and therefore she’d be likely to produce a more liberal 50th senator. (Kevin Drum, Mother Jones)
Dass die Debatte in progressiven Zirkeln sich gerade zur "theory of change" verschiebt, ist absolut notwendig. Die policy-Differenzen zwischen den einzelnen Kandidaten sind verhältnismäßig klein. Die Frage ist weniger, ob Bernie Sanders Medicare for All aufs Tablett bringt oder Kamala Harris. Die Frage ist, welche Version tatsächlich durchgesetzt werden kann. Und da hat Kevin Drum absolut recht. Es braucht eine Mehrheit in beiden Häusern, die Abschaffung des Filibuster und einen Konsens unter der Mehrheit der Democrats. Fehlt einer dieser Bestandteile wird nichts umgesetzt, völlig egal, wer Präsident ist. Die "theory of change" war schon 2016 mein Hauptgrund, gegen Sanders zu sein. Ich finde seine Idee von der permanenten Grassroots-Mobilisierung einfach völlig wirklichkeitsfremd und zudem nicht sonderlich demokratiefreundlich. Und da kommen wir zum Problem. Denn eine Mehrheit im Senat ist 2020 sehr unwahrscheinlich. Die Präsidentschaft zu gewinnen und das Haus zu halten ist aktuell jeweils eine 50:50-Geschichte, ohne Korrelation. Ob sich eine Mehrheit gegen den Filibuster findet ist unklar. Trotzdem müssen sich die Democrats auf das Szenario vorbereiten, wenn sie nicht mit heruntergelassenen Hosen erwischt werden wollen wie die Republicans 2016. Deswegen ist es auch so wichtig, dass etwa Elizabeth Warren einen wahren Sturm von policy-Vorschlägen entfacht und damit die Debatte dominiert.

10) Mit Rest-AfD im Blut
Oskar Helmerich, der in die SPD wechselte, ging jetzt offenbar mit Rest-AfD im Blut zur Sache, als er Thilo Sarrazin zu einer Lesung einlud, wenige Tage vor der Europawahl. Die Reflexe aus der SPD gegen den Mann, den die Partei seit Jahren loswerden will, waren vorherzusehen: Islamfeind ist noch der harmloseste Ausdruck, mit dem Sarrazin bedacht wird; um ihre korrekte Gesinnung aber unter Beweis zu stellen, stehen botmäßige SPD-Funktionäre viel lieber innerlich stramm („Haltung!“) und bevorzugen „Rassist“. Über die Thesen Sarrazins lässt sich trefflich streiten. Was ist aber aus der SPD geworden, dass sie dazu weder in der Lage noch willens noch fähig ist? Man fragt sich: Was ist intoleranter, die Islam-Feindschaft Sarrazins oder die Sarrazin-Feindschaft der SPD? Helmerich ist offenbar schon wieder in die falsche Partei eingetreten. Aber in welche soll er dann gehen? (Jasper von Altenbockum, FAZ)
Was für eine beknackte Fragestellung. Als ob die SPD ein Forum für Sarrazin zu bieten habe. Eine Gleichstellung krassen Rassismus auf beim einen, der einem signifikanten Teil der Bevölkerung Bleiberecht und Zugehörigkeit abspricht, und ein "der Verein, in dem du freiwillig Mitglied bist, will dich nicht" auf der anderen gleichzustellen - und wozu? Mangelt es Sarrazin an Aufklärung? Gibt es ein gottgegebenes Recht für AfD-Nahe, Aufmerksamkeit zu bekommen? Gibt es einen Mangel daran? Und um Altenbockums beknackte Frage zu klären: in die CDU natürlich. Dass die SPD es nicht so geil findet, wenn einer der Ihren Sarrazin als Sprecher einlädt, sollte klar sein.

11) "Krampp-Karrenbauer ist eindeutig feministischer als Merkel" - Streitgespräch zwischen Alice Schwarzer und Margarete Stokowski
Früher durften Männer ihren Ehefrauen verbieten zu arbeiten. Heute gehen Frauen freiwillig in Teilzeit oder ziehen sich aus der Arbeitswelt zurück, wenn sie Kinder bekommen. Stokowski: Wenn wir von Freiwilligkeit reden, lenken wir davon ab, dass es nach wie vor Machtstrukturen gibt. Wir alle möchten weiter an das Bild der selbstbewussten emanzipierten Frau glauben. Und dann merken wir, die Gesellschaft ist darauf ausgerichtet, Ungleichheit zu erhalten – Frauen treffen immer wieder dieselben Entscheidungen und stehen immer wieder vor denselben Hürden. Wenn wir diese Entscheidungen einfach nur als freiwillig ansehen, ist es schwieriger, über die politische Dimension zu reden. Stattdessen heißt es, das ist doch der freie Wille, und wir können Frauen nicht zwingen, sich die Hälfte der Macht zu nehmen. Schwarzer: Das mindestens 4000 Jahre währende Patriarchat lässt sich nicht in 40 Jahren aus den Angeln heben. Was man Frauen früher aufgezwungen hat, machen sie heute scheinbar freiwillig. Der gesellschaftliche Druck ist immer noch groß, ein bestimmtes Ideal zu erfüllen. Das läuft subtil ab, der Zwang ist weniger sichtbar. Die Schlacht spielt sich dabei wieder auf unserem Körper ab. Ich habe eine ähnliche Rückwärtsbewegung schon einmal Mitte der 70er Jahre erlebt. Da hat man auch innerhalb der Frauenbewegung von einer sogenannten „neuen Weiblichkeit“ oder der „neuen Mütterlichkeit“ geredet. Das war aber in Wahrheit die alte. Gesellschaftliche Bilder von Weiblichkeit oder Männlichkeit prägen schon von Kindheit an. Heute gibt es unterschiedliches Lego für Mädchen und für Jungs, es gibt pinke und „normale“ Überraschungseier. Drängt unsere Konsumwelt Kinder stärker als früher in bestimmte Rollen? Schwarzer: Das ist längst eine eigene Millionen-Industrie, die es vor ein paar Jahrzehnten noch gar nicht gab. Stokowski: Bei Kinderspielzeug und Kinderkleidung ist es extrem. Aber das gibt es auch für Erwachsene. Der Drogeriemarkt DM hat jetzt ein Männerregal, damit Männer nicht aus Versehen Waschmittel kaufen, sondern nur Männercreme. Das macht im Kapitalismus natürlich Sinn, weil man Produkte in zwei Varianten herstellen kann. [...] Gleichzeitig ist es gerade bei den Kindersachen eine extreme Klassen- und Geldfrage. Die billigen Sachen sind häufig viel stärker gegendert als die teuren. In einem Bio-Öko-Fairtrade-Kinderladen ist alles bunt, bei Kik oder anderen Textil-Discountern sind Sachen für Mädchen und Jungen klar unterteilt. Manche Leute haben gar nicht die Wahl, genderneutrale, nicht rollenkonforme Sachen zu kaufen. Die, die es sich leisten können, das zu vermeiden, sagen dann auch noch, naja, die Leute, die das kaufen, sind ein bisschen dumm und unemanzipiert und stecken ihre Mädchen in rosa Sachen. (Cordula Eubel/Anne Sauerbrey, Tagesspiegel)
Ich empfehle das Streitgespräch zwischen Schwarzer und Stokowski zur Gänze zu lesen. Die beiden streifen viele Themen, unter anderem den Generationenkonflikt und die Rolle des Islamismus, und beide Frauen haben ebenso überlegte wie gegensätzliche Positionen zu bieten. Ich will nur kurz einige der obigen Punkte kommentieren. Einerseits haben die beiden völlig Recht, wenn sie darauf verweisen, wie verwurzelt viele der Probleme sind und dass es einen Wandel von offensichtlicher Ungleichbehandlung hin zu subtileren Strukturen gab. Fast noch spannender finde ich die Verweise auf die #Rosahellblaufalle, also das Gendermarketing bei Kindern, das diese in bestimmte Geschlechterrollen drängt. Ich finde Stokowskis Punkt, dass das zusätzlich auch noch eine Klassenfrage ist, an der Stelle sehr bedeutsam. Ein Vorwurf, den ich dem Feminismus ja schon öfter gemacht habe ist, dass er sich zu sehr mit Fragen auseinandersetzt, die nur für die obere Mittelschicht relevant sind (Stichwort Quote im Aufsichtsrat) und darüber andere ignoriert. Es ist gut zu sehen, dass es da ein Bewusstsein gibt.