Dienstag, 28. April 2020

In der Dusche mit Mitch McConnell, Rente kürzen für die Goten und mit der taz in Disneyland - Vermischtes 28.04.2020

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Don’t Be Fooled by Autocrats!
But Hungary’s emergency is not like that of any other country in Europe – or for that matter any country anywhere.  Let us mention just a few of the powers that the government has already claimed.   No other country has put military commanders at the head of every hospital in the country.   Last week, on the orders of the Hungarian health minister, these commanders cleared 36,000 hospital beds across the country – mostly by ejecting terminally and chronically ill patients from these hospitals and sending them home.   Nurses were frantically explaining to family members how to change drips and bandages, how to administer shots, how to look for dangerous turns in these patients’ conditions.  And now, of course, tens of thousands of Hungarian families are isolated at home with sick and dying loved ones who should have had hospital care.   Two hospital directors were fired for resisting the government’s orders, which overrode doctors’ assessments of what was best for their patients’ health.   Never mind that the real need for beds is about a tenth of the government estimates. The government has also inserted the military into at least 150 “strategic” companies to ensure their continued operation through the pandemic.  Among the companies now under military direction are major players in the food business among many others.   In addition, military are now much more visible on the streets.  Of course, some countries, like the US, have deployed military units to help fight the pandemic.  But those units are building field hospitals to handle the crush of patients; they are not there for social control or economic guidance purposes, as they are in Hungary. Orbán has issued about 70 decrees so far with his newly found powers.  It is impossible to summarize them all. (Gabor Halmai, Verfassungsblog)
Jedes Mal wenn man denkt, man hat sich gerade daran gewöhnt, auf welchem Schritt Ungarn auf der Reise in die Diktatur gerade ist, entsetzt einen eine neue Nachricht. Das Militär übernimmt die zivile Regierung und wirft todkranke Leute aus dem Krankenhaus? Das sind Bilder, die hat man hier in Europa eigentlich seit dem Ende des Dritten Reichs nicht mehr gesehen (wobei ich ja befürchte, dass es genug Beispiele von östlich des Eisernen Vorhangs gibt...). Ungarn bleibt die schwärende Wunde in der EU. Wenn diese Föderation kaputt geht, dann glaube ich weniger wegen den italienischen Staatsfinanzen. Geld ist letztlich nur Geld. Dafür findet sich im Zweifel immer eine Lösung. Aber das gemeinsame Wertefundament muss bestehen bleiben, sonst ist die EU wertlos. Es ist daher auch bezeichnend, dass Friedrich Merz (oder Ministerpräsident Kretschmann oder oder oder) sich zwar gerne öffentlich despektierlich über Italien äußert, aber zu Ungarn nur dröhnendes Schweigen zu vernehmen ist. Selbst Phrasendreschmaschine Heiko Maas findet zwar gelegentlich weichgespülte Worte zu Saudi-Arabien (Zauberstab der Verhandlungen and all that), aber zu Ungarn bleibt da wenig hängen. Um das klarzustellen: Die EU wird aller Wahrscheinlichkeit nicht daran zerbrechen, dass Ungarn zur Diktatur degeneriert. Die Föderation hat keinerlei Instrumente, um etwas dagegen zu tun. Mitglieder können nicht ausgeschlossen werden, und Sanktionen sind unmöglich, solange Polen Orbans Regime stützt - und selbst wenn es das nicht würde, wie würden Sanktionen durchgesetzt werden? Ein Einmarsch der Bundeswehr in Budapest? Nein, die Bedrohung der EU durch Orban kommt von innen. Das ist es gerade, was sie so gefährlich macht.

2) The US Supreme Court’s Activism in the Wisconsin Election
In recent years, however, the Court has moved away from traditional restraints on Supreme Court activism in cases important to the Trump administration. It has created a shadow docket that often relieves the Trump administration of temporary legal restraints on its policy initiatives when they appear illegal to District Courts. [...] Republican National Committee extends this emerging practice of shadow docket activism on behalf of the President’s initiatives to those of the Republican Party as a whole and accordingly generated a 5-4 split along party lines. The Court resolves shadow docket cases without full briefing or oral argument, which may make partisan views more likely to influence cases. [...] The conservative majority invents fresh, unclear, and baseless technical requirements for District Court Judges, while not applying the usual technical restraints on itself. [...] The Wisconsin debacle and growing anxiety that Trump might use the coronavirus as an excuse to seek to postpone the presidential election has sparked a movement to make absentee ballots widely available in upcoming elections. An expansion of absentee balloting while making live voting compatible with social distancing, however, requires about $4 billion in funding from Congress. Trump has said that expanded absentee balloting would be a disaster for Republicans. But rejecting this demand might give the opposition even more energy. The Democrats elected one of their own to the Wisconsin Supreme Court on April 7, despite, or perhaps because of, the chaos that followed the US Supreme Court’s intervention. (David M. Dreisen, Verfassungsblog)
Für die Republicans sind die Gerichtshöfe ein Schlachtfeld. Diese Leute sind nicht dumm. Keine der Gewalten ist so inhärent konservativ wie die Judikative, und nirgendwo kann man langfristig Macht sichern, weil die Ernennungen in den USA in den entscheidenden Gerichtshöfen auf Lebenszeit sind und ihre Besetzung ohne jeden Kompromiss mit der Gegenpartei möglich ist. Besonders Mitch McConnell als teuflischer Machttaktiker weiß um ihre Bedeutung und hat von Anfang an sein Augenmerk darauf gelegt. In der Trump-Ära haben die Republicans bereits weit über 200 hochrangige Richterposten mit jungen, rechtsradikalen Fanatikern besetzt. Diese werden den USA für 40 Jahre oder mehr erhalten bleiben. Das ist eine Machtfülle, gegen die alles andere erblasst. Und da es sich im Fanatiker handelt, werden diese Leute auch immer politische Entscheidungen treffen. Man sieht das ja bereits gut am Supreme Court: Wie bereits im unheilvollen Präzedenzfall von Bush v Gore 2000 trifft der Supreme Court Entscheidungen im Sinne der GOP, die explizit den eigenen Prämissen nicht gehorchen und mit der rechtlichen Lage wenig zu tun haben, sondern durch Abstimmungsmehrheit gewonnen werden. Es geht nicht um Gesetze, sondern darum, wer die meisten Richter hat. Das ist effektiv die Fortschreibung der Regel Grover Norquists, der einmal gesagt hat, dass die einzige Anforderung für einen Präsidenten fünf funktionierende Finger seien, mit denen er seine Gesetzesvorlage unterschreibe, für die Judikative. Die einzige Qualifikation, die ein Richter für Mitch McConnell haben muss, ist, dass er immer für die Republicans abstimmt. Auf diese Art werden die Gerichtshöfe effektiv zerstört.

3) Which generation will bear the cost of the lockdown?
Like every other country in the world, the UK is currently racking up a large bill  — £300 billion to be precise according to the Centre For Policy Studies. Next year's tax receipts are expected to be skeletal after the Office for Budget Responsibility forecast a contraction of 35 per cent in output for the second quarter of this year. The awkward question everyone at the Treasury will now be mumbling is: who is going to pay for all this? In the US, a strange guilt-tripping consensus has emerged on the Republican right, whereby elderly Americans talk about sacrificing their own health to keep the economy open for the young. Perhaps it is no surprise that this shrill theatricality dominates in Trump's America. But buried beneath the hysterics, there was a genuine question being posed when, last month, the 69-year old lieutenant governor of Texas Dan Patrick exhorted Trump to put an end to lockdown on Fox News for the sake of millennials. Namely, how do governments balance a health crisis for the elderly with an economic crisis for the young? [...] "Lots of people in the baby boomer generation through luck and hard work did well for themselves, and they have their wealth concentrated in assets," says one senior Labour MP. "But there are also a lot of pensioners living in hardship and poverty. I think fundamentally we want to fight on the issue of fairness and there is a generational element to that." (George Gryllis, The New Statesman)
Die Fragestellung ist grundsätzlich eine richtige, aber die Lösung, die Gryllis hier vorschlägt, ist Quatsch. Das liegt daran, dass er nicht wirklich an mich denkt, auch wenn er behauptet, das zu tun. Die mit Krokodilstränen vorgetragene Sorge um die Generation X, Millenials und Generation Z, mit denen Einschnitte in die Rentensysteme begründet werden, war schon vor 30 Jahren als Argument en vogue. Sie hilft mir nur leider überhaupt nichts. Wenn die Rente jetzt mit dem Verweis darauf gesenkt wird, dass für mich die Rentenbeiträge nicht wachsen sollen, klingt das erstmal toll - aber das löst ja mein Rentenproblem nicht. Klar, ich zahle jetzt den aktuell ja bereits nicht unbeträchtlichen Beitrag zur Rentenversicherung weiter, der sich dann vielleicht nicht nochmal um ein oder zwei Prozentpunkte erhöht. Das tut meinem Netto auf dem Gehaltszettel gut. Aber wenn ich dann mal in Rente gehe, fehlt mir die Kohle ja. Wo kommt das Geld für mich dann her? Das hat nichts mit irgendwelcher verantwortungsvoller Finanzierung zu tun, sondern ist im Endeffekt genauso ein Problem in die Zukunft verschieben wie wenn ich das jetzt mit mehr Schulden finanzieren würde (nur als Beispiel). In beiden Fällen zahlt mein Zukunfts-Ich, nur im einen Fall halt weil ich weniger Rente habe, und im anderen Fall weil Sozialausgaben durch Schulden bezahlen nicht so die pralle Idee ist. Ich habe letztlich keine andere Wahl, als das Rentenniveau auf einem dauerhaft ordentlichen Level zu halten. Entweder deckt die gesetzliche Rente das ab (und wird dann gegebenenfalls wegen der Demographie erstmal teurer) oder ich muss zusätzlich privat vorsorgen, aber für mein zur Verfügung stehendes Einkommen macht es recht wenig Unterschied. So oder so kostet mich die Altersvorsorge mehr. Ich will eigentlich lieber die nachkommenden Generationen auf den gleichen Deal verpflichtet wissen, an den ich mich gerade auch halte, selbst wenn es zu meinem Schaden ist. In solchen Vorschlägen erkenne ich für mich jedenfalls wenig Gewinnbringendes. So, jetzt dürft ihr meine Logik in den Kommentaren zerpflücken. :)

4) The dark logic of the GOP's latest coronavirus aid strategy
But some reporting also suggests a much darker motive than mere ideological blinkeredness and hypocrisy. It's abundantly clear that President Trump and many of his Republican allies are weary of the social shutdowns meant to contain the coronavirus, and want to open the economy back up for business before November — regardless of the ramifications for public health. Trump can't order an end to the stay-at-home orders himself: that's up to individual governors and mayors. But he can try to use the states' dire financial circumstances as leverage to force them to reopen. The Trump administration believes "if Congress keeps cutting checks for state and local governments, they will be disincentivized to open up their economies," Politico reported over the weekend. "The thinking among some Trump administration officials is that many states should be reopening their governments soon and that additional funding could deter them from doing so," Axios added. Basically, if Congress helps the states, that holds off the budgetary reckoning of the economic shutdown, allowing governors more leeway to continue the stay-at-home orders if they so choose. It's hardly a brilliant plan, and could very likely backfire either way: If governors follow public health guidance and continue lockdowns for weeks or months to come, Trump risks driving the recession deeper (by denying the states and localities aid), but if they give in (by reopening the economy sooner), it would invite a second round of coronavirus infections which would also hurt Trump's re-election chances and likely delay any economic recovery. But given the reporting, that seems to be where the GOP's thinking is heading, regardless of the White House's assurances that they’re happy to save state and local aid for later. (Jeff Spross)
Ich glaube, ich habe schon einmal über Mörder an den Regierungsschaltstellen geschrieben. Um noch einmal vier Jahre lang in der Lage zu sein, Richterposten zu besetzen und den Superreichen Steuergeschenke zu machen, sind diese Leute bereit, über zehntausende von Leichen zu gehen. Bereits jetzt hat die Corona-Epidemie in den USA mehr Opfer gekostet als der Vietnamkrieg. Würde man die Beschränkungen jetzt aufheben, damit Trump nachher eine halbwegs ordentliche Statistik hat, würde das sich noch als laues Lüftchen ausnehmen. Rechtspopulisten wählen ist lebensgefährlich. Man sieht das um die ganze Welt.

5) Die „Völker­wan­de­rung“ kennt keine Völker
Hier kris­tal­li­sieren sich Elemente eines simpli­fi­zie­renden Vorstel­lungs­kon­glo­me­rats aus, mit dem wir alle sozia­li­siert worden sind und das wir daher ganz unwill­kür­lich abrufen, sobald der Terminus ‚Völker­wan­de­rung‘ fällt. Damit schaffen wir unre­flek­tiert einen Verständ­nis­ho­ri­zont, wenn seit 2015 vermehrt von einer „neuen Völker­wan­de­rung“ gespro­chen wird – und wer sich im öffent­li­chen Diskurs entspre­chend äußert, evoziert nur selten unbe­dacht spezi­fi­sche Asso­zia­tionen: Massen­mi­gra­tion führt in Zerstö­rung und eine unge­wisse Zukunft, über deren Gestal­tung wir allmäh­lich die Hoheit verlieren. Der Althis­to­riker Alex­ander Demandt hat just mit diesem Nexus gespielt, als er im Januar 2016 in der FAZ einen viel­dis­ku­tierten Beitrag über Völker­wan­de­rung und das Ende Roms mit den Worten beschloss: „Über­schau­bare Zahlen von Zuwan­de­rern ließen sich inte­grieren. Sobald diese eine kriti­sche Menge über­schritten und als eigen­stän­dige hand­lungs­fä­hige Gruppen orga­ni­siert waren, verschob sich das Macht­ge­füge, die alte Ordnung löste sich auf“. Ist diese Analogie gerecht­fer­tigt? Vermut­lich nicht. [...] Doch auch die ‚Völker­wan­de­rung‘ selbst ist inzwi­schen weit­ge­hend dekon­stru­iert und in andere Sinn­zu­sam­men­hänge einge­bettet worden. Jene ‚Völker‘, die bis in jüngste Zeit als wandernde Einheiten beschrieben wurden, haben als solche nie exis­tiert. Die Vorstel­lung, homo­gene Enti­täten hätten sich um die Zeiten­wende in Skan­di­na­vien auf den Weg gemacht, um Jahr­hun­derte später als Vandalen, Goten, Burgunder oder Franken in die römi­sche Welt einzu­dringen, beruht auf einem roman­ti­schen Volks­be­griff des 19. und frühen 20. Jahr­hun­derts, der sich empi­risch (in den Geschichts- und Sozi­al­wis­sen­schaften sowie der Ethno­logie) und histo­risch (durch seine Wendung ins Rassis­ti­sche, gipfelnd in der Kata­strophe des Holo­caust und des 2. Welt­kriegs) als obsolet erwiesen hat. (Mischa Meier, Geschichte der Gegenwart)
Als kleine persönliche Note, bei Mischa Meier habe ich seinerzeit in Tübingen auch studiert. Leider nur ein Hauptseminar (über das Prinzipat), weil Professor Meier der mit Abstand beliebteste Dozent und seine Seminare stets deutlich überfüllt waren. Aber positive Erinnerungen nichtsdestotrotz. Zum Thema: Es gibt viele historische Konzepte, die in der breiten Öffentlichkeit von Klischees diktiert sind, die gut und gern ein Jahrhundert alt sind. Das betrifft vor allem solche Themen, die in selbiger breiten Öffentlichkeit schon lange nicht mehr diskutiert wurden und wo die wissenschaftlichen Fortschritte seither nicht breit rezipiert wurden. Das ist bei der Völkerwanderung sicherlich der Fall, wo die Konzepte noch aus dem 19. Jahrhundert stammen, gerne auch mit veralteten Rezeptionen der Nibelungensage vermischt. Das ist üblicherweise kein Problem; wenn es um obskure Themen wie den österreichischen Erbfolgekrieg geht, nutzt ja niemand diese als Metapher im politischen bzw. gesellschaftlichen Bereich. Aber gerade wenn Narrative durch einfache Metaphern wie "Völkerwanderung" gebildet werden, sollte wenigstens der gröbste Unsinn gefiltert werden.

6) Tweet
Und genau deswegen ist es wichtig, dass Leute auf ihre Sprache achten, und das gilt im verstärkten Maße für jene, die unter dem Schutz des Grundgesetzes meinungsbildend tätig sind. Diese Rechte sind für eine Demokratie unabdingbar, aber mit großer Macht kommt eben auch große Verantwortung. Und was hier betrieben wird, ist verantwortungslos und ein weiteres Beispiel für gefährliche Sprache.

7) Disney zahlt mehr als 100.000 Mitarbeitern kein Gehalt mehr
Der Disney-Konzern setzt ab dieser Woche die Gehaltszahlungen für mehr als 100.000 seiner Mitarbeiter aus, wie die „Financial Times“ berichtet. Das entspricht fast der Hälfte der gesamten Belegschaft. Betroffen sind sogenannte Besetzungsmitglieder in Themenparks und Hotels in Europa und den USA, die wegen der Coronavirus-Pandemie seit fast fünf Wochen geschlossen sind. Mit der Aussetzung der Gehaltszahlungen will der Unterhaltungskonzern bis zu 500 Millionen Dollar pro Monat einsparen. Durch die Entscheidung sind die Mitarbeiter von Disney auf staatliche Leistungen angewiesen – öffentliche Unterstützung, die sich in den kommenden Monaten auf Hunderte von Millionen Dollar belaufen könnte – während das Unternehmen Bonusprogramme für Führungskräfte und eine im Juli fällige Dividendenzahlung in Höhe von 1,5 Milliarden Dollar nicht antasten will. (Handelsblatt)
Man muss bewundern, mit welcher Offenheit die Chefetagen großer Unternehmen dieser Tage in die eigene Tasche wirtschaften. Ohne jedes Verantwortungsgefühl werden zehntausende von Existenzen der eigenen Mitarbeiter zerstört, aber bei sich selbst auch nur einen Cent einzusparen ist völlig unvorstellbar. Herbert Diess, der Vorstandschef von VW, fordert zwar mit großer Verve Milliarden an Steuergeldern als Hilfe für sein Unternehmen, weiß aber, dass "Boni- und Dividendenkürzungen das letzte Mittel" seien, an das er denkt. Unternehmen sind, auch wenn Stefan Pietsch das in seiner moralisierenden Romantik anders sieht, keine freien Verbände von Leuten, dir zur Schaffung wirtschaftlicher Güter zusammenkommen. Sie haben ein Ziel, und das ist Profit. Oft deckt sich dieses Ziel mit unseren gesellschaftlichen Zielvorstellungen, weil im Spiel von Angebot und Nachfrage Güter effizient erstellt und effizient allokiert werden. Aber eben nicht immer. Und die Unternehmer und Vorstandschefs wissen sehr bereitwillig die Hand für Staatshilfen offen zu halten, wenn der Deal für sie nicht aufgeht, und stehlen sich immer aus der Verantwortung, wo es um ihren eigenen Gewinn geht. Das gehört zur Marktwirtschaft, aber das heißt ja nicht, dass man das perfide Spiel auch noch mitspielen muss.

8) There Is No China Crisis
A proper U.S. strategy toward authoritarian capitalism in general and the Middle Kingdom in particular needs to appreciate the strengths and the weaknesses of the China model. Cold War hawks exaggerated Soviet capabilities, and today's China hawks do the same with the regime in Beijing. Even if one accepts that China poses a significant threat to the American way of life, the optimal response is far removed from the actual response we are witnessing today. Indeed, it seems as though much of the policy response to China is predicated on a loss of self-confidence by the United States. Debates about China are stalking horses for debates about what is wrong with America. [...] What did policy makers get wrong? Back in the day, liberal internationalists made two arguments about why China's participation in the global economy was in America's national interest. First, if China traded more with the rest of the world, it would alter that country's domestic political character. Economic freedom within the People's Republic would increase, leading to more economic affluence. These factors would nudge China into the same political evolution that its Northeast Asian neighbors experienced: greater demands for the rule of law, followed by political liberalization. No policy maker believed this would happen overnight; the Clinton speech quoted above is chock-full of caveats. The overarching belief, however, was that over time China would start to resemble, say, South Korea. The second argument was not about changing the character of Chinese politics but about altering the existing regime's incentives to disrupt the liberal international order. This logic was simple: The more that China needed the rest of the global economy to fuel its economic growth, the less Beijing would act like a "revisionist" state and the more it would act like a status quo power. [...] As long as China's government acts in a repressive manner, there can and should be limits to the economic relationship. In winner-take-all sectors, prohibiting Chinese predatory practices makes sense. Yet the United States trades with allies that have similarly abysmal human rights records, from Honduras to Saudi Arabia. During the Cold War, we cooperated with the Soviet Union on arms control, space research, and other areas. (Daniel W. Dredzner, Reason.com)
Es ist absolut korrekt, dass die obigen Prognosen bislang nicht eingetroffen sind. Chinas Wirtschaft wächst zwar immer noch massiv und schließt mit rapider Geschwindigkeit die Lücke zur westlichen Welt, aber von größeren Freiheiten oder einer Liberalisierung des Landes ist bisher wenig zu sehen. Es scheint, als hätten die chinesischen Kommunisten den Schlüssel gefunden, eine autoritäre Diktatur aufrechtzuerhalten und gleichzeitig Wirtschaftswachstum zu haben. Oder auch nicht. Denn den jetzigen Zustand fort zu schreiben ist gefährlich. Auch die Sowjetunion sah während der Stagflation der 1970er Jahre für viele Beobachter so aus, als würden für sie die üblichen Gesetze nicht gelten, als ob sie hohen Lebensstandard UND Sozialismus unter einen Hut bekommen würde. Zwei Dekaden später brach das bankrotte, marode System in sich zusammen. Seither "wissen" wir alle, dass es so kommen "musste". Wie immer macht die Rückschau alles klarer. Möglicherweise ist China der bislang erste Staat, der ohne Liberalisierung einen westlichen Lebensstandard schafft. Aber zwei andere Szenarien sind durchaus denkbar. Erstens könnte die Liberalisierung immer noch eintreten. Das wäre quasi das bestmögliche Szenario. Oder aber das chinesische Wirtschaftswunder ist, wie auch das sowjetische seinerzeit, eine Mirage. Wenn ein Staat so weit zurücklag wie China (oder eben damals die Sowjetunion) ist es nicht schwer, den Abstand zu verringern. Ihn aber nachhaltig aufzuschließen ist deutlich schwerer und bislang noch keinem Staat ohne Liberalisierung gelungen. Durchaus also möglich, dass in 10, 20 Jahren völlig "offensichtlich" ist, dass das chinesische Wachstum nicht nachhaltig sein konnte und wir die Prognosen der künftigen chinesischen Stärke mit dem gleichen Lächeln begutachten, wie wir heute die wirren Prognosen über die künftige japanische Dominanz aus den 1980er Jahren sehen. Prognosen bleiben schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen.

9) Mutiert die taz zum Regierungsblatt?
Die Beobachtung, das manche taz-Kommentare die Regierung loben, ist völlig richtig: Tatsächlich fand sich in der taz in letzter Zeit weniger Kritik an der Bundesregierung als zu anderen Zeiten. Und, bitte glauben Sie uns: Auch für einen taz-Redakteur, der es gewohnt ist, erst mal alles zu hinterfragen und vieles zu kritisieren, ist es ein seltsames Gefühl, ein Papier aus dem Innenministerium oder eine Ansprache der Kanzlerin einfach nur zu loben. Aber dass wir das tun, liegt nicht daran, dass wir das kritische Denken plötzlich eingestellt hätten. Im Gegenteil: Wir recherchieren mindestens so intensiv und hartnäckig wie sonst – kommen aber derzeit bei Abwägung aller bekannten Fakten zu der Einschätzung, dass das Vorgehen der Regierung im Großen und Ganzen richtig ist. Dafür, dass von dem neuen Coronavirus eine ernsthafte Gefahr ausgeht und die Gegenmaßnahmen erforderlich sind, gibt es – leider – gute Argumente, für das ­Gegenteil dagegen nicht. Wenn eine taz-Autorin oder ein taz-Autor Maßnahmen der Regierung gutheißt, tut sie oder er das, weil er sie nach einer kritischen Prüfung inhaltlich für richtig befindet, nicht um irgendwem zu gefallen. Als Angela Merkel im Jahr 2015 die Grenzen für Geflüchtete offen ließ, lobten taz-Kommentatoren die Kanzlerin auch – weil sie ihre humanitäre Haltung unterstützten. Als Merkel wenig später mit anderen EU-Staaten die Europäische Union abschottete und Asylrechtseinschränkungen beschloss, wurde sie von uns scharf kritisiert. Auch wenn die taz eine lange Geschichte als Teil der „Gegenöffentlichkeit“ hat: Etwas zu schreiben, was wir eindeutig für falsch halten, nur um uns vom sogenannten „Mainstream“ zu unterscheiden, kann und darf nicht der Anspruch einer intelligenten Zeitung sein. Kritik aus Prinzip ist nicht mehr als eine Pose. Gute Argumente eines Gegenübers zu ignorieren, weil er auf der vermeintlich falschen Seite steht, ist Ideologie. (Malte Kreuzfeld/Ulrich Schulte, taz)
Es ist spannend zu sehen, dass ich nicht der einzige bin, der plötzlich in der wirren Lage ist, eine CDU-Kanzlerin verteidigen zu müssen und dafür aus allen möglichen Richtungen hart angegangen wird. Die taz bringt es hier ziemlich auf den Punkt. Einerseits ist das Krisenmanagment der Bundesregierung im Großen und Ganzen ziemlich ordentlich. Und andererseits ist es intellektuell unredlich, einfach immer dagegen zu sein, nur um dagegen zu sein. Da könnte ich ja gleich für die NachDenkSeiten schreiben.

10) Warum wir gerade lieber Drosten als Sloterdijk hören
So stellte sich ein seltsamer Effekt ein: Durch die Corona-Pandemie befinden wir alle uns in einer völlig einmaligen Lage, das Virus ist neu, die Faktenlage unsicher, sichere Prognosen sind unmöglich. Aber die Begriffe, mit denen die großen Theoretiker daherkommen, sind ihre alten. Sie sagen einfach, was sie immer schon gesagt haben; nehmen ihre bekannten Erklärungsmuster, stülpen sie der gegenwärtigen Situation über – und nichts Neues geht daraus hervor. Auch deshalb verfolgt man die Aussagen etwa des Virologen Christian Drosten so gebannt, weil dieser seine Position wegen neu vorgelegter Studien und gerade gewonnener Ergebnisse von Folge zu Folge seines bekannten Podcasts bei NDR-Info immer wieder überdenkt, revidiert und die Bedingungen und Grenzen seiner Erkenntnis dabei reflektiert. Das ist nicht nur hochspannend, sondern auch deswegen faszinierend, weil er uns so am komplexen Prozess der Theoriebildung und neuen Erkenntnisgewinnung praktisch live teilhaben lässt. [...] Der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl gehört zu denen, die, wie er das nennt, der „hektischen diskursiven Produktivität“, die man gerade beobachten könne, skeptisch gegenübersteht. „Jede so genannte Krise erzeugt Deutungsnötigung und Deutungsnot“, sagte er kürzlich in der Kunstzeitschrift „Monopol“: „Man kämpft um hermeneutische Vorsprünge, sieht seine lange Zeit ausgefeilten Positionen und Wahrheiten in der Katastrophe bestätigt. Alles wird von allen gesagt und dann noch einmal wiederholt, überboten und variiert.“ Allerdings glaube er nicht, und zwar ganz grundsätzlich, dass sich theoretische Diskurse jetzt weiter so fortsetzen ließen, als wäre nichts geschehen. „Es fehlt das Eingeständnis, dass sich die gegenwärtige Situation nicht auf eine Generalformel bringen lässt.“ [...] „Dann dürfte die Abwägung in den manifesten Konflikten zwischen Sterberaten und Schutzmaßnahmen, Partikularinteressen und Gemeinwohl, Liberalität und Regierungsmacht schnell unübersichtlich werden und in die quälende Prüfung von Einzeldramen hinüberführen.“ Und diese neue Unübersichtlichkeit, die man dann zu akzeptieren habe, lasse sich eben nicht durch die Berufung auf ein Prinzip auflösen. [...] Die Corona-Krise ist, so gesehen, eine „Krise der Intellektuellen“ nur da, wo es nicht zur Unterbrechung theoretischer Selbstgewissheit kommt. (Julia Encke, FAZ)
Viele Disziplinen haben gerade das Problem, dass einige ihrer Exponenten schon immer ziemliche Dampfplauderer waren, aber das angesichts der Corona-Krise besonders deutlich wird. Was etwa soll man von einem Theater-Intendanten halten, der es für den Höhepunkt demokratisch-bürgerschaftlichen Engagements hält, "sich von Merkel nicht sagen zu lassen mir die Hände zu waschen"? Wie kindisch geht es denn noch, bitte? Von Journalisten wie Augstein und Fleischhauer ganz zu schweigen. Sloterdijk ist sowieso unterirdisch, aber schon seit Jahren. Dagegen ist ein Drosten, der charismatisch und verständlich kommuniziert, natürlich deutlich attraktiver. Ich denke aber auch, dass Drostens offensiver Umgang mit den Grenzen des eigenen Wissens ein Kontrast ist, dessen Wert vielen Interessierten erst jetzt deutlich wird (und sind wir mal ehrlich, diese Diskurse sind Elitendiskurse). Ähnlich wie beim Wert von Entschuldigungen ist das eigentlich Faszinierende, dass die Leute so überrascht sind, dass jemand zugibt, nicht alles zu wissen und seine Einschätzung mit der sich ändernden Faktenlage anzupassen. So sollte es eigentlich sein. Leider fürchte ich, dass dies nicht zum Anlass genommen werden wird, einmal grundsätzlicher über die Mechanismen unserer Diskurse nachzudenken.

11) Why Mitch McConnell Wants States to Go Bankrupt
Bankruptcy, by contrast, is a legal process in which a judge decides which debts will be paid, in what order, and in what amount. Under the Constitution, bankruptcy is a power entirely reserved to the federal government. An American bankruptcy is overseen in federal court, by a federal judge, according to federal law. That’s why federal law can allow U.S. cities to go bankrupt, as many have done over the years. That’s why the financial restructuring of Puerto Rico can be overseen by a federal control board. Cities and territories are not sovereigns. Under the U.S. Constitution, U.S. states are. Understand that, and you begin to understand the appeal of state bankruptcy to Republican legislators in the post-2010 era. [...] A state bankruptcy process would thus enable a Republican Party based in the poorer states to use its federal ascendancy to impose its priorities upon the budgets of the richer states. [...] When Cuomo protested McConnell’s bankruptcy idea, the New York governor raised the risk of chaos in financial markets. But McConnell does not advocate state bankruptcy in order to subject state bondholders to hardship. Obviously not! When McConnell spoke to Hewitt about fiscally troubled states, he did not address their bond debt. He addressed their pension debt. State bankruptcy is a project to shift hardship onto pensioners while protecting bondholders—and, even more than bondholders, taxpayers. Republican plans for state bankruptcy sedulously protect state taxpayers. The Bush-Gingrich op-ed of 2011 was explicit on this point. A federal law of state bankruptcy “must explicitly forbid any federal judge from mandating a tax hike,” they wrote. You might wonder: Why? If a Republican Senate majority leader from Kentucky is willing to squeeze Illinois state pensioners, why would he care about shielding Illinois state taxpayers? [...] But McConnell seems to be following the rule “Never let a good crisis go to waste.” He’s realistic enough to recognize that the pandemic probably means the end not only of the Trump presidency, but of his own majority leadership. He’s got until January to refashion the federal government in ways that will constrain his successors. That’s what the state-bankruptcy plan is all about. McConnell gets it. Now you do, too. (David Frum, The Atlantic)
Und noch ein Beispiel für die abgrundtiefe Bosheit, mit der Mitch McConnell im Speziellen und die Republicans im Allgemeinen die Corona-Krise ausnutzen. Wie Rechtsextremisten überall, ob in Brasilien oder Ungarn oder in Washington, haben sie kein Problem damit, eine humanitäre Krise als Hebel zu nutzen um sich und ihren Verbündeten die Taschen zu füllen und ihre Ideologie durchzusetzen. Es ist so unglaublich widerwärtig, ich will mich immer duschen wenn ich von McConnell nur ein Foto sehe.

Bücherliste April 2020, zweite Hälfte

Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Je nachdem wie sich das einpflegt werde auch auch auf andere Medien und Formate eingehen, die ich als relevant empfinde. Vorerst ist das Verfahren experimentell, bitte gebt mir daher entsprechend Feedback! Dieser Monat ließ sich so produktiv an, dass ich ihn in zwei Hälften spalte. Bisher gelesen: Wie man Diktator wird, warum das Römische Reich gar nicht so toll war, deutsche Gesellschaftsgeschichte, Alltag in Rom und Barcamps. Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: Politische Bildung und Militär.

Frank Dikötter - How to be a dictator (Frank Dikötter - Populismus, Diktator werden und die Wege zur Macht)

Frank Dikötter hat Erfahrung mit Diktaturen; er schrieb einige grandiose Bücher über Maos Massenmorde. Eines davon - Maos großer Hunger - habe ich seinerzeit besprochen. In diesem Buch geht Dikötter einen anderen Weg und sieht sich insgesamt sieben Diktatoren an, beschreibt deren Weg zur Macht und wie sie sich darin gehalten haben (oder eben auch nicht). Der Untertitel der englischen Ausgabe über "the cult of personality" bezieht sich auf einen entsprechenden Grundlagentext der Totalitarismustheorie aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, in dem postuliert wurde, dass Diktatoren ihre eigene Person verherrlichen und überhöhen und über dieses Instrument herrschen. Dikötter überarbeitet diese These dahingehend, dass er eine Grundlinie der untersuchten Diktatoren ausmacht, in der politische Ideologie und theoretische Abfassungen keine große Rolle spielen. Unterschiede zwischen Hitler, Mao oder Papa Doc entstehen da dann mehr darüber, welche Mittel ihnen zur Verfügung stehen und welche Sozialisation sie haben, als ob sie links oder rechts sind. Das ist sicherlich ein richtiger Ansatz. Ob man von einem kommunistischen Diktator ermordet wird oder einem faschistischen ist recht egal, genauso wie irrelevant ist, ob eine Geheimpolizei Jubeln auf Massenveranstaltungen Stalins oder Mussolinis erzwingt. Der Ansatz führt aber zu einem interessanten ästhetischen Effekt. Die insgesamt sieben Kapitel sind ungemein repetitiv. Ob Stalin oder Hitler, Kim Il-Sung oder Ceauscau, jedes Mal sieht man denselben Prozess. Der Diktator wird von seinen Gegnern unterschätzt. Oftmals glauben sie, ihn kooptieren zu können. Er präsentiert sich als Diener einer Partei oder Bewegung. Dann eliminiert er seine Gegner, ignoriert Partei und Bewegung und installiert einen Personenkult. Das Interessante ist auch, dass der Personenkult selbst sich so unglaublich ähnelt. Alle Diktatoren präsentieren sich in ihrer Propaganda als detailverliebte Micromanager. Alle präsentieren sich als ernste und strenge Väter für ihr Volk; die meisten von ihnen ändern dieses Image dann zum liebend-nachsichtigen Landesvater, sobald sie die Macht haben (natürlich ohne die Massenmorde oder Polizeiwillkür einzuschränken). Diese Ähnlichkeiten sind alle sehr verblüffend. Der Leser wird durch die Struktur auch dazu angehalten, diese Schlussfolgerungen selbst zu ziehen, denn Dikötter gibt, abgesehen von einem kurzen Fazit, keine Analyse, sondern beschreibt nur. Normalerweise sehe ich so etwas als krasses Manko, aber die Analyse kommt in dem Fall wirklich durch die Repitition in der Struktur des Buches und zwingt die Aufmerksamkeit des Lesers geradezu auf die Gemeinsamkeiten. Ich könnte noch viel mehr über dieses Buch schreiben, aber stattdessen empfehle ich die Lektüre. Es lohnt sich.

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Walter Scheidel - Escape from Rome

Eine Frage, die Historiker nicht loslässt, seit es die Geschichtswissenschaft gibt, ist die: Warum schickte sich ausgerechnet Europa an, die Industrielle Revolution auszulösen und sich die Welt untertan zu machen? Von den kruden rassistischen Thesen der ersten Historiker im 19. Jahrhundert über nationalistischen Blödsinn zu marxistischen Theorien sind alle möglichen Erklärungen bedient worden. Vieles ist wesentlich zu deterministisch oder mit grobem Pinsel gezeichnet. Letzteres lässt sich bei dem Riesenthema nicht ganz vermeiden, aber Walter Scheidel gelingt es besser als vielen anderen, das Problem unter Kontrolle zu halten. Seine Theorie ist im Grundsatz ebenso simpel wie bestechend: Der große, alles entscheidende Faktor war das Römische Reich. Allerdings nicht seine Existenz oder sein Erbe. Sondern vielmehr sein ersatzloser Untergang. Für Scheidel liegt die zentrale notwendige (wenngleich nicht hinreichende!) Bedingung am Aufstieg Europas darin, dass der Kontinent seit dem Ende des weströmischen Reiches nicht mehr unter imperialer Herrschaft geeint war. Es steht Scheidel gut zu Gesicht, dass sein Buch einem ungeheuer stringenten und logischen Aufbau folgt. Wir erfahren zuerst, warum das Römische Reich überhaupt so erfolgreich war und entstehen konnte, wo vorher und danach zahlreiche andere Aspiranten scheiterten. Danach legt Scheidel seine Argumentation dar, weshalb es unterging, ehe er beginnt, mit präzise begrenzten kontrafaktischen Szenarien zu fragen, wer seinen Aufstieg hätte bremsen können oder wer es danach retten beziehungsweise hätte restaurieren können. Diese Fragestellungen legen die Grundlage des Werks, und die Antworten Scheidels sind bereits hier faszinierend. Nur in aller Knappheit grob zusammengefasst sieht er im Aufstieg Roms eine nie wieder erreichte Kombination innerer Faktoren (Organisation, Fiskalsystem, militärische Tiefe) und äußeren Faktoren (keine ebenbürtigen Konkurrenten), die zu einem potenten Gebräu vermischt werden. Weder kann Rom 200 Jahre vor oder nach seinen Erfolgen reüssieren, noch ist es möglich, seinen Erfolg zu wiederholen. Dies macht Scheidel anhand aller möglichen Aspiranten von den Arabern über die Karolinger zu Merowingern, Mongolen, Habsburgern, Osmanen, Spaniern und Franzosen deutlich. Mit diesen kontrafaktischen Szenarien aus dem Weg wendet sich Scheidel mehreren Faktoren wie etwa der Geographie, den Institutionen und der Kultur zu. Dabei arbeitet er eine spannende Argumentation heraus. Im Vergleich besonders mit China zeigt er auf, warum in Europa aus geographischen Gründen kein neues Imperium entstehen konnte. Gleichzeitig macht er aber - wie bei den anderen Faktoren auch - stets deutlich, was notwendige und was hinreichende Bedingungen sind. Letzteres entsteht eher durch das ganze Bündel. In die primitive Arena des geography is destiny bewegt sich Scheidel glücklicherweise nicht. Die Beweisführung hierfür erbringt er, indem er diverse kontrafaktische Szenarien durchspielt, etwa die Position Europas und Asiens vertauscht und so China die Möglichkeit gibt, Amerika zu entdecken. Dabei ist deutlich sichtbar, dass neben der Geographie andere Faktoren entscheidend sind. Unter diesen hebt Scheidel vor allem den kompetitiven Partikularismus Europas heraus, der unter anderem die Herausbildung eines Bankenwesens und damit die Versorgung mit Kapital ermöglichte. Auch der ständige (militärische!) Wettkampf unter den europäischen Staaten sorgte für großen Innovationsdruck, ohne die politischen Verhältnisse entscheidend zu verändern. Wenig Gewicht gibt Scheidel solchen Faktoren wie Verfassungstheorie oder Religion. Scheidel lässt keinen Zweifel daran, dass das Christentum in einem imperialen Einheitsstaat niemals das mächtige Gegengewicht zur monarchischen Autorität geworden wäre, das es im kompetitiven Partikularismus Europas war. Insgesamt ist Scheidels These, dass Imperien gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, technologischen und politischen Fortschritt verhindern statt befördern und dass es gerade der Partikularismus Europas war, seine "Flucht von Rom", die seinen beispiellosen Fortschritt erst ermöglicht hat. Angesichts der verbreiteten Vorstellung Roms von der Spitze der europäischen Zivilisation bis mindestens 1750 ist das eine mehr als notwendige Revision. Seine Theorien sind insgesamt deutlich ausführlicher begründet, als dem meine winzige Zusammenfassung hier Gerechtigkeit widerfahren lassen kann. Die Beschäftigung mit dem Buch kann nur dringend empfohlen werden; sie ist gedanklich mehr als nur fruchtbar.

Robert Knapp - Römer im Schatten der Geschichte

Ich hab dieses Buch auf eine Empfehlung von unserem Kommentator cimourdain besorgt, weil ich im März kritisiert hatte, wie schlecht die "Alltagsgeschichte" der Great Courses ist. In diesem Buch unternimmt es der Autor Robert Knapp, anhand verschiedener Gesellschaftsschichten ein Bild des Alltags zu entwerfen. Seine explizite Ausklammerung aller Quellen, die sich mit dem Leben der Elite beschäftigen, allein ist schon ein Fortschritt gegenüber dem Machwerk der Great Courses; dass er auch alle Quellen ausschließt, die die Elite über das Leben der unteren Schichten geschrieben hat (eine bereits sehr dünne Auswahl!) und die sich mit dem Leben des Plebs in Rom selbst beschäftigen ist sicherlich folgerichtig, schafft aber auch das Problem, dass Knapp auf eine ungemein schmale Quellenbasis angewiesen ist. Das muss natürlich kein Ausschlusskriterium sein und ist es auch nicht. Knapp arbeitet sehr sauber und zeigt ausführlich auf, auf welcher Basis er zu seinen Urteilen kommt. Die extensiven Quellennachweise und langen Quellenauszüge tragen zu dieser Grundlage zwar bei, schränken aber in meinen Augen die Lesbarkeit deutlich ein. Das ist aber Meckern auf hohem Niveau. Knapp entwirft ein zwar notwendig unvollständiges, aber selten gesehenes und spannendes Bild des römischen Alltagslebens. Dabei fallen einige Komponenten besonders auf. Das erste ist die sehr prekäre Situation vieler Römer; Unterbeschäftigung und Hunger sind ständige Begleiter von mindestens zwei Dritteln der römischen Bevölkerung. Die unteren 95% sind zudem von der Elite praktisch vollständig abgekapselt und haben keine Berührungspunkte; wo es diese gibt, sind sie immer zum Nachteil der unteren Schichten. Obwohl das Leben furchtbar hart und die ökonomische Ungleichheit gewaltig ist, wird das schicksalhaft hingenommen. Dasselbe gilt auch für die Rolle der Frauen. Knapp lässt keine Zweifel daran, dass in diesen ohnehin schon nicht beneidenswerten Lebensumständen die Frauen noch einmal deutlich schlechter dran waren, aber es für sie unvorstellbar war, gegen die Strukturen aufzubegehren und sich Freiräume zu erkämpfen. Diese Passivität aller unteren Schichten und benachteiligten Gruppen findet sich ja auch effektiv bis zur Entstehung der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert, was für Knapp zwar kein Thema ist, sich mir als Erkenntnis aber durchaus aufdrängt. Auch die Rolle von Sklaven und Freigelassenen wird analysiert. Spannend hier ist, dass die Sklaven einerseits "nur" maximal 15% der Bevölkerung ausmachten, aber andererseits - weil Sklaverei bei den Römern nicht rassistisch geprägt war - nicht von Freien zu unterscheiden waren. Das Verhältnis der Römer zu Sklaven war daher auch ein ganz anderes als das der Südstaaten-Plantagen später in den USA. Ebenso spannend ist die Betrachtung des Lebens des einzelnen Soldaten. Ich will an dieser Stelle noch einmal Philip Matsyzaks "Karrieführer" in der römischen Armee empfehlen, den ich 2014/15 und 2015/17 besprochen habe und der ebenfalls grandios ist. Knaupp legt in seiner Betrachtung viel Gewicht auf die privilegierte Rolle der Soldaten und wie diese sie gegenüber der Bevölkerung ausnutzten. Einem Soldaten zu begegnen konnte durchaus lebensgefährlich sein; schädlich war es praktisch immer. Weitere Kapitel befassen sich mit Gladiatoren und Banditen. Während die Existenz ersterer erstaunlich wenig mit dem Klischee gemeinsam hat - die Überlebenschancen der Gladiatoren im Kampf waren deutlich besser als man denkt, wenngleich die durchschnittliche Lebenserwartung aus anderen Gründen schlecht war - ist es immer wieder erstaunlich, wie wenig eine Entität wie das römische Reich gegen die allgegenwärtige Wegelagerei unternahm. Wie viel schlimmer musste das erst unter Regimen sein, die nicht die interne Kohäsion des Imperium Romanum aufwiesen? Ein notwendiges Problem des gewählten Aufbaus ist, dass die Vergleichskategorien zu kurz kommen, weil jedes Kapitel eine abgeschlossene Gruppe betrachtet und so weniger ein Gesamtbild entworfen als ein Mosaik gelegt wird - ein Mosaik, das notwendigerweise unvollständig bleibt und mit vorhandenen Kenntnissen ergänzt werden muss. Das spricht nicht gegen das Werk, macht es aber für Anfänger nur bedingt geeignet.

Hans-Ulrich Wehler - Deutsche Gesellschaftsgeschichte Band 5: 1949-1990

Hans-Ulrich Wehlers "Deutsche Gesellschaftsgeschichte" ist eines der großen Werke, die es nur selten gibt: Der Versuch eines renommierten Historikers, eine riesige Synthese des gesamten Forschungsbereichs zu leisten. In fünf Bänden - das hier ist der letzte - unternimmt es Wehler, die gesamte Gesellschaftsgeschichte abschließend zu beleuchten. Wer jetzt denkt, dass das eine ganz schöne Informationsdichte voraussetzt, liegt richtig. Leichte Kost ist das hier nicht. Besonders für den vorliegenden Zeitraum muss Wehler ja auch permanent die BRD und die DDR gegenüberstellen. Der Vergleich ist oft instruktiv, wenngleich er für die BRD wesentlich ausführlicher ausfällt als für ihren östlichen Nachbarstaat. Angesichts des Umfangs von Wehlers Projekt darf man erwarten, dass der Mann mit einem gewissen Selbstbewusstsein an die Sache herangeht. Nicht jeder würde sich diese Synthese schließlich zutrauen. An diesem Selbstbewusstsein fehlt es Wehler jedenfalls nicht. In Nebensätzen werden KollegInnen aller gesellschaftswissenschaftlichen Fachrichtungen abqualifiziert, ganze Denkrichtungen für fehlgeleitet erklärt oder als die richtige Herangehensweise geadelt. Das Lesen macht dies besonders dann anstrengend, wenn man die Leute gar nicht kennt - Wehler setzt eine große Belesenheit seines (Fach-)Publikums in diesem Feld durchaus voraus; mir waren viele der Namen unbekannt. Die Tendenz zu großen Urteilen erstreckt sich auch auf den Fachgegenstand selbst. Wehler schreckt nicht davor zurück, abschließende Werturteile zu zahlreichen Themen zu treffen. Das ist vor allem deswegen erträglich, weil er einen sehr eigenen Standpunkt hat, bei dem sich wohl jedeR in der einen oder anderen Position wiederfindet und bei der einen oder anderen auf die Füße getreten fühlt. So macht Wehler aus seiner Abneigung gegen die 68er und alle Reformbestrebungen im Universitätssektor keinen Hehl ("Demokratisierung im Wissenschaftsbetrieb ist dysfunktional"), beklagt aber auf der anderen Seite wortreich die anhaltende Unterdrückung der Frau, nur um zwei Beispiele zu nennen. Schwer lesbar ist das Buch aber auch, weil Wehler der Überzeugung zu sein scheint, dass das Fremdwort gegenüber seinem deutschen Synonym grundsätzlich zu bevorzugen sei. Warum "hier und jetzt", wenn man "hic et nunc" schreiben kann? Warum "bedauerlich", wenn man mit "deplorabel" über eine nachschlagenswerte Alternative verfügt? Der schwere Jargon zieht sich durch das komplette Werk. Ich fühlte mich ins Studium zurückversetzt, und nicht auf eine gute Art. Meine eigene Schreibe hat immer noch bleibende Schäden von dem, was uns damals beigebracht wurde. Bei Wehler sehen wir quasi das fortgeschrittene Stadium. Aber es hat letztlich seinen Grund, warum Wehlers "Deutsche Gesellschaftsgeschichte" seinen Platz im Kanon der großen historischen Übersichten hat. Seine Sachkenntnis ist unbestritten, und er schafft es, jedes Thema auf nur wenige Seiten zusammenzudampfen. Es sind nur extrem viele Themen, die hier angesprochen werden. Eigentlich müsste man sich beim Lesen Notizen machen, und ich werde gar nicht den Versuch unternehmen, hier irgendeine Best-Of zu starten. Daher: Wer sich für die Thematik interessiert und die Einstiegshürde nicht scheut, dem sei auch heute noch Wehlers Werk anempfohlen. Gerade für zwar einschlägig Interessierte, aber nicht vom Fach kommende Leser dürfte aber schnell Frustration aufkommen. Übersichtsdarstellungen sind nicht zwingend für Einsteiger geeignet. Wehlers jedenfalls ist es sicherlich nicht.

Jöran Muuß-Merholz - Barcamp &Co - Peer-to-Peer-Methoden für Fortbildungen Ich bin in meiner schulischen Funktion gerade dabei, einen Pädagogischen Tag zum Thema Digitaler Unterricht zu planen, und da ich ihn gerne als ein Barcamp organisieren würde, kam mir dieses Buch von Jöran Muuß-Merholz sehr gelegen. In leicht lesbaren, großzügig gelayouteten Seiten erklärt der Autor die grundsätzlichen Überlegungen hinter Peer-to-Peer-Fortbildungen und wie sie sich von klassischen Fortbildungen unterscheiden, gibt eine Einführung in die Funktion von Barcamps, ein Praxisbeispiel und schließlich zahlreiche Hilfen für die Organisation, ehe der Band mit einer Sammlung weiterer Peer-to-Peer-Methoden außerhalb der Barcamp-Methode abgeschlossen wird. Für diejenigen, die es nicht kennen: Das Barcamp ist eine dezentrale Fortbildung, bei der die TeilnehmerInnen selbst so genannte Sessions anbieten, also kurze Einheiten, weswegen man auch von TeilgeberInnen spricht - jeder nimmt und gibt gleichzeitig Input. Dieses offene Konzept ist natürlich insofern gefährlich, als dass es für die Veranstaltenden schwer planbar ist, welche Themen genau zum Zug kommen werden (außer dem Oberthema natürlich), aber der gewaltige Vorteil liegt gerade in der offenen Struktur und den Möglichkeiten, Dinge zu diskutieren, die gerade nicht vorgeplant und durchgekaut sind. Das Buch liefert hierfür sehr nützliche Hinweise und Leitplanken. Für meinen spezifischen Kontext waren nicht alle Teile notwendig - so war Marketing, Einladung und Logistik der Anreise angesichts der verpflichtenden Natur der Veranstaltung als pädagogischer Tag für mich eher irrelevant - aber die konkreten Beispiele, die Stichpunktlisten von Dingen auf die man achten muss und die kurzen Erklärungen, was eigentlich die grundsätzliche Idee hinter dem Konzept ist, sind hervorragend gelungen. Wer sich mit dem Gedanken trägt, ein Barcamp durchzuführen oder auch nur an einem teilzunehmen, ob als Session-AnbieterIn oder nicht, kann mit dem Werk wenig falsch machen.

ZEITSCHRIFTEN:

Aus Politik und Zeitgeschichte - Politische Bildung

Politische Bildung ist, sagen wir es höflich, ein umstrittenes Feld, schon immer gewesen. Wer daran zweifelt, bekommt hier einen Überblick sowohl über die Geschichte der politischen Bildung als auch ihre Funktionsweise in der Weimarer Republik. Aber das ist gar nicht das zentrale Thema. Der Schatten, der offensichtlich über dem gesamten Thema hing - oder das Damokles-Schwert, je nachdem - war die AfD mit ihrem unverhohlenen Kampf gegen die politische Bildung und ihren Versuchen massiver Einschüchterung des Lehrapparats. In diesem Kontext ist das Heft sehr willkommen, dessen erste Beiträge sich alle ausführlich an der Frage arbarbeiten, wie neutral LehrerInnen wirklich sein müssen. Dürfen sie die AfD im Unterrichtsgeschehen kritisieren? Ist es ihnen erlaubt, politische Präferenzen zu haben und diese auch zu zeigen? Ist die AfD einfach ein undemokratischer Haufen, der sich an totalitärer Einschüchterung des Bildungssystems versucht? Die Antwort lautet in allen Fällen ja und wird sowohl juristisch als auch didaktisch sauber begründet. Neben diesen Themen enthält das Heft auch ein Essay über den Bildungsbegriff als solchen, das ich allerdings als wenig spannend empfand; ich bin solchen Meta-Debatten gegenüber aber zugegebenermaßen auch grundsätzlich nicht sonderlich aufgeschlossen. Dazu gibt es den Blick über den Tellerrand nach Frankreich mit seinem laizistischen citoyen-Konzept, das seine ganz eigenen Probleme in diesem Bereich hat, und nach Brasilien, wo - wenig überraschend - die politische Bildung gerade vom rechtsextremistischen Präsidenten Bolsonaro und seiner Partei auseinander genommen wird.

Aus Politik und Zeitgeschichte - Militär

Im aktuellen Heft geht, es wenig überraschend, um das Militär. Die ersten drei Beiträge befassen sich dabei grob mit gesellschaftlichen Rückkopplungseffekten. Erst geht es um die Frage, inwiefern sich der Blick auf die Militärgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert geändert hat. Es ist immer wieder faszinierend, dass dieser Bereich wahnsinnig öffentlichkeitswirksam von (überwiegend miesen) Amateuren bespielt wird, während seriöse Historiker sich kaum damit beschäftigen. Hier gab es erst jüngst eine Trendwende. Wenig spektakulär ist dagegen ein Essay über die gegenseitige Verflechtung von Sozial- und Militärpolitik, was vor allem am Ergebnis liegt. Dafür kann der Autor natürlich wenig, er arbeitet nur sauber. Letztlich ist die Erkenntnis, dass zwar rhetorisch gelegentlich Alphabetisierung mit der Notwendigkeitkeit gebildeterer Rekruten begründet wurde; nachweisen lässt sich aber jenseits vereinzelter Rhetoriken kein Wirkungszusammenhang. Zuletzt in diesem Feld findet sich eine Untersuchung zum Wandel des Soldatenbilds; auch hier ist wenig überraschen festzuhalten, dass der Beruf in Deutschland kein sonderlich hohes Ansehen genießt, aber auch nicht sonderlich verachtet ist. "Freundliches Desinteresse" ist die Formulierung, die wohl auf breite Bevölkerungsschichten zutreffen dürfte. Etwas dornenreicher ist die Thematik vom Rechtsextremismus in der Bundeswehr. Warum es überhaupt diskussionswürdig ist, dass die Armee eine besondere Attraktivität auf Rechtsextremisten ausübt (wie auch die Polizei), erschließt sich mir nicht. In Journalismus und Bildungswesen finden sich bekanntlich auch besonders viele Progressive. Wenig überraschend, das alles. Technischer wird es mit einer Betrachtung de Fähigkeiten und des Ausrüstungsstands der Bundeswehr. Auch hier ist das Ergebnis eher zusammenfassender Natur; sonderliche Überraschungen sind nicht zu erwarten. Wesentlich spannender ist schon eine Untersuchung zu der Frage, wie Militärs auf der ganzen Welt in Regierungshandeln eingebunden sind. Die im 20. Jahrhundert noch so beliebte Regierungsform der Militärdiktatur ist fast ausgestorben; das Militär ist in vielen Ländern nicht mehr sonderlich in die Politik verwoben - dafür aber, und das ist ebenfalls ein Trend, häufig auch stark abgekapselt. Spannend. Abgeschlossen wird das Heft mit einer Untersuchung des "liberalen Militarismus", der mir aber etwas zu wolkig war. 

Samstag, 25. April 2020

Merkel und ich

Als Angela Merkel 2005 zum ersten Mal Bundeskanzlerin wurde, gehörte ich nicht eben zum Kreis ihrer Fans. Binnen kürzester Zeit wandelte sich das zu einer ausgeprägten Antipathie. Als ich im Juni 2006 zu bloggen anfing, war ich auf scharfem Linkskurs und ein eingeschworener Gegner der großen Koalition. Heute sehe ich mich immer wieder in der Rolle, Merkel vor ihren Kritikern in Schutz nehmen zu müssen. Bei der CDU habe ich trotz allem noch nie mein Kreuz gemacht, noch plane ich, das in der Zukunft zu tun. Woher also dieser Wandel in der Wahrnehmung? Habe ich mich verändert oder Merkel? Oder wir beide?

Obwohl ich Merkel zwischen 2005 und 2009 sicherlich nicht besonder schätzte, lag durch die gesamte erste Amtszeit der Fokus nicht so sehr auf ihrer Person, abgesehen vielleicht von meinem T-Shirt "Nicht meine Kanzlerin". Was man halt so trägt als linksgerichteter Student. Meine Beurteilung der Kanzlerin selbst deckte sich mit der Volker Pispers', der angesichts der damals recht positiven Berichterstattung über die Kanzlerin, die ihren Job gut mache, verzweifelt fragte: "Ja, was macht sie denn?"

Merkel pflegte bereits damals einen Regierungsstil des Über-den-Dingen-Schwebens. Sie überließ es ihrer Ministerriege, die Frontstellung im Rampenlicht zu füllen. Damit ist sie sicher gut gefahren. Meine Hassfigur in jenen Tagen war nicht die Kanzlerin. Diese Rolle kam solchen Bösewichten wie dem damaligen Innenminister Wolfang Schäuble ("Stasi 2.0", ich hatte das T-Shirt) zu, der auf jede Forderung nach einem weitreichenden Umbau des Grundgesetzes noch die Abschaffung eines weiteren Grundrechts hinzuzufügen wusste. Oder Wirtschaftsminister Wolfgang Clement, der mit einzigartiger Empathie die Hartz-IV-Reformen zu verteidigen wusste. Franz Müntefering, der gegen erbitterten Widerstand die Rente mit 67 durchsetzte. Aber nicht Merkel. Die war höchstens die, die solchen Schreckensgestalten politische Deckung gab, aber sie schien kaum selbst etwas leisten zu können.

Wie gesagt, das war politisch gesehen clever. Ein potenzieller Konkurrent nach dem anderen exponierte sich und brannte aus. Ob Friedrich Merz, ob Roland Koch, ob Christian Wulff, ob Günther Oettinger, die ganze Riege des Andenpakts und einige Affiliierte fielen sich selbst und Merkels Stoizismus zum Opfer. Es gab nur wenige, die ihnen nachweinten. An ihre Stelle rückte eine neue Generation von CDU-Politikern. Mir war das damals recht gleich. Einer aus der Riege schien so schlimm wie der andere.

Ich war damals fest im Camp der LINKEn. Die anderen waren die neoliberalen Systemparteien, und gegen die Große Koalition tauchte damals eine Bedrohung am Horizont auf, gegen die die Reformpolitik von Rot-Grün und Merkel I wie ein laues Lüftchen schien. Es war die Riege von Guido Westerwelle, Philipp Rößler und Dirk Niebel, die ihre Zeit gekommen sahen, den Betriebsunfall von 2005 beseitigen und dem Leipziger Parteitag der CDU nachträglich zur Geltung helfen wollten. Allein, es kam anders. Für mich war die Schwarz-Gelbe Koalition 2009 bis 2013 eine entscheidende Weichenstellung; ich habe darüber geschrieben.

Merkel wurde nicht zur Totengräberin des Sozialstaats, wie wir damals befürchteten (und andere hofften). Stattdessen präsidierte sie mit ihrer CDU über seine größte Ausdehnung seit mindestens 1995. Generell aber übernahm die FDP in Merkel II die Rolle, die in Merkel I die SPD gespielt hatte und machte freiwillig den Blitzableiter für den meisten Unsinn, der passierte. Das fing ja schon mit Westerwelles "Hier wird Deutsch gesprochen!" auf der ersten Pressekonferenz an und ging über seine "spätrömische Dekadenz" zu Dirk Niebels Irrlichtereien weiter. Dazu waren sie die Blitzableiter in der Euro-Krise (zusammen mit Wolfgang Schäuble). Erneut schwebte Merkel über den Dingen und taugte wenig zur Hassfigur. Und für ihren Atomausstiegsausstiegausstieg konnte ich sie als Progressiver auch kaum kritisieren. Kurz: Diese Koalition war ein Volldesaster in fast jeder Hinsicht. Die Quittung kam 2013; die FDP flog aus dem Bundestag, und die CDU errang beinahe die absolute Mehrheit.

Ich erinnere mich noch, dass ich 2013 der Überzeugung war, diese absolute Mehrheit wäre eigentlich gut gewesen. Gut für die demokratische Kultur in Deutschland. Das zeigt einen weiteren Wandel in meiner Einstellung an, vor allem zur CDU als Ganzes. Weder 2005 noch 2009 hätte ich es als möglich erachtet, dass eine Alleinherrschaft der Schwarzen irgendetwas als den Untergang, das Abrutschen in die absolute Diktatur bringen könnte. 2013 war ich indifferent; es war die für mich indifferenteste Bundestagswahl aller Zeiten. Wer gewinnt, schien total Hupe zu sein. Vier weitere Jahre Merkel? Sowieso. Wer ihr Juniorpartner dieses Mal sein würde, war in etwa so spannend Fußball (ich möchte daran erinnern, dass ich zur WM 2014 kein einziges Spiel gesehen habe...).

Der Grund dafür liegt in dem, was ich in meinem Artikel zur Wandlung weg von der Linken auch beschrieben habe. Merkel taugte einfach nicht zum Feindbild, und ihre CDU auch nicht. Wie viele andere erwartete ich 2009 eine radikale neoliberale Regierung, die die Axt an alles legen würde, was mir lieb und teuer war. Nichts davon passierte. Das Leben ging weiter. Es war harmlos.

Diese Harmlosigkeit verkörpert Angela Merkel. Man denke nur zurück an den Moment, in dem sie den Bundestagswahlkampf 2013 im Alleingang entschied. Es war das TV-Duell gegen Peer Steinbrück (Peer Steinbrück! Allein die Idee, er könne Merkel gefährlich werden!), als sie in ihrem Schlussplädoyer die Eiserne Raute formte und direkt in die Kamera sprach: "Sie kennen mich." Das war es. Diese drei Worte definierten im Endeffekt die Wahlkampfbotschaft 2013, und man konnte nur vor dem Fernseher nicken. Jupp, tue ich. Und auch wenn meine Begeisterung mit "lauwarm" geradezu euphorisch verkleidet ist, so habe ich doch, anders als 2009, auch keine negativen Gefühle mehr. Es ist halt einfach. Business as usual. Life goes on.

Mir wäre in dieser Zeit trotzdem nicht in den Sinn gekommen, Merkel zu verteidigen. Auch in ihrer dritten Amtszeit war sie mir politisch viel zu fern.  Aber es ist bemerkenswert, dass es mit 2013 letztlich egal war, ob sie diese antreten würde oder nicht. Ich denke, das hat zwei Gründe.

Zum einen liegt das am Mangel an einer Alternative. War ich zufrieden mit Merkels Politik? Sicher nicht. Erwartete ich mir aus anderer Quelle etwas Besseres? Sicher auch nicht. Peer Steinbrück und Sigmar Gabriel waren weder politisch besonders ansprechend (oder persönlich), noch hatten sie auch nur die Chance eines Schneeballs in der Hölle, das Kanzleramt je anders denn als Besucher zu sehen. Meine zunehmende Distanzierung von der LINKEn tat ihr Übriges. Das Land tuckerte langsam vor sich hin. Eine glaubhafte, für mich ansprechende Alternative war nicht in Sicht. Ich ergab mich in das Schicksal Merkel.

Zum anderen liegt das an ihrer Politik selbst. Es ist glaube ich müßig darüber zu spekulieren, ob Merkel einfach einen politischen Lern- und Wandlungsprozess vollzogen hat, der zu ihren Positionsänderungen führte, oder ob sie nach aktueller Demoskopie regierte. Das wird sich nie abschließend klären lassen. Vielleicht fällt auch beides zusammen. Fakt aber ist, dass selten jemand dermaßen aus der Mitte heraus regierte wie Merkel. Fand sie sich jemals nicht in der Mitte, änderte sie ihre Politik entsprechend. Anders als 2005 und 2009 konnte man 2013 kaum mehr befürchten, dass sie die Republik in eine neoliberale Dystopie mitverwandeln würde; im Zweifelsfall einfach nur aus Apathie heraus. Pisper's Wort von "was macht sie denn?" behielt Gültigkeit. Aus Sicht eines eher linksliberal orientierten Beobachters war das wohl das Beste, was von der CDU zu erhoffen war. Stand 2013 bestand Merkels einzig kontroverse Entscheidung im Atomausstiegsausstiegausstieg, und das war kaum etwas, das einen progressiven Kritiker wie mich auf die Barrikaden bringen dürfte. Bezeichnenderweise geschah diese eine kontroverse Entscheidung Merkels im Rahmen einer medial breit rezipierten Katastrophe, in diesem Fall dem Reaktorunfall von Fukushima. Rückblickend konnte man das als Fanal ansehen.

Aber 2013 war kaum abzusehen, dass die Flüchtlinge das beherrschende Thema werden würden. Sigmar Gabriel hatte sich in einer spektakulären strategischen Fehleinschätzung das Wirtschaftsministerium ja deswegen geschnappt, weil er davon ausging, dass der Ausbau der erneuerbaren Energiequellen und der weitreichende Umbau des deutschen Energiemarkts das beherrschende Thema der Legislaturperiode sein würde. Nicht umsonst ließ er sich auf einer Reise nach Grönland mit der Kanzlerin fotographieren; telegener als Merkel auszusehen ist nun wahrlich nicht schwer. Die Abwicklung der Eurokrise überließ man gerne Bad Boy Schäuble, der alle weitergehenden Ambitionen mittlerweile beerdigt hatte und für niemanden mehr eine Gefahr darstellte. Als das schicksalhafte Jahr 2015 begann, war das beherrschende Thema einmal mehr Griechenland. Alexis Tsipras hatte die Wahl gewonnen und sagte "Oxi."

Dann kam das Jahr 2015. Wie Millionen anderer Deutscher auch empfand ich tiefe Anteilnahme und Solidarität gegenüber den Flüchtlingen. Merkels Entscheidung, rund eine Million dieser Menschen aufzunehmen, unterstützte ich (und tue das heute noch) aus ganzem Herzen. Zum ersten Mal fühlte ich mich mit ihr auf einer Wellenlänge.

Man kann nicht behaupten, dass der Doppelschlag von 2016 - Brexit und die Wahl Trumps - mich in irgendeiner Weise aufgeschlossener gegenüber der zunehmenden Kritik von rechts an ihrer Person gemacht hätten. Merkel ließ von Anfang an wenig Zweifel an ihrer Antipathie zu Trump und all den anderen rechtspopulistischen Machogestalten, eine Haltung, die angesichts meiner eigenen Evolution zu dieser Frage umso hervorstechender war.

Der endgültige und bisher letzte Anstoß für einen Wandel meiner Haltung zu Merkel von der wohlwollenden Indifferenz hin zu einer widerwilligen Verteidigungshaltung erfolgte um 2017 mit dem Aufstieg der AfD. Die völlig maßlose Fokussierung auf das Flüchtlingsthema in den Medien, die zunehmende Aggressivität, die sich gegen die Person Merkel spezifisch entlud und vor allem die deutliche Bedrohung, die von rechts auf die Demokratie unleugbar seit spätestens 2016 einwirkte.

Und das ist denke ich der entscheidende Punkt, der mich dazu bringt, inzwischen in einer (eher realitätsfernen) fünften Amtszeit Merkel ein Netto-Gut statt eines Schadens zu erkennen. Bisher sah ich in ihr vor allem eine Bremse für eine Politik, wie ich sie bevorzugen würde; ihre brillante Strategie hatte - sicher unter Ausnutzung diverser struktureller Faktoren, die an dieser Stelle keine Beachtung finden können - alle potenziellen Gegner neutralisiert. Alle, bis auf einen.

Und dieser eine erhob sein widerwärtiges Haupt mit voller Gewalt vor allem seit 2017 und wollte es bis zum Ausbruch der aktuellen Corona-Krise auch nicht wieder senken. Der Rechtspopulismus war im Aufwind, in der ganzen westlichen Welt und darüber hinaus. Und seine Gefahr für mich und mein ganzes Leben ist real, wesentlich realer, als es die Gefahr durch Merkel und Westerwelle je gewesen sind. Und das Problem bleibt bestehen: eine Alternative ist nicht wirklich in Sicht.

Denn alles, was nach Merkel kommt, kann aus meiner Sicht nur schlimmer werden. Man sieht das an dem kurzen Intermezzo mit ihrer handverlesenen Nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer, die bereits für eine deutliche Neuorientierung der CDU nach rechts stand (nicht, dass an der grundsätzliche Mitte-Rechts-Haltung der Partei und Merkels ein großer Zweifel bestanden hätte; man muss sich nur ihre Haltung zur Homo-Ehe oder zur Wirtschaftspolitik ansehen). Und AKK errang ihren Posten nur äußerst knapp gegen den Politrentner Friedrich Merz, der sich anschickt, genau jene Politik wieder aus der Jauchegrube herauszubuddeln, die spätestens mit dem Scheitern der schwarz-gelben Koalition nach 2009 endgültig erledigt schien - und die in weiten Teilen sogar darüber hinaus geht.

In dieses Bild fügt sich die Gründung der so genannten "Werte-Union" - erneut völlig über Gebühr gehypt und groß gemacht - ebenso ein wie der Skandal um Hans-Georg Maaßen, einen der schlimmsten Verfassungsschutzpräsidenten aller Zeiten in einem Amt, das an Fehlbesetzungen und Desastern nicht eben arm ist. Wie könnte ich als jemand, der eher progressiv veranlagt ist, einer Zeit nach Merkel aktuell optimistisch entgegensehen? Alles, was ihr nachfolgt, ist aus meiner Perspektive schlimmer.

Denn auch wenn Merkel nie in Gefahr war, einen SPD-Mitgliedsantrag zu stellen, so hat sie doch die lange verschleppte Modernisierung ihrer Partei auf vielen Feldern vorangetrieben oder sich ihr wenigstens nicht in den Weg gestellt. Die CDU ist heute kein Hindernis mehr für Gleichberechtigung, ob zwischen den Geschlechtern, Ethnien oder sexuellen Orientierungen. Das ist vor allem ihr Verdienst, und ihre Kritiker werden es ihr nie verzeihen und nicht ruhen, ehe sie es so weit als möglich rückgängig machen können. Warum also sollte ich wollen, dass Merkel das Kanzleramt räumt?

Denn das andere Problem bleibt unausgeräumt. Was wäre die Alternative? Ein CDU-Kanzler, der die Partei rechter positioniert, als sie es aktuell ist, und aus Gründen der aktuellen Parteistruktur praktisch garantiert die Machtstellung innehaben wird, ob mit Jamaika, ob mit Schwarz-Grün oder gar mit Schwarz-Blau. Mein Vertrauen darin, dass ein CDU-Vorsitzender Merz nicht mit der AfD zusammenarbeiten würde, reicht gerade so weit, wie ich ihn werfen kann.

Und selbst wenn wir das bestmögliche Ergebnis (aus progressiver Sicht) annehmen, eine Mehrheit für Grün-Rot-Rot - wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine nun oppositionäre CDU nicht sofort einen scharfen Rechtsruck hinlegt und sich der AfD annähert, mithin der größten Gefahr für die deutsche Demokratie seit 1933? Die Ereignisse aus Thüringen zum Jahreswechsel 2019/20 etwa lassen genauso wenig Hoffnung aufkommen wie die Probleme in Sachsen - und die Positionierung der dortigen CDU.

Nein. Merkels Zeit ist aller Wahrscheinlichkeit nach abgelaufen, aber ich kann mit wenig Hoffnung auf eine Zeit nach ihr zurückblicken. Das liegt wahrlich nicht daran, dass ich ein großer Fan ihrer Politik wäre. Zu sehr ist sie für meine Präferenzen ein Blocker, Verhinderer, Verzögerer. Zu sehr vertritt sie gegensätzliche Positionen. Ich kann mit ihr nur leben, das ist letztlich alles.

Die weltweiten Ereignisse seit 2016 haben mir aber eine neue Wertschätzung dafür verschafft, was es heißt, mit einer ideologisch entgegengesetzten Regierung leben zu können. Ich könnte nicht mit einer Trump-Regierung leben, lebte ich in den USA. In meinen Augen vergisst die aktuelle Debatte gerne, welchen Wert es darstellt, dieses Problem in Deutschland nicht zu haben. Und das ist, im Guten wie im Schlechten, Teil des Phänomens Merkel. Und erklärt vielleicht, warum sie ausgerechnet bei einem konservativer Grundhaltungen wenig verdächtigen Menschen wie mir in diesen Tagen einen widerwilligen Verteidiger findet.

Freitag, 24. April 2020

Ezra Klein wirft mit Trump im November gefährliche Sprache in die saudische Kinderbetreuung - Vermischtes 24.04.2020

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Everyone is in denial about November

My personal favorite is this headline on an Associated Press story: “Coronavirus could complicate Trump’s path to reelection.” I know the AP is as strait-laced as possible in its coverage, and to be fair, the story is straightforward in describing Trump’s challenges come November. Still, this is equivalent to a headline on Dec. 8, 1941, saying: “Japanese attack on Pearl Harbor could complicate America First’s desire for isolationism.” [...] All of these stories are interesting but nonetheless contain an air of unreality about them. They assume that the Trump campaign’s gambits can somehow alter the trajectory of the general-election campaign. [...] Furthermore, spending two hours a day at a podium does not help Trump. His antics might appeal to his base, but there’s a reason other Republicans want him to cut down his appearances. They put all of his weaknesses on display. And for those who fear that this crowds out Biden, let me suggest that at this point in the race, the more Biden appears in the public mind as “Generic Democrat,” the better his chances for victory as the safer “not Trump” choice. [...] New attacks on Biden will feed lots of media narratives. They will not alter the brute facts of this campaign. (Daniel Drezner, Washington Post)
Ich halte den Artikel für wesentlich zu optimistisch. Grundsätzlich ist es absolut richtig, dass die miserable Grundsituation grundsätzlich schädlich für Trump ist. Es ist etwa hinreichend deutlich, dass Obama sowohl 2010 als auch 2014 wahrscheinlich die Wiederwahl nicht gewonnen hätte (wohl aber 2016, aber das ist eine andere Geschichte). Egal, wie talentiert ein Wahlkämpfer ist, gegen grausige fundamentals - wie im Jargon Werte wie Arbeitslosigkeit, Wirtschaftswachstum und Konsumentenzuversicht genannt werden - kommt er im Zweifel nicht an. Ich habe auch vor zweieinhalb Jahren selbst geschrieben, dass die Gesetze der politischen Schwerkraft auch für die Republicans, auch für Trump gelten. Aber: Es gibt eben auch Faktoren, die sehr stark für Trump sprechen. Und da wäre ein weiteres fundamental: Der Amtsinhaber gewinnt bei den Präsidentschaftswahlen meistens. Nur dreimal wurde seit 1945 ein Präsident nach einer Amtsperiode abgelöst (Ford, Carter und Bush), achtmal gewann er die Wiederwahl (Truman, Eisenhower, Johnson, Nixon, Reagan, Clinton, Bush, Obama). Und Ford darf man eher als Betriebsunfall betrachten. Dazu kommt der zu erwartende massive Wahlbetrug der Republicans, die in modernen Zeiten nie dagewesene Polarisierung (das Gesetz der 42%), die es, in den unsterblichen Worten Trumps, egal macht, ob er auf der 5th Avenue vor laufenden Kameras jemanden erschießt. Ich hoffe, dass ich völlig falsch liege und dass Biden im November mit Trump den Boden wischt. Aber ich bin skeptisch. Vor Corona habe ich den Wahlkampf effektiv als 50:50 gesehen. Jetzt? Vielleicht 55:45 für Biden. Und das sind schlechtere Chancen, als Trump 2016 hatte. Das ist auch recht unabhängig vom Kandidaten; Biden ist zwar sicher nicht mein Wunschkandidat, aber ich glaube nicht, dass der/die GegenkandidatIn für Trump dieses Jahr sonderlich bedeutsam ist. Dafür sorgt Corona. Wie gesagt, ich hoffe, ich liege grotesk daneben. Aber zuversichtlich bin ich nicht.

2) Is Trump dangerously strong or perilously weak?
How disorienting is political reality in the Trump era? So disorienting that people who devote their lives to observing and analyzing politics can't even agree on whether President Trump is inches away from abolishing democracy and turning himself into a dictator — or if, instead, he's a pitifully weak president who regularly demonstrates his impotence. [...] The answer is both. And until we come to terms with this reality, we will fail to grasp the distinctive character of the danger the Trump presidency poses to our political system. Presidents have two broad spheres of power. The first is their ability to command the federal government — executive branch departments and agencies, administrative and regulatory bureaucracies — to do things. When it comes to this power, Trump is an extremely weak and ineffective president — as some of the sharpest political analysts on the left have long contended. [...] But this isn't the only kind of power a president wields. The other power is rhetorical — the ability to use language to shape public opinion. It's in this respect that Trump displays genuinely tyrannical tendencies. [...] Trump's dictatorial proclamations point in a much darker direction. Every time the president asserts absolute powers, every time he claims to possess the ability to do things the Constitution doesn't permit him to do, every time he stirs up and actively encourages populist animosity against duly elected public officials, every time he calls journalists enemies of the people who peddle fake news, he normalizes the idea, moving public opinion among a portion of Republican voters a little bit further in the direction of accepting and approving of authoritarianism. Words matter in politics — especially the words of the president, and never more so than in an age when he has the ability to speak to his most rabid supporters instantly and directly. In many respects, Donald Trump is a weak president. But he talks like an authoritarian strongman, and with each autocratic word he primes a portion of the country for tyranny. (Damon Linker, The Week)
Eine saubere Analyse. Dass Worte wichtig sind ist eine Erkenntnis, die sich weder bei den Relativierern und Normalisierern in den USA durchgesetzt hat noch hierzulande. Der rechte Rand der CDU und die AfD operieren ja in derselben Dynamik. Ob die AfD ähnlich ineffektiv wäre ist etwas, das wir hoffentlich nie herausfinden werden. Aber die Worte, die sie in die Debatte eingebracht und dank ihrer Helfershelfer in den etablierten Parteien und der Publizistik normalisiert hat, haben bereits weitreichenden Flurschaden angerichtet. Die Grenzen des Sag- und Forderbaren zu verschieben ist keine einfache Aufgabe. Sie ist ohne die Mithilfe des Establishments praktisch nicht zu bewältigen. Die LINKE kennt diese Dynamik aus erster Hand. Ihr ist das selbst zu den Hochzeiten der Hartz-Proteste nie wirklich gelungen. Außerhalb ihrer eigenen Anhängerschaft verfing die Rede von "Hartz-IV ist Armut per Gesetz", wie unzählige Wahlplakate verkündeten, nie wirklich. Inzwischen hat Deutschland seinen Frieden mit der Reform gemacht. Grundsatzkritik an derselben hat sich nie in den Leitmedien durchsetzen können, wurde nie von hochrangigen SPD-Politikern geteilt. Sie verhallte letztlich.

3) Der Stoff, aus dem Gewalt­fan­ta­sien sind
Für diesen vermu­teten Wirkungs­zu­sam­men­hang von behaup­teter Gefahr und impli­ziter Gewalt­le­gi­ti­ma­tion gibt es in der Gewalt­for­schung einen Namen. Er nennt sich „gefähr­liche Rede“ und steht bisher im Schatten des Begriffs der „Hass­rede“, der häufig ange­führt wird, wenn es um rechte Rhetorik und Gewalt geht. Dabei ist die gefähr­liche Rede, auch wenn sie auf Gewalt­rhe­torik verzichtet, wohl entschei­dender für rechten Terror als unver­blümte Hetze. Wie die Sozi­al­wis­sen­schaft­lerin Susan Benesch sagt, ist es gerade das Gerede von einer „tödli­chen Bedro­hung durch eine verhasste … Gruppe, das Gewalt nicht nur ange­messen, sondern notwendig erscheinen lässt.“ Gefähr­liche Rede findet etwa dann statt, wenn einer Gruppe beson­dere Grau­sam­keit zuge­schrieben wird. Wo ihr unter­stellt wird, sie bedrohe Exis­tenz der Adres­sierten, erscheint es diesen opportun, dras­tisch gegen sie vorzu­gehen. Es geht immerhin ums Über­leben. Und Notwehr ist bekann­ter­maßen der einzige Grund, aus dem Tötungen unbe­stritten erlaubt sind: Wer anderen das Leben nehmen will, darf dieser Norm zufolge unschäd­lich gemacht werden. Für die Legi­ti­ma­tion von Gewalt eignet sich daher kaum etwas besser als der „Spie­ge­lungs­vor­wurf“: Die Dehu­ma­ni­sie­rung des Anderen recht­fer­tigt die Bruta­li­sie­rung des Selbst. Expli­zite Gewalt­auf­rufe sind dafür nicht nötig. Gewalt­same Poli­tiken, die ja immer beson­ders recht­fer­ti­gungs­be­dürftig sind, gehen daher meist mit Mythen der Bedro­hung einher. Bereits der Faschismus schöpfte aus solchen die Recht­fer­ti­gung für außer­or­dent­liche Maßnahmen. Der Faschis­mus­for­scher Roger Griffin bezeich­nete diese Ratio­na­lität dereinst als „palin­ge­ne­ti­schen Ultra­na­tio­na­lismus“: Ange­sichts des drohenden Unter­gangs müsse die Nation eine kompro­miss­lose Kraft­an­stren­gung voll­ziehen, um zu ihrer Wieder­ge­burt zu gelangen. Auch heute bläst die extreme Rechte wieder in das Horn des natio­nalen Unter­gangs, um dras­ti­sche Maßnahmen zu recht­fer­tigen. Die AfD mitten­drin – und ihr „Flügel“ vorneweg. (Holger Maks/Janina Pawels, Geschichte der Gegenwart)
Und wo wir es gerade von der Wirkung der Sprache haben. Auch diese Mechanik ist im Übrigen farbenblind; man erinnert sich noch allzu gut des raschen Wandels, den die "Gewalt gegen Sachen" zum offenen Terrorismus in den 1970er Jahren nahm, oder die abwertende Sprache, mit der die Linksextremisten jener Tage ihre Gewalt rechtfertigten. Deswegen wehre ich mich auch immer so dagegen, die spezifischen Sprachcodes dieser Gruppierungen zu übernehmen. Selbst wenn man sie selbst unschuldig benutzt und ohne die Ziele der Extremisten zu teilen, normalisiert man damit deren Sprache. Die einzige Möglichkeit, wie man diese gefährliche Spirale verhindern kann, ist die konsequente Abgrenzung. Und die muss eine zivilisierte Gesellschaft gemeinsam und permanent treffen.

4) Tweet
Ich lasse das vor allem deswegen noch mal hier, weil wir vor einem Jahr noch hitzig darüber debattiert haben, ob nun der Rechts- oder der Linksextremismus in Deutschland das größere Problem darstellt. Vor einem Jahr wurde hier im Blog auch noch äußerst erbittert und kontrovers darüber gestritten, ob eine Figur wie Hans-Georg Maaßen nun a) falsch liegt und b) absichtlich falsch liegt, weil selbst extremistisch. Ich hoffe, das hat sich mittlerweile beides geklärt.

5) AfD-Landtagsvizepräsident scheitert mit Blockade von Rechtsterror-Debatte