Donnerstag, 28. November 2019

Evo Morales beklagt die Luftverschmutzung Reagans am polnischen AfD-Gedenkstein - Vermischtes 28.11.2019

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Scholz plant Schuldenerleichterung für 2.500 Kommunen
Vom geplanten Entschuldungsprogramm des Bundes sollen nach dem Willen von Bundesfinanzminister Olaf Scholz 2.500 besonders stark kreditbelastete Kommunen in Deutschland profitieren. Im kommenden Jahr sei eine Grundsatzentscheidung von Bund, Ländern und den mehr als 11.000 Gemeinden dazu möglich, sagte der SPD-Politiker. "Und dann können wir das politisch auch hinkriegen." Aus der SPD gebe es positive Signale. Kredite in Höhe von knapp 50 Milliarden Euro könnten die betroffenen Gemeinden allein nicht schultern, sagte Scholz zum Abschluss eines zweitägigen Treffens der SPD-Fraktionsvorsitzenden aus Bundestag und Länderparlamenten. Die Länder sollen sich an der Entschuldung beteiligen. Überschuldete Kommunen gebe es in allen Bundesländern, sagte Scholz – bei einer Konzentration in Nordrhein-Westfalen, im Saarland, in Hessen und in Rheinland-Pfalz. [...] Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Christian Dürr, warf Scholz vor, seine Position in der laufenden SPD-internen Stichwahl über den Vorsitz verbessern zu wollen. Die Kommunen, die in der Vergangenheit gut gewirtschaftet und Schulden ohne Hilfe vom Bund abgebaut hätten, dürften jetzt nicht die Dummen sein, sagte er weiter. (dpa, Die Zeit)
Auch ein blinder Scholz findet einmal ein Korn. Ein Entschuldungsprogramm für die Kommunen ist eine mehr als sinnvolle Maßnahme. Die Lebensqualität der Einwohner hängt massiv vom Spielraum der Kommunen ab, und hier besteht in Deutschland eine schwere Schieflage. Wir haben, besonders im Ruhrgebiet und im Osten, viele überschuldete und in einem degenerierenden Teufelskreis gefangene Kommunen und gerade im Süden Deutschlands viele sehr prosperierende Kommunen. Das Problem ist, dass das dumme Geschwätz von Dürr sich zwar bei der FDP-Stammwählerschaft sicher gut macht, aber wenig mit der Realität zu tun hat. Der Finanzspielraum der Kommunen ist viel zu gering, als dass "gutes Wirtschaften" und das "Abbauen von Schulden ohne Hilfe des Bundes" groß in ihrer Macht lägen. Sie sind vielmehr abhängig von einer Riesenlatte äußerer und struktureller Faktoren. Es macht daher absolut Sinn, diese Ungleichgewichte auszutarieren. Es steht schließlich nicht zu erwarten, dass Bund und Länder den Kommunen bald größere Kompetenzgebiete abgeben werden, und genauso wenig, dass sie ihre bestehenden weiter einschränken und zentralistischer arbeiten. Da den Kommunen aber nun mal eben nur relativ wenig ernsthafte Steuerungsgrößen zur Verfügung stehen, muss Hilfe zwangsläufig von außen kommen, und das passierte einerseits wegen dieser bescheuerten Ideologie, wie sie Dürr ausspricht, und andererseits wegen der größeren politischen Vertretungsmacht der reichen Kommunen nicht.

2) Das deutsche Auto als Sicherheitsrisiko
In der Trump-Administration erlebt das Konzept wirtschaftlicher Sicherheit nun eine Konjunktur, wie es sie seit der Hochzeit der scharfen amerikanisch-japanischen Konflikte in den 80er und frühen 90er Jahren nicht gegeben hat. Wie damals sehen sich die Amerikaner heute mit einer sich rasch wandelnden globalen Konstellation konfrontiert. China verschiebt die ökonomischen Gewichte in ähnlich dramatischer Weise wie seinerzeit Japan. Chinas Aufstieg erscheint indes noch alarmierender, weil die Volksrepublik – anders als Japan – auch nach militärischer Macht strebt und die internationale Ordnung unter Washingtons Führung offen in Frage stellt. Befeuert werden diese Entwicklungen durch rapiden technologischen Wandel. Die Durchbrüche in Künstlicher Intelligenz, 5G oder Supercomputing sind Nachfahren der Computerrevolution, die vor vierzig Jahren das traditionelle amerikanische Wirtschafts- und Sicherheitsdenken umstürzte. Die gegenwärtig in den Vereinigten Staaten zu beobachtende Konjunktur des Konzepts „wirtschaftlicher Sicherheit“ ist beunruhigend. Sie spitzt die Konflikte mit China zu und birgt die Gefahr, den globalen Handel im Hochtechnologiebereich tiefgreifend zu verändern, wie die Auseinandersetzung um Huawei zeigt. In der Tat verschiebt das wirtschaftliche Sicherheitsdenken das amerikanische Verständnis des internationalen Systems so sehr, dass selbst Verbündete durch diese Brille betrachtet werden. In diesem Sinne sind die angedrohten Zölle auf Automobilimporte kein Kollateralschaden der größeren chinesisch-amerikanischen Konflikte. Sie sind Ausdruck einer historisch fundierten Reinterpretation der internationalen Beziehungen durch die Trump-Administration, die weit über China hinausweist. (Mario Daniels, FAZ)
Zwei Gedanken hierzu. Einerseits ist das kein amerikanisches Phänomen, wenngleich die europäische Dimension sich überwiegend auf die Rüstungsindustrie beschränkt. Hierzulande gibt es aktuell in der EU-Handelspolitik den Konflikt darum, wann ein Land Gebrauch von der Möglichkeit macht, bestimmte Technologien - aktuell umstritten die neue deutsche Fregatte - als die nationale Sicherheit im Kern berührend zu erklären und dann nicht europaweit ausschreiben zu müssen. Ich würde allerdings erwarten, dass das gerade von Akteuren wie Frankreich oder natürlich den rechtspopulistischen Autokratien, die alle ohnehin nie eng mit dem Freihandelskonzept à la WTO verbandelt waren, Impulse in die Richtung zu erwarten sind. Der andere Punkt ist, dass diese Befürchtungen eine völlig berechtigte Grundlage haben. Chinesische Handys oder Digitalinfrastruktur etwa sind ein gigantisches Sicherheitsrisiko, das bemerkt ja gerade etwa Italien, die mit ihrer Privatisierung der Häfeninfrastruktur, die von chinesischen Staatskonzernen gekauft wurden, mittlerweile massive Abhängigkeiten der unangenehmsten Art entwickelt haben. Ich wäre nicht überrascht, wenn die Zeit des freien Welthandels in den nächsten Jahren völlig zum Erliegen kommt und deutlich abgeschotteteren und fragmentierteren Märkten Platz macht. Gerade aus deutscher Sicht ist das natürlich ein massives Problem, weil wir als Exportnation so sehr von freien Märkten abhängen.

3) Deutscher Gedenkstein sorgt für Empörung
Am Volkstrauertag haben Angehörige der deutschen Minderheit im polnischen Bytom einen Gedenkstein eingeweiht, mit dem an die gefallenen Soldaten des Ersten und Zweiten Weltkriegs sowie an "Selbstschutz- und Freikorpskämpfer" gedacht werden soll. Dieses Denkmal sei durch Spenden erst möglich geworden, schreibt der "Deutsche Freundeskreis in Schlesien" auf Facebook. Unter anderem habe der AfD-Bundestagsabgeordnete Stephan Protschka das Projekt finanziell unterstützt. Neben Protschka sind auf dem Stein die AfD-Nachwuchsorganisation "Junge Alternative" und die Burschenschaft Markomannia Wien zu Deggendorf genannt. Der Bayerische Verfassungsschutz erklärte auf BR-Anfrage, dass die Überschneidungen der Burschenschaft zur rechtsextremistischen Szene bekannt seien. (Patrick Gensing, Tagesschau)
Mittlerweile wurde der fragliche Gedenkstein abgebaut. Ich verlinke dieses Fundstück hauptsächlich deswegen um zu zeigen, dass die AfD nicht nur den einen oder anderen zufälligen Neonazi in ihren Reihen hat. Das ist systemisch. Die Leute sind eine große, relevante Gruppe in der Partei, mit Abgeordneten, die sich sicher genug fühlen solche Scheiße abzuziehen, und die Partei duldet das und tut nichts dagegen. Wer sich aber mit solchen Leuten gemein macht, muss dann eben auch damit rechnen, dass er mitgefangen, mitgehangen ist. Das Gleiche gilt ja für linke Parteien, in denen diverse Mitglieder glühende Verwunderung für Chavez, Maduro oder Morales aufbringen, ebenso. Siehe dazu passend auch Fundstück 5.

4) Sacha Baron Cohen's Keynote Address at ADL's 2019 Never Is Now Summit on Anti-Semitism and Hate
On the internet, everything can appear equally legitimate.  Breitbart resembles the BBC.  The fictitious Protocols of the Elders of Zion look as valid as an ADL report.  And the rantings of a lunatic seem as credible as the findings of a Nobel Prize winner.  We have lost, it seems, a shared sense of the basic facts upon which democracy depends. [...] First, Zuckerberg tried to portray this whole issue as “choices…around free expression.”  That is ludicrous.  This is not about limiting anyone’s free speech.  This is about giving people, including some of the most reprehensible people on earth, the biggest platform in history to reach a third of the planet.  Freedom of speech is not freedom of reach.  Sadly, there will always be racists, misogynists, anti-Semites and child abusers.  But I think we could all agree that we should not be giving bigots and pedophiles a free platform to amplify their views and target their victims. Second, Zuckerberg claimed that new limits on what’s posted on social media would be to “pull back on free expression.”  This is utter nonsense.  The First Amendment says that “Congress shall make no law” abridging freedom of speech, however, this does not apply to private businesses like Facebook.  We’re not asking these companies to determine the boundaries of free speech across society.  We just want them to be responsible on their platforms. If a neo-Nazi comes goose-stepping into a restaurant and starts threatening other customers and saying he wants kill Jews, would the owner of the restaurant be required to serve him an elegant eight-course meal?  Of course not!  The restaurant owner has every legal right and a moral obligation to kick the Nazi out, and so do these internet companies. (Sascha Baron Cohen, ADL)
Diese Keynote wurde mittlerweile das ganze Internet hoch und runter geteilt, und das völlig zu Recht. Cohen spricht ein Paradox der großen Internetkonzerne an. Einerseits handelt es sich um Privatunternehmen, die keine hoheitlichen Aufgaben haben. Andererseits sind sie als Plattformen dermaßen bedeutend, dass sie praktisch als öffentlicher Raum zählen müssten. Dieses Paradox müssen wir als Gesellschaften dringend lösen, wenn wir die aktuell herrschenden Probleme lösen wollen, die diese Plattformen umgeben. Ich mag auch Cohens Formulierung von "freedom of speech is not freedom of reach" sehr, weil sie ein fundamentales Missverständnis anspricht. Überall meckern Leute darüber, dass sie "zensiert" werden oder in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt, weil sie nicht unwidersprochen stehen oder weil ihnen jemand seine Plattform nicht zur Verfügung stellt. Aber das hat nichts miteinander zu tun.

5) Polizei zählt mehr als 14.000 Straftaten von Rechten
Die politische Kriminalität von Neonazis und anderen rechten Tätern wächst auch in diesem Jahr mit hoher Geschwindigkeit. Die Polizei hat nach Informationen des Tagesspiegels in den ersten drei Quartalen bereits14.311 Straftaten festgestellt, darunter 625 Gewalttaten. Bei den Angriffen wurden mindestens 271 Menschen verletzt. Drei Fälle bewertet die Polizei als versuchte Tötungen. Der mutmaßliche rechtsextreme Mordanschlag auf den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke wird nicht genannt. [...] Das Innenministerium hat zudem auf Anfragen von Pau über antisemitische Straftaten berichtet. Demnach stellte die Polizei von Januar bis September 1155 Delikte fest, die Judenhasser verübten. Sie waren nach Angaben der Polizei meist rechts motiviert. In 41 Fällen handelte es sich um Gewalttaten. Dabei erlitten 17 Personen Verletzungen. (Frank Jansen, Tagesspiegel)
Jetzt haben wir es schwarz auf weiß vom BKA. Politische Kriminalität hat eine ungeheure Schlagseite nach rechts, und das ständige "aber linke Gewalt!!elf!1!!" ist eine reine Nebelkerze. Wenn etwas ein dermaßen großes Ungleichgewicht hat, dann muss dort auch verstärkt gearbeitet werden, ganz egal, was die politischen Instinkte sagen. Das gilt sowohl für bestimmte Kommentatoren hier im Blog als auch für das ganze CDU-Präsidium, das sich trotz der Welle rechter Gewalt genötigt sah, einen "Aktionsplan linke Gewalt" zu verabschieden, aber immer noch keinen für rechte hat. Das ist ein unhaltbarer Zustand.

6) The Cancellation of Colin Kaepernick
Until recently, cancellation flowed exclusively downward, from the powerful to the powerless. But now, in this era of fallen gatekeepers, where anyone with a Twitter handle or Facebook account can be a publisher, banishment has been ostensibly democratized. This development has occasioned much consternation. Scarcely a day goes by without America’s college students being reproached for rejecting poorly rendered sushi or spurning the defenders of statutory rape. [...] The N.F.L. is revered in this country as a paragon of patriotism and chivalry, a sacred trust controlled by some of the wealthiest men and women in America. For the past three years, this sacred trust has executed, with brutal efficiency, the cancellation of Colin Kaepernick. This is curious given the N.F.L.’s moral libertinism; the league has, at various points, been a home for domestic abuserschild abusers and open racists. And yet it seems Mr. Kaepernick’s sin — refusing to stand for the national anthem — offends the N.F.L.’s suddenly delicate sensibilities. And while the influence of hashtags should not be underestimated, the N.F.L. has a different power at its fingertips: the power of monopoly. Effectively, Mr. Kaepernick’s cancellation bars him from making a living at a skill he has been honing since childhood. [...] The new cancel culture is the product of a generation born into a world without obscuring myth, where the great abuses, once only hinted at, suspected or uttered on street corners, are now tweeted out in full color. Nothing is sacred anymore, and, more important, nothing is legitimate — least of all those institutions charged with dispensing justice. And so, justice is seized by the crowd. This is suboptimal. The choice now would seem to be between building egalitarian institutions capable of withstanding public scrutiny, or further retreat into a dissembling fog. The N.F.L. has chosen the latter option. (Ta-Nehisi Coates, New York Times)
Ein anderes Feld, auf dem beständig über die (vermeintlichen) Untaten der einen Seite geredet wird, ist diese Idee von "cancellation", die nahtlos in die ganze unsägliche "political correctness"-Debatte übergeht. Und während es unzweifelhaft ebenso problematische wie dumme Versuche der Cancellation von allen Seiten gibt (ich hasse etwa die ständige Forderung nach dem Feuern von Leuten, die irgendwelchen rassistischen oder sonstwie abseitigen Mist gesagt haben), so ist doch die oben beschriebene wegen der Macht-Asymmetrie ungemein problematischer. Ein Mob, ob online oder analog, ist super unangenehm, aber wir können ihn wenigstens klar sehen, diskutieren und uns ihm in den Weg stellen. Institutionelle Diskriminierung, vor allem durch private Institutionen (öffentliche haben deutlich stärkere Schutzmechanismen) wie Arbeitgeber, funktioniert unauffälliger, für die Betroffenen wesentlich verheerender und praktisch ohne Schutzmechanismen.

7) American Slavery and ‘the Relentless Unforeseen’
Suddenly, in the late 1740s and early 1750s, Western culture reached a turning point, producing what the great modern scholar of slavery and the antislavery movement David Brion Davis called “an almost explosive consciousness of man’s freedom to shape the world in accordance with his own will and reason.” The causes of this moral revolution were manifold and remain much debated, but need not detain us here; what is important is that it brought, in Davis’s words, “a heightened concern for discovering laws and principles that would enable human society to be something more than an endless contest of greed and power.” That concern made slavery appear for the first time—to the un-enslaved—as a barbaric offense to God, reason, and natural rights. [...] Against slavery’s millennia, the struggle to abolish it came abruptly. By the end of the succeeding century, against slavery’s immense and unyielding power, it had largely succeeded. As a spiritual as well as political endeavor, it is one of the most, if not the most astonishing unfolding of the unforeseen in all of recorded human history. Yet it is too often at best consigned to the inevitable, as something that was bound to happen as if in the natural unfolding of progress. At worst, it is pushed to the margins, as if slavery’s abolition came about without abolitionists, without politics, let alone without rebellious slaves—the byproduct, as some accounts say, of impersonal, amoral economic forces, or the unintended outcome of white people’s selfish squabbles over policy and profits, or even as an accident. (Sean Wilentz, Columbian College of Arts and Sciences)
Ich möchte die "moral revolution" betonen. Die Abschaffung der Sklaverei wurde vor allem deswegen überhaupt möglich, weil eine Minderheit durch permanentes Moralisieren langsam, aber stetig den moralischen Kompass einer gesamten Gesellschaft verschob. Genauso wie bei den anderen großen Bürgerrechtsrevolutionen, ob dem Kampf für das Frauenwahlrecht, der Emanzipation der Schwarzen oder der der Frauen oder der LTBGQ-Community, stets haben wir das Moralisieren, das von denjenigen, die noch nicht auf der richtigen Seite der Geschichte stehen, als bevormundend und nervig empfunden wird. Und später kann dann keiner mehr verstehen, wie man je dagegen sein konnte. Auf der anderen Seite ist es immer wieder instruktiv sich klar zu machen, wie prekär und umstritten diese Themen zu ihrer jeweiligen Zeit waren. Der Kampf gegen die Sklaverei und die moralische Deutungshoheit währte Jahrzehnte. Und selbst dann brauchte es das militärische commitment der Royal Navy und der US Army, um dem Treiben endlich ein Ende zu setzen. Man muss sich immer klar machen, wie umkämpft und gefährdet diese Prozesse sind und waren. Das sind keine Selbstläufer.

8) Labour’s economic programme isn’t just radical – it’s credible too
Labour’s election manifesto is more transformative than any other seen by this country since 1945. It includes dramatic economic interventions such as building 100,000 council houses a year, the creation of a million jobs through a Green Industrial Revolution, and free universal broadband. But it also includes small changes that would make a crucial difference to peoples’ lives – reinstating 3,000 local bus routes, providing free annual dental check-ups, increasing the pensions of former miners. Immediately, commentators began asking the same question: “how will you pay for it?” This is not a question that is addressed to the Tories when they plan tax cuts that will primarily benefit the rich. But after a decade of austerity, many people are incredulous at the idea that the sixth-largest economy in the world could afford to provide a decent standard of living for its people – that things could be better for them. The power of the austerity argument is, of course, reinforced by the experience of poverty. Most traditional Labour voters are struggling to make ends meet in a broken economy. The idea that they could afford to take out a payday loan and pay to send their children to university seems absurd. Why should it be any different for the government? Responding to these concerns – rooted in real experience – with abstract economic arguments will fall on deaf ears. Rather than focusing on the narrative of “borrowing to invest”, an opaque concept to most people, Labour has opted to frame its response in class terms: the rich will pay for it. (Grace Blakeley, The New Statesman)
Völlig unabhängig davon, was man von Corbyns und Labours Programm hält, ist die Aussage Blakeleys sicher richtig, dass die Frage nach dem "who is gonna pay for it" nie gestellt wird, wenn es um auf Pump finanzierte Steuersenkungen für die Reichen geht. Siehe auch Trump, Donald J. Ich glaube ein guter Teil davon ist einfach nur sozialer Habitus. Man gehört als Journalist nur dann zu den seriösen Vertretern der Branche, wenn man diese Position vertritt. Für Austerität und angebotsorientierte Politik zu sein ist wie (in Deutschland) die Homoehe und Flüchtlingsintegretation zu begrüßen; Teil des Elitenkonsens'. Zum konkreten Vorhaben. Die Ungleichheit in Großbritannien ist ein deutlich größeres Problem als bei uns. Die Masse der Obdachlosen etwa, die sich dieses Land aus rein ideologischen Gründen leistet, ist absurd. Das Mutterland des Kapitalismus ist in vielerlei Beziehung eine Klassengesellschaft geblieben. Dass zur Hilfe der breiten britischen Unterschicht eine Umgestaltung nötig ist, sehe ich absolut auch so. Zuletzt der politische Aspekt. Auch hier hat Blakeley Recht. Ich habe das schon vor Jahren für die SPD auch so aufgeschrieben. Von der politischen Kommunikation her macht es nur Sinn, den klassenkämpferischen Aspekt hervorzuholen. Der ist das einzig funktionierende Gegenstück zum hypermoralisierenden erhobenen Zeigefinger der Fans der Schwarzen Null. Zumindest das einzige, das bisher gefunden wurde.

9) That Junk in the Air Is Really Bad for Us
The short-term effects of pollution are easy to measure, because air quality varies from day to day. Chess players, for example, make worse decisions on polluted days. Stock market returns are lower when the air quality is worse in New York City. Politicians’ language is less complex when pollution is higher. In the long term, chronic exposure to pollution is correlated with accelerated cognitive decline in old age, including increased risk of dementiaAlzheimer’s, Parkinson’s disease and stroke. Children may suffer the most from the baleful effects of toxic air, because the damage done to them can be permanent. In China, studies have found that exposure to air pollution at birth is associated with reduced cognitive skills later in life. Southern California kids who grew up breathing more polluted air do worse on math and reading tests. Students who switch to a school that’s downwind of a highway (and thus gets more pollution) see their scores decline. One study estimated that an increase in PM2.5 concentration of 5 micrograms per cubic meter -- about one half the average level in New York City -- would result in the loss of two IQ points, which is about the amount gained from one or two years of education. This is a very substantial effect. Even if one believes that math, reading and IQ tests aren’t good measures of cognitive ability, abrupt decreases in these scores indicate that something is hurting children's brains. This is the kind of thing that a functional civilization should be trying to prevent. (Noah Smith, Bloomberg)
Ich habe in einem Vermischten vor anderthalb Monaten bereits auf die Luftverschmutzung als ein Problem hingewiesen, das von der Klimadebatte regelrecht verdrängt wird. Es ist ja schon gut, dass wir endlich ernsthaft über den Klimawandel reden, aber es ist auf der anderen Seite natürlich bedauerlich, dass Luftverschmutzung so vom Radar verschwunden ist. Früher war es mal genau umgekehrt (nicht, dass das besser gewesen wäre...). Ich glaube das liegt unter anderem an dem Eindruck, dass das Problem gelöst sei - und der Eindruck kommt wie so oft daher, dass man sehr lang darüber geredet hat. Aber drüber reden und lösen sind zwei Paar Stiefel. Da sind dann Policy- und Kommunikationsdesaster wie Dieselfahrverbote auch echt nur eingeschränkt hilfreich.

10) Reagnism is cancelled

Hawley, 39, became the youngest member of the Senate after a 2018 upset victory over a powerful Democratic incumbent, Claire McCaskill, and he has quickly vaulted himself to prominence in Washington’s elite conservative circles. Along with Senate Republicans such as Ted Cruz, and ex-Trump administration officials such as Nikki Haley, his name is frequently floated as a potential lead architect of Trumpism after Trump. His speeches around town, including one he delivered on Tuesday evening while accepting an award at the annual gala of the American Principles Project Foundation, a socially conservative public-policy organization, are bracingly defiant of Republican orthodoxy: He rails against income inequality, condemns the policy deference afforded to corporations, and speaks warmly about the civic value of labor unions. He often talks about the “great American middle” being crushed by the decline of local communities, the winner-take-all concentration of wealth, and the inaccessibility of higher education. And he said that the modern Republican Party’s split over competing impulses towards free-market economics and social conservatism has led some conservatives to ignore the effects of their policies on the middle and working class. “It’s time to do away with that,” he told me. [...] Hawley’s economic views are set apart from the left in part by his diagnosis of America’s problems. He sees social isolation and the erosion of local communal life—including church, family, neighborhoods, and labor unions—as intimately tied to declining economic opportunity for the middle class. “Economic policy and our communities and neighborhoods sit right together. They’re really intertwined,” Hawley told me. And unlike most Democrats, Hawley argues that cultural pathologies have helped create this fractured political moment, particularly the cult of individualism that he says drives everything from public policy to pop culture. In a vision of America in which liberty is primarily about unlimited personal freedom, he said in his speech to the American Principles Project Foundation, “place and home don’t matter much, and civic participation is beside the point.” This same vision produces “economic policy focused on individual advancement, where advancement means making more money and consuming more stuff,” he said, according to his prepared remarks. “So in popular culture, billionaires become heroes, and the everyday working man becomes just some guy who never realized his potential.” (Emma Smith, The Atlantic)

Dienstag, 26. November 2019

Die verlorene Generation

Eines der beliebtesten Bonmots der politischen Demographie ist das Churchill zugeschriebene Zitat: „Wer mit 20 nicht liberal ist, hat kein Herz; wer mit 30 immer noch liberal ist, hat keinen Verstand.“ In unzähligen Abwandlungen ist die Formel von „Jung=Progressiv, Alt=Konservativ“ in den Wissensbestand der Gesellschaft übergegangen. Wie so häufig bei Dingen, die „jeder weiß“ entbehrt es jeglicher Grundlage. Vielmehr haben politikwissenschaftliche Studien ergeben, dass die politische Prägung der Jugend und des frühen Erwachsenenalters in den allermeisten Fällen beibehalten wird. Die Generation der Millenials wird also wohl auch im Rentenalter noch grünen Parteien zuneigen.

Diese Geschichte hat natürlich eine Moral. Wenn der Terroranschlag von Halle etwas gezeigt hat, dann, dass wir drauf und dran sind, eine Generation von jungen Männern an die extreme Rechte zu verlieren. Und wenn die Politikwissenschaftler Recht haben – wonach alles aussieht – dann verlieren wir sie nachhaltig.

Innenminister Horst Seehofer hat viel Spott für seine direkt nach dem Anschlag geäußerte Forderung geerntet, die Gamerszene stärker zu überwachen. Gleich einer kaputten Uhr, die zweimal am Tag richtig geht, ist der CSU-Minister damit aber ausnahmsweise einmal grundsätzlich auf dem richtigen Weg, wenngleich man bezweifeln darf, dass Seehofer das wirklich klar ist und er nicht davon spricht, alle zu überwachen, die einen Account bei Steam, Origin oder im Epic Store haben. Die gute Nachricht für die Sicherheitsbehörden ist, dass die zu überwachende Gruppe wesentlich kleiner ist als die Millionen, auf die Seehofer abzielt.

Der Terrorist von Halle hat sich im Internet radikalisiert. Seine politische Blase befand sich im Morast der Messageboards um 4Chan und 8Chan (letzteres mittlerweile dankenswerterweise offline). Diese Foren sind voller extremistischen Unrats. Subforen, in denen Mord-, Vernichtungs- und Gewaltfantasien, auch sexualisierter Natur, Raum gegeben wird, unmoderiert und unkontrolliert. Austauschforen für Memes extremistischen Inhalts. Einschlägige YouTube-Kanäle, Discord-Kanäle und Twitch-Streams. Es handelt sich um einen einzigen gärenden Nährboden für rechtsextreme Ansichten.

Man sollte dabei nicht den Fehler machen, sich ein Message-Board von Nazi-Glatzen vorzustellen. Das Bild, das man sich vor dem geistigen Auge halten muss, sind die College-Buben von Charlottesville mit ihren Tikifackeln. Diese neuen Rechten kommen nicht aus den heruntergekommenen Verlierervierteln des Ostens, erfüllen nicht das Klischee von Hartz-IV, Springerstiefel und Bierflasche. Es sind junge Männer, die durch einen Prozess der Selbstradikalisierung liefen, der von ihrer (digitalen) Umgebung mitgestaltet wurde.

Die Ausläufer dieser Radikalisierung finden sich – und hier deckt sich die aktuelle Uhrzeit mit Seehofers kaputten Chronometer – beispielsweise in der Gamerszene. Homophobe und sexistische Beleidigungen sind ebenso gang und gäbe wie rassistische Bemerkungen. Diese sind von den Leuten, die sie in Momenten der Wut eintippen oder direkt in den VoiceChat speien, nie so gemeint. Aber sie werden auch nicht sanktioniert. So findet eine Enthemmung statt, die, wenn moderierende Einflüsse fehlen, Rückwirkung auf die restliche soziale Umgebung hat.

Hierzu dienen denn etwa die Chan-Foren oder die zahllosen Meme-Generatoren und -Multiplikatoren des Internets. Hier finden sich zahllose lustig gemeinte Memes, die fast durch die Bank in sexistische, homophobe oder rassistische Richtung gehen. Das zieht sich vom Feiern des Sturmtrupplers aus „Star Wars – Das Erwachen der Macht“, der den (schwarzen) Rebellen Finn einen „Verräter“ schimpft und mit einer Science-Fiction-Variante eines Polizeischlagstocks attackiert über gewalttätige alternative Enden des „You and me“-Comicstrips zu zahllosen Vergewaltigungsfantasien bezüglich Frauen, die mit halbnacktem oder nacktem Körper mit der Aufschrift „Still not asking for it“ genau gegen solche Fantasien protestieren.

Oft genug werden solche Memes „nur ironisch“ konsumiert. Genauso ironisch, wie man die Hasskommentare beim Spielen und Streamen ja gar nicht meint. Aber es ist ein merkwürdiger psychologischer Effekt, dass Dinge, die man ironisch gut findet, binnen Jahresfrist Teil der eigenen Identität werden. Das ironische Feiern der Popkultur der 1980er Jahre hat nicht ohne Grund binnen kürzester Zeit zu einem der größten nostalgiegetriebenen Unterhaltungstrends unserer Zeit geführt.

Diese Desensibilisierung gegenüber Rassismus, Sexismus und Homophobie ist in der Gamerszene weit verbreitet. Sie wird durch die tiefe Unsicherheit des Wandels der Szene und des Mediums befeuert. Rund 30 Jahre lang, vom Entstehen der Szene in den 1980er Jahren bis in die frühen 2010er Jahre, gehörte es stets zum Selbstverständnis, zu einer kleinen, ab- und ausgegrenzten Minderheit zu gehören.

Die Älteren werden sich noch an die Flut von stupiden Debatten erinnern, die besonders zu Beginn der 2000er Jahre über die Bundesrepublik hinwegrollten, als die ersten Amokläufe wie in Erfurt aufkamen und exklusiv Videospiele verantwortlich gemacht wurden. Die FAZ entblödete sich seinerzeit nicht, zu erklären, dass in dem Spiel Counter-Strike Bonuspunkte durch das Schießen auf Großmütter und Kinderwägen erzielt werden konnten, in einem Spiel, in dem es an Bonuspunkten ebenso mangelte wie an Großmüttern und Kinderwägen. Man war beständig missverstanden und fühlte eine Solidarität untereinander. Doch wie bei allen Phänomen des Nerdstreams, so öffnete sich auch das Medium der Games für breitere Schichten. Gelegenheitsspieler noch und nöcher trieben die Gewinne der Entwicklerstudios in die Höhe. Gaming wurde vom sozialen Stigma zur allseits akzeptierten Freizeitbeschäftigung.

Man könnte naiv sagen, dass das ja etwas Gutes sei. Aber für eine Kerngruppe sich als Gamer begreifender und identifizierender Hardcore-Spieler handelt es sich um den Verlust des Paradieses, ein Eindringen ungewaschener Barbaren in den Garten Eden. Denn wie jeder Neuankömmling stellten auch die Millionen neuer „Gamer“ Ansprüche an das Medium. Und diese Ansprüche vertrugen sich nicht mit den eingeübten, oft arkanen Praktiken der Originalszene.

Diese Spannungen explodierten 2014 an die Oberfläche. Eine Generation weiblicher Entwickler und Gamer – Zoe Quinn und Anita Sarkeesian seien pars pro toto genannt – gingen neue Wege und kritisierten lange tradierte Formen des Gamings. Die Reaktion war ebenso virulent wie gewalttätig. Hasspostings und Hassvideos fluteten die einschlägigen Kanäle. In den Chan-Foren wurde ein programmiertes Mini-Game durchgereicht, in dem man Sarkeesian blutig schlagen konnte. Die reale Aktivistin brauchte ob der zahlreichen Morddrohungen Polizeischutz.

Die Reaktionen der Gamerszene reichten von Ignoranz über Leugnung zu Relativierung und direkter Unterstützung der Täter. Diese Phänomene haben sich seither nicht verbessert. Die Subkultur fühlt sich attackiert und führt die Attacke auf eine sich wandelnde Gesellschaft zurück, in der Frauen und Minderheiten gleiche Rechte und Repräsentation einfordern – was in einem einst so männlich dominierten Medium wie Videospielen zu ähnliche Verwerfungen und Sinnkrisen führen muss wie die Herausforderung der männlich dominierten Vorstandsetagen durch #metoo.

Es ist dieser Nährboden, der bei einer winzigen Splittergruppe dieses so profund verunsicherten Spektrums dazu führt, in der Sprache dieser Subkultur zu Terror zu greifen. Die Zahl dieser Täter ist klein; ihre Einhegung und Überwachung, ganz im Seehofer’schen Sinne, Aufgabe der Sicherheitsbehörden.

Wesentlich weitreichender aber ist die Radikalisierung breiter Schichten dieser jungen Männer, die zwar nicht die ultimative terroristische Konsequenz, sehr wohl aber das sie speisende Unbehagen am gesellschaftlichen Wandel teilen, dieses ständige, unterbewusste Gefühl, etwas teilen zu müssen, das man vorher alleine innegehabt hat. Die jungen Männer driften vermehrt nach rechts.

In Deutschland können wir dies ebenso an den Wahlergebnissen ablesen wie in den USA. Männer unter 30 tendieren wesentlich stärker zu AfD oder Donald Trump, als es ihre weiblichen Gegenparts tun; in Deutschland ist die Zuwendung zu der rechtsradikalen Partei bei jungen Männern mittlerweile stärker als bei alten Männern. Hier wächst eine verlorene Generation heran, die auf Jahrzehnte hinaus für Demokratie, Pluralismus und Freiheit verloren sein könnte. Es ist ein bedrückendes Bild, das Handeln und Vorbilder erfordert – gerade aus der Szene, aus der sie sich speisen.

Montag, 25. November 2019

Modi hält verfassungswidrig im Kopftuch eine Vorlesung bei 180km/h auf der Autobahn - Vermischtes 25.11.2019

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) We Need to Cut the Crap on Climate Change
8) Tweet
Angesichts dessen, wie beliebt die Vorstellung ist, dass Steuern nur von einer tapferen, ausgebeuteten Leistungselite bezahlt werden und wie dringend diese Entlastung braucht, ist das hier aufgeführte Schaubild lehrreich. Ja, auf die Einkommenssteuern mag das schon zutreffen, aber die Gesamtsteuerbelastung am verfügbaren Einkommen gleicht sich mit einer Ausnahme bei allen Schichten beachtlich. Jeder Vorschlag, die Einkommenssteuer zu senken, dient daher vor allem jenen, die sich weiter rechts auf diesem Schaubild verorten können. Es ist kein Zufall, dass sich die Steuersenkungsdebatten immer um das Zurückschrauben der progressiven Elemente drehen, während die regressiven Elemente bestehen bleiben. Letztere stören, auch das zeigt das Schaubild deutlich, diejenigen mit den großen Einkommen und Vermögen wenig. Sie sind vor allem für die links verorteten, ärmeren Menschen von Belang; ein FDP-Parteitag beschäftigt sich mit solchen Niederungen für gewöhnlich nicht.

9) CDU-Spitze will keine Kopftücher in Kitas und Grundschulen
Muslimische Mädchen sollten in der Grundschule und der Kita aus Sicht der CDU-Spitze kein Kopftuch tragen. Darüber soll auf dem kommenden Bundesparteitag abgestimmt werden. "Das Tragen des Kopftuchs macht aus den kleinen Kindern schon erkennbar Außenseiter, etwa auf dem Spielplatz oder auf dem Schulhof. Dies wollen wir in jedem Fall verhindern", heißt es in einer Beschlussempfehlung der Antragskommission für den CDU-Parteitag in Leipzig am Freitag und Samstag. Die CDU setze dabei vor allem auf die Überzeugung der Eltern. "Wir schließen allerdings als letztmögliche Maßnahme auch ein Verbot nicht aus", heißt es weiter. [...] Fraglich ist, ob Kopftücher für Schülerinnen in Deutschland überhaupt verboten werden dürften. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags kam 2017 zu dem Ergebnis, dass das verfassungsrechtlich "wohl nicht zulässig" wäre und bezieht sich dabei auch auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Lehrerinnen mit Kopftuch. (dpa, Die Zeit)
Die CDU ist und bleibt eben eine Verbotspartei. Ständig moralisiert sie mit dem erhobenen Zeigefinger und macht ihren Bürgern irgendwelche Vorschriften. Ich sage immer wieder, dass das wahrlich kein Alleinstellungsmerkmal der Grünen ist. Nur macht die CDU das halt cleverer, sie verbietet den sozial Schwachen und anderweitig Ausgegrenzten etwas, da kann sie sich auf die Zustimmung der (wählenden) Mehrheitsgesellschaft verlassen. Das ist natürlich politisch klüger als bei den Grünen, die sich auch nicht scheuen, der eigenen Wählerschaft weh zu tun, wenn es der Sache dient. Hier spielt auch keine große Rolle, dass es ein Rechtsbruch ist, gar gegen das Grundgesetz selbst geht. So etwas ist nur dann relevant, wenn man eine Störung der Lucke'schen VWL-Vorlesung oder ein höheres Tempolimit abwehren muss; die Bürgerrechte von Minderheiten sind jederzeit verhandelbar. Die progressiven Parteien sollten wesentlich mehr in Projektion investieren und beständig darauf hinweisen, dass ALLE Parteien irgendwelche Verbote und Einschränkungen fordern und das mit irgendwelchen moralisierenden Positionen begründen. Jeder tut es. Da aber das Framing der demokratischen Rechten so erfolgreich war, dass dies als einzige Provenienz der Progressiven gilt, sollte hier Waffengleichheit hergestellt werden. Wir sehen die Effektivität dieser Taktik beständig an allen Ecken und Enden. Es ist an der Zeit, dass die Progressiven endlich mal die Samthandschuhe ausziehen.

10) India is entering a new dark age
Even when India was an economic basket case of the world, it was a political and spiritual bright spot that guaranteed basic freedoms to its people and offered a refuge to Westerners seeking peace and spiritual wisdom. But under Prime Minister Narendra Modi, India is going backwards on every front: Its economy is in a free-fall (with growth at a six-year low and unemployment at a 45-year high); its polity is becoming authoritarian; and its dominant religion, Hinduism, is growing intolerant. [...] The national reactions — or lack thereof — to the Taseer case and the mosque ruling, demonstrate that the only deterrent to majoritarian Hindu ambitions in Modi's India aren't legal or political but Modi's own will and designs. If Taseer can't hang on to his free speech rights and citizenship, its hard to see how any of one India's 140 million Muslim citizens can hang on to theirs. There was a brief moment in the 1990s when it seemed India would liberalize its economy to go along with its liberal polity. The reverse is happening now, and Indian liberals are getting too fatigued to stop it. Authoritarianism is winning all around in India. (Shikha Dalmia, The Week)
Even when India was an economic basket case of the world, it was a political and spiritual bright spot that guaranteed basic freedoms to its people and offered a refuge to Westerners seeking peace and spiritual wisdom. But under Prime Minister Narendra Modi, India is going backwards on every front: Its economy is in a free-fall (with growth at a six-year low and unemployment at a 45-year high); its polity is becoming authoritarian; and its dominant religion, Hinduism, is growing intolerant. [...] The national reactions — or lack thereof — to the Taseer case and the mosque ruling, demonstrate that the only deterrent to majoritarian Hindu ambitions in Modi's India aren't legal or political but Modi's own will and designs. If Taseer can't hang on to his free speech rights and citizenship, its hard to see how any of one India's 140 million Muslim citizens can hang on to theirs. There was a brief moment in the 1990s when it seemed India would liberalize its economy to go along with its liberal polity. The reverse is happening now, and Indian liberals are getting too fatigued to stop it. Authoritarianism is winning all around in India. (Shikha Dalmia, The Week)
If it was only India... So bedrückend die Nachrichten aus dem zweitgrößten Land er Welt (bevölkerungsmäßig) und er größten Demokratie der Welt auch sind, das größte Problem ist, dass der Subkontinent hier keine Ausnahme darstellt, auf die die Weltgemeinschaft besorgt blicken könnte. Das Abrutschen einer Demokratie in den Autoritarismus ist eine stets reale Gefährdung (Fundstück 4, wir erinnern uns) und passiert in vielen Ländern der Erde. Auch der Nutzen von Religion und identity politics zur Untermauerung dieses Prozesses und folgende ethnische Säuberungen sind kein indisches Phänomen. Was die Lage in Indien so potent macht ist, dass der Staat mit gut einer Milliarde Einwohnern eine wesentlich größere Bedeutung hat, als wenn der Sudan Minderheiten ermordet. Letzteres ist eine menschliche Tragödie, im Falle Indiens verlieren wir möglicherweise einen entscheidenden Spieler in der Weltordnung. Zig UN-Einsätze sind nur dank indischer Beteiligung möglich, um nur ein Beispiel zu nennen, und die indische Rolle im Sicherheitsrat und als Ordnungsmacht ist nicht zu verachten. Und dann sind wir noch gar nicht bei dem Thema, dass Modi gerade die Situation mit dem ewigen Feind und Nachbarn Pakistan eskaliert, und dabei handelt es sich in beiden Fällen um Atommächte mit nicht eben gesicherter Regierung. Und um die Gefahr weiter zu erhöhen befindet sich Indien auch in einer ständigen Rivalität zur Atommacht China an seiner anderen Grenze und grenzt zudem an so stabile und gefestigte Staaten wie Bangladesch und Sri Lanka an. Kurz, es lohnt sich, sich mehr mit Indien zu beschäftigen als dies in der deutschen Presse aktuell geschieht. Besonders die britischen Zeitungen wenden hier (aus nachvollziehbaren Gründen) wesentlich größere Aufmerksamkeit auf.

11) Noch nicht ausgemustert: Gezielte Reformen können das Spitzenkandidaten-Verfahren wieder erfolgreich machen
Bereits die Kür der Spitzenkandidaten durch die europäischen Parteienfamilien deutete darauf hin, dass es zum Konflikt zwischen Parlament und Europäischem Rat kommen würde. Gerade die EVP unterschätzte die offensichtliche Kritik an der fehlenden Exekutiverfahrung ihres Spitzenkandidaten Manfred Weber und die damit verbundenen Widerstände im Europäischen Rat – allen voran vonseiten des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Gerade das Beispiel Jean-Claude Junckers hat gezeigt, dass die Staats- und Regierungschefs „einem der ihren“ mit mehr Respekt und Anerkennung begegnen und damit einen solchen Spitzenkandidaten eher für das Amt des Kommissionspräsidenten in Erwägung ziehen würden. Auch Ursula von der Leyen konnte sich als langjährige Bundesministerin in diversen Ressorts auf europäischer Ebene einen Namen machen und sich über die Zusammenarbeit im Rahmen des Ministerrats ein weit verzweigtes Netzwerk in den Hauptstädten Europas aufbauen. Deshalb sollten alle Parteienfamilien nur richtiges Spitzenpersonal mit Exekutiverfahrung für das Amt des Kommissionspräsidenten ins Rennen schicken, um das Spitzenkandidatenverfahren langfristig aufzuwerten. Die Parteienfamilien sollten Erfahrung als Regierungschef, Minister oder Kommissar in der Europäischen Kommission zum zentralen Kriterium der Spitzenkandidatenkür machen. Denn der Kandidat muss nicht nur in der Lage sein, im Parlament eine Mehrheit auf sich zu vereinen, sondern auch im Europäischen Rat bestehen und dort Ansehen genießen. Im Vorfeld der in Erklärung 11 zu Art. 17 Abs. 6 und 7 EU-Vertrag festgeschriebenen Konsultationen zwischen dem Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament zur Nominierung eines Kandidaten nach der Europawahl könnten beide Institutionen bereits vorab einvernehmlich Eigenschaften und Qualifikationen der Kandidaten als festen Rahmen festlegen. Auch Mehrsprachigkeit sollte in diesem Zusammenhang als notwendige Profileigenschaft festgehalten werden. Dies würde die Sichtbarkeit des Spitzenkandidatenverfahrens im Wahlkampf und damit auch dessen Legitimation deutlich stärken. Gerade der amtierende Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, aber auch der niederländische Sozialdemokrat Frans Timmermans haben vorgemacht, wie hilfreich Sprachkenntnisse in der Ansprache möglichst vieler Europäer sind. (Julian Rappold, Europäischer Föderalist) 
Hier wird ein zentrales Problem des Spitzenkandidatenverfahrens deutlich: Um erfolgreich die Nominierung zu gewinnen, sind zentral andere Fähigkeiten und Profile vonnöten als für Bekanntheit und Wahlkampf auf europäischer Ebene. Dieses Paradox ist in der aktuellen Struktur wenig lösbar. Um gewählt zu werden, sollte der Kandidat ein ehemaliger, bestens in der europäischen Exekutive vernetzter Regierungschef sein. Um aufgestellt zu werden, sollte er ein profilierter, bestens in der europäischen Legislative vernetzter Parlamentarier zu sein.
Da eine Änderung der Verträge völlig illusorisch ist, wird sich ein Wandel hier nur zäh über einen Wandel der Normen erzielen lassen. Das heißt, dass die europäische Öffentlichkeit sich an die Vorstellung gewöhnen muss, den Vorsitzenden der Europäischen Kommission als Machtfaktor zu sehen, seine Wahl als verknüpft mit der zum Europäischen Parlament und letztere als mindestens ebenso wichtig wie die zum nationalen Parlament. Eine einfache Aufgabe also.

Donnerstag, 21. November 2019

Revolution in den Vorstädten: Das neue Realignment

Es ist heute kaum mehr vorstellbar, aber es gab eine Zeit, da waren die Democrats die Partei der Südstaatenrassisten und des Ku-Klux-Klan. Diese Zeit endete in den 1930er Jahren, als in einem als "realignment" - Neuausrichtung - benannten Prozess die beiden Parteien effektiv ihre Wähler tauschten. Aus der historischen Rückschau wirkt der Prozess als klar definierbar und abgeschlossen, aber in Wahrheit zog er sich über Jahrzehnte. Es ist für die amerikanische Geschichte auch nichts Neues. Die Demokratie befindet sich einem ständigen Neuausrichtungsprozess. Die Parteien versuchen, neue Wählerschichten zu erschließen, und bestehende Wählerschichten wandern ab. Aktuell schälen sich die Konturen eines neuen realignments ab: nicht so bedeutend wie der komplette Wähleraustausch des 20. Jahrhunderts, der aus den Republicans eine rechtsgerichtete, ihre Basis im rassistisch-weißen Süden habende machte. Aber spürbar, und mit gewaltigen Auswirkungen auf die Wahlchancen beider Parteien.

Ein Blick zurück

Bevor wir allerdings darauf schauen, möchte ich einen Blick auf ein beinahe abgeschlossenes kleines realignment werfen, das uns als Folie für unsere Analyse dienen soll. Zu diesem Zweck müssen wir eine kleine Zeitreise machen, in die Jahre um die Mitte des letzten Jahrzehnts. Der Irakkrieg hatte begonnen und trieb seinem blutigen ersten Höhepunkt in Falludscha zu, und die Bush-Regierung zeigte der Welt ein Bild des hässlichen Amerikaners, wie es bis zu Trumps Wahl nicht wieder gesehen werden sollte.

Tonangebend in Bushs Regierung waren die so genannten Neocons. Bei ihnen handelte es sich um außenpolitische Falken. Sie waren für eine aggressive US-Interventionspolitik, um Demokratie und Freiheit mit den Stiefeln der US-Army überall in die Welt zu exportieren. Es war eine Zeit, in der Max Boot davon schwärmen konnte, dass das amerikanische Imperium für die Welt ähnlich segensreich wie "100 Jahre zuvor aufgeklärte Europäer in Tropenhelmen" wäre.

Heute ist Boot einer der wenigen verbliebenen Never-Trumper (wir haben hier über sie geschrieben). John Bolton wurde gefeuert. Lindsay Graham, noch nie für übermäßig viel Rückgrat oder Integrität bekannt, hat sich von einem der heißblütigsten Neocons komplett als Trump-Kreatur neu erfunden, die möglichst effektiv Frauen und Minderheiten beleidigt. Kurz, die Neocons sind raus. Sie haben in der GOP keinen Platz und keinen Einfluss mehr. Es gab ein realignment. Wenigstens rhetorisch sind die Republicans zu ihren isolationistischen Wurzeln zurückgekehrt, wenngleich der Appetit an Interventionen nicht nachgelassen hat. Wie bei allen Dingen Trump sagt man jetzt nur die schockierendsten Dinge, etwa, dass man in anderen Ländern wegen des Öls einfällt oder gerne Schutzgeld hätte.

Vietnam-Syndrom

Für die Neocons, die tatsächlich aufrichtig an ihre Mission, die Welt durch B52-Bomber und M4-Sturmgewehre zu einem besseren Ort zu machen, geglaubt haben, ist das keine neue Erfahrung. Sie haben sie bereits einmal durchgemacht. Zwischen 1968 und 1972 verließen sie ihre damalige Heimat, die Democrats. Der Abgang von Präsident Johnson, dessen Amtszeit synonym mit dem Vietnamkrieg geworden war, und die Niederlage seines Vizepräsidenten 1968 und dann bei der Nominierung 1972 gegen den Linksaußen George McGovern brachte den Pazifismus als Mainstreamströmung in die Partei.

Die Falken waren raus, und die Ex-Hippies und ehemaligen Friedensdemo-Gänger hatten eine neue politische Heimat. Im Verlauf der 1970er Jahre erfanden sich die vormals demokratischen Falken als Neo-Konservative neu und hängten sich an die Kandidatur Ronald Reagans, unter dem sie schnell zu alter Macht und Einfluss zurückkehrten. Der Rest ist Geschichte.

Woher kam es? Beim ersten Mal versuchten die Democrats, ihre zunehmend progressivere Parteibasis wieder einzufangen und an die Partei zu binden und reagierten auf deren verbreiteten Wunsch, den Vietnamkrieg als Fehler zu betrachten und außenpolitische Abenteuer künftig zu opponieren, was sie denn bis zur Präsidentschaft Clintons auch taten. Dafür gewannen sie die 68er-Demonstranten. Angesichts der Wahlergebnisse der kommenden Dekaden kann man darüber streiten, ob das für die Partei ein Gewinn war.

Echos von South Carolina

2016 brach Donald Trump entschieden mit den Neocons, als er auf offener Bühne in South Carolina Jeb Bush mit den Worten "Bush lied, people died" einen bisher eigentlich linken Punkt als Fehdehandschuh hinwarf - und Bush feststellen musste, dass die Zahl derer, die Neocon-Ideen nahestanden, wesentlich geringer war als gedacht, während umgekehrt eine bisher politisch heimatlose Gruppe prekär lebender Weißer den Ideen des Trump'schen Protektionismus und Rassismus aufgeschlossen gegenüberstand. Die Neocons waren raus, die Globalisierungsverlierer drin. Auch hier steht ein großes Fragezeichen über dem Gesamtnutzen für die Partei.

Wechselnde politische Prioritäten der Wähler können für solche kleinen, übersichtlichen Gruppen einen schnellen Wandel bedeuten. Doch natürlich finden solche Prozesse auch mit größeren, elektoral wesentlich relevanteren Gruppen statt (die Neocons besaßen zwar viel publizistischen Einfluss, aber wie bei den Libertären ist ihre Zahl deutlich geringer als ihre öffentliche Wirksamkeit). Und aktuell sind wir in einem Realignment-Prozess, der zwar langsam, aber stetig die Zusammensetzung der Wählerschaften ändert - und damit auch Personal und Politiken der beiden Parteien.

Männer und Container

Bereits seit längerem verliert die politische Linke die Loyalität der Schicht, die sie einst überhaupt erst zu einem Machtfaktor machte: männliche weiße Arbeiter. Dabei handelt es sich um ein weltweites Phänomen, das aber eben auch in den USA zu begutachten ist. Das bisherige Synonym von "links" und "Arbeiterpartei" gilt immer weniger. Diese Entwicklung zu konstatieren ist nicht gerade eine neue Idee, sie wurde seit 2016 landauf, landab diskutiert - vor allem unter dem Schlagwort der Analyse der "Obama-Trump-Wähler" - und ist uns hier von der Analyse der AfD-Wahlergebnisse ebenfalls bekannt.

Der politische Durchbruch des Rechtspopulismus, der so lange Jahre keine politische Heimat hatte und nun entweder konservative Parteien gekapert hat - wie in den USA oder im UK - oder sich als Partei neu etabliert hat - wie in Deutschland oder Frankreich - hat damit auch ein politisches Angebot zurück auf den Tisch gebracht, das seit dem Rechtsschwenk der sozialdemokratischen Parteien in den 1980er und 1990er Jahren als Reaktion auf den Dauererfolg der Konservativen nicht bedient wurde: ökonomischer Populismus.

Trump gewann die Stimmen der weißen Arbeiter mit zwei zentralen policy-Versprechen, die er rhetorisch stets geschickt mit ungewohnt direktem und scharfen Rassismus und Sexismus zu verknüpfen wusste. Diese Versprechen waren die Abschottung des heimischen produzierenden Gewerbes (beziehungsweise seiner kläglichen Reste) und die staatliche Subventionierung der absterbenden Branchen. Man denke nur an Trumps Auftritt in West Virginia, als er in einem weißen hard hat das Schaufeln von Kohle imitierte, während Tage zuvor Hillary Clinton die ungeschminkte Wahrheit verkündete, dass der Kohlebergbau ohne Zukunft war und es Umschulungs- und Umstrukturierungsmaßnahmen brauchte.

Wie immer in der Politik bestand keine Nachfrage an Wahrheit, aber an Mythen und identity politics. Trump identifizierte sich selbst, so oberflächlich und hohl diese Identifizierung angesichts seines ganzen Werdegangs auch sein mochte, mit den Verlierern und gab ihnen, was sie wollten: "Ihr seid nicht schuld. Mit euch ist alles okay. Es sind die anderen, die schuld sind." Und das ist es, was jeder Mensch hören will.

Trump wirkte wie ein Brandbeschleuniger in einem seit den 1980er Jahren andauernden Prozess der Ablösung der weißen Arbeiterschicht von den Democrats zu den Republicans, mit nicht geringer Schützenhilfe von einem Clinton-Wahlkampf, der ein geradezu handgeschneidertes Feindbild abgab. Dieses realignment hat seither auch nicht aufgehört, sondern setzt sich unvermindert fort - in allen Ländern des Westens.

Frauen und Hosenanzüge

Natürlich waren weder Clinton und ihr Wahlkampfteam noch die Democrats zu blind, um das zu sehen. Ihre Wette war vielmehr, dass eine andere Kraft des realignment ihre Verluste nicht nur kompensieren, sondern übertreffen würde. Keine Partei ist je in der Lage, alle gesellschaftlichen Gruppen zu repräsentieren. Deswegen gibt es Wahlergebnisse jenseits der 60% für eine Partei eigentlich auch nur in autoritären Staaten, in denen der Pluralismus allenfalls ein theoretisches Dasein fristet (von Ausnahmen wie Verhinderungswahlen à la Chirac oder Macron einmal abgesehen).

Wann immer eine Partei neue Wählerschichten erschließt, wird sie irgendwo auch alte verlieren. Das mag manchmal ein klares Plus-Geschäft sein: der Verlust der Neocons etwa bescherte beiden Parteien in beiden Fällen mehr Wähler, als sie verloren. Es gab mehr Hippie-Demonstranten als Vietnamkriegsbefürworter, und es gab mehr Globalisierungsverlierer als Irakkriegsbefürworter. Häufig genug aber ist die Rechnung nicht so einfach. Die Wette, die die Democrats 2016 eingingen, war folgende: Die geringen Verluste bei der weißen Arbeiterschicht würden durch die zahlreichen Affronts Donald Trumps gegen republikanische Kernideen und Kernwählerschaften aufgehoben, so dass die Democrats massiv in republikanische Wählerschichten einbrechen konnten: den Heiligen Gral Suburbias, die Vorstädte mit ihren gepflegten Rasen vor breiten Garageneinfahrten und großen Einfamilienhäusern. Sie waren seit Jahrzehnten fest in der Hand der GOP, und der DNC war entschlossen, sie ihnen zu entreißen.

Die Rechnung ging beinahe auf. Die weißen Frauen in den Vorstädten, seit Jahrzehnten eine verlässliche Kernwählerschaft der Republicans, stimmte 49:49. Erstmals verlor die GOP ihre klare Mehrheit. Dass es NUR 49:49 ausging, trotz Access Hollywood und all den anderen Skandalen, lag vor allem an zwei Faktoren: Comeys Brief und der Langsamkeit solcher Wandlungsprozesse.

Kurz gesagt: Die Ablösung der weißen Arbeiter von den Democrats war seit längerer Zeit in Gange als die weißer Frauen von den Republicans, und Trump war ihnen ein wesentlich besserer Avatar als Clinton der Gegenseite.

Backlash

Aber wie jedes Mal bringt jeder Wandel eine Gegnerschaft, jede Aktion eine Reaktion, jeder Aktivismus einen Backlash hervor. Wir Progressiven sind daran gewöhnt. Trumps Sieg ist das erste Mal seit langem, dass die Dynamik unter umgekehrten parteipolitischen Vorzeichen abläuft. Der Sieg Trumps mobilisierte die Frauen in einem Ausmaß, das der vorherigen Mobilisierung der weißen Arbeiter durch den Präsidenten im Wahlkampf (die Wahlbeteiligung war wesentlich höher als in den Jahrzehnten zuvor, ein zentraler Faktor für die 77.000 Stimmen Unterschied in vier Staaten, die ihm den knappen Sieg brachten) in nichts nachstand.

Bereits am Tag nach seiner Amtsübernahme protestierten Millionen Frauen im ganzen Land. Und die Einschläge folgten. Die Pussyhats. Harvey Weinstein. #metoo. Judge Moore. Brett Kavanaugh. Seit zwei Jahren jagt ein Ereignis nach dem nächsten. Das öffentliche Bewusstsein, die gesamte Debatte, hat sich völlig gewandelt. Und mit ihr die Democrats. Der Kampf, den sie 2016 mit einer auf den Rücken gebundenen Hand führten - man erinnere sich an Trumps vernichtende Reaktion auf die Veröffentlichung des Access-Hollywood-Videos: "Bill Clinton war noch schlimmer" - war nun offen.

Erneut tätigen beide Parteien eine Wette. Die Republicans wetteten, dass die Wut und der Protest der Democrats den realignment-Prozess der weißen Männer zu ihrer Partei ein weiteres Mal anfeuern und ihnen den Sieg bringen würden. Die Democrats wetteten, dass dieser Prozess seinen Zenit erreicht hatte und dass die Wählerwanderung, auf die man 2016 gehofft hatte, 2018 verspätet folgen würde.

Die Einsätze waren hoch. Um die 2016 noch unscharfe Position der Partei in diesen Fragen zu schärfen, hatten die Democrats gnadenlos ihr Haus in Ordnung gehalten. Am offenkundigsten wurde dies 2017 beim Rücktritt Al Frankens. Franken war ein Shooting-Star der Partei, ein überaus beliebter und super-effektiver Senator. Als glaubhafte Anschuldigungen von sexueller Belästigung aufkamen, zwangen die Parteifrauen - Kirsten Gillebrandt und Nancy Pelosi ganz vorne - ihn zum Rückzug. Es war ein hoher Preis. Und viele Beobachter bezweifelten, dass sich die Säuberung der Partei von Sexualstraftätern auszahlen würde.

Dann kamen die Midterms 2018. Weiße Frauen in den Vorstädten wählten 54:45 die Democrats. In einem Erdrutschsieg eroberte die Partei bei den Midterms 2018 über 40 Sitze im Repräsentatenhaus, knapp die Hälfte durch junge Frauen.

Ein Blick nach vorn

Die Hoffnung der Democrats ist, diesen Sieg als Sprungbrett zu einer völligen Eroberung der Vorstädte nutzen und damit in Staaten vordringen zu können, die von Suburbia dominiert und bisher feste Basen der GOP sind. Der erste Preis ist Texas, ein Staat, der seit mittlerweile 20 Jahren jedes Jahr ein ganz kleines bisschen blauer wird und so etwas wie der Weiße Wal des DNC ist. Aber auch andere Staaten des Sun Belt wie Arizona oder Georgia sowie natürlich Florida sind Ziele, die die Democrats nur zu gerne übernehmen würden.

Denn das ist das größte Problem, dem sie sich aktuell gegenübersehen. Das realignment schreitet voran, aber es tut das nicht gleichmäßig und nicht besonders schnell. 2016 profitierten die Republicans davon, dass es in den Staaten des Mittleren Westens schneller vorangeht als im Sun Belt. Obwohl die Partei bereits seit gut zwei Dekaden praktisch nicht mehr fähig war, landesweite Mehrheiten zu mobilisieren, reicht es dank der Verzerrungen des Electoral College noch, das Präsidentenamt zu erobern. Und in den Bundesstaaten selbst verzögern die Republicans den realignment-Prozess durch Wahlunterdrückung und gerrymandering.

Allen Beteiligten ist klar, dass diese Dynamik gegen die Republicans arbeitet. Das ist der Grund, warum Mitch McConnell seit Jahren nur daran arbeitet, der künftigen demokratischen Mehrheit möglichst viele Hürden in den Weg zu legen. Die Frage ist nur, wann das passiert - und wie die Republicans dann darauf reagieren werden. Jedes realignment lässt Verlierer zurück, hinterlässt Lücken im politischen Angebot, stößt bisherige Verbündete ab. Das Wohl und Wehe von Parteien entscheidet sich daran, wie gut sie in der Lage sind, darauf zu reagieren.