Samstag, 29. Juni 2019

Die gähnende Langeweile der Pflichtlektüren

Wie einige regelmäßige Leser dieses Blogs sicher wissen, bin ich unter anderem auch Deutschlehrer. Das ist etwas, das hier im Normalfall keine große Rolle spielt, aber ich will heute mal eine Ausnahme machen und über ein Thema schreiben, das mich schon seit längerer Zeit nervt: die gähnende Langeweile der Abitur-Pflichtlektüren. Um was geht es? Im gymnasialen Abitur Baden-Württemberg werden immer für ca. vier Jahre drei Lektüren verpflichtend behandelt (daher der Terminus "Pflichtlektüren"; in anderen Bundesländern wird der Kanon weiter gefasst, aber dafür in den Aufgabenstellungen natürlich auch nicht so tief gegangen wie in BaWü). Dabei wird üblicherweise auf eine Gattungsmischung geachtet; es ist also eigentlich immer ein Drama, ein Roman und häufig eine Novelle dabei. Unter den insgesamt fünf Themenbereichen des Deutsch-Abis nerven mich diese Pflichtlektüren am meisten - wegen ihrer gähnenden Langeweile.

Für den Kontext: ich bin natürlich kein alter Hase (aktuell bin ich im sechsten Jahr ausgelernter Vollzeitlehrer), aber ich habe, zusammen mit meiner eigenen Schulzeit, immerhin drei dieser Zyklen mitgemacht. Schauen wir uns mal eben an, was es da alles gab. In meiner eigenen Schulzeit waren es wegen eines abweichenden Aufgabensystems noch zwei Lektüren: Theodor Fontanes "Effi Briest" und Friedrich Schillers "Kabale und Liebe". Als ich 2013 angefangen habe, fing gerade ein neuer Zyklus an: Max Frischs "Homo Faber", Peter Stamms "Agnes" und Georg Büchners "Dantons Tod". Seit diesem Jahr, 2019, ist ein neuer Abiturzyklus mit Johann Goethes "Faust", E.T.A. Hoffmanns "Der Goldene Topf" und Hermann Hesses "Steppenwolf". Ich konzentriere mich hier im Artikel nur auf die Werke, die ich selbst irgendwie im Unterricht behandelt habe.

Vermutlich sind die meisten dieser Werke zumindest dem Namen nach geläufig. Es sind überwiegend unbestreitbare Klassiker der deutschen Literatur, vor allem natürlich der unvermeidliche "Faust" (der diesen hervorgehobenen Rang ja durchaus auch verdient). Mein Problem ist sicherlich nicht der mangelnde Anspruch dieser Werke; es ist ihre monothematische Berechenbarkeit, die mich stört. Das sieht man bereits beim Inhalt:

- In "Effie Briest" heiratet ein etwa 50jähriger Beamter die 17jährige Tochter seiner alten Flamme. Sie fühlt sich in der preußischen Provinz eingeengt und geht nach einer Affäre tragisch zugrunde.

- In "Kabale und Liebe" verliebt sich ein Adeliger tragisch in eine Bürgerliche. Wie im Original "Romeo und Julia" begehen die beiden auch in Schillers Remake Selbstmord.

- In "Homo Faber" verliebt sich ein etwa 50jähriger Ingenieur in eine etwa 20jährige Frau, die sich später in einer Spiegelung des Ödipus-Motivs als seine Tochter herausstellt. Es wird viel über den Gegensatz von Natur und Technik philosophiert, die als weibliches respektive männliches Prinzip gedeutet werden.

- In "Agnes" verliebt sich ein etwa 50jähriger Schriftsteller in eine etwa 20jährige Doktorantin. Die Beziehung scheitert an seiner Kommunikationsunfähigkeit. Es wird viel über die Einsamkeit des Menschen in der modernen Massengesellschaft philosophiert.

- In "Dantons Tod" geht es, Spoiler-Alert, um den Tod des französischen Revolutionärs Danton. Wir sehen Intrigen, Parlamentskämpfe, philosophische Dispute über die Existenz Gottes und den Sinn des Lebens, die Notwendigkeit der Gewalt und die dumpfe Ahnungs- und Hoffnungslosigkeit der Massen. Büchner ist ein echter Optimist.

- In "Faust" geht es um einen etwa 60jährigen Gelehrten, dessen Ehrgeiz ihn nicht zur Ruhe kommen lässt und der eine Midlife Crisis erlebt. Er verliebt sich in eine 14jährige Bürgerliche, mit der er das höchste Lebensglück zu erleben hofft. Sie wird schwanger, tötet aus Verzweiflung das Kind und wird hingerichtet, er zieht weiter, um in "Faust II" dann die "große Welt" kennenzulernen.

- Im "Steppenwolf" geht es um einen etwa 50jährigen Gelehrten, der eine Midlife Crisis erlebt und mit dieser klarzukommen versucht, wobei ihm eine junge Frau zur Seite steht.

- Im "Goldenen Topf" geht es um einen Leipziger Studenten, der so empfindsam ist, dass er in der Lage ist, eine phantastische Märchenwelt zu erspüren und die verwunschene Tochter eines mystischen Herrschers zu ehelichen und sich so der drögen Bürgerlichkeit zu entziehen.

Ich glaube, aus der Auflistung wird recht schnell ersichtlich, warum ich von monothematischer Langeweile spreche. Die meisten Protagonisten sind männlich, weiß, um die 50, bürgerlich und entweder gebildet oder sogar intellektuell. In der Hälfte der Werke kommen sie mit einer Frau zusammen, die deutlich jünger ist als sie selbst. Es geht um bürgerliche Themen, bürgerliche Existenzkrisen, der Charakter ist häufig in einer Midlife Crisis. Diese Themen sind alle einer Bearbeitung wert. Ich kann als Deutschlehrer den Einsatz jedes dieser Werke in Unterricht und Prüfung jederzeit rechtfertigen. Die Texte sind anspruchsvoll und erlauben die Arbeit mit einer ganzen Bandbreite an literaturwissenschaftlichen Methoden.

Aber.

Es ist die unglaubliche Häufung, die so enervierend ist, und die fast klinische Trennung von jeglicher Lebensrealität. Ja, es werden wahnsinnig viele spannende philosophische Themen verhandelt. Ich genieße die politische Auseinandersetzung zwischen Danton und Robespierre so sehr wie jeder andere Deutschlehrer (Gott, was für ein mehrdeutiger Satz). Und es ist Abiturienten absolut zuzumutzen, sich mit intellektuellen Themen auseinanderzusetzen, die keinen Bezug zu ihrer eigenen Lebensrealität haben, schon allein weil, let's face it, die meisten von ihnen in ihrer Freizeit sicherlich nicht über solche Dinge nachdenken.

Aber.

Das Problem mit dem Behandeln von Literatur im Deutschunterricht ist, dass Literatur damit dezidiert in einen klinischen Sonderraum verschoben wird. Mit Literatur befasst man sich vier Stunden die Woche im Deutschunterricht, und sie hat keinen, aber auch gar keinen, Bezug zu irgendetwas, das die Schüler je wieder tun oder erleben werden. Dieser Eindruck ist fatal. Und natürlich gibt es immer einige Schüler, die den Kram trotzdem mögen und denen er etwas gibt. Geschenkt. Das sind Ausnahmen.

Und ich halte diesen Faktor tatsächlich für wichtig. Wir trennen ohnehin viel zu sehr zwischen Literatur, die eine analytische Betrachtung (etwa im Unterricht, oder im literarischen Quartett) rechtfertigt, und Literatur, die "nur" zur Unterhaltung gelesen wird, als ob ein vorhandener Unterhaltungswert per se ein Ausschlusskriterium für Ernsthaftigkeit sein müsste. Genau diesen Eindruck aber erwecken die Lektüren. Und das hängt auch mit ihrer großen Komplexität zusammen.

Die vorgestellten Werke sind allesamt Kunstwerke, im Wortsinne. Sie sind ungeheuer konstruiert und enthalten wahre Berge von Stilmitteln, intertextuellen Bezügen, Anspielungen, philosophischen Betrachtungen und und und. Gleichzeitig - und gewissermaßen paradoxerweise - macht gerade dieser Kunstwerkcharakter sie auch extrem berechenbar. Lernt man die Leitmotive, Charakterbeziehungen und Gattungsmerkmale auswendig, muss man sie nicht verstehen, um das Abitur zu bestehen. Das Kultusministerium hat diesen Sachverhalt jüngst auch anerkannt und versucht nun, durch die Einführung des so genannten Außentexts (eine Erklärung siehe hier) die Aufgabe künstlich schwieriger und unberechenbarer zu machen; die Wirksamkeit dieser Maßnahme werden wir dieses Jahr zum ersten Mal untersuchen können.

Die Pflichtlektürenaufgabe im Abitur fordert von den SchülerInnen drei Teilschritte: Die Einordnung einer gegebenen Textstelle (also die Verortung innerhalb der Handlung, was KEINE Inhaltsangabe ist), die Interpretation der Textstelle nach Form und Inhalt und dann der Vergleich zweier dieser Werke anhand einer Kategorie, die aus dem erwähnten Außentext erschlossen werden muss.

Wir werden uns mit den anderen Aufgaben des Deutsch-Abiturs und dem generellen Aufbau des Stoffs noch in einem gesonderten Artikel beschäftigen. Wir müssen aber kurz verstehen, welche Kompetenzen die SchülerInnen am Ende der Jahrgangsstufe mitbringen sollen, die im Abitur geprüft werden - denn diese Kompetenzen bestimmen ja maßgeblich die Pflichtlektürenauswahl.

Zum Einen sollen die SchülerInnen einen Überblick über die Epochen der deutschen Literaturgeschichte vom Barock bis heute bekommen. Entsprechend wird die Auswahl immer Epochenübergreifend sein, also nicht etwa Goethe und Schiller nebeneinanderstellen, sondern eben wie zu meiner Zeit Schiller und Fontane, oder wie jetzt Hesse und Goethe. Das ist besonders für den Vergleich der Lektüren wichtig, wo die SchülerInnen diese Unterschiede dann herausarbeiten müssen.

Zum Anderen sollen die SchülerInnen verschiedene Gattungsformen kennenlernen. Das bedeutet vor allem, die Königsdisziplin des Dramas (sowohl in der klassischen Form, die üblicherweise vor der Jahrgangsstufe gelehrt wird, als auch in den späteren Brechungen bis hin zum epischen Theater Brechts) und der Roman; auch die Novelle taucht aber gerne auf. Die anderen Gattungsformen wie Lyrik oder Kurzprosa stellen eigene Aufgaben dar und gehören daher in den angekündigten zweiten Artikel.

Zum Dritten sollen die SchülerInnen sich mit verschiedenen Themenbereichen auseinandersetzen, die über die Pflichtlektüren vergleichbar sein müssen. Die Aufgabe erfordert das, weswegen die Lektüren irgendwelche Leitmotive gemeinsam haben müssen.

All diese Faktoren schränken naturgemäß bei der Auswahl ein. All diese Faktoren sind aber keine Entschuldigung für die bürgerlich-monotone Wüstenei der gymnasialen Themenauswahl. Dabei geht die Auswahl für das Abitur durchaus besser, wie man in Baden-Württemberg an einer anderen, parallel laufenden Schulart sieht: den Berufskollegs und den Berufsoberschulen. An ersteren erwerben die SchülerInnen üblicherweise die Fachhochschulreife, an zweiteren das Abitur. Diese beiden Schulen verwenden ein komplett anderes Set an Pflichtlektüren und Aufgaben als die Gymnasien (denn wenn man sich in Deutschland schon 16 verschiedene Zentralabiturs gönnt, kann man die auch innerhalb des Bundeslands noch einmal aufsplitten).

Und an diesen beiden Schulformen ist die Bandbreite möglicher Texte, obgleich die Gattungs- und Epochenvoraussetzungen dieselben sind und ebenfalls das Abitur erworben wird, wesentlich breiter als an den Gymnasien. Ich unterrichte diese Form des Abiturs seit sechs Jahren und habe mittlerweile zwei Zyklen mitgemacht. Dabei waren folgende sechs Texte Thema: Martin Suters "Die dunkle Seite des Mondes" (jüngst mit Moritz Bleibtreu verfilmt), Gerhart Hauptmanns "Vor Sonnenaufgang" und Thomas Strittmatters "Raabe Baikal" im ersten dieser Zyklen und Robert Seethalers "Der Trafikant", Georg Büchners "Woyzeck" und Franz Kafkas "Die Verwandlung" im zweiten Zyklus.

- In "Die dunkle Seite des Mondes" geht es um einen Schweizer Banker, der auf der Suche nach neuen Erfahrungen Drogenpilze nimmt und über diese seine Gefühle verliert, was ihn dazu bewegt, in die Wälder zu ziehen und Leute umzubringen. Der Roman befasst sich unter anderem mit der Welt der Hochfinanz und schafft immer wieder Momente schwarzer Komik. Es war das erste Mal, dass ich eine Schullektüre tatsächlich mit Interesse und Spannung gelesen und laut gelacht habe. Das Buch ist absolut zu empfehlen (den Film habe ich immer noch nicht gesehen).

- Hauptmanns "Vor Sonnenaufgang" ist ein Sozialdrama aus dem späten 19. Jahrhundert, das sich mit der völligen Verwüstung von Bergarbeitern in der schlesischen Provinz durch übermäßigen Alkoholkonsum beschäftigt. Das Werk ist durch die Verwendung schlesischer Mundart und seine Struktur sehr merkwürdig - es passiert praktisch nichts von Konsequenz, was mehr oder weniger Hauptmanns Punkt ist - bietet aber einen Einblick in die sozialen Probleme verschiedener Schichten, in denen das Bürgertum als abgehoben-desinteressierte Klasse kritisiert wird.

- Strittmatters "Raabe Baikal" ist das wohl merkwürdigste Buch, das ich gelesen habe. Strittmatter ist ein gebürtiger Schwarzwälder, der bereits sehr jung Anfang der 1990er Jahre gestorben und kaum bekannt ist. In dem Roman geht es um einen Jungen, der sich mit dem Tod und dem Aufwachsen in der Moderne (sprich: Anfang der 1990er) befasst. Der ganze Stil ist sehr ungewöhnlich, und der Roman ist voller mythisch aufgeladener und gleichzeitig profaner Szenen, die seine Lektüre zu einem echten Erlebnis machen; ob man dieses Erlebnis gouttiert, ist dabei eine andere Frage. Er ist auf jeden Fall...anders.

- In Seethalers "Trafikant" (ebenfalls jüngst verfilmt) geht es um einen 17jährigen Jungen aus der österreichischen Provinz, der kurz vor dem Anschluss nach Wien kommt, wo er eine Lehre als Trafikant (ein glorifizierter Kioskbetreiber) macht. Er verliebt sich in eine illegale Einwanderin aus Böhmen, lernt Sigmund Freud kennen und diskutiert mit ihm seine Probleme, ehe er von den Ereignissen des Anschlusses mitgerissen wird und durch seinen Widerstand zu Tode kommt.

- In "Woyzeck" geht es um den Soldaten Woyzeck, der ein uneheliches Kind hat und um seine bittere Armut durch Teilnahme an zerstörerischen medizinischen Experimenten zu lindern versucht. Die Gesellschaft ist teilnahmslos gegenüber der Sozialen Frage (es sind die 1830er) und Woyzeck gleitet in den Wahnsinn ab und ermordet seine Partnerin. Büchner stellte das Drama nie fertig, so dass es fragmentarisch und ohne Ende bleibt, aber sein auch in "Dantons Tod" offenkundiger Optimismus bricht auch hier durch.

- Kafkas "Die Verwandlung" ist das traditionellste Werk in dieser Liste; Gregor Samsa verwandelt sich in einen riesigen Käfer und wird von der Gesellschaft ausgestoßen. Thematisch werden die Beziehung zum Vater, der Druck der Arbeitswelt, Selbst- und Realitätsverleugnung sowie Spießbürgerlichkeit thematisiert.

Es ist nicht gerade so, als würde diese Liste irgendwelche seichte Unterhaltungsliteratur enthalten. Alle oben genannten Werke ermöglichen ebenso die drei Aufgabenstellungen und den Erwerb der entsprechenden Kompetenzen. Sie sind aber weniger komplexe Kunstwerke als die im gymnasialen Bereich verwendeten Lektüren, was zwei wichtige Folgen hat.

Einerseits sind sie leichter zu verstehen als etwa "Faust" das ist. Das führt aber paradoxerweise nicht zu einem Niveau-Abfall, denn auf der anderen Seite sind sie wesentlich unberechenbarer und bieten (auch wegen der geringeren Schülerzahl dieser Schularten) weniger ausgetretene Pfade. So ist zwar etwa ein Roman wie die "Dunkle Seite des Mondes" weniger komplex als Stamms "Agnes", dafür aber auch wesentlich weniger künstlich. Hat man Agnes' Leitmotive einmal verstanden, ist ihre Herausarbeitung in der zweiten Teilaufgabe eigentlich nur noch eine handwerklich-mechanische Aufgabe. Demgegenüber sind diese anderen Lektüren hier paradoxerweise fordernder.

Zum anderen befassen sie sich mit einer wesentlich größeren Bandbreite von Themen, weil die "klassischen" Autoren der Hochkultur für den Deutschunterricht eben aus einem sehr eingeschränkten sozialen und intellektuellen Hintergrund kommen (woher dann dieser stark bürgerlich geprägte Themenkomplex kommt). Wir beschäftigen uns einerseits mit sozial niederstehenden Klassen und müssen Empathie für sie entwickeln und auf der anderen Seite mit Personen, die eine wesentlich größere Bandbreite von Problemen als die klassiche Midlife Crisis haben.

Es wäre deswegen mein Wunsch, dass auch im gymnasialen Bereich die Pflichtlektürenauswahl etwas geöffnet und die furchtbar langweilige Berechenbarkeit der aktuellen Auswahl durchbrochen wird. Diese basiert auch auf einem ungeheur snobistischen Verständnis von Literatur und Hochkultur unter Literaturwissenschaftlern und, leider, vielen Deutschlehrern, die nachhaltigen Schaden anrichtet, indem sie den Schülern die Beschäftigung mit jeglicher Art von Literatur verleidet (was hier bereits diskutiert wurde). Und das kann nicht das Ziel sein.

Dienstag, 25. Juni 2019

Lügen in der Politik, überzogene Sprachbilder und andere schockierende Entwicklungen - Vermischtes 25.06.2019

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Sie schaffen das, aber nicht allein
All die Artikel, Selbsttests und oberschlauen Klimazyniker im Internet gehen von der gleichen, grundfalschen Prämisse aus: Dass sich das Klimaproblem der Menschheit mit individuellen Entscheidungen lösen lässt. Das ist nachweislich Unsinn. Ich wage zu behaupten, dass noch kein grundlegendes Menschheitsproblem auf der Basis individueller Tugendhaftigkeit gelöst worden ist. Menschen wissen leider sehr oft einfach nicht, was gut für sie ist. Selbst dazu, sich im Auto anzuschnallen, musste man sie mit einem Gesetz zwingen, gegen heftigen Widerstand. Der damalige VW-Chef Kurt Lotz begründete 1970 die Tatsache, dass sein Unternehmen so ungern Gurte in Autos einbaute, so: "Sicherheit verkauft sich schlecht." Das passt ins Bild. 1971 gab es in Westdeutschland über 21.000 Verkehrstote, fast siebenmal so viele wie 2018. Mit einem Drittel der Autos von heute und deutlich weniger Menschen. Es ist wirklich ganz einfach: Weder freiwilliges ethisches Verhalten von börsennotierten Unternehmen noch individuelle Verhaltensänderungen einsichtiger Menschen werden uns retten. Es ist deshalb bewundernswert aber auch im Grunde irrelevant, ob Greta Thunberg nun Zug fährt oder fliegt. Wie groß glauben Sie, wäre das Ozonloch, wenn man es damals in den Achtzigern dem Konsumenten überlassen hätte, sich aus ethischen Erwägungen für Kühlschränke und Haarspray ohne Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) zu entscheiden? Wie sähen die deutschen Wälder aus, wenn Katalysatoren und unverbleites Benzin private Lifestyle-Entscheidungen gewesen wären? Glauben Sie die Sklaverei wurde weltweit geächtet, weil eines Tages alle Sklavenhalter nacheinander mit entschlossen gerecktem Kinn erklärten, jetzt sei aber Schluss mit dieser Unmenschlichkeit? (Christian Stöcker, SpiegelOnline)
Als Ergänzung zum Fundstück aus dem letzten Vermischten hier noch eine weitere Argumentation für vernünftige Regulierung. Die manichäische Sicht, dass "Regulierung schlecht, Deregulierung gut" (oder umgekehrt) sei ist Blödsinn. Es gibt weiß Gott genug Beispiele nutzloser und/oder schädlicher Regeln, von sinnlosen Verboten und und und. Und genauso gibt es massenhaft Beispiele für Dinge, die erlaubt sind, obwohl sie es nicht sollten. Anstatt das ständig von der ideologischen Warte zu betrachten (wie es gerade in konservativen Journalistenkreisen gerade Mode ist), sollte man sich lieber auf eine vernünftige Regulierungspolitik konzentrieren. Ich vermute, dass dem auf beiden Seiten ideologische Grundreflexe im Weg stehen. Jede zusätzliche Regulierung stößt von liberaler und konservativer Seite sofort auf deren tief verwurzeltes Misstrauen gegenüber dem Staat und dem Grundvertrauen gegenüber den Kräften des freien Marktes und dem Individuum. Umgekehrt steht der Abschaffung bestehender Regulierung oder gar Privatisierung seitens linker Kräfte ein tief verwurzeltes Misstrauen gegenüber Unternehmen auf dem Tablett. Hier sind ständiger Austausch, Meinungsstreit und Konsensfindung gefragt.

2) Exclusive Poll Reveals Dems’ Sexism Problem in 2020
Sexism is weighing down the women running for the Democratic presidential nomination, a new public opinion survey conducted by Ipsos for The Daily Beast reveals. A full 20 percent of Democratic and independent men who responded to the survey said they agreed with the sentiment that women are “less effective in politics than men.” And while 74 percent of respondents claimed they were personally comfortable with a female president, only 33 percent believed their neighbors would be comfortable with a woman in the Oval Office. That latter number, explained Mallory Newall, research director at Ipsos, was a strong tell about how gender dynamics were souring voters on certain candidates. Asking respondents how they believe their neighbors feel about an issue is “a classic method to get around people being reluctant to admit to less popular views.” [...] “People will lie to you when you ask them about gender and race,” said Steele. “They will not tell you what they really feel about those things.” The discomfort that voters have with female candidates helps explain one of the persistent undercurrents of the current election. In various hypothetical general election matchups, the male Democratic candidates have consistently done better against President Trump than their female counterparts. (Sam Stein, The Daily Beast)
Ich habe bereits vor einem halben Jahr auf das Problem aufmerksam gemacht. Vorhersehbarerweise stritten Kommentatoren hier diese Zusammenhänge ab, und ebenso vorhersehbarerweise stoßen die weiblichen Kandidaten nun wieder auf dieselben Probleme - was zeigt, dass es eben nicht (nur) Clintons besonders toxische Persönlichkeit, sondern eben (auch) ihr Geschlecht war, das viele Leute in dem von rechts geführten identity-politics-Wahlkampf abstieß. Wie groß dieses Problem am Ende tatsächlich sein wird, ist naturgemäß unklar. Bedenkt man aber die knappe Natur von Trumps Wahlsieg 2016, der letztlich an gerade einmal 77.000 Stimmen hing, ist klar, dass es sich um eines handelt. Ich gehe davon aus, dass das Problem durch das amerikanische Wahlsystem verschärft wird, denn die Leute, die ihre Wahl von solchen Überlegungen beeinflussen lassen, sind ja nicht gleichmäßig übers Land verteilt. Man findet sie eher in Pennsylvania als in Kalifornien, und das Winner-takes-it-all-Prinzip sorgt dann dafür, dass sie dort - anders als etwa in unserem Verhältniswahlrecht, wo es sich im statistischen Mittel verlieren würde - einen disproportionalen Anteil haben können.

3) One year on from election, far right has transformed German politics
Since then, the once consensus-driven mood in the glass-domed Bundestag has given way to fierce debates peppered with taunts and calls to order. "They have changed the daily discourse, including in the Bundestag, with words like 'knife migrants', 'asylum flood' and 'asylum tourism'," Greens MP Renate Künast told the Frankfurter Allgemeine. The growing public acceptance of such language and the far-right taboos that are being smashed are "a bigger and more fundamental change than the changes brought by Germany's reunification", she added. "Verbal provocations are certainly one of our characteristics," AfD MP Rene Springer told AFP. [...] But aside from the high-profile spats, the AfD has yet to make much of a mark when it comes to performing legislative duties. Several of its lawmakers "appear bored" and show little interest for the minutiae of daily parliamentary business, the pro-business FDP party's Marco Buschmann told the daily Süddeutsche Zeitung. AfD MPs are also routinely criticised for their lack of political experience and thin grasp of policy issues. "There's a potential for more professionalism," one AfD lawmaker admitted. (AFP)
Die Verrohung der Sprache durch die AfD ist dieser Tage glücklicherweise deutlich ins öffentliche Bewusstsein gerückt, wenngleich es eine Tragödie brauchte, um diesen Sinneswandel herbeizuführen. Ich war von Anfang an skeptisch bezüglich der Idee, dass der Einzug der AfD in den Bundestag die Debattenkutur verbessern würde. Nur, weil man ein paar lärmende Anti-Demokraten ins Parlament lässt, verbessert sich da gar nichts, mögen sie noch so sehr den bestehenden Konsens angreifen. Die Berichte der Bundestagsjournalisten und der Parlamentarier selbst jedenfalls geben nicht gerade Anlass zur Hoffnung.

4) Disaster Upon Disaster
No matter how bad things get, it may be easier, emotionally speaking, to connect the dots to the experience of the past, as distant and different as that experience may be, rather than to the future, which terrifies us so much we choose simply to not believe it — and look away from the events of the present that point unmistakably in that direction. By the end of the century, should unabated warming continue, a recent study suggested, parts of the planet could be pummeled by six climate-driven natural disasters at once. That kind of multiplying climate misery may seem still far away, but in fact we are seeing more and more instances of one disaster following directly in the footsteps of another, a whole new experience of sequential catastrophe, each making the impact of the next one worse. [...] Last week, a study published in the journal Earth’s Future stated, definitively, that last year’s heat waves “could not have occurred without human-induced climate change” — in fact they don’t even show up in historical simulations. And although heat waves of this scale were “unprecedented prior to 2010,” the “four largest events in the observational record occurred within the last 12 years.” “The alarming part?” wrote the Washington Post. “There are signs record-setting heat waves are beginning anew this summer — signaling, perhaps, that these exceptional and widespread heat spells are now the norm.” The question is whether we normalize them ourselves. (David Wallace-Wells, New York Magazine)
Der hier angesprochene psychologische Effekt ist, fürchte ich, tatsächlich von großer Bedeutung. Bisher ging ich auch eher davon aus, dass wenn sich Desaster häuften schon ein Sinneswandel einsetzen würde, der zu mehr und entschiedeneren Maßnahmen führt. Aber die über Jahrzehnte wirkende Natur des Klimawandels steht entschlossenem Handeln auch hier im Wege, denn die Leute gewöhnen sich daran. Nur ein persönliches Beispiel: als ich ein Kind war, waren wir im Winter noch oft Schlitten fahren. Unser Schlitten steht seit Jahren ungenutzt in der Garage (mit einer Ausnahme eines Tags 2017). Es schneit einfach praktisch nicht mehr. Das ist das neue Normal, man hat sich dran gewöhnt und denkt schlicht nicht mehr darüber nach. Auf die Art können sich schleichend neue Standards setzen, ob für Dürren, Hitzewellen ("heißestes Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen", Jahr für Jahr aufs Neue) oder Überschwemmungen. In New York denken sie über den Bau eines gigantischen Damms nach, um den Anstieg des Meeresspiegels zu überstehen - das wirkt für die meisten Leute rationaler als Maßnahmen gegen die Ursache für den Anstieg selbst. Wir handeln bezüglich des Klimawandels in einem Ausmaß irrational, das absolut schockierend ist.

5) No one should be a billionaire
Perhaps a way to cut through the murk would be to change the question: Once we've made the changes necessary to create a truly just society, would billionaires still exist? If we made a world where opportunity is abundant and prosperity is shared, would the rejiggering of resources and money flows still leave room for billionaires to become billionaires? I think it's safe to assume the answer is "no." [...] Defenders of the capitalist order will point out that anyone can be a farmworker or a dishwasher. These jobs are easily replaceable, which is why they are paid poorly. Not everyone can be CEO of Apple, thus the position pays more. It's just a consequence of supply and demand. But that is not the question. A better thing to ask ourselves is: Does anyone need to be CEO of Apple? That company is staffed by thousands of workers and software engineers and more. They're all perfectly intelligent people. Under a different arrangement, a form of worker-elected committee could run the company just fine. (Some oddball worker co-ops already operate this way.) Does anyone really think that Apple could not possibly function without Tim Cook, or some other individual of similar oligarchical baring, at its head? [...] Corporate CEOs are not paid gobs of money because some god-like market mechanism adjudicated the value of their labor. They're paid gobs of money because every company is a miniature society, and we design corporate governance in a way that gives CEOs vast and disproportionate power in those miniature societies. The money they take in is not from wealth creation they're solely responsible for — it's from their prerogative to dictate where the wealth created by the company and all its other workers goes. The same point applies to the shareholder class, whose Wall Street sandbox is now the premiere location for wealth extraction across the whole economy. (Jeff Spross, The Week)
Das Argument aus dem Artikel ist tatsächlich eines, das ich bedenkenswert finde. Ich würde wahrlich nicht durch die Straßen laufen und fordern, die Milliardäre zu enteignen. Aber es besteht ein fundamentaler Widerspruch zwischen Demokratie und solcher wirtschaftlicher Macht in den Händen einer Person. Notwendigerweise wird jemand, der über ein solches Vermögen verfügt - besonders dann wenn es aus ernsthafter wirtschaftlicher Tätigkeit kommt und nicht ererbt ist - über einen völlig disproportionalen Einfluss verfügen und jegliche Idee einer Gleichheit as absurdum führen. Und dieser Sachverhalt skaliert mit dem entsprechenden Vermögen. Jemand, der hundert oder zweihundert Millionen Dollar besitzt ist zwar superreich, aber kein Vergleich zu jemandem, der über Milliarden verfügt. Man kann das ja gut daran sehen, wie beispielsweise Jeff Bezos einen Privatkrieg mit Trump unterhält, der ganze bundesstaatliche Volkswirtschaften mit betrifft. Es erinnert an die Zeiten der Monarchien, als die Privatfehden gekrönter Oberhäupter ganze Landstriche betrafen. Was für mich völlig unklar ist ist, wie wir einerseits das Recht auf Privateigentum und die freie Marktwirtschaft und andererseits die Gleichheit vor dem Gesetz und "one person, one vote" unter einen Hut bringen wollen. Letztlich wird es da, fürchte ich, immer Abstriche zur einen oder anderen Seite hin geben müssen. In den letzten 40 Jahren ging das Pendel deutlich in Richtung der Vermögenden, und es ist wohl an der Zeit, dass es wieder in die andere Richtung schwingt.

6) Gauck: Den Begriff rechts "entgiften"
Als Bundespräsident war Joachim Gauck sehr präsidial. Vielleicht zu präsidial, fanden manche. Etwas zu nett, zu predigend, vielleicht sogar etwas einschläfernd. Und nun, als Altbundespräsident? Unmöglich, sagen andere. Denn Gauck hat sich in einem Interview mit dem "Spiegel" für eine "erweiterte Toleranz in Richtung rechts" ausgesprochen. Toleranz fordere, "nicht jeden, der schwer konservativ ist, für eine Gefahr für die Demokratie zu halten und aus dem demokratischen Spiel am liebsten hinauszudrängen". Es gelte, "zwischen rechts – im Sinne von konservativ – und rechtsextremistisch oder rechtsradikal" zu unterscheiden. [...] In der ZDF-Sendung "Markus Lanz" stellt Gauck nun klar: "Toleranz ist manchmal eine Zumutung." Und kündigt an, Begriffe entgiften zu wollen, etwa den Begriff "rechts": "Rechts ist eine Verortung im politischen Raum, die noch nicht negativ ist", sagt Gauck. Er kritisiert die "1968er-Kultur", wonach überall, was nicht mehr links sei, bereits der Faschismus beginne. Für Gauck ist das Demokratie: das Aushalten verschiedener Strömungen und Meinungen. (Raphael Rauch, ZDF)
Ich stimme Gauck absolut zu; die Begrifflichkeiten sind ein einziges Chaos. Wir haben die Diskussion ja auch ständig hier im Blog: was ist rechts, was ist rechtsradikal, was ist rechtsextrem, reaktionär oder was auch immer. Wir haben eine recht klare Vorstellung davon, was der demokratisch legitime linke Teil des Spektrums ist - relativ; auch hier gibt es natürlich im Randbereich genug Streit, aber unvergleichbar zur Begriffsverwirrung von "rechts". Zum Teil liegt das natürlich auch daran, dass die CDU hier Opfer ihres eigenen Erfolgs ist. Die Partei hat sich über Jahrzehnte dezidiert ja nicht als "rechts" bezeichnet, sondern immer die SPD, Grünen (und später die LINKE) als "links" gebrandet, um für sich selbst das "Mitte"-Label in Anspruch nehmen zu können. Und sie war extrem erfolgreich damit. Nur besteht nun seit dem Auftauchen der AfD ein berechtigtes Interesse daran, zu markieren, welcher Teil des rechten Spektrums satisfaktionsfähig ist. Während die SPD vergleichsweise wenig Probleme damit hat, im "linken" Raum zu operieren, fällt dies der CDU sehr schwer, weil der Begriff eben über mehrere Dekaden als catch-all für mögliche Konkurrenten genutzt wurde, die sie damit "an die Wand drücken" konnte. Und erneut, es funktionierte sehr lang sehr gut. Aber jetzt schadet es sowohl der Partei als auch dem Diskurs. Es wird eine Weile brauchen, bis sich die Begriffe neu sortiert haben. Von dieser Thematik einmal abgesehen finde ich Gauck extrem heuchlerisch. Er hat nun 30 Jahre lang mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln die LINKE zu deligitimieren versucht und ihr ständig und emphatisch jeden Anspruch auf Vertretung im demokratischen Raum abgesprochen, und jetzt steht er moralisierend mit dem Zeigefinger da und erklärt, "Toleranz ist manchmal eine Zumutung"? Look who's talking. Das stört mich an den oft berechtigten Forderungen nach mehr Diskussion und Toleranz aus dem konservativen Kreis auch: all die Beschwörungen von Meinungsfreiheit und Meinungspluralismus gelten nur, seit die eigene Meinung nicht mehr unumfochten dominiert und man sich plötzlich rechtfertigen muss. Als man selbst noch den gesamten Diskurs dominiert hat, war das für die Leute alles kein Problem. (Und ja, ich bin sicher, dass wenn der aktuell deutlich progressiver tickende Mainstream wieder nach rechts zurückschlägt, ich auch den Wert der Meinungsfreiheit stärker betonen würde. Comes with the territory :))

 7) Tweet
Die BILD gehört einfach zu den größten Brandstiftern der Republik, daran ändert sich nichts. Davon abgesehen braucht es wohl wieder einmal die Erklärung: Niemand erteilt der AfD Redeverbot. Die können reden, so viel sie wollen. Aber sie haben kein Grundrecht darauf, auf dem Kirchentag zu sprechen. Ihre Abgeordneten haben das Recht, im Parlament zu sprechen, und niemand kann ihnen verbieten, im öffentlichen Raum ihren Mist abzusondern (oder privat). Aber es gibt keinerlei Notwendigkeit, ihnen ein Forum zu bieten.

8) Peter Tauber sieht Mitschuld bei AfD- und CDU-Politikern
Tauber schrieb nun in dem Gastbeitrag für die "Welt", die AfD im Deutschen Bundestag und in den Länderparlamenten habe dazu beigetragen, dass sich das politische Klima verändert habe. "Sie hat mit der Entgrenzung der Sprache den Weg bereitet für die Entgrenzung der Gewalt." Indirekt verantwortlich für den Mord an Lübcke sieht Tauber unter anderen die AfD-Politiker Alice Weidel und Björn Höcke, aber auch das frühere CDU-Mitglied Erika Steinbach sowie das CDU-Mitglied Max Otte. Erika Steinbach, einst eine Dame mit Bildung und Stil, demonstriert diese Selbstradikalisierung jeden Tag auf Twitter. Sie ist ebenso wie die Höckes, Ottes und Weidels durch eine Sprache, die enthemmt und zur Gewalt führt, mitschuldig am Tod Walter Lübckes." [...] Tauber wies zudem darauf hin, dass Lübckes Ermordung zahlreiche Angriffe auf Menschen, die sich für diese Republik und ihre Werte einsetzen, vorausgegangen seien. Tauber nannte dabei den Angriff auf Andreas Hollstein, CDU-Bürgermeister von Altena, der einen Mordversuch nur dank des beherzten Eingreifens zweier Mitbürger überlebt habe. Dass der Attentäter mit einer zweijährigen Haftstrafe davonkam, die noch zur Bewährung ausgesetzt wurde, "ist bis heute ein schlechter Witz" so Tauber. (SpiegelOnline)
Es ist gut, dass die rhetorische Radikalisierung der letzten Jahre endlich auch in konservativen Kreisen anerkannt wird. Wie in Fundstück 3 bereits angesprochen hat der Aufstieg der AfD zu einer tiefen Veränderung der politischen Kulutr in Deutschland geführt, und wahrlich nicht zum Besseren. Genauso wie rhetorische Entgleisungen seitens der LINKEn (etwa, wenn es um die Relativierung kommunistischer Schreckensherrschaften geht) seitens der demokratischen Linken beständig angeprangert werden mussten, so muss auch die demokratische Rechte politische Hygiene im eigenen Stall betreiben. Ich erinnerte mich noch an dieses Titelblatt der IG-Metall-Mitgliederzeitschrift 2005, das damals in die "Heuschreckendebatte" in Deutschland stach und massive Abwehrrekationen hervorrief, weil es antiamerikanische und antisemitische Bildsprache nutzte. Völlig zurecht übrigens. Die Kritik meine ich, nicht die Bildsprache. Genau diese Abwehrprozesse, dieses ständige Definieren dessen was innerhalb des politischen Spektrums Teil einer pluralistisch-demokratischen Gesellschaft sein kann und was nicht, muss ständig passieren - das auch als Ergänzung zu Gauck.

 9) Tweet
Diese Umfrage zeigt, warum es schwierig ist, die Wähler von UKIP, AfD oder Republicans überhaupt noch als "konservativ" zu bezeichnen. Denn bewahren wollen die nichts, sie haben einen ausgeprägten Zerstörungswillen, der mehr als nur verstörend ist. Die CDU ist eine konservative Partei. Die AfD? Sicherlich nicht. Und genauso gibt es nur wenig Konservative, die diese Parteien wählen. Ich bekenne mich da auch selbst schuldig, die Begriffe nicht trennscharf zu verwenden. Auch das gehört wieder zur Gauck-Debatte, es braucht da dringend bessere Idiome. Daher erneut der Aufruf: wer Ideen oder Definitionsversuche hat, gerne in die Kommentare. Die beunruhigende Dimension dieses bekundeten Zerstörungswillen finde ich, dass es für diese Leute nur "siegen oder untergehen" zu geben scheint. Entweder ihre spezifischen Forderungen kommen durch, oder das ganze System soll auseinanderbrechen. Wenn sie ihren Willen nicht kriegen, dann niemand. Es ist auf der einen Seite infantil und auf der anderen Seite ungeheuer gefährlich. Wir sehen das gerade in den USA, wo die Republicans völlig willens sind, die Grundlagen der Demokratie zu zerstören, um ihren Willen durchzusetzen, eine Bereitschaft, die ihren Gegnern bei den Democrats völlig abgeht. Ob die AfD und ihre Wähler bereits so weit radikalisiert sind weiß ich nicht. Die restlichen Parteien in Deutschland jedenfalls sind es sicher nicht - Anlass zur Hoffnung, so viel ist sicher.

10) Die wollen uns ja alles verbieten
Es sind Debatten von Vorgestern. Die Grünen haben sich längst von der alten apokalyptischen Untergangsrhetorik verabschiedet. Mehr noch: Bei den Wählern hat sich offensichtlich (auch dank "Fridays for Future") die breite Erkenntnis durchgesetzt, dass Spaß künftig nur noch zu haben ist, wenn wir die Erde nicht vorher unbewohnbar machen. Wenn also schon der Verkäufer im Kiosk nur noch widerwillig die Tüte über den Tresen reicht und zum Abschied "Plastik ist vorbei" sagt, dann muss man die Einwegtragetasche gar nicht mehr verbieten, es mag sowieso bald niemand mehr damit auf der Straße gesehen werden. Wenn niemand mehr Bewunderung dafür erntet, dass er mit dem Auto in unter fünf Stunden von Berlin nach München geheizt ist, sondern nur noch die irritierte Nachfrage hört, warum er nicht gleich den Zug genommen hat, dann kann den Verbrennungsmotor auch kein CSU-Verkehrsminister mehr retten. Wenn man die Bilder von der luxuriösen Fernreise keinem mehr zeigen mag, weil es peinlich geworden ist, mit seinem persönlichen Beitrag zur Klimakatastrophe auch noch zu protzen, dann wirkt das stärker als jede Erhöhung der Flugpreise. (Stefan Kuzmany, SpiegelOnline)
Ich glaube, CDU, SPD und FDP verschätzen sich massiv damit, wenn sie glauben, eine einfache Neuauflage des Wahlkampfs 2013 würde genauso funktionieren wie (dann) vor acht Jahren. Damals machten sie mit dem obskuren Vorschlag eines Veggie-Day in den Kantinen des öffentlichen Dienstes in den Untiefen des Wahlprogramms einen kompletten Wahlkampf. Im Guten wie im Schlechten hat das Branding der Bürgerlichen funktioniert: die Grünen sind die Verbotspartei. Ähnlich wie für das bei Gauck Gesagte gilt auch hier, dass sie vielleicht Opfer des eigenen Erfolgs werden könnten. Jeder, der die Grünen heute zu wählen bereit ist, hat die Verbote eingepreist. Zumindest ist das ein mögliches Szenario, das man nicht unterschätzen sollte.

 11) Trump and the art of the lie
No, Trump’s only rival in this department — denying what everyone can see is true — was Sarah Palin, the lipsticked John the Baptist of the Trump cult. During the 2008 campaign, gobsmacked that this lunatic could be in line for the presidency, I began to keep track of everything she said out loud that was provably, empirically untrue. In the two months she was running to be vice-president, I catalogued 34 demonstrably untrue statements, which she refused to correct. She compiled nowhere near Trump’s volume of lies — it’s close to inhuman to lie the way he does — but her capacity to move swiftly on from them, along with the press’s supine failure to keep up, was very Trumpy. The short attention span of digital media has made this worse. And she got away with it. The base didn’t care; the media couldn’t cope. Trump, too stupid to ape Clinton, and far more accomplished a liar than Palin, combines the sinister Bush-era kind of lie — “We do not torture” — with the Palin compulsion to just make things up all the time to avoid any sense of vulnerability. What Trump adds is a level of salesmanship that is truly a wonder to behold. He is a con man of surpassing brilliance and conviction, and every time he survives the fallout of a con, he gets more confident about the next one. At some point, the law usually catches up with this kind of con artist, and Trump has had quite a few close calls over the years (and paid out a lot in settlements). But a presidential con man at this level of talent, legitimized by public opinion, enlarged and enhanced by the office and its trappings, is far harder to catch. (Andrew Sullivan, New York Magazine)
Es ist immer wieder faszinierend, wie sehr es Trump nicht schadet, dass er der schlimmste Lügner ist, der je im Weißen Haus saß. Der Mann lügt alle und jeden an, offen und wegen allem. Er ist ein zwanghafter Lügner. Und die gleichen Leute, die über Clintons Skandale so entrüstet waren, dass sie es als absolut unmöglich empfanden sie zu wählen finden nichts dabei oder lachen es als harmlosen Spleen weg. Ich glaube, das ist - neben dem offensichtlichen Messen mit zweierlei Maß - auch eine Folge des verdammten Zynismus, mit dem ständig über Politik gesprochen und der auch in so beliebten Serien wie "House of Cards" oder "Veep" gefeiert und in Comedy-Sendungen wie der unerträglichen "heute show" dauerhaft rezipiert wird. Alle Politiker lügen eh, sind alle korrupt, und so weiter und so fort. Da emfindet man das Arschloch, das offen korrupt ist und lügt, dann als frischen Wind und merkt nicht mal, wie zutiefst bescheuert diese Haltung ist. Der gleiche Mechanismus ließ sich ja auch bei Berlusconi beobachten, und wenn mich nicht alles täuscht nutzte auch Chavez in Venezuela diesen "ein korruptes Schwein, aber unser korruptes Schwein"-Trick. Es ist zum Heulen.

Samstag, 22. Juni 2019

Vermischtes 22.06.2019 - Bodo Ramelow verbietet AKKs SEK das Gemüseessen auf Youtube

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) AKK vs. GG
Dass Kramp-Karrenbauer hier "autoritäres Denken offenbart" (Kuzmany), ist inhaltlich nicht überraschend. Es war immer absehbar, dass die Debatte über Flucht und Migration und die damit verbundene Verschiebung des gesellschaftlichen Diskurses nach rechts (an dem Kramp-Karrenbauer kräftig mitgewirkt hat, siehe hier, hier und hier) nicht zuletzt dazu dient, den Boden zu schaffen für die Beschneidung der Freiheitsrechte im Innern, dass sich also die salonfähig gewordene Härte nach außen irgendwann auch gegen missliebige Eingeborene richten würde. Dass Kramp-Karrenbauer ihre orbanistischen Neigungen so ungeschickt zu Markte trägt, verwundert allerdings etwas. Falls, was theoretisch möglich wäre, Kramp-Karrenbauer einen Blackout hatte und sie sich beim Schlagwort-Bingo verplappert hat, hätte sie diesen Fehler natürlich zugeben können. Statt dessen schickte sie zwei Tweets ab, die alles noch schlimmer machten. In einem davon behauptete sie im ersten Satz, man unterstelle ihr Dinge, die sie nicht gesagt hat, um im zweiten Satz dann das zu sagen, was sie angeblich nicht gesagt hat. Das PR-Desaster komplettierte schließlich ein Bindestrich-Vergesser, der laut Twitter-Bio "digitalpolitischer Sprecher der CDU/CSU Bundestagsfraktion" ist (klingt ein bisschen wie Transgender-Referent des Vatikans). Der behauptete, Kramp-Karrenbauer habe sich "für eine Regulierung ausgesprochen, die wir offline selbstverständlich haben", obwohl "wir" diese siehe oben, selbstverständlich nicht haben. (René Martens, Altpapier)
Die autoritären Instinkte der CDU traten im Zusammenhang mit dem Rezo-Video so deutlich zutage wie zuletzt zu den Zeiten, in denen Wolfgang Schäuble Innenminister war. Nur anstatt in eine aufgeregte Atmosphäre des "Anti-Terror-Kriegs" hineinzustoßen, wie das bei Schäuble der Fall war, sind wir inzwischen halt eine Dekade weiter. Und die Zeiten sind ziemlich avers gegenüber obrigkeitsstaatlichen Ausflügen. Das Ironische daran ist, dass die CDU das eigentlich weiß - schließlich instrumentalisierte sie den Vorwurf in den letzten Jahren geschickt gegen die Grünen, indem sie sie in den Ruch stellte, mit der Macht des Staates von oben in die Freiheiten der Bürger dirigieren zu wollen. Warum AKK glaubte, dss ihre eigene Partei dagegen immun sei und die deutsche Öffentlichkeit diese kognitive Dissonanz einfach hinnehmen würde, ist mir unklar. Es ist auch deswegen bezeichnend, weil es ein ziemlich verzweifeltes Um-sich-Schlagen ist. Die CDU befindet sich in einer ähnlichen Krise, wie die SPD dies zwischen 2005 und 2009 war, und sie weiß es. Mit dem realen Szenario konfrontiert, künftig bei Wahlen unter 30% abzuschneiden, kriecht bei vielen Funktionären die blanke Panik hoch. Verständlicherweise. Mich faszinieren die Parallelen zum Abstieg der SPD ungemein. Genauso wie bei der Sozialdemokratie war es gerade nicht der Altkanzler beziehungsweise die Altkanzlerin, unter die gewaltigen Verluste entstehen. Sowohl Schröder 2005 als auch Merkel 2017 verloren zwar gegenüber ihrer jeweils vorhergehenden Wahl, aber beide stabilisierten ihre Parteien auf dem Stand nach der großen innerparteilichen Kontroverse - Agenda2010 hier, Flüchtlingspolitik dort - auf einem recht hohen Niveau. Es sind ihre jeweiligen Nachfolger (Müntefering/Steinmeier auf der einen Seite, AKKauf der anderen), unter denen eine rapide Auflösungserscheinung stattfindet. Die Gründe dafür werden noch zu untersuchen sein.

2) Die Rezipient*in, das Alien. Rezo, die CDU und die Geschichte der Medi­en­angst
Begründet ist die Angst vor den Rezipient*innen aber, weil die Medi­en­ge­schichte zeigt, dass die Rezep­tion von Medien selten einfach zu kontrol­lieren ist. Aktive Rezipient*innen beschränken die Macht der kultu­rellen Hege­monie durch Medien; das betrifft Politiker*innen, die sich in einem bestimmten medialen Umfeld bewegen, vernetzen und dazu beraten lassen genauso wie die eigent­li­chen Medienproduzent*innen. Medien sind eben keine „ideo­lo­gi­schen Staats­ap­pa­rate“, wie Louis Althusser 1977 sagte, nicht einmal da, wo sie komplett unter staat­li­cher Kontrolle stehen. Das Internet ist keines­wegs das erste Medium, das über (national-)staatliche Grenzen hinweg wirk­same (Gegen-)Öffentlichkeiten produ­ziert. Durch die Geschichte der Medien zieht sich die Frus­tra­tion der Politiker*innen und Produzent*innen, dass ihre Inter­views, Texte, Filme, Radio­fea­tures nicht „richtig“ gelesen, gesehen oder gehört werden. Wie es ein Bericht der briti­schen Kolo­ni­al­ver­wal­tung in Sambia einmal ausdrückte: „Listeners were depres­singly adept at missing the point.“ Diese Frus­tra­tion hat sich noch verstärkt, seit es die Demo­kra­ti­sie­rung der medialen Produk­ti­ons­mittel margi­na­li­sierten Gruppen ermög­licht, über die begrenzten Öffent­lich­keiten alter­na­tiver Medien hinaus breite gesell­schaft­liche Diskus­sionen anzu­stossen oder zu beein­flussen. [...] Die These von aktiven Rezipient*innen speist sich nicht zufällig aus den anti­ras­sis­ti­schen Cultural Studies; eine zweite, ebenso wich­tige medi­en­theo­re­ti­sche Tradi­tion ist die femi­nis­ti­sche. Beide mussten gegen eine Medi­en­for­schung anschreiben, die in ihrer rechten wie linken Vari­ante massen­me­diale Kultur nur als Nieder­gang von einer idea­li­sierten bürger­li­chen Öffent­lich­keit zu – je nach poli­ti­scher Ausrich­tung – kultu­rellem Verfall oder massen­ma­ni­pu­lie­render „Kultur­in­dus­trie“ analy­sierte. Margi­na­li­sierte Rezipient*innen wurden in solchen Erzäh­lungen als Teil des Problems ausge­macht – so hiess es in der Weimarer Repu­blik, Frauen würden zerstreut neben ihrer Haus­ar­beit Radio hören statt, wie die Männer rich­ti­ger­weise, konzen­triert und reflektiv. Wie sich heraus­stellen sollte, waren Frauen viel­mehr Vorreiter einer Praxis des Hörens, die sich mit zuneh­mender Inte­gra­tion des Radio­ap­pa­rats in den Alltag durch­setzen sollte. Die femi­nis­ti­sche Medi­en­re­zep­ti­ons­for­schung fragte dementspre­chend nach der Bedeu­tung des Medi­en­kon­sums als in den lebens­welt­li­chen Alltag einge­bun­denes soziales Handeln. Wie die Cultural Studies greifen sie dabei auf die Ideo­lo­gie­theorie von Antonio Gramsci und die medi­en­theo­re­ti­schen Über­le­gungen Walter Benja­mins zurück, die die Ambi­va­lenz neuer massen­me­dialer Tech­no­lo­gien betonten – das stän­dige Schil­lern zwischen ihrem eman­zi­pa­to­ri­schen und auto­ri­tären Poten­tial. (Robert Heinze, Geschichte der Gegenwart)
Passend zu Fundstück 1 ist auch, dass angesichts der Herausforderung durch die Jugend auf die üblichen Muster zurückgefallen wird, das jeweils aktuelle Ding für wahnsinnig schädlich zu erklären. Es ist immer dasselbe. Ob Roman oder Radio, Fahrrad oder Comic, Fernsehen oder Computer, Rock'n'Roll oder Internet, irgendetwas ist immer, was die Jugend tut und die Alten nicht verstehen und bedrohlich finden. Die Herausforderung der alten Ordnung kommt immer durch die junge Generation, die Verteidigung der alten Ordnung notgedrungen durch die alte, und gegenseitiges Unverständnis prägt den Graben, der sich dazwischen auftut. Man kann daran arbeiten, ihn durch Verständnisversuche und Gesprächsangebote zu überbrücken, aber zuschütten lassen lässt er sich nicht. Eines aber zeigt uns die Geschichte aber auch: Der Widerstand der Alten, egal wie heftig, hält die neuen Entwicklungen nie auf.

3) Klimaprämie statt CO2-Steuer
Eine bescheidene Wohnung braucht – selbst ungedämmt – weniger Heizöl als das vollverglaste Penthaus des hochbezahlten Managerpaares. Die bescheidene Pendlerin fährt ganz sicher keinen spritfressenden SUV, sondern einen Kleinwagen oder Bus und Bahn – und das vermutlich schon ihr ganzes Leben lang. Sie macht weder Flugreisen rund um den Globus, noch Kreuzfahrten und wenn sie sich ihre Gemüsesuppe kocht, dann vermutlich nicht mit aus der Südsee eingeflogenen Kochbananen oder Wasserkastanien. Sie wird mit ihrem Lebensstil die klimagerechten Emissions-Grenzen wahrscheinlich nicht mal ausschöpfen. [....] 57 Mrd. Euro gibt der Staat jedes Jahr für klimaschädliche Subventionen aus. Das wären immerhin 700 Euro im Jahr pro Kopf. 60 Euro pro Monat. Eine prima Klimaprämie! Und man stelle sich vor, man würde die derzeit oft steuerbefreiten Klimaschädlinge wie Kerosin, Diesel, Benzin und Heizöl an den verursachten Klimawandel-Folgekosten realistisch beteiligen, was würde dann passieren? Ja genau: Die „ungedämmte Pendlerin“ hätte plötzlich deutlich mehr Geld in der Tasche. Allerdings wird sie sich dann trotzdem noch überlegen, ob sie ihr Geld für einen Flug nach Mallorca ausgibt, denn der wird dann nicht mehr für 19 Euro zu haben sein. Ohne kostenlose Provinz-Flughäfen und mit Klimaschaden bepreiste Treibstoffe sind solche Preise nicht mehr zu schaffen. Dafür würden endlich die Unternehmen auf die – technisch bereits entwickelten, aber derzeit eben noch teureren – erneuerbaren Energieträger umsteigen. Das Managerpaar dagegen müsste für sein rücksichtsloses Flug-, Fahr – und Heizverhalten in Zukunft deutlich mehr bezahlen. (Claudia Kemfert, Capital)
Ich habe ehrlich gesagt nicht die geringste Ahnung, welches der verschiedenen diskutierten Modelle - Klimaprämie, CO2-Steuer oder was auch immer - das beste ist. Ich bin froh darüber, dass es diese Diskussion überhaupt gibt. Wenn die Wirtschaftszeitungen zu Foren darüber werden, WAS man tun soll, anstatt OB man etwas tun soll, ist viel gewonnen. Mit diesem Vorwort zum eigentlichen Artikel. Ich denke Kemfert hat in jedem Fall einen Punkt, der hier in der Diskussion auch schon aufkam: die Emissionen werden vor allem von den wohlhabenderen Schichten verursacht, weniger von der breiten Masse. Entsprechend sollte auch ein Abgabenmodell gestaltet sein. Ich bin aber immer etwas skeptisch bei Modellen wie dem der Klimaprämie, weil das "du zahlst erst mal mehr und kriegst am Ende eine Prämie" immer schwer in die alltägliche Finanzplanung zu integrieren ist. Kemfert suggiert, dass das quasi die Idee ist, aber woher weiß die Niedriglöhnerin aus dem Artikel denn, wann sie wie viel Geld genau bekommen wird? Kann man damit planen? Ist das realistisch? Solche Systeme machen immer sehr viel Aufwand. Aber ansonsten gilt mein erster Absatz: klingt sinnvoll, Kommentatoren mit mehr Sachverstand bitte an die Tastaturen!

4) Kavanaugh defender Amy Chua's daughter gets Supreme Court job with Kavanaugh
Three days after President Trump nominated Brett Kavanaugh as his pick for the Supreme Court, the Wall Street Journal published an op-ed by Amy Chua, a Yale Law professor better known as the author of the 2011 parenting memoir “Battle Hymn of the Tiger Mother,” who praised Kavanaugh as a mentor to young women. Chua, a member of the school’s clerkships committee, had placed eight women with Kavanaugh, including her daughter Sophia Chua-Rubenfeld, who had been accepted to serve with Kavanaugh, then a circuit court judge. Some critics called the op-ed self-serving, arguing that Chua was simply setting her daughter up for a Supreme Court clerkship once Kavanaugh was confirmed. (Dylan Stableford, Yahoo News)
Ich sage nicht, dass Chua-Rubenfeld nur wegen der Leistung ihrer Mutter den Job bekommen hat. Sicher ist sie auch eine kompetente Juristin. Nur ist die Geschichte wieder einmal ein Beispiel dafür, dass den conservatives Sitten und Anstand einfach egal sind. Wie bereits bei der Nominierung Kavanaughs gab es Alternativen, die mindestens genauso qualifiziert waren und die ohne den baggage des jeweiligen Kandidaten auskommen würden. Im Fall der Nominierung Kavanaughs war die Umstrittenheit ja gerade der Punkt. Er wurde nominiert, WEIL er einen problematischen Hintergrund hatte, nicht TROTZ. Im Fall Chua-Rubenfelds dürfte es mehr ein allgemeines Schulterzucken sein. In der Medienblase von FOX und Co wird es niemals ein Thema werden, und wenn die andere Seite sich ärgert, wird das eh nur noch als Bonus gesehen.

Most British prime ministers since Margaret Thatcher have wanted to be Thatcher in one way or another. Tony Blair hoped to emulate not just the longevity of her tenure but also the impact she had on the country. Cameron would have liked to remake the Conservative Party in his own image, as she remade it in hers. Theresa May simply wanted to be as formidable as Thatcher had been, a steely woman in a world of wobbly men. Even Gordon Brown, with his ceaseless personal ambition, believed that politicians only get a few chances to make a lasting difference and he longed to take the opportunities on offer as effectively as she had. The fact that they all failed in these lofty goals shows how powerfully the Thatcher story has been mythologised. [...] This pattern is now repeating itself among the farcically long list of would-be contenders for the Tory leadership. They all, in their different ways, want to be another Thatcher. And they are all desperate to demonstrate that they won’t be another May. [...] The problem with this prospectus is that it is hard to imagine any politician being more resolute than May. Remember, she thought she was Thatcher too. She went at it with an iron determination not to be deflected from her course. And look where that got her. What are the levers they can pull which she couldn’t? Parliament has shown that it does not take kindly to being bullied on the question of Brexit, and the Speaker is barely on speaking terms with the executive. Talk of proroguing Parliament to force through a no deal Brexit before 31 October is surely for the birds. Ignoring the views of the judges is not a way to avoid being troubled by them; it’s what gets you into trouble with them. The Irish government is not going to budge any more than the Brexit negotiators in Brussels are. In any case, Westminster’s authority barely extends to the devolved parts of the UK these days, let alone any further afield. Trying to browbeat the civil service doesn’t make sense unless the goal is to get nothing done at all. (David Runciman, London Review of Books)
Ich las jüngst das herausragende Buch "Der Mythos des starken Führers" (Original), das genau diese Thematik aufgreift. Kaum eine Vorstellung hält sich so widerspenstig wie die Idee, dass "starke" Regierungschefs die besten Regierungschefs seien, wobei Stärke dann gerne mit markigen Gesten gleichgesetzt wird. In Großbritannien will jeder immer Thatcher sein, wie der Artikel oben schön herausarbeitet, ohne dass irgendjemand groß darüber nachdenkt, was Thatcher eigentlich genau getan hat und wie. Auch in den USA ist diese Vorstellung weit verbreitet; Trump lebt ja praktisch von nichts anderem als von der Machismo-Idee der "Stärke". Von Russland, Venezuela, der Türkei oder anderen von Autokraten regierten Staaten brauchen wir überhaupt nicht erst anzufangen. Wie aber sowohl der obige Artikel als auch das empfohlene Buch gut herausarbeiten, sind es gerade solche Regierungschefs, die nicht versuchen diesem Klischeebild des "starken Führers" zu folgen, die Ergebnisse bringen, ganz besonders in Demokratien. Dort, wo die jeweiligen Ressortchefs von kompetenten Leuten besetzt sind, die einen gewissen Freiraum haben, und wo eine kollegiale Atmosphäre herrscht, dort passieren auch ernsthafte Reformen. Scheinbar starke Führer, die dafür sorgen müssen, dass um sie herum nur Idioten am Werk sind, gehören sicherlich nicht dazu. Uns wäre allen geholfen, wenn wir uns von diesem Idealbild verabschieden und stattdessen ernsthafte Regierungsarbeit mehr gouttieren würden. Das Grundgesetz hat den Kanzler nicht ohne Grund zum Ersten unter Gleichen gemacht, und die amerikanische Präsidentschaft ist nicht grundlos durch die Gewaltenteilung vom Kongress abgeschottet. Natürlich ist das Amt des Regierungschefs immer eines mit großer Machtfülle und Verantwortung. Aber wir haben genügend Beispiele dafür, wo dieses Modell an die Wand lief. Man denke nur an die ganzen Möchtegern-Alphamännchen, deren politische Kadaver Angela Merkels politischen Karriereweg säumen, oder Gerhard Schröders Erben, die alle glaubten mit einem markigen Gesichtsausdruck und "Basta" sei Politik gemacht und auf die Art die SPD ins politische Grab navigierten.

6) Machtverlust – warum weiße Männer überall Empörung wittern
Was in der sogenannten Debattenkultur wirklich falsch läuft? Dass Kritik zunehmend mit Empörung verwechselt wird. Blättert man durch die von weißen Männern dominierten Feuilletons großer deutschsprachiger Zeitungen oder scrollt durch die Tweets ebenso reichweitenstarker Meinungsmacher, dann ist Empörung das Wort der Stunde. Sie ist das Phänomen, das die tiefenentspannten Autoren, die sich eigentlich ganz anderen Themen widmen wollen, nachts wach liegen lässt. Denn die Empörung ist überall: Feuilletonisten entdecken sie hinter jedem kritischen Wort, hinter jedem Widerspruch, hinter jeder Position, die von der ihren abweicht und von mehr als drei weiteren Personen im Netz geteilt wird. Feminist*innen sprechen sich gegen den Auftritt eines misogynen Starphilosophen aus? Empörung! Eine Hamburger Kita bittet Eltern, ihre Kinder im Fasching nicht mehr als „Indianer*innen“ zu verkleiden? Empörung! Es wird sich über die Menge nahezu identischer Essays weißer Männer über Empörung lustig gemacht? Empörung! [...] Kommentare mit Titeln wie „Entpört euch!“ bilden mittlerweile ein eigenes Genre. Die Autoren erheben sich über den vermeintlichen Mob, dem es nicht um Diskurs, Korrektur oder Aufklärung gehen kann, sondern dessen einziges Anliegen es sein muss, den nächsten ehrenwerten weißen Mann an den allseits gefürchteten Social-Media-Pranger zu stellen und ihn mit einem gänzlich unverdienten Stakkato an überzogener Kritik zu attackieren. „Gewalttätig“ nennen manche Kollegen diese Kritik. Vielleicht fühlt sich das wirklich so an, wenn man das erste Mal im Leben hinterfragt wird. Ja, es könnte weh tun, sich mit der Kritik in der Tiefe auseinanderzusetzen, statt sie als Empörung abzutun. Denn am Ende dieser Beschäftigung könnte stehen, dass die eigene Position nicht die reflektierteste ist. [...] Jenen, die jetzt online und offline den Diskurs mit eigenen Analysen und Argumenten mitbestimmen wollen, den bislang weiße Männer nahezu allein dirigierten, wird also häufig unterstellt, sie wollten den Diskurs zerstören. Eine ernsthafte Beschäftigung mit ihren Thesen findet selten statt. Denn da ihre Positionen meist links, feministisch, herrschafts- und systemkritisch sind, bedeutet dies, dass dabei notwendigerweise auch jene angesprochen und in die Pflicht genommen werden, die in einer kapitalistischen und patriarchalen Gesellschaft über die meiste Macht verfügen. Weiße Männer stehen als Gruppe deshalb häufig im Zentrum einer solchen Kritik. Das finden diese – wenig überraschend – gar nicht gut. Ihre Reaktionen klingen stets so aufgebracht, als sei eben nicht eine Gruppe, sondern sie ganz persönlich und zu Unrecht kritisiert worden. (Nicole Schöndorfer, Edition F)
Der (noch wesentlich längere und in seiner Gänze empfehlenswerte) Artikel spricht ein relevantes Thema an: Die permanente Delegitimierung des Protests und der Themen von Frauen und Minderheiten. Es ist ein altbekanntes Muster, dass die Kritik, die einen selbst betrifft, gerne als unzutreffend charakterisiert wird. Da erklären dann wohlstandssaturierte Manager, dass es keine sozialen Probleme in Deutschland gibt, verknöcherte Patriarchen befinden dass die Frauenemanzipation jetzt ja wohl mal abgeschlossen sein müsse und so weiter. Das heißt nicht, dass Leute, die nicht betroffen sind, kein Mitspracherecht haben. Selbstverständlich können sich Millionäre zu Hartz-IV äußern, Männer zum Feminismus, Erwachsene zu Kinderthemen, Lehrer zum Klimawandel und was der Themensprünge nicht mehr sind. Aber was ein Problem ist ist eben die Delegitimierung der Themen durch die "herrschende Klasse" (aus Mangel an besseren Begrifflichkeiten, hat jemand eine Idee wie man da den Marx'schen Duktus umgehen kann?). Umgekehrt gilt natürlich auch, dass Betroffenheit alleine nicht zum Experten macht (auch so eine fixe Idee, die wie der Mythos des starken Führers nicht aus den Köpfen geht). Aber natürlich sind diese Diskussionen immer deswegen so toxisch, weil Identitäten und Lebensrealitäten direkt betroffen sind. Jeder ist der Held seiner eigenen Geschichte, und wer hört schon gerne, dass er privilegiert, möglicherweise sogar eine unterdrückerische Rolle einnehmend ist? Das zu überwinden ist schwierig.

7) Ignoriert den Osten!
Wissen Sie, wie viele Leute in Brandenburg wohnen? In Sachsen? In Thüringen? Es sind zusammen etwa 8,6 Millionen. Das sind etwa 10 Prozent der Bevölkerung. Diese Zahl wird hier in Erinnerung gerufen, weil in diesen drei Bundesländern im Herbst Wahlen anstehen. Aus den aktuellen Wahlumfragen geht hervor, dass die AfD in allen drei Ländern stärkste Kraft werden könnte. Die Rechten freuen sich schon auf einen "blauen Herbst" und alle anderen Parteien bereiten sich, soweit es ihnen möglich ist, auf die Rückwirkungen auf die Bundespolitik vor. Der Wahlschock aus dem Osten, so lautet die These, die derzeit überall in Berlin zu hören ist, wird die politische Agenda noch einmal durcheinanderwirbeln. Das Klimathema wird dann wieder an Bedeutung verlieren, zugunsten von Migrationsthemen. Das wirft eine Frage auf: Inwieweit soll sich die Republik eigentlich vom Osten – genauer gesagt: von den Regionen im Osten, in denen die AfD stark ist – die Themen aufzwingen lassen? [...] Diese Frage stellt sich nicht nur in Deutschland. In fast allen Industrieländern hat sich in den abgehängten Regionen ein Protestpotenzial herausgebildet, dass zum politisch handelnden Subjekt wird. Donald Trump wäre nicht Präsident, wenn er nicht die Staaten des Mittleren Westens für sich gewonnen hätte. Der Brexit hätte nicht stattgefunden, wenn der Norden Englands nicht dafür gestimmt hätte. Der Wirtschaftsgeograf Andrés Rodríguez-Pose von der London School of Economics hat das revenge of places that don't matter genannt. Die Rache der Orte also, die ökonomisch betrachtet eigentlich keine Rolle spielen. Es ist natürlich ein Versagen der Politik, dass es solche Orte überhaupt gibt. Nach Daten des Ifo-Instituts leben in den östlichen Bundesländern so wenig Menschen wie seit 1905 nicht mehr, im heutigen Westdeutschland hingegen hat sich die Bevölkerung mehr als verdoppelt. Wäre die Einwohnerzahl in Ostdeutschland genauso gewachsen wie in Westdeutschland, würden im Osten heute rund doppelt so viele Einwohner leben. Dresden und Leipzig wären jeweils Millionenstädte. (Mark Schieritz, SpiegelOnline)
Ich bin unsicher ob ich so weit gehen würde die Schieritz und seine journalistische Zuspitzung unterstützen, den Osten quasi abzuschreiben. Aber ein bisschen Perspektive wäre gut. Tatsächlich hat er völlig Recht damit, dass hier eine Minderheit die Agenda zu bestimmten versucht. Und während es das absolute Recht der Ostdeutschen ist, auf die desolate Lage aufmerksam zu machen und etwa Struktur- und Regionalförderung zu verlangen (die auch sinnvolle policy wäre), brauchen sie nicht damit zu kommen, dass die Wahl der AfD aus rassistischem, nostalgisch-verklärtem Reaktionismus in irgendeiner Art und Weise einen Dialog nötig machte. Sein Kreuz bei Rechtsextremen zu machen um seine generelle Unzufriedenheit auszudrücken ist kein Gesprächsangebot, es ist eine Trotzreaktion. "Mir egal, wenn alles zugrunde geht, hauptsache du gehst auch zugrunde." Das ist eine toxische Mentalität, die man wahrlich nicht zu unterstützen braucht.

8) "Die Zeit der Ausgrenzung ist vorbei" (Interview mit Bodo Ramelow und Daniel Günther)
SPIEGEL ONLINE: Rote Socken, SED-Nachfolger, Extremisten - das war über Jahre der CDU-Sound, wenn die Rede auf die Linkspartei kam. Günther: Die Zeit der Ausgrenzung ist vorbei. Klar wünsche ich mir, dass Mike Mohring als Sieger bei der Landtagswahl in Thüringen durchs Ziel geht. Und klar ist auch, dass Bodo Ramelow in vielen Fällen völlig entgegengesetzte politische Ansichten vertritt. Aber ich akzeptiere diese Unterschiede, und wir beide geben uns persönlich nicht noch einen mit. Das zeichnet ihn aus. Ramelow: Der Bundesrat ist in seiner Zusammensetzung so bunt wie nie, trotzdem kommen wir zu gemeinsamen Ergebnissen. Für mich ist das ein positives politisches Zeichen. Wir beweisen auf Dauer, dass wir willens und in der Lage sind, Kompromisse zu schließen. Günther: Wir brauchen kompromissfähige Politiker. Wenn es Mehrheiten künftig vornehmlich über Dreierbündnisse gibt, wie etwa wir beide sie anführen - Jamaika bei uns, Rot-Rot-Grün in Thüringen - oder über andere, immer neue Konstellationen, dann kann die Erwartungshaltung doch nicht mehr sein, dass Wahlprogramme einer Partei eins zu eins umgesetzt werden. SPIEGEL ONLINE: Wann gibt es die erste Koalition von CDU und Linken auf Landesebene? Günther: Es gibt keine politischen Schnittmengen zwischen CDU und Linken. Daher halte ich nichts von solchen Gedankenspielen. Ramelow: Ich habe keinen Grund, darüber zu spekulieren. Bei Sachthemen rede ich natürlich mit Christdemokraten. Aber ich strebe keine Koalition mit der CDU an. (Sebastian Fischer/Kevin Hagen/Christian Teevs, SpiegelOnline)
Szenen wie die obige machen einem Hoffnung, finde ich. Natürlich werden CDU und LINKE nicht miteinander koalieren. Aber für eine Koalition der Anständigen reicht es allemal. Es ist beruhigend zu sehen, dass das deutsche politische System noch immer funktional ist, was die überparteiliche Zusammenarbeit hinter den Kulissen angeht. Anders als in den USA, Frankreich oder Großbritannien gibt es bei uns nicht einen riesigen politischen Block, der effektiv die demokratisch-parlamentarische Arbeit aufgegeben hat. Zumindest noch nicht.

9) Nach SEK-Festnahmen: Caffier informiert Innenausschuss
Drei der jetzt beschuldigten Polizeibeamten sollen sich über mehrere Jahre - mindestens seit April 2012 - Munition aus Beständen des LKA beschafft haben und an den vierten Festgenommenen weitergegeben haben. Der soll Kontakt zur Prepper-Szene haben. Alle vier sollen gegen das Kriegswaffen-Kontrollgesetz verstoßen haben. Außerdem wird ihnen ein Verstoß gegen das Waffengesetz und Betrug vorgeworfen. Der Begriff "Prepper" ist vom englischen "to be prepared" ("vorbereitet sein") hergeleitet. Gewöhnliche "Prepper" sind Menschen, die sich gegen Katastrophen und Krisen aller Art schützen wollen - von Unwettern über den Zusammenbruch der staatlichen Ordnung bis hin zum Untergang der Zivilisation ("Doomer"). Dazu horten sie Nahrungsmittel, Versorgungsgüter und manchmal auch Waffen. Unter den "Preppern" gibt es echte Vorsorge-Profis, aber auch Verschwörungstheoretiker aller Art. Die Bewegung kommt aus den USA und wächst angesichts von Klimawandel, Kriegsangst und Terrorbedrohung auch in Deutschland. (Stefan Ludmann, NDR1)
Endlich mal wieder einer von diesen Einzelfällen, die keinesfalls auf ein Muster von Rechtsextremen in den Sicherheitsbehörden verweisen.

10) Prozess um Tod eines Vierjährigen endet mit Geldstrafe
Der Student wollte nicht länger im Stau warten und als „Abkürzung“ die Busspur nehmen: Als der 23-jährige Autofahrer vorschriftswidrig rechts an den wartenden Fahrzeugen vorbeizog, lief plötzlich von einer Mittelinsel aus ein Kind von links auf die Fahrbahn. „Ich versuchte noch auszuweichen, aber ich habe den Jungen mit meinem Seitenspiegel getroffen“, sagte der Student am Mittwoch unter Tränen vor dem Amtsgericht Tiergarten. Er erfasste das vier Jahre alte Kind tödlich. [...] Der 23-Jährige befuhr nicht nur vorschriftswidrig die Busspur. Er war laut einem Gutachten auch erheblich zu schnell unterwegs. Es seien bis zu 74 Stundenkilometer gewesen. Bei einem angemessenen Tempo von 30 km/h wäre der Zusammenprall mit dem Jungen vermeidbar gewesen, hieß es. Der Student wurde der fahrlässigen Tötung schuldig gesprochen. Eine Strafe von 200 Euro (40 Tagessätze zu je fünf Euro) erging, zudem ein Fahrverbot von einem Monat. Der Angeklagte habe sich falsch verhalten. Es sei aber auch von einem Fehlverhalten der Mutter auszugehen. Der Staatsanwalt hatte eine Strafe von 350 Euro (70 Tagessätze) gefordert. (Kerstin Gehrcke, Tagesspiegel)
Ich hatte letzthin einmal davon geschrieben, dass das deutsche Recht Autofahrer bevorzugt behandelt, und dafür einigen Widerspruch bekommen. Was ich damit gemeint habe sind genau solche Beispiele wie oben. Natürlich werden Autofahrer nicht in dem Sinne bevorzugt, dass die Justiz bei Gesetzesverstößen mal Fünfe gerade sein lässt. Aber die lächerlich niedrigen Strafen, die Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung in Deutschland haben, gerade im internationalen Vergleich, sind real. Das betrifft viele Bereiche. Nehmen wir mal alleine Tempolimits. Wo sie existieren, ist ihr Bruch ein Kavalliersdelikt. Nicht nur sind Strafzahlungen nach einem festen Katalog statt nach dem Einkommen - und so für den rasenden CEO im Porsche nicht einmal eine Erwähnung wert -, sie erlauben auch hohe Verstöße praktisch straffrei. Die Toleranz der Blitzer ist hoch, und bis 21km/h zu viel sind die Folgen üblicherweise völlig vernachlässigbar. Auch andere Vergehen wie etwa Drängeln und Bedrängen haben praktisch keine Konsequenzen, genauso das Befahren von Standstreifen und vieles mehr. Das deutsche Recht ist ungeheur tolerant und nachlässig gegenüber Autofahrern, wie es das in vielen anderen Bereichen nicht ist. Ich will hier gar nicht in den Chor des Social-Media-Prangers einstimmen und für den obigen Fall ein "ab in die Zelle und den Schlüssel weg" fordern, wie es diverse Leute tun. Aber die Gestaltung des Rechts ist gleichzeitig Normensetzung, und man sollte sich als Gesellschaft schon fragen, welche Botschaft man schicken will.

11) Bitte, bitte mehr Verbote!
Egal ob Veggie Day, Amazon-Retourenvernichtungsverbot, das Kastrieren unbetäubter Tiere, CO2-Steuer oder was auch immer; es schreien die politischen Kommentatoren auf: "Verbot, Verbot!" Man müsste entgegnen: Ja klar, Verbote. Was denn sonst? Es braucht nicht weniger Regulierung, sondern mehr. Bitte, bitte noch mehr Verbote! Und bei Grenzübertritt fette Strafzahlungen. Geld ist die einzige Sprache, die Konzerne verstehen. Wenn man Herstellern nicht verbietet, ihren chemischen Schrottzucker in süchtig machende Lebensmittel zu kippen, wird sich nichts ändern. Jedes Jahr erkrankt hierzulande eine halbe Million Menschen an Diabetes Typ 2. Insgesamt sind es rund sieben Millionen Deutsche. Das kommt nicht durch Sellerieknabbern zustande – und es lässt sich nicht durch wohlmeinende "Esst mehr Sellerie"-Kampagnen irgendwelcher Bundesministerien in den Griff kriegen, solange eine ganze Werbeindustrie suggeriert, dass Milchschnitte, Knoppers und andere Kunstprodukte Lebensmittel seien, bloß weil man sie in den Mund stecken und herunterschlucken kann. Freiheit nennen es jene Politiker, denen das Wohl der Agrarindustrie – nur ein Beispiel – näher ist als das Wohl der Wähler. Wie lächerlich. Was ist denn der Staat? Wann genau fing das eigentlich an, dass das Verbieten tabuisiert wurde? Kann es sein, dass die am Diskurs beteiligten gar nicht merken, dass der Staat auf dem Fundament von Verboten steht? Man kann die Grundrechte nämlich auch so lesen: Was alles nicht erlaubt ist. (Mely Kiyak, Zeit)
Keiner der ständigen Verbotskritiker, die den Grünen das früher so erfolgreiche Label der Verbotspartei anhefteten, hat ein Problem mit Verboten. Sie hatten nur ein Problem mit Verboten, die Dinge betreffen, die ihnen wichtig waren. Kiyak hat aber völlig Recht damit zu sagen, dass die Begrenzung das konstituierende Merkmal des Staates ist. Und man muss sich auch klar machen, dass etwa die Grünen ja nicht nur monothematisch Dinge verbieten wollen, das ist eine konservative Karikatur. Sie stehen ja auf der anderen Seite auch für das Erlauben von Dingen und das Öffnen von bisher existierenden Grenzen.  

Freitag, 7. Juni 2019

Mitch McConnell schreibt Reportagen beim Spiegel über den Niedergang der SPD in der Steinzeit - Vermischtes 07.06.2019

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Yes, Of Course Mitch McConnell Is a Hypocrite
And McConnell was actually one of the more restrained voices among Republicans. The rest of the caucus was routinely quoted as saying, essentially, fuck you, Obama, we’ll never consider one of your Democratic hacks. Either way, though, the official excuses didn’t say anything about the president and Senate being of different parties, even if that was the obvious subtext. The official excuse was that it was a nigh unbreakable tradition of the Senate to never fill a Supreme Court position that opened up in an election year, full stop. Why does anyone bother defending McConnell on this? I’m not sure. McConnell has practically built his entire career on hypocrisy, and he’s never really tried to hide it. He just shrugs, says what he needs to say, and moves on. I don’t think he really expects or cares if anyone takes him seriously, but treats public explanations as mere tedious parts of his job. In reality, he believes that whoever’s in power should do whatever they can to get their way, and it’s naive to think there are any other considerations. He doesn’t need anyone’s defense on this score. (Kevin Drum, Mother Jones)
Mitch McConnell ist ein Mensch, wenn man den als Charakter in ein politisches Drama schreiben würde, würde sich jeder über den flachen Bösewicht aufregen und ihn eindimensional finden. Der Typ ist so offenkundig ein zynischer Lügner und skrupelloser Intrigant, dass ständig Journalisten und andere Beobachter auf ihn hereinfallen, obwohl wir mittlerweile eine Dekade Erfahrung mit ihm haben sollten, bleibt verblüffend. Es zeigt auch deutlich, wie weit man mit genügend Destruktiv-Willen kommt. McConnell zerlegt die demokratische Ordnung der USA, aber weil er etwas anderes sagt, schafft er, das einfach als Teil der parteipolitischen Auseinandersetzung zu normalisieren. Die größte Gefahr für die liberalen Demokratien weltweit liegt deswegen auch weniger in Figuren wie Trump; sie liegt in Figuren wie McConnell, die in der Lage sind, den ganzen Prozess soweit zu verbiegen, dass er nur noch ein Schatten seiner selbst ist. Und es gibt keinen guten Ausweg. Wenn die Democrats je die Kontrolle zurückerlangen - was angesichts der Machenschaften McConnells und seiner Spießgesellen zunehmend schwieriger wird - haben sie nur zwei beschissene Möglichkeiten: die Regeln weiter einhalten wie bisher und von McConnell bis zur Bedeutungslosigkeit geblockt zu werden, oder es ihm gleich zu tun und mit massiver politischer Gewalt die Brechstange auszupacken.

2) Assange Indicted Under Espionage Act, Raising First Amendment Issues
Julian Assange, the WikiLeaks leader, has been indicted on 17 counts of violating the Espionage Act for his role in obtaining and publishing secret military and diplomatic documents in 2010, the Justice Department announced on Thursday — a novel case that raises profound First Amendment issues. The new charges were part of an expanded indictment obtained by the Trump administration that significantly raised the stakes of the legal case against Mr. Assange, who is already fighting extradition proceedings in London based on an earlier hacking-related count brought by federal prosecutors in Northern Virginia. [...] Justice Department officials did not explain why they decided to charge Mr. Assange under the Espionage Act — a step also debated within the Obama administration but ultimately not taken. Although the indictment could establish a precedent that deems actions related to obtaining, and in some cases publishing, state secrets to be criminal, the officials sought to minimize the implications for press freedoms. (Charlie Savage, New York Times)
Ich lasse das hauptsächlich als Fundstück für die Fans des gepflegten Bothsiderismus da, und diejenigen die immer noch der Überzeugung sind, dass Obama und Clinton irgendwie schlimmer sind als Trump und seine cronies. Unter Obama war der Umgang mit Whistleblowern und dem gesamten außenpolitischen Programm wahrlich nicht das Gelbe vom Ei, aber er war um Längen besser als unter Trump. Nur interessiert es bei letzterem keine Sau. Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich's gänzlich ungeniert, und den meisten Kritikern war es halt am Ende doch wichtiger, Obama zu kritisieren, als dass es ihnen um die Sache gegangen wäre.

3) Betrug, Eitelkeit, Versagen
Aber schon der Titel, „Der Fall Relotius“, ist falsch. Zutreffender wäre „Der Fall Spiegel“ gewesen. Der neue Report widerlegt nämlich die bis dahin verbreitete Version, das Magazin sei Opfer des raffinierten Tricksers Relotius geworden. Der Bericht ist vielmehr ein erschütterndes Dokument über das Verständnis von Journalismus in einem der führenden deutschen Medienhäuser, aber auch in den Ausbildungsstätten der Branche. So heißt es dort: „Die Reportage wurde zur ‚Königsdisziplin‘ erklärt. Journalistenschüler lernten, … Widersprüchliches und Sperriges wegzulassen, schwarz-weiß zu erzählen, Grautöne zu meiden, die Wirklichkeit der Dramaturgie unterzuordnen.“ Oder auch: „Die Erzählweise, die in Reportageseminaren, zum Beispiel dem des ‚Reporterforums‘, gelehrt wurde und wird, bedient sich dabei aus dem Werkzeugkasten des Films, der Comics und der Literatur, also der Fiktion.“ Und schließlich steht dort noch: „Sie [Die Reporter] erzählten dann auch aus ihren Reportagen solche Beispiele, die dann eben mal mehr und mal weniger die wahre Geschichte verfälschten. Aber Einigkeit bestand immer, dass das erlaubt sei.“ [...] Das Gesellschaftsressort entwickelte sich zu einem ganz eigenen Kosmos im deutschen Journalismus. Kaum ein preisgekrönter Schreiber, kaum eine ausgezeichnete Autorin, die nicht Angebote dieses Ressorts bekam. Und die wenigsten schlugen aus. Das Gesellschaftsressort des Spiegel war das Zentrallabor der deutschen Schönschreiber, der Olymp der schreibenden Branche. So sahen sie sich selbst, und so wurden sie von außen gesehen. [...] Journalismus und Literatur begannen zu verschmelzen. Und niemand intervenierte. In den Redaktionen nicht, in den Ausbildungsstätten nicht, in den Preis-Jurys nicht und auch nicht im wissenschaftlichen Raum. Die Frage, ob das Blatt vor lauter Reportagen und Porträts überhaupt noch ein Nachrichtenmagazin sei, wurde mit Verweis auf die gelegentlichen Scoops der investigativen Kollegen abgebügelt.(Horand Knaup/Hartmut Palmer, taz)
Ich bin absolut kein Fan des Reportagestils, deswegen ist die hier geäußerte Kritik natürlich Wasser auf den Mühlen. Homestories, Berichte aus der Provinz und der ganze Kram mögen zwar gute Literatur sein, aber sie etablieren auf der anderen Seite halt auch bequeme Narrative, auf die dann ständig zurückgegriffen wird. Die gerinnen dann innerhalb kürzester Zeit zum Klischee. Mir wäre es deutlich lieber, wenn der Spiegel sich eine Redaktion für Datenjournalismus gönnen würde. Der hat zwar seine ganz eigenen Probleme, aber der Erkenntnisgewinn ist trotzdem wesentlich größer, und dieser Fokus ist ein wesentlicher Punkt, warum ich so viel englischsprachige Medien lese und so wenig deutsche. Aber das ist letztlich natürlich Geschmackssache.

4) "Man muss den Leuten sagen, dass apokalyptische Zustände auf sie zukommen" (Interview mit Lisa Badum (Grüne) und Lukas Köhler (FDP))
Wenn man Flüge und Schifffahrt da nicht einbeziehen kann – kann man sie überhaupt kontrollieren? Badum: Das ist ehrlicherweise sehr schwierig. Ein Problem ist, dass sich beide aus dem Pariser Abkommen herausgezogen haben und jetzt eigene Regeln machen, die nicht ausreichen. Der internationale Flugverkehr erzeugt etwa 2 bis 5 Prozent der weltweiten Emissionen… Köhler: … und Schiffsverkehr 5 bis 8 Prozent, je nach Rechnung. Badum: Man könnte sagen: Schiffe dürfen bestimmte Grenzwerte nicht überschreiten oder müssen mit bestimmten Kraftstoffen fahren, sonst dürfen sie nicht in die EU einfahren. Aber einfache Lösungen gibt es nicht. Köhler: Würde man die 24 weltweiten Emissionshandelssysteme verbinden, könnte man viel abdecken. Aber das dauert. Und vorher? In den aktuellen Schiffsflotten gibt es quasi keine Schiffe, die mit Erdgas fahren, die man überhaupt auf grünen Wasserstoff umstellen könnte. Das ist ein Problem. Die internationale Luftfahrt verpflichtet sich im System Corsia darauf, alle zusätzlichen Emissionen über den Stand heute hinaus zu kompensieren. Aber Lisa hat recht: Es wäre gelogen, wenn ich eine einfache Antwort verspräche. [...] Wie schnell könnte man die anderen Bereiche über den EU-Emissionshandel regeln? Der funktioniert über Handelsperioden. Die nächste startet 2021, die danach erst 2030. Das wäre ganz schön spät. Köhler: Bis dahin sollten wir nicht warten. Wir haben aber auch keine Zeit für ineffiziente Maßnahmen wie eine CO2-Steuer. Wir wollen eine Koalition der Vernünftigen schmieden, mit Frankreich und den Beneluxstaaten, und zusammen den Emissionshandel ausweiten. Wenn das nicht gelingt, würden wir Artikel 24 der EU-Handelsrichtlinie anwenden und einseitig die Ausweitung für Deutschland vornehmen. Badum: Die Diagnose stimmt. Wir Grünen glauben nur, dass wir schneller vorankommen, wenn wir über eine Anpassung der Abgaben auf CO2 gehen. Köhler: Wie soll das schneller gehen? Meinen Vorschlag könnte man in sieben Monaten umsetzen. Wir können das Konzept in einem Monat beschließen, vielleicht zwei, weil wir noch mit Frankreich verhandeln müssen. Dann muss die EU-Kommission die Ausweitung sechs Monate prüfen. Fertig. Badum: Wenn es durchgeht. Was keiner weiß. Einem Rechtsgutachten des Umweltministeriums zufolge ist es nicht möglich, Raffinerien und Verkehrsbetriebe zu verpflichten, diese Zertifikate zu kaufen. Damit ist dein Plan im Eimer. (Jonas Schaible, T-Online)
Wo wir gerade bei verschiedenen Journalismusmodellen sind, die T-Online-Redaktion zeichnet sich auch kontinuierlich durch grandiose Artikel und Reportagen aus, und ich sage das nicht nur, weil Deliberation-Daily-Alumni Jonas Schaible da arbeitet. Gerade obiges Interview ist um so viel interessanter als die üblichen Plattformen zum Absondern von Phrasen und Gewinnen von "Gotcha!"-Momenten. Es gab früher im Öffentlich-Rechtlichen auch einige solche Formate, die hauptsächlich der Diskussion und dem Erkenntnisgewinn gewidmet waren, aber die schmutzige Wahrheit ist natürlich, dass die Zielgruppe dafür nicht sonderlich groß ist, und seit die ÖR mit den Privaten zu konkurrieren haben und die Quote nicht mehr ignorieren können, ist für so was kaum mehr Platz. Hier könnte man durchaus das Internet mehr nutzen und solche Formate entsprechend etablieren. Zum eigentlichen Interview: Wenig überraschend neige ich der grünen Sichtweise mehr zu, aber ich finde es ermutigend zu sehen, dass die beiden grundsätzlich miteinander kooperieren und diskutieren können, obwohl sie sich nicht einig sind. Diese demokratische Kultur in Deutschland, in der der parteipolitische Schlagabtausch ritualisiert bleibt und hinter den Kulissen das Tagesgeschäft erledigt wird, ist viel wert und sollte deutlich mehr Wertschätzung erhalten, als sie aktuell genießt.

5) Jeder, der fliegt, ist einer zu viel
Tatsache ist aber: Allein im vergangenen Jahr haben die Passagierzahlen im deutschen Luftverkehr um 5,4 Prozent zugenommen. Seit 1990 gab es einen weltweiten Zuwachs an Passagieren von 100 Prozent – in Deutschland sogar 250 Prozent. Die Klimazerstörung durch das Fliegen ist fast so gravierend wie die des Autoverkehrs. Wenn wir so weitermachen wie bisher, wird der Flugverkehr im Jahr 2050 für fast ein Viertel aller globalen Emissionen verantwortlich sein. Das prognostiziert die Europäische Umweltagentur. Angesichts dieser Zahlen und Prognosen ist es absurd, die Klimawirkung des Fliegens zu relativieren. Im Gegenteil: Das ungebremste und unregulierte Wachstum der Flugindustrie wird über kurz oder lang alle anderen Anstrengungen zur Reduktion der CO2-Emissionen auffressen. [...] Doch selbst in Ländern wie Großbritannien sind 15 Prozent der Bevölkerung für 70 Prozent der Flüge verantwortlich. Es sind bildungsbürgerliche, weltoffene, oft auch politisch progressiv scheinende und grün-links-wählende Menschen, die auf ruinöseste Weise den Planeten bereisen. Dass diejenigen, die den Klimaschutzdiskurs bestimmen, so viel fliegen, erklärt vielleicht auch, warum Klimapolitiker so wenig tun, den Flugverkehr einzuschränken. Und das viele Fliegen lässt sich eben nicht durch punktuelle und symbolisch aufgeladene Nachhaltigkeitspraktiken wie bio-vegane Ernährung, Fahrradfahren oder Ökostrom – so sinnvoll diese auch sind – ausgleichen. (Anne Kretzschmar/Matthias Schmelzer, Die Zeit)
Bei aller Liebe: jeder, der einmal einen Flughafen betreten hat, sieht, dass Geschäftsreisen den mit Abstand größten Teil des Flugverkehrs ausmachen. Hier kann man wieder einmal mit marktwirtschaftlichen Maßnahmen ansetzen. Streicht man die steuerliche Begünstigung des Flugverkehrs, schafft seine steuerliche Absetzbarkeit bei Geschäftsreisen ab und erlaubt eine (vielleicht sogar subventionierte) Absetzbarkeit von Zügen, können die Unternehmen beweisen, wo Leute wirklich fliegen müssen und sich gegenseitig im Wettbewerb darin überbieten, ihre Mitarbeiter CO2-neutral von A nach B zu schicken. Für Otto-Normalverbraucher wird schon alleine die Kostensteigerung, die sich über CO2-Zertifikate (siehe Fundstück 4) und eine gerechtere Besteuerung des Flugverkehrs (Stichwort Kerosinsteuer) ergibt das Problem lösen: Fliegen wird wieder reines Luxusgut, und angesichts seiner verheerenden CO2-Bilanz sollte es das auch sein. Und ja, das ist für grün-links wählende Menschen wie mich ein gewisses Problem. Ich bin gerne Kosmopolit und Weltbürger, und das ist schwieriger, wenn man eben nicht zum Austausch über das Wochenende nach London fliegen kann. Aber was will man machen?

6) Sparmodell: Lehrer in den Sommerferien nicht beschäftigen
Der Freistaat spart sich mit der Methode viel Geld: Er stellt zusätzliche Lehrer vier Wochen nach Schulbeginn oder später befristet als Vertretungslehrer ein und lässt ihre Verträge mit dem Beginn der Sommerferien enden. Die Ferien bekommen die Lehrer also nicht bezahlt. Etwa 800 bayerische Lehrer melden sich deshalb jedes Jahr Anfang August arbeitslos. Neben Bayern ist diese Praxis nur noch in Baden -Württemberg üblich - dort sind es 1.800 Lehrer. [...] Nur Baden-Württemberg und Bayern sind laut der Lehrergewerkschaft GEW "weiter absolut hartnäckig", diese Länder seien praktisch "nicht umstimmbar." Als gutes Beispiel nennt die GEW-Bundesvorsitzende Marlies Tepe dagegen Rheinland-Pfalz: Dort gilt seit diesem Schuljahr die Regelung, dass alle Vertretungslehrer, die vor dem 1. März eines Jahres einen Vertrag abgeschlossen haben und mindestens bis Schuljahresende beschäftigt sind, auch in den Sommerferien bezahlt werden. Laut einem Sprecher des Bildungsministeriums in Mainz ist das "ein Stück Gerechtigkeit und gibt den Lehrkräften Planungssicherheit". (Maximilian Burkhardt, BR24)
Was das ganze Modell so unglaublich bescheuert macht ist, dass es nicht mal signifikant Geld einspart. Es ist ein Paradebeispiel für "Rechte Tasche, linke Tasche". Das Geld fällt nicht im Bildungshaushalt an, der anderen Rechtfertigungsregeln im Parlament unterliegt, sondern im Sozialhaushalt, der vom Verteilungskampf immunisierter ist. Es ist aus politischer Sicht klar, warum das gemacht wird, aber für die Betroffenen ist es ein Desaster. Es wäre ja schlimm genug, wenn die Lehrer sich jedes mal für das finanziell ruinöse und persönlich entwürdigende Sommerloch arbeitslos melden müssten, aber oft genug ist es ja nicht nur eine Frage von einem Monat ALG-I. Die Betroffenen leben in großer Unsicherheit, ob sie im September überhaupt einen neuen Job bekommen, und müssen dann oft kurzfristig (ein oder zwei Wochen umziehen). Diese Dauerumzüge quer durch Baden-Württemberg machen das Aufbauen von Beziehungen oder Familien praktisch unmöglich, sind wahnsinnig teuer und nervenaufreibend. Es ist einfach ein Unding, wie das Land mit seinen Leistungsträgern umgeht.

7) Pädagogik zum Gruseln
Schlechten offenen Unterricht gibt es tatsächlich zuhauf – so wie es schlechten Frontalunterricht gibt, wo der Lehrer oder die Lehrerin über die Köpfe der Kinder hinweg redet. Ein Lehrer, der nur auf die Eigenmotivation seiner Schülerinnen und Schüler setzt und die Klasse bloß moderiert, hat seinen Job nicht verstanden. Doch verstehen sich tatsächlich so viele deutsche Pädagogen, wie Winterhoff behauptet, als passive "Lernbegleiter"? An wie vielen Schulen sind die Noten wie auch die Hausaufgaben komplett abgeschafft? Und wo ist der offene Unterricht die durchgehende Unterrichtsmethode? Glaubt man den Ergebnissen der empirischen Bildungsforschung sowie den Unterrichtsbeobachtungen durch die Schulinspektionen der Länder dürfte eher das Gegenteil der Fall sein: danach beherrscht der traditionelle Lehrervortrag (insbesondere nach der Grundschule) weiterhin den Schulalltag. [...] Nicht redigieren ließ sich der düstere pädagogische Pessimismus, der das ganze Werk des Autors durchzieht. Kinder und Jugendliche sind demnach rein lustbetonte Wesen, die eine kurze Leine benötigen. Wenn Erwachsene den Kindern erklären, warum sie etwas lernen sollen, dann ist das laut Winterhoff im Grundschulalter "schädlich"; dass Schüler ihre Leistungen im Unterricht selbst einschätzen "Unsinn"; Hausaufgaben: "Frühestens wenn das Kind vierzehn Jahre alt ist, können sich die Eltern darauf verlassen, dass es sich aus eigenem Antrieb an den Schreibtisch setzt." [...] Bleibt die Frage nach den Ursachen des Winterhoffschen Erfolgs. Warum kaufen Eltern, Lehrerinnen und Erzieher seine Bücher? Warum folgen sie den verschwurbelten Gedanken eines Psychiaters, dessen wichtigster Therapievorschlag darin besteht, in den Wald zu gehen? Der Kinder als "Monster" bezeichnet und tatsächlich behauptet, mehr als die Hälfte von ihnen seien psychisch gestört. (Martin Spiewak, Die Zeit)
Sarrazin, Winterhoff, Precht, Hüther - sie schreiben alle denselben Mist. Bar jeder Sachkenntnis, aber unter der Fahne der heiligen Empörung und mit dem moralinsauer tropfenden erhobenen Zeigefinger. Und dabei verstecken sie sich immer hinter irgendwelchen scheinbaren fachlichen Qualifikationen, ob "Hirnforscher" Spitzer oder "Kinderpsychiater" Winterhoff. Es ist reiner Kulturpessismus, aber das verkauft sich immer wie geschnitten Brot, egal zu welcher Zeit. Wann auch immer wir in den letzten 100 Jahren schauen, was sich in dem Segment verkauft, es finden sich Bestseller, die bejammern wie schrecklich mittlerweile alles ist und warum die aktuelle Jugend, das Land oder die Familie zerstört werden (gerne auch alles zusammen). Und es ist nie was dahinter. Man sollte diese Typen einfach ignorieren, aber angesichts der riesigen Plattformen, die sie leider genießen, ist das praktisch unmöglich.

8) Die Selbstzerstörung der SPD
Jetzt wäre es unredlich, das alles nur dem armen Gerhard Schröder und seiner unglücklichen Agenda zuzuschreiben. Zumal die Reformen so richtig erst 2003 starteten. Das kann 1999 also nicht erklären. Zum Auseinanderdriften dürfte ebenso beigetragen haben, dass durch die Tarifflucht von Betrieben seit Mitte der Neunzigerjahre immer mehr Beschäftigte nicht mehr nach Tarif bezahlt wurden; oder dass es keine Steuer mehr auf Vermögen gab, was kurz vor Rot-Grün kam. Und dass es in der Krise bis 2005 immer mehr Arbeitslose gab, die per Definition dann natürlich auch weniger Geld haben. Nur macht es all das erstens für diejenigen auch nicht besser, die nun einmal just zu Zeiten des Sozi-Kanzlers auf die eine oder andere Art zu spüren bekamen, dass sie (relativ) ärmer wurden. [...] Selten ist de facto so viel Geld von unten nach oben verteilt worden wie - unter Sozi-Kanzler Schröder. Und das alles, ohne dass das ökonomische Versprechen eingelöst wurde, wonach dank der Reformen am Ende alle mehr Einkommen haben. Heute kriegen trotz wirtschaftlicher Erholung viel mehr Leute nur einen Niedriglohn als vor der Agenda-Zeit. Aufstieg durch Verzicht? Von wegen. (Thomas Fricke, SpiegelOnline)
Ich bleibe dabei. Es war nicht die Agenda2010 unter Schröder, die der SPD das Genick brach. Die Partei hätte das durchaus überleben können. Was ihr das Genick brach war ihr wirrer Versuch, 2005-2009 die CDU rechts überholen zu wollen. Es ist diese Phase des selbstzerstörerischen Leerlaufs danach, die sie herunterzog. Das sieht man ähnlich ja auch bei Labour: Nicht unter Tony Blairs Reformen trieb die Partei weg, sondern im ideenlosen Managment des Niedergangs danach. In beiden Fällen war es der Partei nicht möglich, die negativen Folgen ihrer Reformen aufzufangen. Ich glaube, die aktuelle Todesspirale der CDU fußt auf einem ähnlichen Problem. Nicht die Flüchtlingsentscheidung von 2015 per se ist das Problem, sondern das ideenlose Managment danach, die Unfähigkeit, die Folgen aufzufangen und ein neues Narrativ darum zu schnüren. Aber mittlerweile hat sich das in beiden Fällen so festgefressen, dass ein Umsteuern kaum mehr möglich scheint. "SPD erneuern" ist ja inzwischen schon die Pointe eines Witzes.

9) Die Mit-uns-nicht-zu-machen-Partei
Wenn man erst beteuert, etwas nicht zu tun, und es dann halbherzig doch umsetzt - dann hat man in einem einzigen politischen Akt Gegner und Anhänger gleichermaßen vor den Kopf gestoßen. Eine Kunst, die die SPD besser beherrscht als irgendjemand sonst. [...] Der Satz "Das wird es mit der SPD nicht geben!" müsste eigentlich immer lauten: "Das wird es so mit der SPD nicht geben, aber bisschen abgewandelt halt schon." [...] Es würde mich nicht wundern, wenn das nächste Wahlprogramm der SPD überschrieben sein wird mit dem Mantra "Mit uns nicht zu machen!" Dabei ist doch viel wichtiger zu sagen, was eigentlich zu machen wäre. Versprechen zu brechen gehört seit Erfindung demokratischer Politik zu den wiederkehrenden Ärgernissen, das ist nicht neu. Aber etwas anderes hat sich dramatisch verändert in den letzten Jahren. Nämlich die Welt. "Das ist mit der SPD nicht zu machen", bedeutet, öffentlich und lautstark rote Linien zu ziehen. Zugleich ist viel persönliche Überzeugung in diesem Satz vorhanden, er mutet an, als proklamiere jemand eine direkt aus der Seele der Partei herausgewrungene Unumstößlichkeit. Doch die Welt befindet sich 2019 in einer Epoche des heftigen und überraschenden Wandels. (Sascha Lobo, SpiegelOnline)
Passend zu Fundstück 8 hier noch dieser Artikel von Sascha Lobo; ich denke, der spielt mit in dieses Problem der Ideenlosigkeit hinein, das ich angesprochen habe. Die SPD geriert sich seit Jahren nur noch passiv als Verteidiger und Blockierer. Und blockiert und verteidigt wird zudem ein Status Qui, der immer Richtig frappant fand ich das bei den Kommunalwahlen hier in Stuttgart, wo die ganze SPD-Plakatkampagne in der ersten Hälfte des Wahlkampfs daraus bestand, OB Kuhn vorzuhalten, was er alles nicht geschafft hat. Aber wer wählt denn einen kleinen, meckernden Wadenbeißer? Das ist eine Wahlkampagne, die Splitterparteien üblicherweise fahren, aber sicherlich nicht ein schwerfälliger Tanker wie die SPD. Es ist ein einziges Trauerspiel.

10) A White Man’s Republic, If They Can Keep It

That the Republican effort to increase white political power might be motivated by partisanship rather than racism is little solace. Segregationist Democrats might not have insisted on disenfranchising black voters after Reconstruction had those voters not been staunch Republicans. Whether motivated by partisanship or racism, though, the result is the same. If the Roberts Court does not draw a line here, this will not be the last step toward reestablishing a white man’s government it will be asked to take. [...] The census case is not ultimately about administrative procedure; it is, more fundamentally, about whether the Trump administration can use the federal government for the explicit purpose of increasing white political power. The Trump administration, and by extension, the conservative masses, are already on board, convinced by years of right-wing propaganda that all the opposition’s victories at the ballot box are suspect. Those elements of the Republican establishment that funded and conceived of the census scheme are all in, as well. The only remaining question is whether, and to what extent, the high court is willing to ratify this step toward white man’s government. It is not the first time it has been asked to do so. [...] Trump’s victory settled the question of whether the GOP would seek to expand its base by diversifying it, or rely on the imposition of white political hegemony over a changing electorate. This is a counter-majoritarian strategy that, in the long run, relies on abandoning the pretense of liberal democracy in favor of something else: A white man’s republic, if they can keep it. (Adam Serwer, The Atlantic)
Dieses Fundstück wiederum passt gut zu Fundstück 1. Die Republicans haben keinerlei Problem, die gesamte Macht des Staates auszunutzen um ihre Minderheitsregierung noch ein Weilchen mehr am Leben zu erhalten. Und das schneidet massiv in die Rechte von Minderheiten. Wie Serwer ja schon richtig sagt ist es bedeutungslos, ob sie dabei wirklich von rassistischen Motiven motiviert sind oder einfach nur in Kauf nehmen, dass Minderheiten so massiv geschadet wird; Fakt ist, dass ein rassistisches Regime entsteht, das die Interessen einer bestimmten Kaste durchsetzen soll.

11) Die Steinzeitfrau jagte wohl auch: Archäologin räumt mit Klischees auf (Interview mit Brigitte Röher)
Bis heute wird das Bild des Jägers und der Sammlerin herangezogen, um ein unterschiedliches Verhalten der Geschlechter zu erklären. Was ist da dran? Brigitte Röder: Die Idee, dass Männer von Natur aus Jäger seien, ist ein Klischee. Das Bild vom mutigen Jäger, der einem Mammut auflauert, finden wir in vielen Schulbüchern, Museen, Romanen oder Filmen. Der Mann soll seit Urzeiten die Familie ernährt haben, während sich die Frau um Kinder und Haushalt gekümmert habe. [...] Woher kommt dann dieses Bild vom Mann als Jäger und der Frau als Sammlerin?
Die Geschlechterrollen, die für die Urgeschichte gezeichnet werden, sind ungemein stereotyp. Stets erscheinen die Männer als Ernährer, die mobil waren, Handel oder Bergbau betrieben und sämtliche Innovationen kreierten. Ihnen stehen die ewigen Hausfrauen und Mütter am Herdfeuer gegenüber. Diese Rollenteilung geht auf Idealvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts zurück. Damals wurde das Geschlechter- und Familienmodell neu konstituiert und für universal erklärt. Es wurde auch festgelegt, welchen «Geschlechtscharakter» Männer respektive Frauen haben. Noch heute gilt dieses bürgerliche Geschlechtermodell vielfach als ursprünglich – und wird auf die Urgeschichte projiziert.
Wie lebten die damaligen Menschen wirklich?
Historisch und ethnografisch ist eine unglaubliche Vielfalt an Geschlechtermodellen, Familien-, Verwandtschafts- und Haushaltsformen belegt. Wer für archäologische Befunde Analogien sucht, müsste also ein breites Spektrum in Betracht ziehen. Interessanterweise fokussieren die meisten Interpretationen aber auf das, was wir von der bürgerlichen Gesellschaft kennen. Etwa die Idee, dass in jedem Pfahlbau eine Kernfamilie wohnte. Studien der Universität Basel zeigen jedoch, dass diese Idee falsch ist. Die Siedlungen waren erstaunlich kurz bewohnt, manche nur acht oder zwölf Jahre. Die Gruppen müssen sich immer wieder aufgeteilt und neu zusammengesetzt haben. Die Vorstellung von Bauernfamilien, die über Jahrhunderte im selben Dorf gelebt haben, muss aufgegeben werden. (Annika Bangerter, Aargauer Zeitung)
Die angeblich so natürliche Geschlechteraufteilung der Steinzeit ist eines der härtesten Klischees überhaupt. Allan und Barbara Pease haben da mit ihrem Dauerbestseller "Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken" Millionen mit gemacht, und viele andere haben es ihnen gleichgetan. Der Blödsinn findet sich auch in diversen Sach- und Schulbüchern, und da Steinzeit üblicherweise ein Thema ist, das vor allem junge Kinder gelehrt bekommen und für das sie sich interessieren, werden die dadurch entsprechend mitgeprägt. Ich finde es auch gut, wie offen Röher damit umgeht, dass wir wenig über die Geschlechterverhältnisse wissen. Die archäologische Beweislage gibt einfach nicht viel her; ein emanzipiert-egalitäres Steinzeitsystem zu fantasieren hilft daher auch nicht weiter. Der für mich wichtigste Punkt ist, dass es im Endeffekt um die Projektion der eigenen Wertvorstellungen auf die Vergangenheit geht - ein sehr häufiges Problem, wenn man sich mit der Geschichte beschäftigt.