1) AKK vs. GG
Die autoritären Instinkte der CDU traten im Zusammenhang mit dem Rezo-Video so deutlich zutage wie zuletzt zu den Zeiten, in denen Wolfgang Schäuble Innenminister war. Nur anstatt in eine aufgeregte Atmosphäre des "Anti-Terror-Kriegs" hineinzustoßen, wie das bei Schäuble der Fall war, sind wir inzwischen halt eine Dekade weiter. Und die Zeiten sind ziemlich avers gegenüber obrigkeitsstaatlichen Ausflügen. Das Ironische daran ist, dass die CDU das eigentlich weiß - schließlich instrumentalisierte sie den Vorwurf in den letzten Jahren geschickt gegen die Grünen, indem sie sie in den Ruch stellte, mit der Macht des Staates von oben in die Freiheiten der Bürger dirigieren zu wollen. Warum AKK glaubte, dss ihre eigene Partei dagegen immun sei und die deutsche Öffentlichkeit diese kognitive Dissonanz einfach hinnehmen würde, ist mir unklar. Es ist auch deswegen bezeichnend, weil es ein ziemlich verzweifeltes Um-sich-Schlagen ist. Die CDU befindet sich in einer ähnlichen Krise, wie die SPD dies zwischen 2005 und 2009 war, und sie weiß es. Mit dem realen Szenario konfrontiert, künftig bei Wahlen unter 30% abzuschneiden, kriecht bei vielen Funktionären die blanke Panik hoch. Verständlicherweise. Mich faszinieren die Parallelen zum Abstieg der SPD ungemein. Genauso wie bei der Sozialdemokratie war es gerade nicht der Altkanzler beziehungsweise die Altkanzlerin, unter die gewaltigen Verluste entstehen. Sowohl Schröder 2005 als auch Merkel 2017 verloren zwar gegenüber ihrer jeweils vorhergehenden Wahl, aber beide stabilisierten ihre Parteien auf dem Stand nach der großen innerparteilichen Kontroverse - Agenda2010 hier, Flüchtlingspolitik dort - auf einem recht hohen Niveau. Es sind ihre jeweiligen Nachfolger (Müntefering/Steinmeier auf der einen Seite, AKKauf der anderen), unter denen eine rapide Auflösungserscheinung stattfindet. Die Gründe dafür werden noch zu untersuchen sein.Dass Kramp-Karrenbauer hier "autoritäres Denken offenbart" (Kuzmany), ist inhaltlich nicht überraschend. Es war immer absehbar, dass die Debatte über Flucht und Migration und die damit verbundene Verschiebung des gesellschaftlichen Diskurses nach rechts (an dem Kramp-Karrenbauer kräftig mitgewirkt hat, siehe hier, hier und hier) nicht zuletzt dazu dient, den Boden zu schaffen für die Beschneidung der Freiheitsrechte im Innern, dass sich also die salonfähig gewordene Härte nach außen irgendwann auch gegen missliebige Eingeborene richten würde. Dass Kramp-Karrenbauer ihre orbanistischen Neigungen so ungeschickt zu Markte trägt, verwundert allerdings etwas. Falls, was theoretisch möglich wäre, Kramp-Karrenbauer einen Blackout hatte und sie sich beim Schlagwort-Bingo verplappert hat, hätte sie diesen Fehler natürlich zugeben können. Statt dessen schickte sie zwei Tweets ab, die alles noch schlimmer machten. In einem davon behauptete sie im ersten Satz, man unterstelle ihr Dinge, die sie nicht gesagt hat, um im zweiten Satz dann das zu sagen, was sie angeblich nicht gesagt hat. Das PR-Desaster komplettierte schließlich ein Bindestrich-Vergesser, der laut Twitter-Bio "digitalpolitischer Sprecher der CDU/CSU Bundestagsfraktion" ist (klingt ein bisschen wie Transgender-Referent des Vatikans). Der behauptete, Kramp-Karrenbauer habe sich "für eine Regulierung ausgesprochen, die wir offline selbstverständlich haben", obwohl "wir" diese siehe oben, selbstverständlich nicht haben. (René Martens, Altpapier)
2) Die Rezipient*in, das Alien. Rezo, die CDU und die Geschichte der Medienangst
Begründet ist die Angst vor den Rezipient*innen aber, weil die Mediengeschichte zeigt, dass die Rezeption von Medien selten einfach zu kontrollieren ist. Aktive Rezipient*innen beschränken die Macht der kulturellen Hegemonie durch Medien; das betrifft Politiker*innen, die sich in einem bestimmten medialen Umfeld bewegen, vernetzen und dazu beraten lassen genauso wie die eigentlichen Medienproduzent*innen. Medien sind eben keine „ideologischen Staatsapparate“, wie Louis Althusser 1977 sagte, nicht einmal da, wo sie komplett unter staatlicher Kontrolle stehen. Das Internet ist keineswegs das erste Medium, das über (national-)staatliche Grenzen hinweg wirksame (Gegen-)Öffentlichkeiten produziert. Durch die Geschichte der Medien zieht sich die Frustration der Politiker*innen und Produzent*innen, dass ihre Interviews, Texte, Filme, Radiofeatures nicht „richtig“ gelesen, gesehen oder gehört werden. Wie es ein Bericht der britischen Kolonialverwaltung in Sambia einmal ausdrückte: „Listeners were depressingly adept at missing the point.“ Diese Frustration hat sich noch verstärkt, seit es die Demokratisierung der medialen Produktionsmittel marginalisierten Gruppen ermöglicht, über die begrenzten Öffentlichkeiten alternativer Medien hinaus breite gesellschaftliche Diskussionen anzustossen oder zu beeinflussen. [...] Die These von aktiven Rezipient*innen speist sich nicht zufällig aus den antirassistischen Cultural Studies; eine zweite, ebenso wichtige medientheoretische Tradition ist die feministische. Beide mussten gegen eine Medienforschung anschreiben, die in ihrer rechten wie linken Variante massenmediale Kultur nur als Niedergang von einer idealisierten bürgerlichen Öffentlichkeit zu – je nach politischer Ausrichtung – kulturellem Verfall oder massenmanipulierender „Kulturindustrie“ analysierte. Marginalisierte Rezipient*innen wurden in solchen Erzählungen als Teil des Problems ausgemacht – so hiess es in der Weimarer Republik, Frauen würden zerstreut neben ihrer Hausarbeit Radio hören statt, wie die Männer richtigerweise, konzentriert und reflektiv. Wie sich herausstellen sollte, waren Frauen vielmehr Vorreiter einer Praxis des Hörens, die sich mit zunehmender Integration des Radioapparats in den Alltag durchsetzen sollte. Die feministische Medienrezeptionsforschung fragte dementsprechend nach der Bedeutung des Medienkonsums als in den lebensweltlichen Alltag eingebundenes soziales Handeln. Wie die Cultural Studies greifen sie dabei auf die Ideologietheorie von Antonio Gramsci und die medientheoretischen Überlegungen Walter Benjamins zurück, die die Ambivalenz neuer massenmedialer Technologien betonten – das ständige Schillern zwischen ihrem emanzipatorischen und autoritären Potential. (Robert Heinze, Geschichte der Gegenwart)Passend zu Fundstück 1 ist auch, dass angesichts der Herausforderung durch die Jugend auf die üblichen Muster zurückgefallen wird, das jeweils aktuelle Ding für wahnsinnig schädlich zu erklären. Es ist immer dasselbe. Ob Roman oder Radio, Fahrrad oder Comic, Fernsehen oder Computer, Rock'n'Roll oder Internet, irgendetwas ist immer, was die Jugend tut und die Alten nicht verstehen und bedrohlich finden. Die Herausforderung der alten Ordnung kommt immer durch die junge Generation, die Verteidigung der alten Ordnung notgedrungen durch die alte, und gegenseitiges Unverständnis prägt den Graben, der sich dazwischen auftut. Man kann daran arbeiten, ihn durch Verständnisversuche und Gesprächsangebote zu überbrücken, aber zuschütten lassen lässt er sich nicht. Eines aber zeigt uns die Geschichte aber auch: Der Widerstand der Alten, egal wie heftig, hält die neuen Entwicklungen nie auf.
3) Klimaprämie statt CO2-Steuer
Ich habe ehrlich gesagt nicht die geringste Ahnung, welches der verschiedenen diskutierten Modelle - Klimaprämie, CO2-Steuer oder was auch immer - das beste ist. Ich bin froh darüber, dass es diese Diskussion überhaupt gibt. Wenn die Wirtschaftszeitungen zu Foren darüber werden, WAS man tun soll, anstatt OB man etwas tun soll, ist viel gewonnen. Mit diesem Vorwort zum eigentlichen Artikel. Ich denke Kemfert hat in jedem Fall einen Punkt, der hier in der Diskussion auch schon aufkam: die Emissionen werden vor allem von den wohlhabenderen Schichten verursacht, weniger von der breiten Masse. Entsprechend sollte auch ein Abgabenmodell gestaltet sein. Ich bin aber immer etwas skeptisch bei Modellen wie dem der Klimaprämie, weil das "du zahlst erst mal mehr und kriegst am Ende eine Prämie" immer schwer in die alltägliche Finanzplanung zu integrieren ist. Kemfert suggiert, dass das quasi die Idee ist, aber woher weiß die Niedriglöhnerin aus dem Artikel denn, wann sie wie viel Geld genau bekommen wird? Kann man damit planen? Ist das realistisch? Solche Systeme machen immer sehr viel Aufwand. Aber ansonsten gilt mein erster Absatz: klingt sinnvoll, Kommentatoren mit mehr Sachverstand bitte an die Tastaturen!Eine bescheidene Wohnung braucht – selbst ungedämmt – weniger Heizöl als das vollverglaste Penthaus des hochbezahlten Managerpaares. Die bescheidene Pendlerin fährt ganz sicher keinen spritfressenden SUV, sondern einen Kleinwagen oder Bus und Bahn – und das vermutlich schon ihr ganzes Leben lang. Sie macht weder Flugreisen rund um den Globus, noch Kreuzfahrten und wenn sie sich ihre Gemüsesuppe kocht, dann vermutlich nicht mit aus der Südsee eingeflogenen Kochbananen oder Wasserkastanien. Sie wird mit ihrem Lebensstil die klimagerechten Emissions-Grenzen wahrscheinlich nicht mal ausschöpfen. [....] 57 Mrd. Euro gibt der Staat jedes Jahr für klimaschädliche Subventionen aus. Das wären immerhin 700 Euro im Jahr pro Kopf. 60 Euro pro Monat. Eine prima Klimaprämie! Und man stelle sich vor, man würde die derzeit oft steuerbefreiten Klimaschädlinge wie Kerosin, Diesel, Benzin und Heizöl an den verursachten Klimawandel-Folgekosten realistisch beteiligen, was würde dann passieren? Ja genau: Die „ungedämmte Pendlerin“ hätte plötzlich deutlich mehr Geld in der Tasche. Allerdings wird sie sich dann trotzdem noch überlegen, ob sie ihr Geld für einen Flug nach Mallorca ausgibt, denn der wird dann nicht mehr für 19 Euro zu haben sein. Ohne kostenlose Provinz-Flughäfen und mit Klimaschaden bepreiste Treibstoffe sind solche Preise nicht mehr zu schaffen. Dafür würden endlich die Unternehmen auf die – technisch bereits entwickelten, aber derzeit eben noch teureren – erneuerbaren Energieträger umsteigen. Das Managerpaar dagegen müsste für sein rücksichtsloses Flug-, Fahr – und Heizverhalten in Zukunft deutlich mehr bezahlen. (Claudia Kemfert, Capital)
4) Kavanaugh defender Amy Chua's daughter gets Supreme Court job with Kavanaugh
Three days after President Trump nominated Brett Kavanaugh as his pick for the Supreme Court, the Wall Street Journal published an op-ed by Amy Chua, a Yale Law professor better known as the author of the 2011 parenting memoir “Battle Hymn of the Tiger Mother,” who praised Kavanaugh as a mentor to young women. Chua, a member of the school’s clerkships committee, had placed eight women with Kavanaugh, including her daughter Sophia Chua-Rubenfeld, who had been accepted to serve with Kavanaugh, then a circuit court judge. Some critics called the op-ed self-serving, arguing that Chua was simply setting her daughter up for a Supreme Court clerkship once Kavanaugh was confirmed. (Dylan Stableford, Yahoo News)
Ich sage nicht, dass Chua-Rubenfeld nur wegen der Leistung ihrer Mutter den Job bekommen hat. Sicher ist sie auch eine kompetente Juristin. Nur ist die Geschichte wieder einmal ein Beispiel dafür, dass den conservatives Sitten und Anstand einfach egal sind. Wie bereits bei der Nominierung Kavanaughs gab es Alternativen, die mindestens genauso qualifiziert waren und die ohne den baggage des jeweiligen Kandidaten auskommen würden. Im Fall der Nominierung Kavanaughs war die Umstrittenheit ja gerade der Punkt. Er wurde nominiert, WEIL er einen problematischen Hintergrund hatte, nicht TROTZ. Im Fall Chua-Rubenfelds dürfte es mehr ein allgemeines Schulterzucken sein. In der Medienblase von FOX und Co wird es niemals ein Thema werden, und wenn die andere Seite sich ärgert, wird das eh nur noch als Bonus gesehen.
Most British prime ministers since Margaret Thatcher have wanted to be Thatcher in one way or another. Tony Blair hoped to emulate not just the longevity of her tenure but also the impact she had on the country. Cameron would have liked to remake the Conservative Party in his own image, as she remade it in hers. Theresa May simply wanted to be as formidable as Thatcher had been, a steely woman in a world of wobbly men. Even Gordon Brown, with his ceaseless personal ambition, believed that politicians only get a few chances to make a lasting difference and he longed to take the opportunities on offer as effectively as she had. The fact that they all failed in these lofty goals shows how powerfully the Thatcher story has been mythologised. [...] This pattern is now repeating itself among the farcically long list of would-be contenders for the Tory leadership. They all, in their different ways, want to be another Thatcher. And they are all desperate to demonstrate that they won’t be another May. [...] The problem with this prospectus is that it is hard to imagine any politician being more resolute than May. Remember, she thought she was Thatcher too. She went at it with an iron determination not to be deflected from her course. And look where that got her. What are the levers they can pull which she couldn’t? Parliament has shown that it does not take kindly to being bullied on the question of Brexit, and the Speaker is barely on speaking terms with the executive. Talk of proroguing Parliament to force through a no deal Brexit before 31 October is surely for the birds. Ignoring the views of the judges is not a way to avoid being troubled by them; it’s what gets you into trouble with them. The Irish government is not going to budge any more than the Brexit negotiators in Brussels are. In any case, Westminster’s authority barely extends to the devolved parts of the UK these days, let alone any further afield. Trying to browbeat the civil service doesn’t make sense unless the goal is to get nothing done at all. (David Runciman, London Review of Books)Ich las jüngst das herausragende Buch "Der Mythos des starken Führers" (Original), das genau diese Thematik aufgreift. Kaum eine Vorstellung hält sich so widerspenstig wie die Idee, dass "starke" Regierungschefs die besten Regierungschefs seien, wobei Stärke dann gerne mit markigen Gesten gleichgesetzt wird. In Großbritannien will jeder immer Thatcher sein, wie der Artikel oben schön herausarbeitet, ohne dass irgendjemand groß darüber nachdenkt, was Thatcher eigentlich genau getan hat und wie. Auch in den USA ist diese Vorstellung weit verbreitet; Trump lebt ja praktisch von nichts anderem als von der Machismo-Idee der "Stärke". Von Russland, Venezuela, der Türkei oder anderen von Autokraten regierten Staaten brauchen wir überhaupt nicht erst anzufangen. Wie aber sowohl der obige Artikel als auch das empfohlene Buch gut herausarbeiten, sind es gerade solche Regierungschefs, die nicht versuchen diesem Klischeebild des "starken Führers" zu folgen, die Ergebnisse bringen, ganz besonders in Demokratien. Dort, wo die jeweiligen Ressortchefs von kompetenten Leuten besetzt sind, die einen gewissen Freiraum haben, und wo eine kollegiale Atmosphäre herrscht, dort passieren auch ernsthafte Reformen. Scheinbar starke Führer, die dafür sorgen müssen, dass um sie herum nur Idioten am Werk sind, gehören sicherlich nicht dazu. Uns wäre allen geholfen, wenn wir uns von diesem Idealbild verabschieden und stattdessen ernsthafte Regierungsarbeit mehr gouttieren würden. Das Grundgesetz hat den Kanzler nicht ohne Grund zum Ersten unter Gleichen gemacht, und die amerikanische Präsidentschaft ist nicht grundlos durch die Gewaltenteilung vom Kongress abgeschottet. Natürlich ist das Amt des Regierungschefs immer eines mit großer Machtfülle und Verantwortung. Aber wir haben genügend Beispiele dafür, wo dieses Modell an die Wand lief. Man denke nur an die ganzen Möchtegern-Alphamännchen, deren politische Kadaver Angela Merkels politischen Karriereweg säumen, oder Gerhard Schröders Erben, die alle glaubten mit einem markigen Gesichtsausdruck und "Basta" sei Politik gemacht und auf die Art die SPD ins politische Grab navigierten.
6) Machtverlust – warum weiße Männer überall Empörung wittern
Was in der sogenannten Debattenkultur wirklich falsch läuft? Dass Kritik zunehmend mit Empörung verwechselt wird. Blättert man durch die von weißen Männern dominierten Feuilletons großer deutschsprachiger Zeitungen oder scrollt durch die Tweets ebenso reichweitenstarker Meinungsmacher, dann ist Empörung das Wort der Stunde. Sie ist das Phänomen, das die tiefenentspannten Autoren, die sich eigentlich ganz anderen Themen widmen wollen, nachts wach liegen lässt. Denn die Empörung ist überall: Feuilletonisten entdecken sie hinter jedem kritischen Wort, hinter jedem Widerspruch, hinter jeder Position, die von der ihren abweicht und von mehr als drei weiteren Personen im Netz geteilt wird. Feminist*innen sprechen sich gegen den Auftritt eines misogynen Starphilosophen aus? Empörung! Eine Hamburger Kita bittet Eltern, ihre Kinder im Fasching nicht mehr als „Indianer*innen“ zu verkleiden? Empörung! Es wird sich über die Menge nahezu identischer Essays weißer Männer über Empörung lustig gemacht? Empörung! [...] Kommentare mit Titeln wie „Entpört euch!“ bilden mittlerweile ein eigenes Genre. Die Autoren erheben sich über den vermeintlichen Mob, dem es nicht um Diskurs, Korrektur oder Aufklärung gehen kann, sondern dessen einziges Anliegen es sein muss, den nächsten ehrenwerten weißen Mann an den allseits gefürchteten Social-Media-Pranger zu stellen und ihn mit einem gänzlich unverdienten Stakkato an überzogener Kritik zu attackieren. „Gewalttätig“ nennen manche Kollegen diese Kritik. Vielleicht fühlt sich das wirklich so an, wenn man das erste Mal im Leben hinterfragt wird. Ja, es könnte weh tun, sich mit der Kritik in der Tiefe auseinanderzusetzen, statt sie als Empörung abzutun. Denn am Ende dieser Beschäftigung könnte stehen, dass die eigene Position nicht die reflektierteste ist. [...] Jenen, die jetzt online und offline den Diskurs mit eigenen Analysen und Argumenten mitbestimmen wollen, den bislang weiße Männer nahezu allein dirigierten, wird also häufig unterstellt, sie wollten den Diskurs zerstören. Eine ernsthafte Beschäftigung mit ihren Thesen findet selten statt. Denn da ihre Positionen meist links, feministisch, herrschafts- und systemkritisch sind, bedeutet dies, dass dabei notwendigerweise auch jene angesprochen und in die Pflicht genommen werden, die in einer kapitalistischen und patriarchalen Gesellschaft über die meiste Macht verfügen. Weiße Männer stehen als Gruppe deshalb häufig im Zentrum einer solchen Kritik. Das finden diese – wenig überraschend – gar nicht gut. Ihre Reaktionen klingen stets so aufgebracht, als sei eben nicht eine Gruppe, sondern sie ganz persönlich und zu Unrecht kritisiert worden. (Nicole Schöndorfer, Edition F)Der (noch wesentlich längere und in seiner Gänze empfehlenswerte) Artikel spricht ein relevantes Thema an: Die permanente Delegitimierung des Protests und der Themen von Frauen und Minderheiten. Es ist ein altbekanntes Muster, dass die Kritik, die einen selbst betrifft, gerne als unzutreffend charakterisiert wird. Da erklären dann wohlstandssaturierte Manager, dass es keine sozialen Probleme in Deutschland gibt, verknöcherte Patriarchen befinden dass die Frauenemanzipation jetzt ja wohl mal abgeschlossen sein müsse und so weiter. Das heißt nicht, dass Leute, die nicht betroffen sind, kein Mitspracherecht haben. Selbstverständlich können sich Millionäre zu Hartz-IV äußern, Männer zum Feminismus, Erwachsene zu Kinderthemen, Lehrer zum Klimawandel und was der Themensprünge nicht mehr sind. Aber was ein Problem ist ist eben die Delegitimierung der Themen durch die "herrschende Klasse" (aus Mangel an besseren Begrifflichkeiten, hat jemand eine Idee wie man da den Marx'schen Duktus umgehen kann?). Umgekehrt gilt natürlich auch, dass Betroffenheit alleine nicht zum Experten macht (auch so eine fixe Idee, die wie der Mythos des starken Führers nicht aus den Köpfen geht). Aber natürlich sind diese Diskussionen immer deswegen so toxisch, weil Identitäten und Lebensrealitäten direkt betroffen sind. Jeder ist der Held seiner eigenen Geschichte, und wer hört schon gerne, dass er privilegiert, möglicherweise sogar eine unterdrückerische Rolle einnehmend ist? Das zu überwinden ist schwierig.
7) Ignoriert den Osten!
Ich bin unsicher ob ich so weit gehen würde die Schieritz und seine journalistische Zuspitzung unterstützen, den Osten quasi abzuschreiben. Aber ein bisschen Perspektive wäre gut. Tatsächlich hat er völlig Recht damit, dass hier eine Minderheit die Agenda zu bestimmten versucht. Und während es das absolute Recht der Ostdeutschen ist, auf die desolate Lage aufmerksam zu machen und etwa Struktur- und Regionalförderung zu verlangen (die auch sinnvolle policy wäre), brauchen sie nicht damit zu kommen, dass die Wahl der AfD aus rassistischem, nostalgisch-verklärtem Reaktionismus in irgendeiner Art und Weise einen Dialog nötig machte. Sein Kreuz bei Rechtsextremen zu machen um seine generelle Unzufriedenheit auszudrücken ist kein Gesprächsangebot, es ist eine Trotzreaktion. "Mir egal, wenn alles zugrunde geht, hauptsache du gehst auch zugrunde." Das ist eine toxische Mentalität, die man wahrlich nicht zu unterstützen braucht.Wissen Sie, wie viele Leute in Brandenburg wohnen? In Sachsen? In Thüringen? Es sind zusammen etwa 8,6 Millionen. Das sind etwa 10 Prozent der Bevölkerung. Diese Zahl wird hier in Erinnerung gerufen, weil in diesen drei Bundesländern im Herbst Wahlen anstehen. Aus den aktuellen Wahlumfragen geht hervor, dass die AfD in allen drei Ländern stärkste Kraft werden könnte. Die Rechten freuen sich schon auf einen "blauen Herbst" und alle anderen Parteien bereiten sich, soweit es ihnen möglich ist, auf die Rückwirkungen auf die Bundespolitik vor. Der Wahlschock aus dem Osten, so lautet die These, die derzeit überall in Berlin zu hören ist, wird die politische Agenda noch einmal durcheinanderwirbeln. Das Klimathema wird dann wieder an Bedeutung verlieren, zugunsten von Migrationsthemen. Das wirft eine Frage auf: Inwieweit soll sich die Republik eigentlich vom Osten – genauer gesagt: von den Regionen im Osten, in denen die AfD stark ist – die Themen aufzwingen lassen? [...] Diese Frage stellt sich nicht nur in Deutschland. In fast allen Industrieländern hat sich in den abgehängten Regionen ein Protestpotenzial herausgebildet, dass zum politisch handelnden Subjekt wird. Donald Trump wäre nicht Präsident, wenn er nicht die Staaten des Mittleren Westens für sich gewonnen hätte. Der Brexit hätte nicht stattgefunden, wenn der Norden Englands nicht dafür gestimmt hätte. Der Wirtschaftsgeograf Andrés Rodríguez-Pose von der London School of Economics hat das revenge of places that don't matter genannt. Die Rache der Orte also, die ökonomisch betrachtet eigentlich keine Rolle spielen. Es ist natürlich ein Versagen der Politik, dass es solche Orte überhaupt gibt. Nach Daten des Ifo-Instituts leben in den östlichen Bundesländern so wenig Menschen wie seit 1905 nicht mehr, im heutigen Westdeutschland hingegen hat sich die Bevölkerung mehr als verdoppelt. Wäre die Einwohnerzahl in Ostdeutschland genauso gewachsen wie in Westdeutschland, würden im Osten heute rund doppelt so viele Einwohner leben. Dresden und Leipzig wären jeweils Millionenstädte. (Mark Schieritz, SpiegelOnline)
8) "Die Zeit der Ausgrenzung ist vorbei" (Interview mit Bodo Ramelow und Daniel Günther)
SPIEGEL ONLINE: Rote Socken, SED-Nachfolger, Extremisten - das war über Jahre der CDU-Sound, wenn die Rede auf die Linkspartei kam. Günther: Die Zeit der Ausgrenzung ist vorbei. Klar wünsche ich mir, dass Mike Mohring als Sieger bei der Landtagswahl in Thüringen durchs Ziel geht. Und klar ist auch, dass Bodo Ramelow in vielen Fällen völlig entgegengesetzte politische Ansichten vertritt. Aber ich akzeptiere diese Unterschiede, und wir beide geben uns persönlich nicht noch einen mit. Das zeichnet ihn aus. Ramelow: Der Bundesrat ist in seiner Zusammensetzung so bunt wie nie, trotzdem kommen wir zu gemeinsamen Ergebnissen. Für mich ist das ein positives politisches Zeichen. Wir beweisen auf Dauer, dass wir willens und in der Lage sind, Kompromisse zu schließen. Günther: Wir brauchen kompromissfähige Politiker. Wenn es Mehrheiten künftig vornehmlich über Dreierbündnisse gibt, wie etwa wir beide sie anführen - Jamaika bei uns, Rot-Rot-Grün in Thüringen - oder über andere, immer neue Konstellationen, dann kann die Erwartungshaltung doch nicht mehr sein, dass Wahlprogramme einer Partei eins zu eins umgesetzt werden. SPIEGEL ONLINE: Wann gibt es die erste Koalition von CDU und Linken auf Landesebene? Günther: Es gibt keine politischen Schnittmengen zwischen CDU und Linken. Daher halte ich nichts von solchen Gedankenspielen. Ramelow: Ich habe keinen Grund, darüber zu spekulieren. Bei Sachthemen rede ich natürlich mit Christdemokraten. Aber ich strebe keine Koalition mit der CDU an. (Sebastian Fischer/Kevin Hagen/Christian Teevs, SpiegelOnline)Szenen wie die obige machen einem Hoffnung, finde ich. Natürlich werden CDU und LINKE nicht miteinander koalieren. Aber für eine Koalition der Anständigen reicht es allemal. Es ist beruhigend zu sehen, dass das deutsche politische System noch immer funktional ist, was die überparteiliche Zusammenarbeit hinter den Kulissen angeht. Anders als in den USA, Frankreich oder Großbritannien gibt es bei uns nicht einen riesigen politischen Block, der effektiv die demokratisch-parlamentarische Arbeit aufgegeben hat. Zumindest noch nicht.
9) Nach SEK-Festnahmen: Caffier informiert Innenausschuss
Drei der jetzt beschuldigten Polizeibeamten sollen sich über mehrere Jahre - mindestens seit April 2012 - Munition aus Beständen des LKA beschafft haben und an den vierten Festgenommenen weitergegeben haben. Der soll Kontakt zur Prepper-Szene haben. Alle vier sollen gegen das Kriegswaffen-Kontrollgesetz verstoßen haben. Außerdem wird ihnen ein Verstoß gegen das Waffengesetz und Betrug vorgeworfen. Der Begriff "Prepper" ist vom englischen "to be prepared" ("vorbereitet sein") hergeleitet. Gewöhnliche "Prepper" sind Menschen, die sich gegen Katastrophen und Krisen aller Art schützen wollen - von Unwettern über den Zusammenbruch der staatlichen Ordnung bis hin zum Untergang der Zivilisation ("Doomer"). Dazu horten sie Nahrungsmittel, Versorgungsgüter und manchmal auch Waffen. Unter den "Preppern" gibt es echte Vorsorge-Profis, aber auch Verschwörungstheoretiker aller Art. Die Bewegung kommt aus den USA und wächst angesichts von Klimawandel, Kriegsangst und Terrorbedrohung auch in Deutschland. (Stefan Ludmann, NDR1)Endlich mal wieder einer von diesen Einzelfällen, die keinesfalls auf ein Muster von Rechtsextremen in den Sicherheitsbehörden verweisen.
10) Prozess um Tod eines Vierjährigen endet mit Geldstrafe
Ich hatte letzthin einmal davon geschrieben, dass das deutsche Recht Autofahrer bevorzugt behandelt, und dafür einigen Widerspruch bekommen. Was ich damit gemeint habe sind genau solche Beispiele wie oben. Natürlich werden Autofahrer nicht in dem Sinne bevorzugt, dass die Justiz bei Gesetzesverstößen mal Fünfe gerade sein lässt. Aber die lächerlich niedrigen Strafen, die Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung in Deutschland haben, gerade im internationalen Vergleich, sind real. Das betrifft viele Bereiche. Nehmen wir mal alleine Tempolimits. Wo sie existieren, ist ihr Bruch ein Kavalliersdelikt. Nicht nur sind Strafzahlungen nach einem festen Katalog statt nach dem Einkommen - und so für den rasenden CEO im Porsche nicht einmal eine Erwähnung wert -, sie erlauben auch hohe Verstöße praktisch straffrei. Die Toleranz der Blitzer ist hoch, und bis 21km/h zu viel sind die Folgen üblicherweise völlig vernachlässigbar. Auch andere Vergehen wie etwa Drängeln und Bedrängen haben praktisch keine Konsequenzen, genauso das Befahren von Standstreifen und vieles mehr. Das deutsche Recht ist ungeheur tolerant und nachlässig gegenüber Autofahrern, wie es das in vielen anderen Bereichen nicht ist. Ich will hier gar nicht in den Chor des Social-Media-Prangers einstimmen und für den obigen Fall ein "ab in die Zelle und den Schlüssel weg" fordern, wie es diverse Leute tun. Aber die Gestaltung des Rechts ist gleichzeitig Normensetzung, und man sollte sich als Gesellschaft schon fragen, welche Botschaft man schicken will.Der Student wollte nicht länger im Stau warten und als „Abkürzung“ die Busspur nehmen: Als der 23-jährige Autofahrer vorschriftswidrig rechts an den wartenden Fahrzeugen vorbeizog, lief plötzlich von einer Mittelinsel aus ein Kind von links auf die Fahrbahn. „Ich versuchte noch auszuweichen, aber ich habe den Jungen mit meinem Seitenspiegel getroffen“, sagte der Student am Mittwoch unter Tränen vor dem Amtsgericht Tiergarten. Er erfasste das vier Jahre alte Kind tödlich. [...] Der 23-Jährige befuhr nicht nur vorschriftswidrig die Busspur. Er war laut einem Gutachten auch erheblich zu schnell unterwegs. Es seien bis zu 74 Stundenkilometer gewesen. Bei einem angemessenen Tempo von 30 km/h wäre der Zusammenprall mit dem Jungen vermeidbar gewesen, hieß es. Der Student wurde der fahrlässigen Tötung schuldig gesprochen. Eine Strafe von 200 Euro (40 Tagessätze zu je fünf Euro) erging, zudem ein Fahrverbot von einem Monat. Der Angeklagte habe sich falsch verhalten. Es sei aber auch von einem Fehlverhalten der Mutter auszugehen. Der Staatsanwalt hatte eine Strafe von 350 Euro (70 Tagessätze) gefordert. (Kerstin Gehrcke, Tagesspiegel)
11) Bitte, bitte mehr Verbote!
Keiner der ständigen Verbotskritiker, die den Grünen das früher so erfolgreiche Label der Verbotspartei anhefteten, hat ein Problem mit Verboten. Sie hatten nur ein Problem mit Verboten, die Dinge betreffen, die ihnen wichtig waren. Kiyak hat aber völlig Recht damit zu sagen, dass die Begrenzung das konstituierende Merkmal des Staates ist. Und man muss sich auch klar machen, dass etwa die Grünen ja nicht nur monothematisch Dinge verbieten wollen, das ist eine konservative Karikatur. Sie stehen ja auf der anderen Seite auch für das Erlauben von Dingen und das Öffnen von bisher existierenden Grenzen.Egal ob Veggie Day, Amazon-Retourenvernichtungsverbot, das Kastrieren unbetäubter Tiere, CO2-Steuer oder was auch immer; es schreien die politischen Kommentatoren auf: "Verbot, Verbot!" Man müsste entgegnen: Ja klar, Verbote. Was denn sonst? Es braucht nicht weniger Regulierung, sondern mehr. Bitte, bitte noch mehr Verbote! Und bei Grenzübertritt fette Strafzahlungen. Geld ist die einzige Sprache, die Konzerne verstehen. Wenn man Herstellern nicht verbietet, ihren chemischen Schrottzucker in süchtig machende Lebensmittel zu kippen, wird sich nichts ändern. Jedes Jahr erkrankt hierzulande eine halbe Million Menschen an Diabetes Typ 2. Insgesamt sind es rund sieben Millionen Deutsche. Das kommt nicht durch Sellerieknabbern zustande – und es lässt sich nicht durch wohlmeinende "Esst mehr Sellerie"-Kampagnen irgendwelcher Bundesministerien in den Griff kriegen, solange eine ganze Werbeindustrie suggeriert, dass Milchschnitte, Knoppers und andere Kunstprodukte Lebensmittel seien, bloß weil man sie in den Mund stecken und herunterschlucken kann. Freiheit nennen es jene Politiker, denen das Wohl der Agrarindustrie – nur ein Beispiel – näher ist als das Wohl der Wähler. Wie lächerlich. Was ist denn der Staat? Wann genau fing das eigentlich an, dass das Verbieten tabuisiert wurde? Kann es sein, dass die am Diskurs beteiligten gar nicht merken, dass der Staat auf dem Fundament von Verboten steht? Man kann die Grundrechte nämlich auch so lesen: Was alles nicht erlaubt ist. (Mely Kiyak, Zeit)
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