Dienstag, 31. März 2020

Bücherliste März 2020

Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Je nachdem wie sich das einpflegt werde auch auch auf andere Medien und Formate eingehen, die ich als relevant empfinde. Vorerst ist das Verfahren experimentell, bitte gebt mir daher entsprechend Feedback! Diesen Monat: Alltagsleben in der Antike, Wassertänzer, Internationale Beziehungen und Realitätsschocks. Außerdem diesen Monat: Freie Rede.

Robert Garland - The Other Side of History. Daily Life in the Ancient World 

Ich mag Alltagsgeschichte sehr. Zu viel Geschichte konzentriert sich auf das Leben großer Männer, oder zumindest der herrschenden Elite, und kümmert sich wenig um die Realität der 99%. Allzu oft erfährt man etwa bei römischer Geschichte, wie die Villen der Reichen aufgebaut sind, vielleicht noch von den insulae in Rom, aber dass 90% der römischen Bevölkerung Bauern waren kommt in dieser urbanen Betrachtung selten vor. Umso relevanter ist es, die Geschichte dieser vergessenen Menschen, die auch in unserer eigenen Geschichtsschreibung erst seit den 1960er Jahren in den Fokus geraten sind, weil erst sie ein vollständiges Bild der Epoche geben können. Daher war dieses Produkt der Great Courses, in dem Robert Garland verspricht, einen solchen Überblick für die Antike zu geben, für mich inhärent spannend. Umso größer war die Enttäuschung. Garland beschreibt (und ist bereits das nächste Problem, er beschreibt statt zu analysieren, werten und einzuordnen) in extrem breiten Pinselstrichen. Jahrhunderte werden in einige Sätze eingedampft, nette Narrative stehen über jeder realistischen Betrachtung der Situation. Ich will ein besonders krasses Beispiel geben. Um die Lebensrealität der antiken Griechen wiederzugeben, beschreibt Garland das Leben in Athen. Nun war Athen als Großmacht seiner Zeit für das Leben des Durchschnittsgriechen in etwa so typisch wie Washington D.C. für die Alltagserfahrung eines Amerikaners. Doch nicht nur das. Als Kontrastprogramm gibt uns Garland (natürlich) Sparta, aber das Sparta, wie man es aus den populären Darstellungen kennt. In Kürze: ein verzerrtes, mit der Realität wenig gemein habendes Bild von Sparta (über die Probleme mit dem Sparta-Bild hat Bret Deveraux eine hervorragende Serie geschrieben). Völlig absurd wird es, wenn Garland die Liebe der Griechen zur Rhetorik anhand von Perikles' Rede auf die Gefallenen im Peloponnesischen Krieg beschreibt - als Beispiel dafür, welche Reden der Durchschnittsgrieche auf der Agora hören konnte. Nun ist einerseits das Reden von Politikerreden auf der Agora sicherlich nichts, was der um sein Überleben besorgte Durchschnittsgrieche tut - der arbeitet nämlich, es sei denn, er gehört zur athenischen Bevölkerung auf der Höhe der Macht des Stadtstaats, aber das ist ja genau der Punkt: diese Erfahrung ist nicht typisch und basierte auf der erbarmungslosen Ausplünderung des restlichen Griechenland, eine Information, die man bei Garland vergeblich sucht. Und Perikles hat die Rede so natürlich auch nie gehalten; sie wird ihm stattdessen anderthalb Jahrzehnte später von Thukydides so in den Mund gelegt. Garlands Vorlesung ist voll von solchem Blödsinn. Zwar bekommt man schon die eine oder andere Information über das Leben in früheren Zeiten. Aber insgesamt ist es einfach populärwissenschaftlicher Quatsch. Ich war von diesem flachen Niveau schon bei meinem letzten Experiment mit dem Great-Courses-Format nur eingeschränkt begeistert; ich weiß nicht, ob ich ihm auch noch eine dritte Chance geben will.

Ta-Nehisi Coates - The Water Dancer (Ta-Nehisi Coates - Der Wassertänzer)

 Ta-Nehisi Coates ist einer der größten Essayisten unserer Zeit. Mit großem Genuss habe ich sowohl "We Were Eight Years in Power" (Deutsch) als auch "Between the World and Me" (Deutsch) gelesen. Nachdem er mit dem Schreiben einiger Black-Panther-Comics (die ich nicht gelesen habe; die Marvel-Comic-Welt ist mir einfach zu fern) erste Erfahrungen im Bereich der Belletristik sammeln konnte, legt er nun seinen ersten Roman vor. Im Wassertänzer geht es um den jungen Sklaven Hayram, der auf einer Plantage in Virginia lebt. Er hat ein phänomenales Gedächtnis und kann sich alles merken, was ihn zur Unterhaltungsattraktion seines Besitzers (und Vaters) macht. Anstatt diese gewaltigen Talente nutzen zu können, wird er aber zum Hausdiener seines Halbbruders und des Plantagenerben Weyland gemacht, der ein ausgemachter Trottel ist. Nach dessen Unfalltod steht die Plantage vor dem Ruin, die Sklaven vor dem Verkauf "down Natchez' way", also in den tiefen Süden - und mit Sicherheit keinem besseren Schicksal. Hayram entscheidet sich zu fliehen und wird vom Untergrund rekrutiert, um fortan Sklaven zu befreien. Die  grundsätzliche Idee des Wassertänzers ist erst einmal nicht schlecht. Hayram, der autobiographische Züge Coates' aufweist, ist vor allem ein scharfer Beobachter, und die Umstände als Sklave erlaubt es ihm selten, aktiv gestaltend in die Handlung einzugreifen. Mit gewohnt stilsicherer Gabe beschreibt Coates prägnante Porträts der Plantagenkultur Virginias, der Kultur der schwarzen Sklaven und der der "low whites", der armen weißen Bevölkerung, die selbst keine Sklaven halten kann und im Dreck lebt, aber aus dem ihnen gesetzlich zugesicherten Recht zur Misshandlung der Schwarzen Freude zieht und so die Oligarchie der Pflanzer stützt. Das Hervorheben der Rolle der low whites ist etwas, das auch Tarantinos großartiges Werk "Django Unchained" kennzeichnete, das sich (wenngleich in radikal anderem Stil) demselben Thema widmete. Die beiden Werke haben auch eine gewisse Ähnlichkeit, denn der Wassertänzer fühlt sich über Strecken an wie die origin story eines Superhelden. Anstatt der technologischen Überlegenheit Wakandas und der Macht der heiligen Blume hat Hayram nur sein überragendes Gedächtnis, dessen Reaktivierung vergangener Erinnerungen im Kontext einer Superfähigkeit (conduction) beschrieben wird. Dummerweise will Coates eigentlich einen Roman schreiben, und die vielen Versatzstücke fügen sich nie wirklich zu einem fließenden Ganzen zusammen. Die Charaktere reden nicht wirklich miteinander, sie wechseln sich vielmehr in (brillant geschriebenen) Monologen ab. Zwar transportiert Coates großartig die Stimmung und die Kultur der beteiligten Gruppen, aber vermag es nicht wirklich, eine spannende Geschichte daraus zu schmieden, und an mehreren Stellen der Lektüre wünschte ich mehr, er hätte ein Sachbuch oder eine weitere Essaysammlung geschrieben. Hayram bleibt mit fremd.

Bernhard Stahl (Hrsg.) - Internationale Politik verstehen. Eine Einführung

Manchmal hat man dieses Gefühl, dass man sich mit etwas befassen sollte, das man eigentlich schon längst hätte lesen sollen. Meine letzte Beschäftigung mit Internationaler Politik war im Studium, und neben der Politischen Theorie waren die IB mit ihrer Theorielastigkeit mir ein Gräuel; ich habe viel größeres Interesse an Politischen Systemen und Politischer Wirtschaftslehre gehabt (nur um die vier Disziplinen der Politikwissenschaft alle aufgezählt zu haben). Aber manchmal hilft einem die Distanz auch, und so griff ich zu einer aktuellen Auflage eines typischen utb-Lehrbuchs (aktuell heißt hier: auf dem Stand des Syrienkonflikts). Dieses Werk führt zuerst (gnädig knapp) in die vier großen Theorien der IB sowie die Werkzeuge der Theoriekritik ein, ehe es in zahllosen Fallstudien zur Sache geht. Jede Fallstudie umfasst nur einige wenige Seiten, skizziert kurz die historischen, politischen und soziologischen Grundelemente und rückt dem jeweiligen Konflikt dann mit der am besten geeigneten Theorie zuleibe. Für diejenigen, die sich mit diesen Theorien bisher nicht auskennen: Kauft das Buch und lest es, es lohnt sich. Aber hier die Kurzversion. Die Disziplin der Internationalen Beziehungen basiert auf Theorien, die für sich in Anspruch nehmen, das Handeln internationaler Akteure zu erklären. Jede Analyse muss deswegen diesem Anspruch genügen (und enthält daher auch eine Theoriekritik). Die IB haben vier Haupttheorien: den Neorealismus, der von anarchisch-egoistischen Staaten ausgeht, die ihre eigene Sicherheit maximieren; den Liberalismus, der von einer festen Verfahrensweise über diplomatische Kanäle ausgeht; der Institutionalismus, der den beteiligten Institutionen (vor allem denen auf supranationaler Ebene) die größte Wirkung zuschreibt; und der Konstruktivismus, der von der Bedeutung geteilter Normen ausgeht. Keine Theorie kann alles erklären, und oft werden Theorien auch kombiniert (wenngleich viele Politikwissenschaftler das sehr kritisch sehen). Ich selbst hänge eher Institutionalismus und Konstruktivismus als Neorealismus und Liberalismus an. Ich möchte zur Demonstration, dass sich die Lektüre lohnt, nur eines der mehr als 30 Fallbeispiele herausgreifen, das aus dem konstruktivistischen Bereich kommt. Hierbei ging es um die so genannte securitization. Bei dieser "Versicherheitlichung" werden bestimmte Themen der Sicherheitspolitik zugeordnet, obwohl sie dort ursprünglich keine Rolle spielten. Da sicherheitspolitische Themen immer den Fortbestand des Staatswesens betreffen, stehen sie in der politischen Priorität ganz oben und erhalten im politischen Diskurs eine unfechtbare Stellung. Ein Beispiel dafür wäre etwa die securitization der Rüstungskontrollen im Irak, die durch die eigene überbordende Rhetorik den Irakkrieg irgendwann praktisch unausweichlich machte, weil sich die USA selbst in eine Position manövriert hatten, aus der heraus nur noch militärisches Handeln Handlungoption war. Ähnliches ist gerade mit Covid-19 zu beobachten oder könnte theoretisch auf den Klimawandel angewendet werden. Solche Betrachtungen erweitern den eigenen Horizont beträchtlich, schon allein, weil sie ein Vokabular und Handwerkszeug an die Hand geben, mit dem Konflikte durchdrungen und verstanden werden können, die sonst eine Ansammlung von ungeordneten Informationen und Fakten bleiben. Dadurch eröffnen sich völlig neue (analytische) Welten. Anders gesagt: ich hätte im Proseminar besser aufpassen sollen.

Sascha Lobo - Realitätsschock

Ich schätze Sascha Lobo als Denker und Autoren sehr und fieberte der Veröffentlichung seines Buchs daher entgegen. In diesem Werk vertritt er die These, dass die sich rapide wandelnde Welt im 21. Jahrhundert - ein Wandel, der vor allem von der Ausbreitung des Internets vorangetrieben wird - zu Realitätsschocks führt. Unter Realitätsschock versteht Lobo dabei die Erkenntnis, dass die Welt bzw. ein Problem auf eine bestimmte Art beschaffen ist und es nicht nur nutzlos, sondern sogar schädlich ist, das zu verleugnen. Dazu gehören sowohl naturwissenschaftlich feststellbare Komplexe - etwa der Klimawandel -, aber auch schlicht gesellschaftliche Trends wie die Frauenemanzipation oder der Aufstieg der Rechten. Lobo breitet insgesamt zehn dieser Realitätsschocks in seinem Buch aus und erklärt dabei nicht nur, woher diese kommen (und in welchem Maße das Internet sie befeuert), sondern auch, warum genau die jeweilige Realität so schockierend ist. Man darf ihn sich dabei nicht (nur) als progressiven Parteigänger vorstellen. Während das Kapitel zum Klimawandel wenig überraschend zu dem Schluss kommt, dass es ein drängendes, sofort anzugehendes Problem ist (mit viel Lob für Fridays for Future, mit denen sich Lobo im zugehörigen Podcast auch noch weiter auseinandersetzt), so dürfte das Kapitel zur Integration bei Konservativen auf viel nickende Köpfe stoßen, wenngleich Lobo hier zu einem Rundumschlag gegen die Ausländerpolitik praktisch sämtlicher Regierungen seit Adenauer ansetzt - völlig zu recht übrigens. Endgültig schockend dürften aber die wesentlich strittigeren Thesen sein, die in Lobos Buch behandelt werden. So hat er auch ein größeres Kapitel zur Migration, in der er effektiv für offene Grenzen eintritt, weil ein Aufhalten der Migrationsbewegungen aus Afrika ohnehin illusorisch sei. Auch ist er in seiner Analyse der Ursachen des Rechtsrucks meinen eigenen Analysen sicherlich näher als denen mancher eher konträr orientierter Kommentatoren hier im Blog. Generell kann ich das Werk aber uneingeschränkt empfehlen. Genug Futter für eigene Überlegungen ist dabei, mit irgendeinem Kapitel wird vermutlich jeder so seine Probleme haben, und genau das ist ja eigentlich das, was man als Denkanstoß haben möchte. Dass Lobo eine flüssig-flotte Schreibe hat und das Buch sich nicht in endlosen Labereien verrennt, sondern eng lektoriert ist, sollte die Kaufentscheidung noch weiter erleichtern.
ZEITSCHRIFTEN:

Aus Politik und Zeitgeschichte: Freie Rede

Dieser Tage ist das Thema "Freie Rede" in aller Munde. Permanent verkünden Rechtspopulisten und solche, die es werden wollen, dass sie in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt seien, nur um den simplen Sachverhalt erklärt zu bekommen, dass Meinungsfreiheit nicht Widerspruchsfreiheit bedeutet. Die aktuelle Ausgabe der APuZ nimmt sich den Themenkomplex etwas detaillierter vor und hat einige interessante Aspekte auf Lager. So erklärt etwa Anatol Stefanowitsch einmal mehr, warum politisch korrekte Sprache gar nicht schlimm ist. Für mich ist das preaching to the choir, aber für Skeptiker dürfte sein wissenschaftlich gehaltener Aufsatz wenigstens anregend sein. Ebenso wenig dürfte ein Pro-Contra-Doppelartikel zur Frage, ob die Meinungsfreiheit gefährdet ist, grundsätzlich Meinungen ändern - aber als kohärente Zusammenfassung der jeweiligen Seite ist es in jedem Fall wertvoll. Für mich deutlich spannender waren dagegen ein Artikel, der sich mit der Frage beschäftigt, was eigentlich tatsächlich erlaubt ist - also den grundgesetzlichen Normenrahmen abklopft. Die für mich zentrale Erkenntnis war die Formel, dass Gesinnungen per se nicht verboten werden dürfen, wohl aber ihre Äußerung, wenn dadurch Schaden entsteht. Diese Normenlogik war mir noch nicht bekannt gewesen. Ebenso anregend empfand ich die Diskussion des Widerspruchs als Wert an sich: Braucht die Demokratie zwingend den Widerspruch, oder kann er sie zuweilen sogar schädigen? Die Ergebnisse sind durchaus überraschend. Das Heft ist damit zur Lektüre ausdrücklich empfohlen. :)

Montag, 30. März 2020

Klima, Verfassungsschutz und Trump heißen Corona als neuen Dauerbrenner willkommen - Vermischtes 30.03.2020

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.


1) What both the left and the right get wrong about the coronavirus economic crisis (Interview mit Adam Tooze)

Ezra Klein

I think that’s a really important point. And bringing China into this is a good bridge to something I want to talk with you about. I think people get that coronavirus is a global problem, but the economic crisis is being framed as a domestic problem. But it isn’t. What are the biggest international finance or geopolitical risks you see right now?

Adam Tooze

The first is the most boring and the most familiar: the eurozone and Italy. That issue is achingly tedious, but it looks as though the Europeans have woken up and moved to fix that situation. Then there’s the China risk. China is the dog that hasn’t barked in this crisis so far because of the success of [its] conservative strategy. There has not been a big movement in the Chinese exchange rate and very little action on the Chinese balance of payments. But the situation may be more fragile than Beijing is comfortable with. And that has implications for everyone around them: the South Koreans, the Taiwanese, Singaporeans, the Japanese, the Australians. If the Chinese economy doesn’t come back strong, that’s a game changer for all of them. I think the third element is the crisis that is hitting the big emerging markets: the South Africas, the Brazils, the Nigerias, and potentially the Algerians, the Indias, the Indonesias. These are huge countries with big economies, with large American interests in them, and big geopolitical ramifications. And they are in harm’s way. Their currencies are plunging, they have large debts, and they’re going to be hit by the public health crisis on a really epic scale — especially in South Africa, where they have a big immunocompromised HIV[-positive] population. The fourth zone of risk is the OPEC [Organization of the Petroleum Exporting Countries] complex. A trigger for the crisis in the financial markets was the breakdown of the OPEC-Russia negotiations and the signal from the Saudis that they were just going to produce and let the oil price crash. That was the moment that the financial markets really plunged. We tend to focus very much on Russia, Saudi, and shale in the US, but the vulnerable high-cost oil producers and energy producers is a really alarming list of countries. On top of the list for me will be Algeria and Nigeria — I think there is the potential for quite substantial regional destabilization. (Ezra Klein, vox.com)
Das Interview ist in seiner Gänze lesenswert, einfach weil Adam Tooze einer der besten und scharfsinnigsten Analysten unserer Zeit ist. Ich habe ja in der Bücherliste auch über seine Bücher gesprochen. Was ich an dieser Stelle hervorheben möchte ist der Aspekt der weltweiten Natur der Pandemie und der mit ihr verbundenen (den Fokus dieses Interviews bildenden) wirtschaftlichen Folgen. Die betroffenen Nationen werden kaum diskutiert, zumindest kann ich mich an keinen Artikel erinnern, der die Folgen für Brasilien - ein Land, dessen Präsident die Existenz von Covid-19 offen leugnet und für hunderttausende Tote verantwortlich sein wird - oder Südafrika diskutiert hätte. Und als Exportweltmeister sind wir nicht eben unempfindlich gegenüber plötzlichen Verwerfungen auf der weltweiten Nachfrageseite. Die Vorstellung, dass China plötzlich seine Wirtschaft re-nationalisiert und sich quasi von seinem Projekt verabschiedet, die Werkbank der Welt zu sein, ist schreckenserregend.

2) Verderber Deutschlands




Ich kenne das konservative Milieu aus meinem Elternhaus und weiß es nach wie vor zu schätzen. Keineswegs werfe ich rechts und rechtsextrem, konservativ und faschistisch in einen Topf oder mit finsteren Verdächtigungen um mich. Das tun vielmehr Sie und Ihre Parteifreunde, die sich häufig in einer Weise ausdrücken, die die nach 1945 allmählich gezogenen Grenzen des politischen Anstands überschreitet. Andersdenkende werden von AfD-Politikern als "Volksfeinde" denunziert. Wenn Sie wirklich ein Konservativer sein wollen, müssen Sie diese Partei unverzüglich verlassen. Und mit Ihrem Rücktritt verbunden sein müsste die Aufklärung über das wahre Gesicht des "gärigen Haufens" (Gauland), der nach 2013 immer stärker in den völkisch-autoritären Nationalismus abgedriftet ist. Besonders in den sozialen Medien lebt eine faschistische Rhetorik auf, die sich nicht länger als sprachliche Entgleisung entschuldigen lässt. Und ich weiß aus sicherer Quelle, wie in Ihrem Ortsverein und seitens der Abgeordneten, die Sie nach Berlin und in den Landtag entsandt haben, geredet wird, wenn diese glauben, kein kritisches Ohr höre zu. Kostprobe: "Je mehr Migranten ersaufen, desto eher begreifen selbst afrikanische Ziegenhirten, dass es sich nicht lohnt, nach Europa aufzubrechen." Nur ein Ausrutscher eines schwäbischen Kreisverbands? Nein. Der Vorsitzende des Haushaltsausschusses im Bundestag, Ihr Parteikollege, hat Angela Merkel in einer E-Mail allen Ernstes als Nutte bezeichnet. Dieser Neuauflage des Wörterbuchs des Unmenschen, das Dolf Sternberger, ein gestandener Konservativer, nach dem Krieg zur Rettung des Deutschen vor der NS-Sprache zusammengetragen hat, entspringen auch die wohlkalkulierten Einlassungen von Alexander Gauland zu den NS-Verbrechen als "Vogelschiss", zu Jérôme Boateng als ungeliebtem Nachbarn und zum "Entsorgen" einer Deutschen türkischer Herkunft nach Anatolien. Genau wie die Vorfreude des "AfD-Intellektuellen" Marc Jongen auf die "Entsiffung" des Kulturbetriebs und sein Vorschlag, das Abstammungsprinzip wieder einzuführen, und Björn Höckes Ankündigung, den angeblichen "Sumpf der Zivilgesellschaft trockenzulegen". Damit zielen die drei unter anderem auf einen "Multikulti"-Typen wie mich. Mein Problem? Geschenkt. Aber wieso lassen Sie als Konservativer zu, dass Autoritäten wie Kanzlerin und Bundespräsident, auch Institutionen wie Gerichte in den Dreck gezogen werden? (Claus Leggewie, Die Zeit)
Den Rechtspopulisten und Rechtsextremisten solange das Label "konservativ" beinahe kampflos zu überlassen haben ist eine der größeren taktischen Fehlleistungen der CDU/CSU der letzten Jahre. Das ist relativ leicht erklärbar, weil der Begriff mittlerweile ähnlich sinnentleert ist wie "neoliberal" oder "bürgerlich" - ein Kampfbegriff oder Label, unter dem sich alles und nichts verbirgt. Es ist wie so häufig in der politischen Kommunikation Schrödingers Zuschreibung; sobald man es genauer wissen will, entzieht es sich der genaueren Betrachtung. Das machen sich Hetzer wie Gauland oder Maaßen zunutze, indem sie ihre extremistischen Positionen durch Einkleiden in alt-ehrwürdige Begriffe in die Mitte platzieren wollen. Die LINKE hat ja durch die weitgehende Aufgabe des Labels "links" durch die SPD seinerseits (mit eher durchwachsenem Erfolg) etwas Ähnliches unternommen.
Deswegen ist es aber gerade wichtig, dass jene zurückschieben, die dieses Label eigentlich für sich beanspruchen. Wenn ich sage, dass die AfD nicht konservativ ist - wen interessiert das? Ich bin es ja auch nicht. Ich habe keinen echten Einsatz in dieser Debatte; das müssen die Leute tun, die das Label für sich beanspruchen, die Merz', Laschets, Seehofes, Söders. Der SDS diskutierte ja die Grenzen des Marxismus in der Demokratie auch nicht mit Rainer Barzel, sondern mit Willy Brandt. Diese Grenzen zu definieren ist die Aufgabe der Konservativen, unsereins kann da nur der Cheerleader von der Seite sein und zum Einsatz mahnen. Bleibt diese Abgrenzung aus, werden wir noch viel mehr Grenzverschiebungen von der Marke Thüringen, Gauland oder Maaßen sehen, und mit ihnen ein Abrutschen des gesamten rechten Spektrums in Richtung Autoritarismus. Man hat das in diversen anderen Ländern in Echtzeit beobachten können.
Ein letztes Wort zu Maaßen an dieser Stelle: Ich fühle mich nur bei so wenigen meiner Einschätzungen so bestätigt wie bei der zu Maaßen. Was wurde ich hier im Blog dafür kritisiert, dass ich ihn als ungeeignet als Verfassungsschutzchef empfand. Diverse Kommentatoren hier haben mit Zähnen und Klauen seine Lügen zum Chemnitz-Video verteidigt, bis es nicht mehr zu leugnen war. Inzwischen ist Maaßen komplett ins rechtsextreme Spektrum abgedriftet, widerspricht der Behörde, die er vor kurzem noch geleitet hat und leugnet Klimawandel und Corona-Virus gleichermaßen. Die rapide Geschwindigkeit dieses Absturzes in das rechtsextremistische, faktenresistente Spektrum zeigt deutlich, dass der Mann bereits vorher nicht mit beiden Beinen auf der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stand. Umso lobenswerter die die Arbeit des neuen Verfassungsschutzchefs.


But if we dig into the numbers, some of the bump in Trump's approval rating is coming from changes in Democratic attitudes. A Pew poll, for instance, found that Democratic and Democratic-leaning voters nearly doubled their approval of Trump over the last few weeks, from 7 to 12 percent. It's not a huge change, but it could make the difference between Trump winning or losing in an election which is likely to be close. As has been made abundantly clear, Democratic voters tend to take their cues from Democratic elites. The party rallied around Biden in lockstep right before Super Tuesday, and voters fell in line. Biden won multiple states he has not visited in months and in which he had no campaign offices. And now that he's the probable nominee, Biden is not savaging Trump's response. On the contrary, his campaign says they are hesitant to even criticize him at all. "As much as I dislike Trump and think what a bad job he's doing, there's a danger now that attacking him can backfire on you if you get too far out there. I don't think the public wants to hear criticism of Trump right now," one adviser told Politico. Indeed, Biden has barely been doing anything. As the outbreak became a full-blown crisis, Biden disappeared for almost an entire week. (Ryan Cooper, The Week)
Ich halte diese Argumentation für wenig stichhaltig. Auf der einen Seite ist sie ein furchtbarer Zirkelschluss. "Ich berichte nicht über Joe Biden, und dass ich nicht über ihn berichte, zeigt seine Schwäche" ist keine sonderlich überzeugende Argumentationsstruktur. Der Mann und sein Wahlkampfteam hauen jeden Tag Attacken gegen Trumps Krisenmanagment raus. Nur hat er dasselbe Problem wie Hillary 2016: Wenn ein Baum im Wald umfällt und keiner kriegt es mit, fiel er dann um? Du kannst noch so viel über ein Thema reden, ohne mediale Multiplikatoren geht gar nichts. Und die hat Biden aktuell genauso wenig wie Hillary seinerzeit. Berichtet wird über ihn allenfalls negativ, wenn er was verkackt, alles andere geht unter. Unter diesen Umständen ist es besser, wenn er weniger in Erscheinung tritt. Krisenzeiten wie diese sind einfach generell blöd für Oppositionspolitiker, ich hatte das erst kürzlich beschrieben. Niemand interessiert, was Joe Biden im Januar 2021 tun würde, wenn er denn im November gewänne. Die Aufmerksamkeit ist auf dem Hier und Jetzt, und da ist Trump Präsident. Hierzulande interessiert auch keine Sau mehr, ob Merz oder Laschet die besseren Bannerträger des Konservatismus' sind, sondern was Merkel tut. Krisenzeiten sind Exekutivzeiten. Aber davon abgesehen will ich den Hauptpunkt noch einmal untermauern: Es ist alles eine Frage des earned media. Würde man über Biden berichten, wäre er präsenter. Man berichtet aber nicht, und deswegen ist er nicht präsent. Wir leben in einer Mediendemokratie, und die permanente Weigerung der Medien, ihre eigene Stellung und Macht anzuerkennen ist nur noch frustrierend.

4) How Donald Trump Could Steal the Election // Preparing for the Pandemic Elections
Could states really deprive Americans of the right to vote for their president? In Bush v. Gore, a conservative majority on the Supreme Court held that the state “can take back the power to appoint electors” at any time. And the Court is even more conservative today than it was in 2000, as Justice Brett Kavanaugh has replaced Justice Anthony Kennedy. The more complicated question is not whether states can do this, but whether they would. Republican lawmakers have been steadfastly loyal to Trump throughout his tumultuous tenure. If Trump were to ask states to appoint electors instead of having an election, they certainly might follow his request, especially those states where the president enjoys wide popularity. In 24 of the 30 states with Republican legislatures, a majority of people approve of the president’s job performance, according to last month’s Gallup survey. Those states control 224 electoral votes—enough to throw the election’s results into doubt. States could also wreak havoc on the election by not taking steps now to prepare for voting during a pandemic. If only a few states allowed their legislatures to appoint electors, or postponed electoral selection indefinitely, the November election could result in no candidate receiving a majority of electoral-college votes. This is a real concern. If no candidate wins a majority of electors, the Twelfth Amendment empowers the House of Representatives to decide who will be president. Although the House is controlled by Democrats, predicting the outcome is not that simple. The Amendment requires the House to choose the president by voting as states, not as individual members. So, instead of 435 individual votes, there would be 50 state votes. The Amendment does not say how the representatives for each state should decide their state’s vote. If the current House were tasked with selecting the next president, and states with more Republicans than Democrats in their delegationvoted for Trump, he would win 25 votes. Twenty-three states have more Democratic House members than Republican, so the Democratic candidate would likely receive 23 votes. Florida and Pennsylvania are evenly split between Democrats and Republicans, leaving their presidential votes up in the air. (Jeffrey Davis, The Atlantic)
According to the Constitution, a state of emergency would mean that the upcoming presidential elections had to be postponed. The Constitution requires in a state of emergency elections cannot be held earlier than 90 days after the formal ending of that state (Art. 228 (7)). Wojciech Sadurski proved how this unfair conditions work in favour the current president, since other candidates cannot run their campaigns (which already should make the government wary of future protests after holding elections). As a recent poll shows, the incumbent Andrzej Duda could even win in the first round — though with a voting turnout of merely 31% (the turnout does not affect the validity of the elections). (Katarzyna Nowicka, Verfassungsblog)
Sowohl an den USA als auch an Polen können wir gut sehen, welche große Bedrohung von rechtsautoritären Regierungschefs in dieser Krise ausgeht (Ungarn hatten wir ja schon). Es ist alles, aber sicher nicht abwegig, dass Trump oder Duda (mit Hilfe Kaczinskys) die Krisenlage nutzen, um die kommenden Wahlen zu sabotieren. Die Republicans tun das bereits seit Jahren mit mehr oder weniger großem Erfolg, und unter Deckung der Krise mögen sie hoffen, mit noch mehr Mist als ohnehin üblich durchzukommen. Und auch in Polen sind seitens der rechten PiS seit Jahren zahlreiche Verstöße gegen die rechtsstaatliche Ordnung dokumentiert, von der Ausschaltung der Judikative zu Wahlverzerrungen. So wie ich die Democrats kenne, würden die eine neue, gesteigerte Variante von Bush v Gore einfach hinnehmen und höflich bei der Amtseinführung klatschen. Aber vielleicht auch nicht. Und welcher Moment könnte geeigneter für eine Verfassungskrise mit unklaren Amtsinhabern und Zuständigkeiten sein als eine Pandemie...? Die brutale Verantwortungslosigkeit dieser Leute ist atemberaubend.


Gerade in der jetzigen Situation, in der wir mit einer Bedrohungslage konfrontiert sind, deren genaue Zusammenhänge die wenigsten von uns wirklich nachvollziehen können, ist diese Auseinandersetzung aber noch aus einem anderen Grund von besonderer Bedeutung. Denn in den letzten Jahren haben wir uns immer stärker daran gewöhnt, politische Entscheidungen als alternativlos zu begreifen – unter anderem auch deshalb, weil sie wissenschaftlich vorherbestimmt zu sein schienen. Ein solcher Rückzug auf das Unvermeidliche ist deshalb in gewisser Weise bequem, weil man sich so nicht dem mühsamen und oft unangenehmen Widerstreit der Meinungen aussetzen muss. Einem demokratischen Prozess entspricht er jedoch nicht. Denn selbst dann, wenn alle anderen Lösungen als unvernünftig, irrational oder auch hochgradig unethisch erscheinen, müssen genau diese Wertungen erläutert und offengelegt werden, um demokratische Legitimität zu erzeugen. Die Corona-Pandemie führt uns die Problematik einer Politik der Alternativlosigkeit nun deshalb besonders drastisch vor Augen, weil sich hier niemand auf gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse zurückziehen kann, um seine Entscheidungen unangreifbar zu machen. Da es sich um einen neuen Virus handelt, zu dem die Forschung noch ganz am Anfang steht, können uns die Virologen und Epidemiologen keine verbindlichen, über alle Zweifel erhabenen wissenschaftlichen Handlungsanweisungen geben – und kommunizieren dies zum Glück auch offen. Das bedeutet für uns als demokratische Gemeinschaft, dass wir wieder lernen müssen, mit den Unsicherheiten und Ungewissheiten demokratischer Entscheidungen zu leben, die jetzt trotz dieser wissenschaftlichen Uneindeutigkeiten getroffen werden müssen. Wie Uwe Volkmann schreibt, werden wir erst hinterher wissen, ob wir richtig gehandelt haben. (Sophie Schönberger, Verfassungsblog)
Auf die Alternativlosigkeit als rhetorisches Mittel wird ja bereits seit Jahren eingeprügelt. Bisher waren es vornehmlich Progressive, die sich damit des ordoliberalen Credos zu erwehren hofften; plötzlich beklagen vor allem Liberale die propagierte Alternativlosigkeit der Corona-Krisenpolitik. Da wird man plötzlich Bettgenossen.
Abseits dieser politkommunikatorischen Seitenbemerkung: Grundsätzlich hat Schönberger völlig Recht. Ein differenzierter Diskurs wäre natürlich toll, Unsicherheiten, Relativierungen, das wäre alles klasse. Nur gilt genauso wie bei dem Evergreen der Forderung nach weniger Lügen in der Politik: Sagen Politiker die Wahrheit, werden sie abgewählt. Reden sie nicht in eingeübten Worthülsen, sondern so offen, wie man es von ihnen fordert, werden sie abgewählt. Differenzieren sie und lassen Unsicherheiten zu, werden sie abgewählt. Die Medien (damit wären wir wieder bei Fundstück 3) bestrafen jeden Politiker, der auch nur ein Jota von nichtssagenden Wortblasen abrückt mit tagelangem Negativschlagzeilenbombardement. Werden klare Absichtsmaßnahmen bekannt gegeben, gibt es harten und unnachgiebigen Widerstand. Wird differenziert und Unsicherheit zugelassen, gilt das als Ausweis von Inkompetenz. Solange das so ist werden die Politiker sich nach dem richten, was in einer Mediendemokratie gefragt ist: nebulöse Unverbindlichkeit, Lavieren und das Durchführen von Maßnahmen ohne große vorherige Diskussion. Wer das ändern will, muss einerseits in den Spiegel schauen und andererseits endlich aufhören, Anne Will zu schauen (Pars pro Toto).


It is shocking to see just how low the Trump Administration has brought American democracy in a few short years. Holding aid to an ally hostage in order to invent dirt on a Democratic opponent was alarming enough to force the hand of Democratic leaders to impeach the president even though it was clear they didn’t actually want to. And conservative policy has always generally been hostile to the lives, health and voting rights of people it doesn’t consider part of the Republican coalition. But the prospect of an American president using vital resources in a pandemic to curry political favor, keep his supporters alive and let his opponents die in the thousands is something unprecedented in all of American history. And the Trump administration is rapidly approaching that point, if it has not done so already [...] But what do we do if they only start taking it seriously on behalf of their constituents. What if the White House simply gives all the masks and ventilators to red states and counties, leaving blue ones to struggle? What mechanisms of accountability are left? American democracy wasn’t set up to deal with a president openly behaving like a James Bond villain while being protected by a political party behaving more like a mafia than a civic institution. If there aren’t 67 Senators to convict after an impeachment and the president’s cabinet is aligned with the plan, what recourse remains to people who live in places that the president doesn’t consider to be part of “his” America? There are few options that don’t lead directly to a massive constitutional crisis. (David Atkins, Washington Monthly)
Genauso wie bei dem in Fundstück 4 angesprochenen Szenario eines groß angelegten Wahlbetrugs muss man leider feststellen, dass auch dieses alles, aber nicht undenkbar ist. Während ein Obama durch seine gesamte Präsidentschaft hindurch versuchte, möglichst viel Aufbauarbeit in roten Staaten zu leisten, weil die blauen die Probleme überwiegend selbst bewältigen konnten, versucht Trump bereits durch seine gesamte Präsidentschaft hindurch, die blauen Staaten dafür zu bestrafen, dass sie 2016 gegen ihn gestimmt haben. Besondere Zentren seiner infantilen Wut sind Kalifornien und New York. Das führt zu gefährlichen Absurditäten wie der Ankündigung, New York abriegeln zu wollen, die vermutlich durch Hollywood-Filme induziert sind und bei denen Trump erkennen lässt, dass ihm unklar ist, dass New York ein Flächenstaat ist und dass dessen Hauptstadt Albany und mitnichten New York City ist. All das ist angesichts dessen, dass Trump aus dieser Stadt kommt, umso bemerkenswerter. Aber jenseits dieses Beispiels aus dem Genre "mein Gott, der Mann weiß wirklich gar nichts" stehen wir dem realen Problem gegenüber, dass Trump bereit ist, Entscheidungen über Leben und Tod nach Parteizugehörigkeit zu treffen. Wo hierzulande furchtbare ethische Entscheidungen zur Triage erwogen und mit Ethikräten und großen Diskussionen abgestimmt werden, ist im Weißen Haus die Sache klar. Wer im November für Trump stimmt, wird gerettet, wer gegen ihn stimmt, kann verrecken. Das Ausmaß an schierer Niedertracht dieser Leute ist immer wieder atemberaubend, und wenn man gerade dachte, die Latte könne eigentlich gar nicht mehr tiefer gehängt werden, dann buddeln die ein neues Loch.

7) Droht eine Revolution der Mittelschicht?
Schon der französische Historiker Alexis de Tocqueville lehrte, dass die Bürger eines Staates in Phasen langen Wohlstands immer empfindlicher gegenüber Zumutungen werden, die sie als ungerecht empfinden. Daraus folgt: Revolutionen finden nicht dann statt, wenn es den Menschen am schlechtesten geht. Sie neigen dazu, wenn auf eine lange Periode großen Wohlstands ein plötzlicher Einbruch stattfindet. Der deutsche Soziologe Theodor Geiger erkannte in der politischen Radikalisierung im Deutschland der Dreißigerjahre eine Reaktion der Mittelschicht auf ihren gesellschaftlichen Absturz in der Weltwirtschaftskrise. Der US-Politologe Samuel Huntington war der Ansicht, dass die Mittelschichten zur Radikalisierung tendieren, wenn sie die Sorge umtreibt, im Vergleich zu anderen Gruppen ihren gesellschaftlichen Status zu verlieren. Und der US-Politologe Francis Fukuyama erinnerte jüngst daran, dass der gesellschaftliche Abstieg von Mittelschichten ein Treiber aggressiver Polarisierung sei. [...] Denn die Radikalisierung oder gar der Zusammenbruch politisch geordneter Verhältnisse kann auch unfassbares Leid auslösen. Eine zentrale Voraussetzung dafür, dass wir als Staat, Gesellschaft und Volkswirtschaft die Coronakrise heil überstehen, wird also ein neues Augenmerk auf die Mittelschicht in Deutschland sein. Klaglos hat sie über Jahrzehnte dafür gesorgt, dass der Staat mit Steuern und Abgaben auskömmlich versorgt wird, um Infrastruktur, Bildung und sozialen Ausgleich zu finanzieren. Dazu gehört der Kfz-Mechatroniker wie die Einzelhandelskauffrau, der Bauarbeiter wie die Polizistin, der Lehrer wie der Unternehmer oder die Freiberuflerin. In den letzten Jahren haben sie kaum eine Rolle in der Politik gespielt. Dort dominierten gewaltige Rentenpakete und die Ausweitung von Sozialleistungen. Wenn die deutsche Mittelschicht den Eindruck erlangen sollte, dass ihre Belange und Bedürfnisse angesichts der Bedrohung ihrer sozialen Lage nicht ins Zentrum der deutschen Politik rücken und dort zu einer klaren Änderung der Prioritäten führen, dann soll kein verantwortlicher Politiker behaupten, er habe nicht wissen können, was dann geschieht. Dann liegt irgendwann Revolution in der Luft. (Marco Buschmann, SpiegelOnline)
Dieser Artikel eines Abgeordneten der FDP hat bereits auf Twitter viel Spott auf sich gezogen. Angesichts der Inkohärenz der Argumentation und der parteipropagandistisch gefärbten Brille Buschmanns ist das auch verdient, obwohl die Grundthese selbst spannend ist. Bevor wir uns ihr zuwenden, noch kurz ein Kommentar zu Buschmann selbst. Er benutzt den üblichen FDP-Trick, "Mittelschicht" als Synonym für "Mittelstand" zu gebrauchen, als ob beides dasselbe wäre. Das funktioniert für die Partei seit Jahrzehnten mit großem Erfolg, von daher gibt es wenig Grund für Buschmann, darauf zu verzichten. Quatsch bleibt es dennoch, denn die letzten Reformen des Sozialstaats, die er hier kritisiert (wie eine hängengebliebene Schallplatte, als hätte das was mit Corona zu tun) kamen ja gerade der Mittelschicht zugute. Für die Unterschicht sind die Rentenreformen alle bedeutungslos, weil ihre Ansprüche so oder so unter dem Mindestsatz bleiben und sie alimentiert werden müssen; da ändert sich allenfalls die zuständige Kasse (etwas mehr Rentenversicherung, etwas weniger Sozialhilfe). Stören tun sich daran diejenigen, die den Arbeitgeberanteil bezahlen - der Mittelstand, dessen Verärgerung über diese Maßnahmen durchaus nachvollziehbar ist, der aber keinesfalls synonym mit der Mittelschicht steht. Damit aber zur eigentlichen These Buschmanns, die er sofort wegen seiner parteipolitischen Reflexe bis zur Unkenntlichkeit zerfasert: Dass die Gefahr in einer ökonomisch schwerwiegenden Krise wie der aktuellen von einer Revolte der Mittelschicht ausgeht. Historisch gesehen ist das Argument solide; es waren die Kleinbürger, die Hitler zur Macht verhalfen, nicht die Arbeitslosen oder Arbeiter (die wählten, wenn sie extremistisch wählten, die KPD). Wir sehen das ja auch an der AfD; die wird schließlich auch nicht mehrheitlich von den Arbeitslosen Ostdeutschlands gewählt (die bleiben den Urnen fern), sondern von den Kleinbürgern. Hier liegt Buschmann daher richtig. Ich sehe allerdings aktuell keine Gefahr für eine Revolution. Eine Revolution zu was und gegen was auch? Auch wenn die FDP das aktuell nicht so wirklich einsehen mag, so sind die Distanzierungsmaßnahmen schlichtweg notwendig, und diese Notwendigkeit wird von der Bevölkerung auch weitgehend eingesehen (einige Irrlichter bestätigen die Regel). Je schlimmer die Lage wird - und alles deutet daraufhin, dass der Tiefpunkt noch nicht erreicht ist - desto eher wird der Ruf nach mehr, nicht nach weniger Maßnahmen kommen. Und genauso wird die Mittelschicht dann nach Kompensation für ihre Wohlstandsverluste schreien, und die demokratische Politik ist heute nicht so bescheuert wie 1930. Diese Kompensation wird gewährt, das sehen wir ja an den Krisenmaßnahmen aktuell schon. Dass das ordoliberale Herz da Schnappatmung bekommt ist klar, aber man sollte nicht glauben, dass die FDP-Weltsicht in signifikant mehr als 5% der Bevölkerung geteilt wird. Und ja, dasselbe gilt für die Fantasien von der Überwindung des Kapitalismus auf der Linken, bevor jemand fragt.

8) Systemrelevant und dennoch kaum anerkannt: Das Lohn- und Prestigeniveau unverzichtbarer Berufe in Zeiten von Corona
Zusammen betrachtet weisen die systemrelevanten Berufsgruppen ein um rund fünf Punkte geringeres Prestige auf als der Gesamtdurchschnitt aller Berufe, der bei 63 von 200 maximal möglichen Punkten liegt (Abbildung 1). [...] Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der Entlohnung (Abbildung 2). So wird ein Großteil der Beschäftigten in systemrelevanten Berufen unterdurchschnittlich bezahlt. Während der durchschnittliche Bruttostundenlohn aller Berufe bei 19 Euro liegt, weisen systemrelevante Berufe zusammengenommen einen mittleren Stundenlohn von unter 18 Euro auf und liegen damit rund sieben Prozent unterhalb des Durchschnitts. Zudem sind die Löhne insbesondere in jenen Berufen unterdurchschnittlich, in denen ein hoher Anteil der systemrelevanten ArbeitnehmerInnen tätig ist (beispielsweise Reinigungsberufe, Lagerwirtschafts-, Post- und Zustellungs-, Güterumschlagberufe sowie Erziehungs-, Sozialarbeits- und Heilerziehungsberufe). [...] Eine weitere Ebene der Diskussion um die aktuell systemrelevanten Berufe ist die Frage, zu welchem Anteil Männer und Frauen die unverzichtbaren Tätigkeiten ausüben. Die Betrachtung des Frauenanteils in den einzelnen Berufsgruppen zeigt deutlich, dass jene größtenteils unterdurchschnittlich bezahlten und angesehenen Aufgaben überwiegend von Frauen gestemmt werden. Der Frauenanteil in den systemrelevanten Berufsgruppen insgesamt liegt bei knapp 75 Prozent (Abbildung 4). (Josefine Koebe/Claire Samtleben/Annekatrin Schrenker/Aline Zucco, DIW Berlin)
Ich finde die Rede von der Systemrelevanz, wie sie gerade bezüglich der sozialen Berufe und solchen der Logistik benutzt wird, auf düstere Weise erheiternd. Schließlich haben wir Progressiven uns immer furchtbar darüber geärgert, dass Investmentbanker mit dem Etikett geadelt wurden. Man denke nur an Gerhard Schröder im TV-Duell 2002, der Edmund Stoibers Rede von den Leistungsträgern genüsslich damit auseinandernahm, Leistungsträger als Krankenschwestern und Polizisten zu definieren. Bisher war das ein talking point der SPD, den man gerne im Wahlkampf ausgrub und dann überwiegend wieder vergaß. Covid-19 zeigt aber deutlich auf, wie systemrelevant diese Leistungsträger tatsächlich sind - und gibt wenigstens dem- oder derjenigen, die vorher schon ein Auge für so etwas hatte, ein Anschauungsbeispiel für die Ungerechtigkeiten des ganzen Systems. Aus den in Fundstück 7 genannten Gründen glaube ich ehrlich gesagt nicht, dass das sonderlich große Langzeiteffekte haben wird. Aber der plötzliche Blick auf Löhne und Arbeitsbedingungen von Care-Arbeitern, Einzelhandelsangestellten oder Lieferern dürfte trotz allem erhellend sein. Ich möchte an dieser Stelle das Augenmerk vor allem auf den gigantischen Gender-Gap bei diesen Berufen legen, der sicherlich mit maßgeblich für ihre schlechte Bezahlung ist. Tätigkeiten, die weiblich konnotiert sind, werden durch die Bank schlechter bezahlt, und wenige Berufe sind so klar weiblich (oder mit Ausländern!) konnotiert wie Einzelhandel und Pflege. Glücklicherweise gab es hier bereits vor Corona eine starke Trendwende; die Gehälter in diesen Branchen zogen zuletzt (verhältnismäßig) stark an und erlauben es ihren Trägern langsam aber sicher, nicht mehr direkt armutsgefährdet zu sein. Möglicherweise hält sich der Effekt des gesteigerten Prestiges aus der Covid-19-Krise noch länger und verstetigt den Trend zu einer Aufholjagd, in der diese Berufe die Lücke insgesamt verkleinern. Das wäre mehr als nur wünschenswert.

9) The Mega-Bailout Leaves 4 Mega Questions
In 2009, Republicans locked arms in nearly unanimous opposition to an $800 billion economic stimulus bill under President Barack Obama, betting they could force Obama and the Democrats to own the Great Recession by keeping their fingerprints off the response. This time, Democrats provided nearly unanimous support for a $2 trillion coronavirus relief package under President Donald Trump, hammering out a bipartisan compromise to get government money into the economy as quickly as possible. In 2009, the GOP strategy of “no” meant that Obama controlled the policy outcome, but it helped spark a political comeback that eventually led to Republican control of Washington. In 2020, Democrats have tried to advance their policy priorities through negotiations instead of walking away from the table, even though they know Trump's political fortunes depend on economic relief. They certainly helped get the money flowing: The bill went from draft to law in a week, and Trump signed it Friday. But did Democrats achieve their goals by playing ball? A review of the CARES Act that Trump signed Friday suggests Democrats did manage to influence its direction, shifting some of its aid to individuals towards lower-income families, while imposing some conditions on its aid to businesses—changes that Trump is already taking credit for. They also successfully inserted some oversight provisions that Trump has already vowed to ignore. But Republicans won some huge concessions from Democrats, most notably a $500 billion bailout fund for big businesses and a $170 billion tax break for real estate investors like the president. And Democrats didn’t get much that Trump didn’t actually want in exchange for helping him pour cash into the locked-down economy in an election year. They didn’t guarantee vote-by-mail in the November elections, or win any assurances that the Trump administration will start complying with House subpoenas, or get permanent stabilizers that could ensure fiscal support for the economy in future crises even if a Democrat were president. (Michael Grunwald, Politico)
Ich möchte an der Stelle vor allem noch einmal auf den gigantischen Unterschied aufmerksam machen, der zwischen Republicans und Democrats im Speziellen und den Republicans und konservativen Parteien im Allgemeinen besteht. Im angesicht einer die gesamte Bevölkerung bedrohenden Krise arbeiten mit Ausnahme der Republicans alle Parteien zusammen und versuchen, der betroffenen Bevölkerung so schnell wie möglich zu helfen. Nur die GOP ist so abartig, millionenfache Abstürze ins Elend oder, im Falle Covid-19s, sogar den Tod, als willkommenes Wahlkampfthema zu begreifen und aktiv zu ergreifen, die dazu dienen, den eigenen Anhängern zu helfen und die gegnerischen Armut und Tod zu überlassen (siehe Fundstück 6).

10) Nationale Reflexe und europäische Solidarität in der Corona-Krise: Starke Institutionen helfen
Dass es in der Krise vor allem auf die Mitgliedstaaten ankommt, ist den EU-Verträgen geschuldet, die der Union im Bereich der öffentlichen Gesundheit (Art. 168 AEUV) nur recht begrenzte Kompetenzen einräumen. Die EU-Institutionen können die Mitgliedstaaten in diesem Politikfeld koordinieren, sie unterstützen und ihnen Empfehlungen geben, aber kaum Vorschriften machen. Und natürlich ist auch der EU-Haushalt viel zu klein, als dass die Union aus eigener Kraft nennenswerte Anstrengungen gegen die Krise unternehmen könnte. Wie so oft in den Krisen der letzten Jahre sind deshalb alle Augen auf den Europäischen Rat gerichtet. Wieder einmal ist die Krise wenigstens teilweise asymmetrisch und Südeuropa (wenigstens für den Moment) stärker betroffen als der Norden. Und wieder einmal geht es vor allem darum, ob die nationalen Regierungen bereit sind, einander beizustehen, oder ob in der Krise jedes Land sich selbst am nächsten ist. Die bisherige Bilanz in diesem Ringen ist, im besten Fall, durchwachsen [...] Doch was in Wirklichkeit geschah, war genau das Gegenteil: Statt Italien zu helfen, verhängten mehrere europäische Länder, die von der Krankheit selbst zwar noch kaum betroffen waren, sich aber Sorgen wegen der Panikkäufe machten, Exportverbote für medizinische Schutzkleidung. Die französische Regierung etwa beschlagnahmte die vorhandenen Bestände an Atemschutzmasken und stellte sie nur noch medizinischem Personal und Kranken in Frankreich zur Verfügung. In Deutschland blieben, noch etwas absurder, Atemschutzmasken im freien Handel verfügbar und damit auch ihre medizinisch weitgehend sinnlose Nutzung durch private Gesunde möglich – aber eben nur innerhalb der Landesgrenzen. [...] Dass auch Einschränkungen der Bewegungsfreiheit nötig sind, um die Ausbreitung des Virus zu bremsen, war frühzeitig Konsens. Dabei setzte die italienische Regierung (ähnlich wie zuvor China) zunächst vor allem auf eine Abriegelung der am stärksten betroffenen Gebiete. Als sich die Pandemie jedoch weiter ausbreitete, verlegten sich Mitte März einige weniger betroffene Staaten vor allem im Norden und Osten Europas auf eine umgekehrte Strategie: Sie schlossen einseitig die nationalen Grenzen, um Virus draußen zu halten. Der Grenzverkehr für Personen wurde drastisch reduziert, in vielen Fällen durften nur eigene Staatsbürger und Menschen mit besonderen Genehmigungen noch einreisen. Offiziell begründet wurden diese Grenzschließungen oft mit der Notwendigkeit, Personenbewegungen allgemein zu reduzieren, und mit der Behauptung, dass unterschiedlich strenge nationale Regelungen (etwa bei Veranstaltungsverboten) dazu führen würden, dass Menschen auf die andere Seite der Grenze auswichen. Unter Beobachtern stießen die Grenzschließungen jedoch von Anfang an auf Kritik: Da das Virus Mitte März bereits in allen EU-Staaten vorhanden war, spielte der zwischenstaatliche Grenzverkehr für seine Ausbreitung keine so wichtige Rolle mehr, dass solch drastische Maßnahmen gerechtfertigt wären. (Manuel Müller, Der Europäische Föderalist)
Fast noch mehr als der deutsche Förderalismus versagt in diesen Zeiten der Krise die Europäische Union. Wie bereits bei der Griechenlandkrise 2010/11 nehmen hypermoralisierende Zeigefinger-Erheber mit political correctness überhand und verkünden ihre Sprechverbote zu Eurobonds. Ok, genug der ironischen Seitenhiebe. Ich will auf einen Aspekt des obigen Artikels im Besonderen eingehen, nämlich den der völlig sinnlosen Grenzschließungen. So bescheuert die Maßnahmen auch sind, sie machen politisch Sinn. Genauso wie in der Flüchtlingskrise demonstrieren sie die Handlungsfähigkeit des Staates in einer Situation, in der dieser mit traditionellen Instrumenten ohnmächtig ist (die eigentlich viel sinnvollere Abschottung betroffener Gebiete im Inland war zu diesem Zeitpunkt innenpolitisch ja noch nicht zu vermitteln). Grenzschließungen aber sind beinahe mythisch aufgeladen, ironischerweise gerade durch die völlig abgedrehte Flüchtlingsdebatte der letzten Jahre mit ihrer beinahe erotischen Fixierung auf Grenzschutz (kernige Beamte in harten Uniformen und noch härteren Schlagstöcken). Dadurch ist allein die Ankündigung des "Wir schließen die Grenzen!" nach der jahrelangen Diskussion der Impotenz dieser Maßnahme zur Lösung des Flüchtlingsproblems ein Aphrodisiakum der Politik. Und sorgt für fallende Umfragewerte der AfD und steigende Umfragewerte der CDU und der Person ANGELA MERKELS. Wäre es nicht so traurig, man müsste hysterisch lachen.


11) Den Menschen die Wirklichkeit zumuten
Denn politische Kommunikation und politisches Handeln bewegen ganz offensichtlich etwas. Das zeigen die vergangenen Wochen. Der Regierung gelang, was selbst die Warnung aus der Zukunft nicht vermochte. [...] Obwohl die Zumutungen enorm waren, konfrontierte die Politik die Wähler in dieser Woche mit der realen Größe des Problems. Durch klare Sprache und entschiedene Handlungen, die auch immer ein kommunikativer Akt sind. [...] Politik, so ließe sich folgern, kann etwas bewirken. Aber nur, wenn sie die Größe des zu bearbeitenden Problems erkennt, angemessen reagiert und die Notwendigkeit dafür den Menschen vermittelt. In der Klimakrise tut die Regierung das bis heute nicht. Greta Thunberg sagt: Ich will, dass ihr Panik bekommt! Die Bundesregierung vermittelt: Nur keine Panik! In der Coronakrise macht die Regierung Politik als Kunst des Nötigen, und erklärt sie. In der Klimakrise macht sie Politik als Kunst des Möglichen, auch wenn das Mögliche nicht das Nötige ist. Sie redet die Aufgabe klein aus Angst, dass die wahre Größe nicht zumutbar sei, mit dem Ergebnis, dass sie sogar an der zu kleinen Aufgabe scheitert. [...] Aus dem Pariser Abkommen folgt nicht, welcher Staat wie viel CO2 einsparen muss. Aber geht man davon aus, dass jedem Menschen dasselbe CO2-Kontingent zusteht, dann sind die deutschen Klimaziele nicht Paris-kompatibel, wie es Klimaforscher formulieren. Anders gesagt: Die Ziele reichen bei weitem nicht aus. Das sagt die Regierung nur nicht. Und sie handelt auch nicht. [...] Für diese Zurückhaltung gibt es einige Gründe, ein wichtiger ist die Angst, dass die Menschen sich nur mit Änderungen an ihrem Leben anfreunden werden, wenn sie das Gefühl haben, dass das zu erreichende Ziel nicht in allzu großer Ferne liegt. Sie könnten, so die Befürchtung, sonst mit den Achseln zucken und beschließen, es dann gleich ganz zu lassen. Was natürlich niemand weiß, weil die Regierung es nicht einmal versucht hat. [...] Die Coronakrise zeigt gerade, dass womöglich eine gegenteilige Kommunikationsstrategie erfolgreicher sein könnte: Solange man Menschen im Glauben lässt, alles sei nicht so schlimm, so lange machen sie ganz sicher so weiter, als sei alles nicht so schlimm. Und warum sollten sie auch nicht? Erst, wenn ihre gewählten Volksvertreter ihnen eindringlich vermitteln, wie ernst man die Lage nimmt, besteht die Chance, dass die Botschaft durchdringt, erst dann reagieren die Menschen womöglich - und dann sind sie vielleicht sogar bereit, mehr hinzunehmen, als vorher möglich schien. (Jonas Schaible, SpiegelOnline)
Ich möchte Jonas' Essay unbedingt zur ganzen Lektüre empfehlen. Er fasst im Endeffekt alle relevanten Argumente zum Thema zusammen; ich unterstütze seine Argumentation zu 100%. Ob es möglich sein wird, die Corona-Rhetorik danach auf den Klimawandel zu übertragen halte ich allerdings für unwahrscheinlich. Denn meine Arbeitshypothese bleibt, dass der überwältigende Sehnsuchtspunkt der Bevölkerung die Rückkehr zur Normalität ist. Und die Auswirkungen des Klimwandels sind einfach nicht spürbar genug, um analog zu Corona die große Umstellung als Erhalt des Status Quo und konservatives Projekt zu framen - wichtig in einer so strukturkonservativen Gesellschaft wie der deutschen. Aber vielleicht werden wir ja positiv überrascht, wer weiß?

Samstag, 28. März 2020

Jenseits der Politik - Corona in Wirtschaft und Gesellschaft

Nach meinem Beitrag zur Demokratie in Zeiten von Corona und dem Blick nach außen möchte ich heute wieder den Blick auf Deutschland wenden, dabei aber die Theorie der Verfassungsbildung hinter mir lassen und stattdessen eher auf die Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft schauen. Der Artikel, das sei vorweg gesagt, hat daher keinen klaren Fokus oder Roten Faden, sondern ist mehr eine lose Sammlung an Beobachtungen ohne konkrete Aussage, auf die sich das Ganze herunterdampfen ließe. Dies nur als Wort der Warnung vorweg.

Globalisierung und Warenketten

Ich weiß nicht, wie viel die Corona-Krise daran ändern wird, aber in jedem Fall hat sie offen gelegt, was es eigentlich bedeutet, globale Versorgungsketten zu haben. Keine Erklärung der Globalisierung kommt ohne Beispiele dafür aus, wie von den Rohmaterialien zum fertigen Produkt diverse Länder durchlaufen werden (Baumwolle aus Bangladesh, gewoben in Vietnam, genäht in der Türkei, bei KiK in Deutschland, you know the drill). Aber abgesehen von den immer wieder diskutierten Problemen bei der Nachhaltigkeit, dem Umweltschutz und der Ausbeutung der örtlichen Arbeiter hat die Corona-Krise eine weitere Anfälligkeit des Systems offen gelegt.

Denn nicht nur durchwandern die Teilprodukte verschiedene Länder. Die Just-In-Time-Liefersysteme, die zulasten der (teureren) Lagerhaltung in den letzten 30, 40 Jahren etabliert worden sind, gehen von einem reibungslosen Grenzverkehr wenigstens für Kapital und Waren (und idealerweise auch Menschen aus). Störungen in den Lieferketten führen schnell zu Kaskadeneffekten.

Das ist problematisch, wenn eine Region wegen einer Pandemie in lockdown geschickt wird. Kommt ein bestimmtes Teil aus Region A und diese wird abgeriegelt, steht die komplette Produktion, die dieses Teil benötigt, still. Bei einer Schraube mag man dann ja andere Hersteller bemühen können (mit schwerwiegenden Langzeitfolgen für die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in Region A), aber es wird problematisch, wenn - ganz im Sinne der Globalisierung und der Herausbildung von Exzellenzclustern, lokalen Champions etc. - praktisch alle Produkte eines Typs aus der entsprechenden Region kommen.

Wubei war daher ein besonders drastisches Beispiel, denn die chinesische Region, aus der Covid-19 entsprang und die als erste abgeriegelt wurde (damals, als wir das noch als exotische Nachrichten aus der Fremde verfolgten; good times) produziert rund 90% der Rohmaterialien für Generika - also jene günstigen Medikamente, auf denen der Großteil der deutschen Volksgesundheit beruht. Und China ist kein zufälliges Beispiel. Chinesische Gesundheitskrisen, die lokal begrenzt bleiben und nicht global gehen, können trotzdem globale Folgen entwickeln:
To understand why the modern supply chain is uniquely vulnerable to a threat like the coronavirus, you have to realize how quickly it has changed. China joined the World Trade Organization in 2001, and surpassed the U.S. as an industrial powerhouse in 2010. During the SARS epidemic of 2002 and 2003, China represented 4.31 percent of worldwide GDP, wrote the MIT professor David Simchi-Levi, who studies supply chains. Now that’s 16 percent.
Und als wäre das nicht alles, ist China noch vor Trump der größte Saboteur genau des freien Welthandels, dem es seinen wirtschaftlichen Aufstieg verdankt. Entgegen seiner (erfolgreichen) Propaganda, die wir im letzten Artikel diskutierten, hortet das Land seit Dezember Vorräte, kommt Lieferverträgen nicht nach und nutzt seine Marktstellung für den eigenen Gewinn. Nicht, dass die EU oder die USA sich groß anders verhalten würden. Aber der Rückgriff auf die Idee der Autarkie, der Rettung im Heil der Grenzschließung und des "jeder für sich", ist angesichts einer globalisierten Wirtschaft sowohl zum Scheitern verurteilt als auch extrem asozial.

Verteilungsfragen

Die Krise legte in der Wirtschaft jedoch nicht nur Probleme bei der Verteilung von Gütern, sondern auch bei der Verteilung von Wohlstand offen. So fragt sich sicherlich nicht nur ein shift manager bei McDonalds, warum ein Unternehmen, das 5,3 Milliarden Dollar Gewinn machte, seinen Arbeitnehmern keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall einräumt. Und wer jetzt denkt, dass ethischer Konsum ohnehin nur so ein linksgrünversiffter Unfug ist, der sollte den anderen Teil der Klage des Mannes Ernst nehmen: Wer will schon, dass sein Big Mac von jemandem zubereitet wird, der mit Corona infiziert ist?

Das ist glücklicherweise kein so großes Problem in Deutschland, wo Kommentatoren dieses Blogs eher darüber zu klagen bereit sind, dass kranke Arbeitnehmer tatsächlich zuhause bleiben und erst einmal den Generalverdacht gegen deren Performance ausrollen, aber glücklicherweise haben diese das Recht auf ihrer Seite. Das gilt weniger für die Selbstständigen, und gerade in der convenience-Gastronomie findet man die ja häufig. Da gibt es sicherlich noch einiges durchzudenken, wenn die Krise vorbei ist und man sich Gedanken darüber macht, wie die nächste zu bewältigen sein wird.

Auch dürfen sich die Reichen sicher sein, im Zentrum der Kritik zu stehen, sind sie doch mit die größten Krisenverursacher. Es gehört schließlich nicht eben zum Lifestyle der unteren 80%, außerhalb der Ferienzeiten in der Weltgeschichte herumzugondeln, ob zum Skiurlaub in Tirol oder zum Zweitwohnsitz auf Sylt. Genau die reiche Oberschicht, die den Virus zuerst nach New York schleppte, floh anschließend im Angesicht der Pandemie aus der Stadt - in individuell sicherlich sinnvoller Zug, der allerdings dafür sorgt, dass sich die Krankheit in Windeseile über die Zweitwohnsitze der Schickeria über das ganze Land verteilt.

Kurz, die Pandemie hebt die Unterschiede zwischen den Klassen deutlicher hervor, als das vorher der Fall gewesen ist. Ob sich daraus konkrete politische Forderungen ableiten lassen werden, wird sich zeigen. Man darf aber getrost annehmen, dass ein Jeff Bezos, einer der reichsten Menschen der Welt, mit seiner Forderung nach Spenden für seine Belegschaft nicht eben Bonuspunkte sammeln dürfte, sondern eher weitere Argumente dafür bringt, dass Milliardäre und Demokratie nicht vereinbar sind. Bisher hat man die Superreichen jedenfalls ihr Geld nicht dem Allgemeinwohl dienend gebrauchen sehen.

Rettungspakete

Wie bereits bei der Bankenkrise 2007/2008 kann die Rettung der angeschlagenen Wirtschaft nur durch staatliche Hilfen erreicht werden. Der überwiegende shutdown der Volkswirtschaften, ein erzwungener Stillstand über Wochen, vielleicht sogar Monate, sorgt für gigantische Belastungen im System, die manche Branchen wesentlich härter treffen als andere. So dürften die meisten Autofirmen verhältnismäßig leichter in den Normalbetrieb zurückkehren als die großen Kinoketten, nachdem die Verleihfirmen ihre Neuerscheinungen angesichts Corona zum Streaming freigegeben und damit Pandora aus der Filmbüchse entlassen haben.

Wie immer, wenn Rettungspakete geschnürt werden, will natürlich jeder etwas abhaben. Und ebenfalls wie immer sind die Chancen am besten, je besser die Kontakte zur Politik und die juristischen Kapazitäten des Unternehmens sind. Es ist vielsagend, dass von vier Milliarden zugesagten Hilfen für Unternehmen bereits 1,9 Milliarden von den Großunternehmen beantragt waren, bevor das Antragsformular in allen Bundesländern verfügbar war. Die kleinen selbstständigen Betriebe sind, selbst wenn sie antragsberechtigt sind, stark benachteiligt. Sie müssen sich im Dschungel der Formulare zurechtfinden, rechtssichere Anträge stellen und nebenher den Laden bestmöglich am Laufen halten.

Immerhin wurden die Kreuzfahrtlinien aus dem amerikanischen Rettungspaket ausgeschlossen. Es zeigt die clevere legislative Akteurin Nancy Pelosi am Werk. Die Unternehmen, die bisher keine Steuern bezahlt und Arbeitnehmerrechte unterlaufen haben, weil sie sich in Liberia registriert haben, dürfen sich nun auch zu ihrer Rettung an den liberianischen Staat wenden. Es steht zu hoffen, dass die deutsche Politik mit unseren Steuerflüchtlingen ähnlich umgeht.

Aber nicht nur die Unternehmen schreien nach Rettungspaketen. Auch manche Staaten sind durch die Pandemie härter getroffen als andere. Die Reaktionen sind, wenig überraschend, die einer Euro-Krise reloaded:
"Mit einem Nachgeben bei Eurobonds würde der deutsche Finanzminister seinen Nachfolgern und dem Bundestag die Hoheit über die Haushaltspolitik abnehmen", sagte Verbands-Generalsekretär Steiger dem SPIEGEL. "Sollte ein Euroland in Schwierigkeiten geraten, greift der ESM-Rettungsschirm mit seinen klaren Bedingungen". Diese dürften "nicht aufgeweicht werden". Zudem besitze niemand die Legitimität, "Blankovollmachten zu erteilen", sagte Steiger - "auch unter dem Vorwand der schlimmsten Krise der letzten Jahrzehnte nicht."
Ich kann nicht beurteilen, ob der ESM-Mechanismus ein ausreichendes Krisenwerkzeug ist, so jedenfalls die Position der Bundesregierung, oder ob Frankreich und Italien (pars pro toto) richtig damit liegen, nach großer Intervention zu verlangen. Für mich überdeutlich ist vielmehr, dass der Rückzug ins Vertragslatein, wie er schon Deckung für die deutschen Krisenpolitiker 2010/2011 war, nicht noch einmal Ausrede sein darf. Wenn der ESM reicht, fein. Wenn nicht - dann ändert endlich die Scheißverträge und führt Eurobonds ein. Aber was gar nicht geht ist die Hände in die Luft werfen und darauf beharren, dass das aktuelle Vertragsgeflecht das nicht zulassen. Denn das ist flexibel und kann geändert werden. Und die Diskussion sollte man schon ehrlich führen und nicht mit der gleichen Moralkeule wie 2010. Das hat einmal echt gereicht.

Nie eine Krise verschwenden?

Gerade auf der Linken hört man gerade viel davon, welche Chancen die Krise biete. Schließlich werden allerorten wahnsinnige Gesetzespakete beschlossen und teilweise Billionensummen in die Wirtschaft gepumpt; da wird doch sicher was für die Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung übrig bleiben...? Man sollte sich aber nicht einbilden, die Krise für krasse Revolutionen nutzen zu können. Ich zitiere hier zwar den American Conservative, der natürlich so oder so wenig Sympathie für derartige Maßnahmen empfindet, aber ich denke, die Grundstimmung wird durchaus getroffen:
Revolutionary policy would permanently shift the production and distribution of American resources. While Ocasio-Cortez’s progressive platform wants a new normal, this aid seeks to help Americans’ lives get back to normal.
Nicht, dass nicht grundsätzlich die Möglichkeit bestehen würde, jetzt tiefgreifende Maßnahmen zu ergreifen. Aber einerseits denke ich, dass John Kristof hier Recht hat und eine Mehrheit für einen Änderungskurs nicht besteht; es geht um die Herstellung von Normalität, und dafür sind die Bürger bereit, große Eingriffe zu ertragen - nicht allerdings für den Aufbau einer Gesellschaftsvision, die schon in guten Zeiten keine Mehrheit findet. Andererseits sollte man sich auch nicht der Illusion hingeben, nur die Progressiven hätten tolle Ideen, die Krise zur Durchsetzung unpopulärer Herzensprojekte zu nutzen. Der Gouverneur von Texas (der gleiche sympathische Typ, der im Interview erklärt hat, dass die Alten ihr Leben gerne dafür opfern dass die Wirtschaft läuft und soziale Distanzierung deswegen überflüssig sei) nutzte die Corona-Krise jedenfalls gleich mal dafür, Abtreibungen in ganz Texas zu verbieten.


Auf der anderen Seite sollte man aber nicht die langfristigen Folgen unterschätzen, die der lockdown auf manche Bereiche haben wird. Wie unter der Zwischenüberschrift "Verteilungsfragen" schon angedeutet, verschiebt sich gerade massiv die Bedeutung des Begriffs systemrelevant. Anstatt Nieten in Nadelstreifen mit Steuergeld raushauen zu müssen, nur damit die sich danach wieder Millionen-Boni genehmigen können, sieht aktuell auch der verbohrteste Klassenkämpfer von oben, dass Einzelhandel, Logistik und Care-Branche mehr als nur relevant sind. Und einer breiten Öffentlichkeit wird bewusst, wie beschissen die Arbeitsbedingungen in diesen Branchen oftmals sind; bewusster jedenfalls als die vorher theoretisch vorhandene intellektuelle Erkenntnis, dass dem so ist. Man fühlt es jetzt. Und daraus könnten sich, unterstützt durch die entsprechenden staatlichen Maßnahmen, unbeabsichtigt massive Verschiebungen in der Nach-Pandemie-Wirtschaft ergeben. In einem lesenswerten Artikel in Foreign Policy vergleicht Nicholas Mulder die Maßnahmen mit der Umstellung auf Kriegswirtschaft und kommt zu folgendem Fazit:
The resourcefulness of wartime economies offers a useful template for thinking about the broader context of the coronavirus crisis. Mounting a serious campaign to mitigate climate change demands a response so large that many of the virus response measures are just a start. Despite calls for a return to normality, it is difficult to imagine the post-pandemic world economy, whatever it looks like, as a restoration of any sort. Even if the virus subsides in several months or years from now, the larger state of exception in policymaking and collective action to which it already belongs is unlikely to end. Twentieth-century war economies played an important role in allowing the peacetime economies that followed them to flourish. The key now will be to draw on their lessons of solidarity and inventiveness as the coronavirus confronts the 21st-century world economy with a new kind of warlike hazard.
Ich bin daher etwas gespalten. Auf der einen Seite sehe ich keinen großen Wunsch in der Bevölkerung nach tiefgreifendem Wandel, auf der anderen Seite mag dieser tiefgreifende Wandel aber trotzdem kommen - einfach, weil gerade so umfassend in alle Lebens- und Wirtschaftsbereiche eingegriffen wird.

Gesellschaft

Eine weniger schöne Entwicklung, die wir mit Covid-19 beobachten dürfen, ist die Rückkehr zu patriarchalischen Modellen. In vielen Familien musste angesichts der Schließung von Kindertagesstätten und Schulen die Entscheidung getroffen werden, wer zuhause bleibt und die Kinder betreut und wer weiter arbeitet (vorausgesetzt natürlich die weitere Arbeit ist überhaupt möglich, aber in Deutschland ist das weitgehend der Fall). Diese Entscheidung geht, dem Gender Pay Gap sei Dank, in den meisten Fällen entlang recht klarer Geschlechterleitlinien aus. Selbst in Familien, in denen beide Partner zuhause bleiben und/oder im Home Office arbeiten, werden die Frauen im Schnitt (die Haushalte von Kommentatoren hier immer ausgenommen) stärker belastet. Unzählige Studien haben hinreichend belegt, dass selbst bei zwei Vollzeitarbeitsstellen die Frauen immer noch den Löwenanteil von Hausarbeit und Kindeserziehung leisten.

Noch härter getroffen sind Alleinerziehende - und das sind nach Lage der Dinge in der überwältigenden Mehrheit der Fälle Frauen. Ohnehin schon die armutsgefährdetste Gruppe in der Bevölkerung, wird die Corona-Krise mit dem allgemeinen lockdown wenig dazu angetan sein, ihnen weiter Arbeit zu ermöglichen, während die Kinder den ganzen Tag zuhause eingesperrt sind. Die Krise trifft daher Frauen härter als Männer und mag dazu angetan sein, das patriarchalische Ein-Ernäher-Modell als das krisensicherste weiter zu stärken. Das ist kein sonderlich guter Effekt, um es milde auszudrücken.

Auch auf anderen Gebieten, auf denen feministische AktivistInnen traditionell aktiv sind, stehen Verschlechterungen ins Haus. Familienministerin Franziska Giffey etwa warnt bereits vor einem Anstieg häuslicher Gewalt als Folge der Isolation zuhause. So wie Gelegenheit Diebe macht, macht Gelegenheit auch Gewalttäter. Und so viel Gelegenheit wie während der sozialen Distanzierung bietet sich wohl kaum ein zweites Mal. Es gibt wenig Grund anzunehmen, dass Covid-19 die toxische Maskulinität reduziert.

Und wo wir gerade bei toxischer Maskulinität sind, wer ein Beispiel dafür braucht, warum Männer ein wenig gefährdeter gegenüber einer Pandemie sind als Frauen, schaue sich diese Bande von Vollidioten an, die der Überzeugung sind, dass ihr Testosteron sie gegen den Virus schütze. "Corona muss Angst vor mir haben" ist eine Aussage, die vielleicht zutrifft, wenn Corona die Freundin ist, die zuhause auf dieses Prachtexemplar von Mann wartet, aber wenn er von einer Infektion spricht, wäre das Betrachten eines Erklärvideos auf YouTube der bessere Nutzen der Zeit:
Aber auch anderen gesellschaftlichen Gebieten stellen sich Problemstellungen. Die soziale Distanzierung ist ein in moderner Zeit einzigartiges Experiment. Es ist völlig unklar, welche mentalen Folgen die Isolierung hat und haben wird. Dieser Erfahrungsbericht aus der (deutlich radikaleren) chinesischen Quarantäne zeigt auf, wie groß die Belastung unserer geistigen Gesundheit durch diese Maßnahmen ist und sein kann. Wir hatten in den vergangenen Tagen auch genug Erfahrungsberichte dieser Art im Blog; mir geht es selbst ja auch so. Ich empfinde die Pandemie-Situation als ungemein belastend, und ich bin ziemlich sicher, dass es vielen anderen Menschen auch so geht.

Als letzter Gedanke in diesem Kontext sollten wir uns klarmachen: Es könnte schlimmer kommen:
COVID-19 is a horrendous illness that has already exacted an immense human and economic toll. But it is nevertheless true that we could be paying a much higher price for our collective refusal to heed public-health experts’ warnings about the necessity of ramping up pandemic preparation and prevention. Given our policy framework, a novel virus was bound to catch us needlessly vulnerable. There is no reason why that bug couldn’t have been as prolific a killer of young, healthy adults as the Spanish flu; or as merciless a slayer of infants as smallpox; or as deadly as the initial SARS virus. We just got lucky. What we’re living through right now is a nightmare. But it is not remotely a worst-case scenario. Millions are at risk of death as a consequence of our collective failures of preparation and coordination. But if we can maintain social distancing measures until a treatment or vaccine becomes available, the nature of the virus we’re battling gives us a solid chance of rendering the present pandemic less lethal than its historical analogues.
Das Szenario einer Pandemie, die statt den Alten die Kinder hinwegrafft, ist fast zu schrecklich, um es überhaupt anzudenken. Wer glaubt, dass angesichts von Covid-19 Panik herrscht, der solle sich einmal die Situation überlegen, die die Sterberaten des Virus auf die Bevölkerungsgruppe der 0-10jährigen überträgt. Ich bin ziemlich zuversichtlich, dass in diesem Fall deutlich mehr Panik herrschen würde, und dass die soziale Distanzierung und Isolation mit einer Härte und einem Furor durchgesetzt werden würden, gegen den sich die aktuellen Maßnahmen wie ein laues Lüftchen ausnehmen würden.

Solidaritätsfragen

Ein Begriff, der in der Covid-19-Krise immer wieder aufkommt, ist der der Solidarität. Wird die Gesellschaft in einer solchen Krise solidarischer oder weniger solidarisch? Hat es einen bleibenden Effekt oder ist er temporär? Hierbei werden theoretische ethische Fragen plötzlich sehr konkret. Eine davon betrifft die Generationengerechtigkeit, wie ein Artikel auf dem Verfassungsblog darlegt:
Dass diese Verschiebung innerhalb weniger Wochen möglich ist, ist per se bemerkenswert.  Klimaaktivist*innen haben einen Punkt, es ist in der Tat bezeichnend, zu welchen Einschnitten eine Gesellschaft bereit ist, wenn sie denn will. Allerdings weist ihr Einwurf noch auf einen weiteren, tieferliegenden Aspekt hin: Die Corona-Krise ist auch und gerade ein handfester Generationenkonflikt. Denn wenn die bisherigen Erkenntnisse stimmen, dann ist die Krankheit vor allem für Risikogruppen gefährlich, und der weit größte Anteil davon sind ältere Menschen. Jüngere sind dagegen erheblich weniger gefährdet, allerdings treffen sie die Eindämmungsmaßnahmen besonders stark. Es geht hier nicht um den selbstverständlichen Verzicht auf Partys oder Grillen im Park, sondern um viel mehr. Versteht man Generationengerechtigkeit vor allem als eine Frage von Möglichkeiten und Chancen, wird sichtbar, dass die langfristigen Folgekosten das wahre Problem sind. Denn die Möglichkeiten und Chancen werden sich mit ziemlicher Sicherheit verschlechtern. Wenn die Eindämmungsmaßnahmen tatsächlich bis weit ins laufende Jahr anhalten und wenn die volkswirtschaftlichen Prognosen auch nur ansatzweise zutreffen, wird unsere Gesellschaft danach eine andere sein. Eine Gesellschaft im Lockdown vor dem ökonomischen Kollaps zu bewahren, ist sagenhaft teuer und wird deutliche Lücken in den öffentlichen Haushalten hinterlassen. Und diese Haushalte sind es, die Kitas, Schulausstattungen und Studienplätze finanzieren. Hier schlicht auf Solidarität der Jüngeren zu pochen, ist zu einfach.
Wir hatten ein ähnliches Problem auch schon mit der Finanzkrise, wohlgemerkt ohne dass es je adressiert worden wäre. Wer in den Jahren 2007-2010 seinen Abschluss gemacht hat, hat ein gegenüber Absolventen der Jahre vorher (und glücklicherweise auch nachher) ein deutlich geringeres Einkommen, das sich häufig lebenslang fortschreiben lässt. Diese "Chancenkürzung" kann durchaus auch eine Generation derjenigen treffen, die nun im Rahmen von Corona ihre Abschlüsse machen - schlicht, weil das gigantische Schrumpfen der Wirtschaft die Zahl der neuen Jobs und Ausbildungsstätten massiv beschneidet. Die beste Hoffnung besteht hier auf einer V-Rezession, also einer schnellen und durchgreifenden Erholung. Verläuft das Wirtschaftswachstum aber wie nach der Bankenkrise, haben wir ein ernsthaftes Problem.
Eine andere Frage, die im Zusammenhang mit Solidarität und den Regelungen von oben immer wieder auftaucht ist die, inwieweit sich die Einschränkungen der persönlichen Freiheit durch Eindämmungsmaßnahmen überhaupt mit einer liberalen Demokratie vertragen. Margarete Stokowski schreibt über die Grenzen der Solidarität:
Obendrein ist es nicht mal ein ehrliches Argument: Wer meint, sich prinzipiell nichts "von oben" vorschreiben zu lassen, fährt mit dem Auto wahrscheinlich trotzdem rechts auf der Straße. Das ist eine Verordnung von oben – aber es ist eben auch eine sinnvolle Maßnahme, auf die Menschen sich geeinigt haben. Manchmal ist das, was Autoritäten sagen, einfach exakt dasselbe, was eine solidarische Gemeinschaft auf Augenhöhe beschließen würde. Wo nichts reguliert wird, werden zwar eventuell die wildesten Träume sogenannter Liberaler wahr, aber es setzen sich eben auch eventuell die destruktivsten Kräfte durch, das gilt für Straßenverkehr genau wie für Frauenquoten und eben für Gesellschaften, die mit einer Pandemie zu kämpfen haben. [...] Selbst aus egoistischen Gründen wäre es im Moment sinnvoll, sich an die Empfehlungen von ExpertInnen zu halten, seien es Institutionen wie das Robert Koch-Institut oder Einzelpersonen wie Bundesgesundheitsmin... äh, Virologie-Professor Christian Drosten, einfach weil sonst eventuell geliebte FreundInnen oder Verwandte sterben.
Das genaue Gegenteil dieser These sehen wir etwa durch Lutz Friedrich vertreten:
Das ist schon für sich genommen bedenklich. Hinzu kommt noch, dass diese Lastenumkehr weit über das Staat-Bürger-Verhältnis hinaus den innergesellschaftlichen Umgang mit dem Virus prägt. Wir sehen das an der gegenwärtigen „Einigkeits- und Entschlossenheitsrhetorik“, die Sorgen vor einem „faschistoid-hysterischen Hygienestaat“ weckt. Wer das Haus verlässt, gilt als asozial, jeder kritische Hinweis auf alternative Lösungen, geschweige denn auf dringende Rechtsfragen als unsolidarischer Zwischenruf auf Kosten der „Alten“ und „Kranken“. .[...] Grundrechtliche Freiheit ist aber eben auch die Freiheit zur Unvernunft. Wiederum ist es nicht der Unvernünftige, der für sein Handeln, sondern der Staat, der für die Sanktion Rechenschaft schuldet. Da darf zumindest die Frage erlaubt sein, ob und inwieweit der gesamten Bevölkerung im Rahmen einer allgemeinen Solidaritätspflicht zugunsten von Angehörigen der Risikogruppen zugemutet werden kann, für ungewisse Zeit gravierende Freiheitseinbußen hinzunehmen. 
Ich bin in diesem Grundsatzstreit eher auf Seiten Stokowskis, und ich empfinde Argumentationen wie die Friedrichs angesichts der Krise geradezu als frivol. Gleichwohl gehören sie in einer liberalen Demokratie auch dazu und sind natürlich eine legitime Diskussionsgrundlage. Eines allerdings ist sicher: Am Ende werden diejenigen, die immer gegen die Maßnahmen waren, bei ihrem Erfolg behaupten, immer richtig gelegen zu haben - es ist ja nichts Schlimmer passiert. Ich verweise diese Debatte einstweilen in die Kommentarspalte und will derweil zu den Nachfolgen der Krise übergehen.
Hier dürften wir mit einer Änderung der Wahrnehmung rechnen, denn die Erfahrung der Pandemie ist einschneidend. Wie groß diese ausfällt, bleibt abzuwarten, aber es ist durchaus möglich, dass gewisse Paradigmen die Krise nicht überleben werden. Jonas Schaible beschreibt, dass sich hier zwar Chancen für Paradigmenwechsel in jegliche Richtung (gut wie schlecht) auftun, aber nicht müssen; er sieht eine "Zersplitterung der Normalität":
Selbst ideologische Gegner, Linke wie Rechte, teilen zu bestimmten Zeiten bestimmte Grundannahmen. Covid-19 bedeutet in diesem Sinn einen umfassenden Paradigmenwechsel, weil so viele Selbstverständlichkeiten gerade fallen. Nur, dass nicht ein Paradigma ein anderes ablöst, also eine Normalität eine andere. Sondern, dass eine wegbricht und eine neue sich erst noch bilden muss.
Es wäre daher irreführend, zu glauben, was jetzt möglich ist, ließe sich eins zu eins in eine Nachkrisennormalität überführen.

Normale Politik?

Ein weiterer Aspekt ist die Abnormalität der Politik, die wir gerade erleben. Die normalen Rituale, mit denen wir parlamentarische Demokratie bestreiten, greifen nicht mehr. Nichts wirkt angesichts dieser Krise so merkwürdig out of place wie eine Diskussionsrunde bei Anne Will, in der die Moderatorin darauf besteht, als zentralen Gegenstand zu diskutieren, inwieweit die Covid-19-Krise die Kandidatur Merz' beschädigt hat (meine Meinung: die ist praktisch rum). Ich habe bereits vor der Krise in meiner Serie zur Demokratie in Deutschland beschrieben, dass die Krise die Zeit der Exekutive ist. Wir sehen das aktuell an der Rückkehr Merkels in die aktive Politik:
While she was missing in action initially, leaving the field largely to Health Minister Jens Spahn and the minister-presidents of the Länder, “Mutti” signalled that she was back in the driver’s seat. Although the Länder still decide independently on school closures and curfews, it is Merkel who is the spider in the web, bringing coherence and focus to the diverse strands of the crisis response.
Für die Oppositionsparteien ist das ein ernsthaftes Problem. Da Krisenzeiten Exekutiv-Zeiten sind (da kann man noch so gelehrte Artikel darüber verfassen, dass die Verantwortung de jure beim Bundestag liegt; de facto ist sie bei den Exekutivorganen), fällt der Bundestag als traditionelles Betätigungsfeld weitgehend flach. Da sie von den Exekutivorganen per Definition ausgeschlossen ist, bleibt wenig Sinnvolles übrig. Sofern Anne Will nicht die Chance bietet, irgendwelchen Blödsinn zu reden, verfällt die Opposition vor allem in alte Reflexe und weiß sich sonst nicht zu helfen. Beispiele gefällig?
Da sind etwa die Grünen, die die Krise als gute Gelegenheit für eine energetische Sanierung der nun ja leerstehenden Hotels sehen:

Da wäre die FDP, die Steuersenkungen fordert und Klimapolitik doof findet:
Die Beispiele für die AfD hat der Volksverpetzer schön zusammengesucht, daher nur eine grobe Paraphrasierung: Flüchtlinge und Ausländer sind doof, Grenzen schließen. Ich habe in meiner Timeline bei Twitter dermaßen viele Linke, die davon überzeugt sind, dass Corona - jetzt aber endgültig! - die Unhaltbarkeit des kapitalistischen Systems und die Notwendigkeit eines tiefgreifenden Systemwechsels beweist, dass ich auf ein Zitieren konkreter Beispiele wie auch bei der AfD gerne verzichten würde. Zusammenfassung:
Doch nicht nur in der verfassten Politik finden sich diese Leerphrasen. Bei de Opposition kann ich das ja noch verstehen. Der bleibt aktuell, will sie nicht völlig untergehen, nur das Abnudeln ihrer üblichen Forderungen. Krisenzeiten sind nun mal keine Zeiten des Wandels. Es hat schon seinen Grund, dass die Republicans während des Zweiten Weltkriegs echte Probleme hatten, auf einer Plattform von Steuersenkungen und Förderung von Kleinunternehmen Franklin D. Roosevelt abzulösen. Die üblichen Rituale des gegenseitigen Affirmierens von Identitätspolitik greifen einfach nicht mehr.

Was dagegen immer greift sind idiotische Kommentare auf dem Niveau des deutschen Stammtischs. In Reaktion darauf, dass Olaf Scholz ankündigte, auf Corona getestet worden und negativ befunden worden zu sein, darf man etwa diesen Kommentar einer Pflegekraft lesen:
Ach ja, Eindreschen auf die "Privilegien" der Politiker, das geht selbst in Zeiten von Corona, man muss das Ganze nur etwas anpassen. Statt Pensionen sind es jetzt Tests. Und ja, lieber Pflegenerd, ich wäre schon echt dafür, dass der Finanzminister etwas bevorzugt behandelt wird. Er ist nämlich in der gesamten Krisenbewältigung ziemlich systemrelevant. Das allerletzte, was wir jetzt brauchen können, ist eine achtstündige Verzögerung bei der Genehmigung irgendwelcher Gelder oder so was. Wir sind darauf angewiesen, dass die Exekutivorgane reibungslos arbeiten. Dass wir die bevorzugt auf Corona testen, ist selbstverständlich. Dass man so was überhaupt aussprechen muss. Ich nehme dieses Beispiel hier nur pars pro toto, solche brillanten Einschätzungen haben gerade Hochkonjunktur in den sozialen Netzwerken.

Digitalisierung

Ein letzter Aspekt, den ich hier diskutieren will, betrifft die Digitalisierung, oder vielmehr ihr Fehlen. Was haben wir in den letzten Jahren darüber geredet, wie unzureichend in Deutschland die digitale Infrastruktur ist. Zu langsame Verbindungen, zu wenig Abdeckung in der Fläche und so weiter. Endlich sieht man, wie systemrelevant die Digitalisierung immer ist. Oder besser, gewesen wäre, denn jetzt ist es zu spät.
MitarbeiterInnen ins Home Office zu schicken ist in einer Pandemie erst einmal eine klasse Idee; wenn selbiges Home Office dann aber kaum möglich ist, weil die Netzwerke die Belastung der Videokonferenzen nicht aushalten und selbst das Hochladen von 20MB-Dateien auf den Firmenserver über den nicht eben geschwindigkeitsoptimierten VPN-Client mehrere Anläufe braucht (keine 10km Luftlinie vom Stuttgarter Stadtkern entfernt, nebenbei bemerkt), dann sieht man, wie die Versäumnisse auf diesem Feld die deutsche Wirtschaft nun aktiv kosten.


An Warnern hat es wahrlich nicht gefehlt. Auch in diesem Blog habe ich immer wieder - wie viele andere - dafür argumentiert, ein großes staatliches Infrastrukturprojekt aufzulegen und endlich die Internetgeschwindigkeit anzukurbeln. Deutschland ist auf diesem Feld ein Entwicklungsland, unsere Abdeckung an Breitband und Glasfaser schlechter als in den meisten Ländern Osteuropas, vom Funknetz gar nicht erst zu reden. Das rächt sich nun bitter.


Ein Feld, auf dem ich gerade direkt Erfahrungen sammeln darf und auf dem es mindestens genauso gut sichtbar ist, betrifft die Digitalisierung der Schulen. Hier kann man nur von einer riesigen Blamage sprechen. Seit über zehn Jahren versucht jedes Bundesland, für sich selbst eine datenschutzkonforme Lösung für die Verwaltung von Schülerdaten, Tagebüchern und Noten zu finden. Die Erfolge sind, höflich ausgedrückt, überschaubar. Schrottige Plattformen, die schon zu besten Zeiten kaum funktionieren, brachen bereits am ersten Tag der Schulschließungen völlig zusammen.


Die miserable Ausstattung mit digitalen Endgeräten sorgt dafür, dass kaum eine Schule auf die nun notwendige Umstellung auf digitalen Unterricht vorbereitet ist. Es fehlt an Geräten, an Lizenzen und, vor allem, an jeglicher Erfahrung. Nur eine winzige Minderheit von LehrerInnen konnte, schlicht mangels Infrastruktur, bisher Gebrauch von solchen Geräten machen. Im Jahr 2020 sind Kreidetafel und Overhead-Projektor an der Mehrheit der deutschen Schulen noch immer Medium Nummer 1. Die Corona-Krise hat diese ganze Tragik mit einem Schlag offen gelegt.


Und selbst dort, wo hier relativ zum jeweiligen Landesdurchschnitt Fortschritte gemacht wurden (wie, glücklicherweise, an meiner eigenen Schule) sorgt die oben angesprochene Überlastung des Netzes für riesige Probleme. Gleichzeitig behindert der geringe Stand institutionellen Wissens und Erfahrung im Umgang mit den entsprechenden Apps konzentriertes Arbeiten. Ich bin fast genauso lang damit beschäftigt, die Wehwechen im Umgang mit Office, Discord und Co auszuräumen wie mit dem eigentlichen Arbeiten mit diesen Programmen. Digital Natives, my ass.


Der Höhepunkt dieses Galamas war die Reaktion des baden-württembergischen Kultusministeriums auf Corona. Bereits am Donnerstag, dem 12. März, war angesichts der weitgehenden Schließungen in den Nachbarländern Frankreich und Belgien und der anstehenden Schulschließung im Saarland klar, dass dies auch für Baden-Württemberg kommen würde. Am Freitag dem 13. März beschloss Bayern, die Schulen am Montag zu schließen. Am Nachmittag desselben Tages zog endlich auch Baden-Württemberg nach. Warum so spät? Mit schwäbischer Gelassenheit erklärte Ministerpräsident Kretschmann, man habe anders als Bayern die entsprechende Sitzung nicht auf 9 Uhr morgens, sondern 12 Uhr mittags gelegt.


Was hat das mit Digitalisierung zu tun? Die Folge dieses verspäteten Beschlusses der grün-schwarzen Landesregierung war, dass die Schulen am Montag, dem 16. März, noch geöffnet bleiben mussten. Und warum mussten sie das? Weil die LehrerInnen am Freitag die Dienstanweisung bekommen hatten, bis Montag Material FÜR DIE NÄCHSTEN DREI WOCHEN bereitzustellen, das den SchülerInnen dann am Montag auszugeben sei.


Um das kurz auszubuchstabieren. Die LehrerInnen mussten das Wochenende Material für alle Klassen für drei Wochen zusammenstellen, das diese dann in Heimarbeit bearbeiten sollten. Dieses Material war vor Beginn der 1. Stunde am Montag zu kopieren und den SchülerInnen dann auszugeben. Zu. Kopieren. Und. Auszugeben. Weil die digitale Infrastruktur nicht besteht. Nicht einmal die Möglichkeit, eine Mail zu verschicken, weil so etwas wie Schul-Email die absolute Ausnahme ist. Da ist eine Pandemie, und das Land zwingt die LehrerInnen an die zwei oder drei Kopiergeräte, die in den Schulen stehen, und dann alle Schüler noch einmal in die Klassenzimmer, weil keine Möglichkeit besteht, ein PDF an die SchülerInnen ranzukriegen. Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte.

Ende

Und damit beschließe ich diesen etwas ausufernden Artikel zu Wirtschaft und Gesellschaft erst einmal. Wie gesagt, sorry für die Nicht-Struktur. Ich hoffe, die Lektüre war trotzdem gewinnbringend.