Samstag, 29. September 2018

Religionsverbote im Hambacher Forst, Komplimente falsch finden und entschlossen Schweinefleisch essen - Vermischtes 29.09.2018

Die Serie "Vermischtes" stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) CDU-Abgeordnete will keine Muslime in der Partei
Die Bundestagsabgeordnete Veronika Bellmann aus Sachsen hat ihre umstrittenen Aussagen über die angebliche Unvereinbarkeit zwischen dem Islam und einer Mitgliedschaft in der CDU verteidigt. Sie sehe keinen Grund, sich dafür zu entschuldigen oder gar persönliche Konsequenzen zu ziehen. Muslime gehörten nicht die CDU, hatte Bellmann gesagt. Das gelte auch für säkulare, nichtpraktizierende Muslime. "Heute geben sie sich säkular und morgen doch wieder streng gläubig", wurde Bellmann in der rechtsgerichteten Zeitung "Junge Freiheit" zitiert. Hilfreich könne allenfalls ein "öffentliches oder schriftlich dargelegtes Bekenntnis zum Grundgesetz" sein. Hintergrund der Äußerungen von Bellmann ist die mögliche Kandidatur der Muslimin Aygül Özkan für die CDU bei der Hamburger Bürgerschaftswahl 2020. [...] Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU) forderte Bellmann nach ihren Aussagen auf, sich bei Özkan "und bei allen Muslimen, die sich in der Union engagieren", zu entschuldigen. Andernfalls solle sie ihr Bundestagsmandat niederlegen, da sie dieses der CDU verdanke. Doch Bellmann denkt nicht daran: Sie sehe keinen Grund, sich dafür zu entschuldigen oder gar persönliche Konsequenzen zu ziehen. "Mein Mandat habe ich nicht von der CDU, sondern in allen Bundestagswahlen seit 2002 immer direkt von den Wählern meines Wahlkreises", betonte Bellmann. Bellmann, 57, ist seit 2002 Bundestagsabgeordnete. Sie gehört zum rechtskonservativen Flügel der Unionsfraktion. Im September 2016 sagte sie in einem Interview mit der "Huffington Post", die Christdemokraten sollten Koalitionen mit der AfD nicht ausschließen. (SpiegelOnline)
Das ist nicht mehr der "rechtskonservative" Flügel der Partei. Wer ein bestimmtes religiöses Bekenntnis komplett aus der Partei ausschließen will, verlässt den Boden des Grundgesetzes. Diese Leute sollte die CDU auch aktiv loszuwerden versuchen und nicht halten. Bellmann kann sich ja als parteilose Kandidatin aufstellen lassen; ich bin sicher, die Wähler werden ihr das Mandat wiedergeben, dass sie ja überhaupt nicht der CDU und deren Unterstützung verdankt. Ansonsten kann sie sich im AfD-Ortsverein darum streiten, ob sie oder ein altgedienter Rechtsextremer die Bewerbung bekommen dürfen, da hat sie sicher auch tolle Erfolgsaussichten. Aber abseits des Sarkasmus, die CDU sollte diese Leute wirklich aus der Partei drängen. Sie sind ein schlechter Einfluss, der ihnen nicht auch nur das geringste hilft. Es ist ja nicht so, als würde dieser Rand die Kontrolle über die Partei gewinnen (hoffentlich...), und solange sie drin sind, setzen sie konstant die Agenda und schaden ihrer Partei zugunsten der eigenen Sache. Man hat das früher bereits an prominenten Abweichlern gesehen, man denke nur an Oswald Metzger: der Kerl bezog seine ganze Karriere, all seine Prominez, aus seiner öffentlichen Abweichung von seiner Partei. Als er in die CDU eintrat, war er innerhalb weniger Wochen komplett von der politischen Bühne verschwunden und musste feststellen, dass ihn auch sonst keiner haben wollte. Alles, was diese Art Abgeordneter hat, ist sich parasitär am öffentlichen Widerstand gegen die eigene Partei zu verköstigen.

2) Nennt meine Tochter nicht hübsch!
Versteht mich nicht falsch: Ich finde meine Tochter hübsch. Genau genommen, finde ich sie atemberaubend schön. Manchmal schaut sie mir in die Augen und mein Herz bleibt fast stehen. Weil, diese Wimpern. Und dennoch möchte ich, dass die Welt aufhört ihr ihr Äusseres ständig um die Ohren zu hauen. Ich selber wusste es auch lange nicht besser. Als ich kinderlos war, schenkte ich meinen schwangeren Freundinnen rosa Strampler, weil sie ein Mädchen erwartete. Die Babyabteilungen machten es klar: Hier Rosa mit Blümchen für Mädchen. Da Hellblau mit Schiffen für Buben. Entsprechend sagte ich Dinge, ohne viel zu überlegen. Dinge, die ich eigentlich gut meinte. Wenn ich eine Freundin und ihre Tochter traf, sagte ich zum Kind: «Ach, hast Du ein schönes Röckchen!» Traf ich eine andere Freundin und ihren Sohn: «Hey, du bist aber gross und stark!». [...] Aber wenn die ganze Welt um sie herum meine Töchter eben doch in die Rosa-Kiste zwingt, muss ich Gegensteuer geben. In Hoffnung, dass sie eines Tages frei entscheiden können. Und irgendwo zwischen all dem Rosa und Hellblau ihr eigenen Töne entdecken. Unvoreingenommen ihren eigenen Weg gehen, ihre Stärken und Interessen verfolgen. Denn dieses scheinbar harmlose Rosa-hübsch-Ding ist nur der Anfang. [...] Ich möchte nicht, dass meine Mädchen in einer Welt aufwachsen, in der sie hübsch, nett und brav sein müssen. Ich möchte, dass sie ihre Haarspangen tragen, weil sie Freude dran haben. Und nicht um den anderen zu gefallen. Ich möchte, dass sie mit Postautos oder Puppen spielen, weil sie es interessant finden. Und nicht weil es ihnen so beigebracht wurde. (Chezmamapoule)
Man sollte den kompletten Artikel lesen, die vielen Beispiele, die darin genannt werden, sind interessant und unterfüttern die zentrale These weiter. Ich weiß dass das hier im Blog mittlerweile wie eine hängengebliebene Schallplatte ist, und bestimmt wird gleich wieder in den Kommentaren festgestellt, wie das in Wahrheit alles biologisch determiniert ist, aber noch einmal: Die Gesellschaft setzt Rollenerwartungen, und sie setzt sie bereits vom Kleinkindalter an. Das fängt bei bestimmten Ästhetiken an, etwa die Vorliebe für Rosa, Herzen und Glitzer bei Mädchen und Blau, Fußball und Monstern bei Jungs, bevor die Kinder auch nur alleine aufrecht sitzen können, bei den Bestärkungen und Abschwächungen die sie erfahren und bei den Erwartungen, die an sie formuliert und mit denen sie im Alltag umgeben werden. Kinder lernen in diesem Alter rapide, und sie lernen vor allem durch Nachahmung. Was ihre Umwelt ihnen vorlebt nehmen sie auf und reproduzieren es unreflektiert. Und Geschlechterrollen werden ihnen permanent aus allen Quellen vorgelebt. Da kann man übrigens als einzelne Institution, ob als Eltern oder als Lehrer, vergleichsweise wenig machen. Ohne einen breiten gesellschaftlichen Wandel (der zwar kommt, aber laaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaangsam) wird sich nichts bewegen.

3) Backing down is ok - if you do it for the right reasons
This is a view that bugs me. It’s not really a conservative view or a liberal view, it’s a view that says once you’ve made a mistake, then that’s that. Backing down is the worst possible sin, so just suck it up and bull your way through something that you know is wrong. This is crazy. Sometimes, yes, you are caving in to a mob when you reverse yourself on something like this. That’s not a good look. But sometimes the mob is right and you should back down. Does anyone seriously think it’s better to continue mindlessly with something we know is wrong than it is to change our minds and do the right thing, just because it might expose the fact that we’ve conceded a point? I know that conceding a point is perhaps the worst thing anyone can do in modern politics, so I’m just shouting into the wind. But it’s worth an occasional thought. Sometimes the mob has a point. Sometimes they don’t. It’s up to you to decide whether (a) their point is a worthwhile one that should prompt a change of course, or (b) after some genuine consideration, it still doesn’t move you, in which case you should stand your ground no matter how sharp the pitchforks get. Neither response should be automatic. (Mother Jones)
Zu sagen, dass man falsch lag, gehört zu den Kardinalssünden der Politik. Es ist gleich neben die Wahrheit sagen. Wer auch immer das macht, verliert. So oft Wähler oder Journalisten betonen, wie doof sie es finden, dass niemand mal einen Fehler zugeben oder im Wahlkampf die Wahrheit sagen kann: wann immer ein Politiker es tut, wird brutal über ihn hergefallen. Von daher ist es kaum verwunderlich, dass das nicht passiert. Und man sollte nicht den Fehler machen anzunehmen, dass das nur ein Problem in der Politik ist. In zahllosen Familien ist es ebenfalls normal, dass weder Eltern gegenüber ihren Kindern noch die Kinder gegenüber ihren Eltern einen Fehler zugeben. Die einen tun es aus einem falsch verstandenen Verständnis von Autorität nicht, die anderen, weil das Zugeben eines Fehlers schlimmere Strafen mit sich bringt als sein Verschweigen. Dieses Verhalten zieht sich in Schule und Universität (wo von der bekritzelten Bank bis zur vergessenen Hausarbeit keine Fehler zugegeben sondern lieber dumme Ausreden gesucht werden) bis in Unternehmen, wo Vorgesetzte meinen, das Zugeben eines Fehlers untergrabe ihre Autorität und lieber alle Untergebenen nacheinander belasten (und damit das Betriebsklima zerstören) und wo Kollegen einnander die Schuld zuschieben, weil das Verantwortlichkeiten auflöst und im Kollektiv auflöst statt die Verantwortung zu übernehmen, weil die Konsequenzen wiederum so schlimmer sind (was auch das Betriebsklima stört). Die völlige Unfähigkeit, auf der einen Seite Fehler einzugestehen und auf der anderen Seite generös mit eingestandenen Fehlern umzugehen und die richtigen Konsequenzen zu ziehen ist ungeheur zerstörerisch, durch die ganze Gesellschaft hindurch.

4) Sehnsucht nach Entschlossenheit
Denn die Haltung, die in diesen Worten sichtbar und fühlbar wird, ist Entschlossenheit. Entschlossenheit, den Kampf um unser Gemeinwesen, unseren Staat, unsere Demokratie aufzunehmen. Und diese Entschlossenheit muss auch, nein, muss gerade von der Spitze her geführt werden. Warum? Weil sie auch heute noch in Zeiten der Deliberationsgesellschaft und der Moderationspolitik notwendig ist in manchen Situationen. Wir kennen sie ja, die Kanzlerin. Und daher wissen wir auch schon länger, dass es ihr schwer fällt, ihre Politik umfassend und verständlich zu erklären. Aber als es vor rund einer Woche in Chemnitz nicht nur Demonstrationen, sondern auch rechtsradikale Ausschreitungen gab und die Staatsgewalt quasi schwächer präsent war als bei einem Fußballspiel der dritten Liga, da hörte man aus dem Kanzleramt nur ein paar dürre Sätze im Ton amtlicher Stellungnahmen. Der Bundesinnenminister schwieg sogar ganz – und nachdem, was man jetzt von ihm hörte, wäre es vielleicht sogar besser gewesen, er hätte ganz geschwiegen. [...] Noch schlimmer wird die ganze Sache, wenn man sieht, dass der Innenminister sich nur inspiriert zeigt, wenn er seine Ränkespiele gegen Merkel fortführen kann. Dabei wäre es geboten, Geschlossenheit in der Regierung zu zeigen. Entschlossenheit und Geschlossenheit – das ist ein Geschwisterpaar, so stark wie Jeanne d’Arc und Nelson Mandela zusammen. Nun hat der Staat ja auch ein paar Machttechniken und -instrumente, die ihn zu einem wehrhaften machen. Das Gewaltmonopol gehört zu den ersten. Wenn das bröckelt, erheben die Dämonen ihre Köpfe. Es gehört zu der Liberalität Deutschlands, dass der Staat es manchmal damit nicht so genau nimmt. Aber wenn sich der gesellschaftliche Druck erhöht, dann muss auch der Rechtsstaat seine Durchsetzungskraft zeigen. (Salonkolumnisten)
Was die Salonkolumnisten hier einfordern ist gefährlich, schwierig und richtig zugleich. Gefährlich, weil Entschlossenheit und das Ignorieren irgendwelcher Stimmungen in Medien und Bevölkerung nicht unbedingt dem demokratischen Gedanken entspricht und die Regierung sehr schnell auf eine schiefe Bahn bringt, in der sie der Überzeugung ist, es besser als der ungewaschene Pöbel zu nehmen und auf diesen keine Rücksicht nehmen zu müssen. Um seine Unterstützung nicht zu verlieren, wird dann gern auf gemeinsame Feinde eingeprügelt (Ausländer beispielsweise). Ein Abrutschen in den Autoritarismus geht schnell, weil die im Artikel angesprochene Sehnsucht nach Autorität stets wenigstens latent vorhanden ist; man sehe nur nach Ungarn oder Polen. Schwierig, weil das korrekte Umsetzen einer solchen Entschlossenheit ein gutes Gespür für den richtigen Anlass und den richtigen Ton braucht. Die wenigsten Themen verdienen eine entschlossene, aktive und ihr Gewaltmonopol voll ausnutzende Regierung. Man sieht das gerade im Hambacher Forst ja ganz gut. Wesentlich zu schnell kommt es so zu Überreaktionen, die dann das eigentliche Anliegen delegetimieren. Richtig, weil manche Situationen eben doch ein solches Handeln erfordern. In diesen Situationen braucht es eine Regierung, die den nötigen Mut dazu hat und auch bereit ist, die Konsequenzen (Abwahl oder wenigstens Stimmenverlust) zu tragen. Fans der Agenda2010 werden das als eine solche Situation ausmachen.

5) Die Konservativen wären die Rettung gegen Rechts
Wenn Demokratien von rechts bedroht werden, spielen konservative Bewegungen eine besonders wichtige Rolle in ihrer Verteidigung. Im Großbritannien des 19. Jahrhunderts beispielsweise schafften es die Tories, die Royalisten und Reaktionäre in das parlamentarische System zu integrieren und damit die Extremisten an den Rändern des politischen Spektrums zu isolieren. Scheitern die konservativen Parteien allerdings darin, die Demokratie zu verteidigen, wird es nur umso gefährlicher. Im frühen 20. Jahrhundert etwa überließen etablierte konservative Parteien in europäischen Ländern von Italien bis Deutschland den Extremisten die Schalthebel der Macht oder verwandelten sich in offene Feinde der Demokratie. Das Ergebnis war eine politische Katastrophe von ungekanntem Ausmaß. Das ist der Grund, warum Konservative das "Scharnier der Geschichte" sein können, wie der Politikwissenschaftler Daniel Ziblatt in seinem meisterhaften Buch Conservative Parties and the Birth of Democracy argumentiert hat. Verteidigen sie die Demokratie, überlebt das System für gewöhnlich. Machen sie gemeinsame Sache mit den Feinden der Demokratie oder räumen sie kurzfristigen Gewinnen den Vorrang vor dem langfristigen Einsatz zum Erhalt demokratischer Institutionen ein, steht die Tür für alle möglichen Arten von Autokraten offen. [...] Aber die vielleicht schockierendste Nachricht wurde in den vergangenen Tagen bekannt. Angela Merkel schmiedet faktisch eine taktische politische Allianz mit dem fortgeschrittensten Feind der liberalen Demokratie in Europa: Viktor Orbán. [...] Die Implikationen für die europäische Politik sind enorm. Erstens ist es jetzt klarer denn je, dass die Europäische Union in absehbarer Zukunft zutiefst illiberale und sogar undemokratische Staaten als vollberechtigte Mitglieder tolerieren wird. [...] Wenn konservative Politiker wirklich die Scharniere der Geschichte sind, dann könnte Merkel einmal als eine derjenigen in Erinnerung bleiben, die an der wichtigsten Herausforderung ihrer Zeit gescheitert sind und der antidemokratischen Rechten nicht die Stirn geboten haben. (Die Zeit)
Auch das ist ein Argument, das ich schon öfter vorgebracht habe. Die Verantwortung für den Kampf und die Abgrenzung gegen Rechts gebührt den Konservativen. Die Linken bekämpfen sie ohnehin. Das läuft ja in die andere Richtung genauso: dass die Konservativen sich gegen Linksextremismus stellen ist klar; die Haltung der moderaten Linken (oder Sozialdemokraten oder wie man sie auch immer nennt) ist die spannende Frage, denn sie definiert letztlich, was im Diskurs noch als erlaubte Position gilt. Und man muss den Konservativen hier als Gesamtheit leider ein mieses Zeugnis ausstellen, denn eine klare Abgrenzung nach Rechts ist immer noch zu vermissen. Während die SPD in diese Richtung jahrelang eher überreagierte (man erinnere sich an die geradezu militante Abgrenzung zur kompletten LINKEn während der 2000er Jahre), ist die CDU/CSU zu nachsichtig mit ihren eigenen rechtskonservativen Elementen (siehe Fundstück 1) und der AfD. Aktuell scheint es da einen Bewusstseinswandel zu geben; wohl auch unter dem Eindruck der miserablen Umfrageergebnisse aus Bayern. Ich bin mal vorsichtig optimistisch.

6) Schafft zwei, drei, viele vegane Menüs
Veganes Essen ist großartig. Nicht unbedingt – das hängt vor allem von der Zubereitung ab – geschmacklich, sondern funktional. Veganes Essen ist das „One size fits all“ der menschlichen Ernährungsweisen, der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich Veganer, Vegetarier, Pescetarier, Muslime, Juden, Hindus und etliche weitere Religionsgemeinschaften einigen können. Natürlich gibt es immer noch die Strenggläubigen, die es nicht ohne offizielle Halāl-, Koscher- oder Bio-Zertifizierung essen würden, aber für die übergroße Mehrheit reicht „vegan“ völlig aus, um den Speiseanforderungen ihrer jeweiligen Glaubensüberzeugung gerecht zu werden. Gibt es mindestens ein veganes Menü in der Kantine, gibt es für Veganer, Vegetarier, Muslime, Juden und Hindus eine gangbare Alternative zu den Standardgerichten, bei deren Zubereitung womöglich das gemischte Hack aus Rinder- und Schweinefleisch in guter deutscher Markenbutter gebraten wird. Würde – was unbedingt zu befürworten ist – jede Kantine zusätzlich zu den üblichen Gerichten ein veganes Menü anbieten, wäre unzähligen Minderheiten geholfen, da ihnen damit zumindest immer ein Menü offensteht, mit dem sie nicht gegen ihre Überzeugung verstoßen. [...] Richtig, der Baum wird brennen. Und er wird lichterloh brennen, im Gegensatz zum Veggie-Day bleibt es nicht bei den obligatorischen Morddrohungen auf Facebook, irgendwer – vermutlich selbsternannte Abendlandverteidiger, gerne aber auch Salafisten oder militante Tierschützer – wird zum Molotowcocktail greifen, um seiner erbärmlichen Vorstellung von einer besseren Welt mit abgefackelten Menschen Ausdruck zu verleihen. Das Szenario mag sich im ersten Moment arg hypothetisch anhören, aber die Abendlandverteidiger laufen sich bereits warm. Schon jetzt haben sie einen Schweinefleisch-Fetisch entwickelt, der sich nicht über Geschmack, Zubereitung oder Nährwert herleiten lässt, sondern allein über die Präsenz von Muslimen. Auf Muselgrusel-Webseiten wie PI-NEWS wird mit einem Schwein um Spenden geworben, Pegida-Gänger tragen Schilder mit Aufschriften wie „Ich bin für Schweinefleisch auf dem Gartengrill! Bin ich deshalb ein Nazi?“, in asylkritischen Foren geben sich besorgte Bürger Pseudonyme wie „Pork Eating Crusader“, selbst Landwirtschaftsminister Christian Schmidt, CSU, entblödete sich nicht, Schweinefleisch als essentiellen, aber bedrohten Teil einer ausgewogenen Ernährung hinzustellen. Andere Leute werden wegen Job- oder Beziehungsproblemen um den Schlaf gebracht, beim Abendlandverteidiger ist’s ein imaginiertes Schweinefleischverbot, das ihn fiebrige Nächte verbringen lässt. (Salonkolumnisten)
Ich finde Tobias Blankens Vorschlag aus dem Artikel mehr als nur vernünftig. Er löst im Endeffekt einen Riesenhaufen Probleme und nimmt den Staat aus der bescheuerten Rolle als Arbiter zwischen Religionsstreitigkeiten heraus, ohne dabei irgendwelche Richtungen besonders zu begünstigen (die Speisegebote der Muslime gegenüber Hinduisten etwa). Auch für etwas gesundheits- und umweltbewusstere Fraktionen wäre somit gleich etwas dabei, und Wahlfreiheit wäre auch weiterhin gewährleistet. Ich finde auch Blankens Argument bemerkenswert, wie erst der Vorschlag für einen Tag mit vegetarischem Hauptmenü die irren identity-politics auf der Rechten ausgelöst hat, in denen der Verzehr von Schweinefleisch plötzlich zum nationalen Monument geriert und unablässig für die deutsche Leitkultur ist. Reaktanz ist eine starke psychologische Kraft.

7) Künftige Wirtschaftspolitik - Die Zukunft liegt links
Wenn man die Liste der ganz großen Wirtschaftsprobleme unserer Zeit durchgeht – von Wohnungsnot bis Reichtumsgefälle -, fällt auf, dass so gut wie keins davon mit den leicht brachialen konservativ-wirtschaftsliberalen Rezepten der vergangenen Jahrzehnte zu lösen sein wird. Also von rechts. Wer all diese Krisen lösen will, braucht etwas anderes als überholte Prinzipien.
  • Gegen die nächste Finanzkrise hilft nicht per se mehr Staat, aber eine deutlich bessere Regulierung: etwa viel höhere Anforderungen an Banken, Eigenkapital zu halten. Da würden auch Finanztransaktionssteuern helfen. Vielleicht auch wieder besser gesteuerte Wechselkurse.
  • Gegen absurd hochschnellende Immobilienpreise braucht es neue Regeln, die das Spekulieren unattraktiv machen – egal, ob die Mietpreisbremse da taugt oder nicht. Im Zweifel auch viel höhere Steuern.
  • Gegen ausgebliebene öffentliche Investitionen hilft, mehr Geld gezielter und effizienter in die Zukunft zu stecken, nicht weniger. Dann braucht man in Zukunft auch weniger Geld dafür, die Schäden zu beheben, die ausgebliebene Investitionen verursacht haben.
  • Gegen abdriftende Regionen hilft womöglich am ehesten, solche Umbrüche viel früher zu erkennen – statt alles immer nur dem Glauben daran zu überlassen, dass der Markt es schon richten wird. Und viel stärker darein zu investieren, dass diejenigen, die darüber ihre Existenz zu verlieren drohen, schnell aufgefangen werden.
Klingt alles furchtbar? Nach viel zu viel Staat? Mag sein. Nur dann müssen halt schlaue Regeln dafür entworfen werden, wann es einzuschreiten gilt – und wie das am besten und effizientesten gelingt. Damit nicht Willkür einzieht. Es hilft ja nichts, wenn das Marktdogma in manchen Dingen einfach zu viel Unsinn anrichtet. Da braucht es eine ganz neue Definition dessen, was der gute Staat wirklich besser machen sollte – und was nicht. Und dazu muss man dann natürlich auch Geld investieren, um hochqualifizierte Kräfte in die Amtsstuben zu bekommen. Ob all das jetzt furchtbar links ist? Na ja, nach dem Zweiten Weltkrieg gab es – auch als Lehre aus dem in den Dreißigerjahren schon einmal gescheiterten, naiven Wirtschaftsliberalismus – einen ziemlich weitgehenden Konsens darüber, dass es etwa für Banken eine strikte Kontrolle braucht, Wechselkurse besser offiziell festzulegen sind (um Spekulation zu stoppen) und nicht überall immer alles dereguliert werden musste. Und damals regierten in Deutschland ja auch keine Linksradikalen, sondern ein gewisser Konrad Adenauer und ein Ludwig Erhard. Damals galt all das eben nicht als links, sondern als vernünftig. Was sich erst ändern sollte, als in den Siebzigerjahren plötzlich wieder Leute ankamen und behaupteten, dass die Welt viel besser sein wird, wenn man (mal wieder) alles Mögliche privatisiert und den Staat abbaut und den Finanzmärkten möglichst freien Lauf lässt. Bis am Ende der kollektiven Gehirnwäsche fast alles als irgendwie links wirkte, was nicht zufälligerweise den Reichen und Wohlhabenden diente – und ein gewisser Gerhard Schröder, Sozi, befand, dass es angeblich keine linke und rechte Politik mehr gebe, sondern nur noch eine richtige. Eine, die in Wahrheit ziemlich weit, sagen wir, rechts war. Höchste Zeit, die Maßstäbe mal wieder zu zurechtzurücken. Um die nächsten großen Katastrophen abzuwenden. Ob das jetzt links heißt oder nicht. Und egal, ob mit oder ohne Sahra und Oskar. (Wirtschaftswunder)
Während ich dem Artikel zustimmen würde, dass die richtigen Lösungen für die wirtschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit definitiv links liegen (oh Wunder), so sehe ich "die Zukunft" leider ganz und gar nicht dort. Ich kann aktuell nicht auch nur den zartesten Sahmen dafür ausmachen, dass diese Wirtschaftspolitiken künftig die Agenda bestimmen könnten. Die einzige Partei, die wenigstens Teile davon vertritt ist die LINKE, und die streitet lieber darüber, warum russische Agenten voll im Recht sind, wenn sie Abweichler in anderen Staaten vergiften, warum die Krim schon immer russisch war oder ob man nicht viel lieber die Flüchtlinge rauswerfen sollte, um endlich Friedenspolitik gegen die USA zu machen - oder so ähnlich.

8) Festung Europa: Es wird Zeit für ein anderes Bild
Die Reformen im Umgang mit prekärer Migra­tion sind typi­scher­weise nicht blosse Nach­jus­tie­rungen oder Anpas­sungen, sondern Para­dig­men­wechsel, wenn auch Wechsel inner­halb des über­ge­ord­neten Para­digmas, dass Migra­tion abge­wehrt werden müsse. Zunächst wurde der Zugang zum Arbeits­markt für Asyl­su­chende möglichst lange abge­schottet. Das hat sich als Fiasko erwiesen. Dann wurden Asyl­su­chende immer stärker an der Peri­pherie der Gesell­schaft, an möglichst entle­genen Orten unter­ge­bracht. Das hat sich als aufwen­dige Schi­kane heraus­ge­stellt. Dann wurden die Gründe für ein Nicht­ein­treten auf ein Asyl­ge­such stetig ausge­baut, soweit, bis die Frage, ob auf ein Gesuch einge­treten werden könne, fast ebenso kompli­ziert zu beant­worten war, wie das Gesuch selbst, weshalb auch diese Politik abge­bro­chen und durch möglichst rasche Verfahren, verbunden mit einem leis­tungs­fä­higen Repres­si­ons­dis­po­sitiv, ersetzt worden ist. Dieses wird mitt­ler­weile seiner­seits wieder über­la­gert von der Idee, Migra­tion möglichst vor Ort abzu­fangen und das Ersu­chen um Asyl möglichst zu erschweren, indem die Stellen, an denen dies möglich ist, sich weiter hinter Gelände und Zäune zurück­ziehen. Keiner dieser Para­dig­men­wechsel ist anti­zi­pie­rende Gestal­tung. Alle sind der Versuch einer Reak­tion auf einem Feld, das von anderen, von Migrie­renden oder ihren Herkunfts­staaten, aufgetan wurde. [...] so ist die Idee von Zentren ausser­halb Europas auch deshalb unrea­lis­tisch, weil sie die Notwen­dig­keit von sehr viel Infra­struktur und Personal mit sich bringt, das entlang eines sehr weit­läufig gewor­denen Aussen­rings unter prekären Bedin­gungen eine freud- und frucht­lose Arbeit leisten müsste. Es ist spätes­tens dieser Moment (nach huma­ni­tären Gesichts­punkten wäre der Moment schon viel früher gekommen), an dem die Stra­tegie der Festung grund­sätz­lich hinter­fragt werden muss; wo die Frage erlaubt sein muss, ob an der Idee, Migra­tion grund­sätz­lich abwehren zu wollen nicht etwas grund­le­gend verkehrt sei. Aber die Meta­pher von der Festung erschwert es, diese Grund­satz­frage zu stellen. [...] Es ist wichtig, regu­la­to­ri­sche Tech­niken zu erör­tern, mit denen Migra­tion möglichst huma­nitär und möglichst klug allmäh­lich libe­ra­li­siert werden könnte. Aber noch wich­tiger – weil dieser tech­ni­schen Lösungs­suche vorge­la­gert – ist der Mut und die Bereit­schaft, sich vom Tunnel­blick zu eman­zi­pieren, der inner­halb der Festung unbe­merkt den Blick verengt. Es braucht die Bereit­schaft, eine Welt zu denken, in der Migra­tion grund­sätz­lich erlaubt ist und nur noch ausnahms­weise verboten. Es braucht den Mut, sich auf eine Zukunft einzu­lassen, in der Migra­tion sich aus struk­tu­rellen Gründen zuneh­mend staat­li­cher Kontrolle entwinden wird. Haben wir uns damit einmal abge­funden, werden viele mensch­liche Härten und Grau­sam­keiten, die wir heute hinzu­nehmen bereit sind, nicht mehr vertretbar sein. Sie sind nur vor dem Hinter­grund einer Festungs-, Dammbruch- und Rück­ge­win­nungs­logik erklärbar. (Geschichte der Gegenwart)
Die Sprache bestimmt das Bewusstsein. Abgesehen davon, dass "Festung Europa" ohnehin ein nationalsozialistisch vorbelasteter Begriff ist, hat die Argumentation des obigen Artikels einen großen Erkenntnisgehalt: Wer in diesen Begriffen denkt, der denkt kaum lösungsorientiert. Sich einzugraben und auf Abwehr zu setzen hat dazu noch selten irgendwelche Probleme gelöst. Selbst die mittelalterlichen Burgen, die da in Metaphern gerne bemüht werden, dienten als temporäre Zufluchtsorte vor plündernden Horden, bevor Entsatz - eine reichlich mobile Lösung - eintreffen konnte. Doch die Vertreter dieser Lösung verlassen sich darauf, dass das Problem schon weiterziehen werde, wenn man nur die Türen schließt. Das aber ist noch nie passiert. Ich weiß nicht, was genau die Lösung sein könnte, aber genau deswegen braucht es eine Diskussion, in der Lösungen diskutiert werden statt nur Abwehrreaktionen.

 9) Brett Kavanaugh is a man the right can get behind
Any number of grub-like Yale jurist-ghouls with diamond-edged ‘80s-dad hair and uniformly right-wing ideas about constitutional law could get confirmed to fill the Supreme Court’s vacant ninth seat, and once in that seat could be counted upon to plagiarize Anton Chigurh dialog into incumbent legal precedence for the next three decades. The earth contains no shortage of these. And so, in the aftermath of the discovery that Brett Kavanaugh, the one Donald Trump happened to nominate for the gig, quite likely attempted to rape a 15-year-old girl in the summer of 1982 (and, perhaps less important though no less relevant, almost certainly lied to the Senate about the use of stolen materials to aid George W. Bush’s judicial nominees) and has been living comfortably with this fact about himself for the ensuing 36 years, it should be easy enough to withdraw his nomination and move along to the next crypto-Nazi cottage cheese sculpture in the pipeline. He’d breeze through confirmation, whoever he was: You could pretty much count on the Senate Judiciary Committee’s terminally third-brained centrist Democrats lining up to play themselves. And that would be a success, theoretically: A new, arch-conservative Supreme Court justice, possibly even one not tainted by a credible accusation that he once tried to rape a child. But that would not be enough. It has to be this guy. It has to be this guy now more than ever. It has to be this guy, now, because he has been accused, credibly, of attempting to rape a 15-year-old girl in 1982—moreover because people believe this should be considered a disqualifying blight on his record. The thing that must happen is that those people must be defeated. That is the whole point. What must be shown to the whole world is that this, even this, cannot stop him. The bigger the outrage that can be brushed aside, the more thorough the defeat for the people who thought something, anything, might take precedence over this white man being the pick of another white man. And so, in a single whirlwind week—or maybe less, time moves weird in the hell dimension and it’s easy to lose track—the Republican party and its mouthpieces have been happy bordering on gleeful to shuffle through increasingly absurd and contradictory defenses of Kavanaugh. [...] The important thing to note is: Nobody, nobody, believes a single one of these defenses, most likely not even the people offering them. Believing any of them would defeat the point of the exercise, which is to demonstrate that it doesn’t matter, to put this son of a bitch across with a completely unhidden sneer, to say all but explicitly We know he did this, you know he did this, everyone knows he did this, and you couldn’t stop us anyway. The wild variety and complete inconsistency of all these defenses aren’t bugs; they’re features. [...] But first, the thing to do is to describe it accurately. When they eventually ram Kavanaugh through, and they will, it won’t be despite all of this. It will be because of it. (The Concourse)
Weil ich drei Wochen lang keine Vermischtes geschrieben habe, ist dieser Artikel mittlerweile ebenfalls ein bisschen veraltet. In dem Fall ist das klasse, weil die Voraussagen genauso eingetroffen sind. Das ganze Drama um die Nominierung Brett Kavanaughs ist eine einzige Übung in rechten identity-politics, in denen absurder- und perverserweise gerade die Tatsache, dass Kavanaugh Vorwürfen von sexueller Gewalt ausgesetzt ist seine Nominierung wahrscheinlicher macht. Die Mechaniken, die da bei den Republicans mittlerweile ablaufen, sind nur noch abstoßend und toxisch. In einem seltenen Fall der korrekten Anwendung von Bothsiderism wird darauf hingewiesen, dass die Polarisierung der Supreme-Court-Nominierung auch von den Democrats massiv vorangetrieben wird. Das ist korrekt, und ich denke es ist wichtig festzustellen, dass dies bei der letzten Nominierung - als Neill Gorsuch den gestohlenen Sitz Antonin Scalias bekam - dezidiert nicht geschah, weil Gorsuch zwar ein politischer Gegner war, aber eben nicht offene Flanken wie Kavanaugh aufwies, weswegen auch einige Red-State-Democrats für ihn stimmten. Mit Kavanaug aber haben die Republicans jemanden aufgestellt, der unabhängig von politischen Positionen inakzeptabel ist. Mit demselben Fehler haben sie bereits einen Senatssitz in Alabama verloren. Es könnte ihnen auch hier einiges kosten. Dazu kommt, dass der Nominierungskampf für die Democrats eine Gelegenheit ist, den Geist von Anita Hill auszutreiben, der seit längerem über der Partei schwebt, was sicherlich zu dem Fervor beiträgt, mit dem sich die Parteibasis gegen Kavanaugh stellt und ihre Senatoren auf Linie zwingt.

10) Polarization in Poland - The worst is yet to come
This is not 1937. Nevertheless, a parallel transformation is taking place in my own time, in the Europe that I inhabit and in Poland, a country whose citizenship I have acquired. And it is taking place without the excuse of an economic crisis of the kind Europe suffered in the 1930s. Poland’s economy has been the most consistently successful in Europe over the past quarter century. Even after the global financial collapse in 2008, the country saw no recession. What’s more, the refugee wave that has hit other European countries has not been felt here at all. There are no migrant camps, and there is no Islamist terrorism, or terrorism of any kind. More important, though the people I am writing about here, the nativist ideologues, are perhaps not all as successful as they would like to be (about which more in a minute), they are not poor and rural, they are not in any sense victims of the political transition, and they are not an impoverished underclass. On the contrary, they are educated, they speak foreign languages, and they travel abroad—just like Sebastian’s friends in the 1930s. What has caused this transformation? Were some of our friends always closet authoritarians? Or have the people with whom we clinked glasses in the first minutes of the new millennium somehow changed over the subsequent two decades? My answer is a complicated one, because I think the explanation is universal. Given the right conditions, any society can turn against democracy. Indeed, if history is anything to go by, all societies eventually will. [...] By contrast, the polarizing political movements of 21st-century Europe demand much less of their adherents. They don’t require belief in a full-blown ideology, and thus they don’t require violence or terror police. They don’t force people to believe that black is white, war is peace, and state farms have achieved 1,000 percent of their planned production. Most of them don’t deploy propaganda that conflicts with everyday reality. And yet all of them depend, if not on a Big Lie, then on what the historian Timothy Snyder once told me should be called the Medium-Size Lie, or perhaps a clutch of Medium-Size Lies. To put it differently, all of them encourage their followers to engage, at least part of the time, with an alternative reality. Sometimes that alternative reality has developed organically; more often, it’s been carefully formulated, with the help of modern marketing techniques, audience segmentation, and social-media campaigns. (The Atlantic)
Dieser großartige und sehr, sehr lange Artikel (unbedingt Zeit mitbringen zum Lesen, lohnt sich) versucht, den großen Bogen zu spannen und die polnische Autokratisierung in einen breiteren Kontext einzubetten. Ich denke das Argument, dass grundsätzlich jede Demokratie gefährdet gegen diese Art der Übernahme ist, ist absolut richtig. Die Folge ist, dass das korrekte Analysieren der Mechanismen, die zu dem Abrutschen in den Autoritarismus führen, von entscheidender Bedeutung ist, weil man nur dann vernünftige Gegenmaßnahmen ergreifen kann. Diese Idee setzt natürlich voraus, dass es so etwas wie vernünftige Gegenmaßnahmen überhaupt gibt, und dass sie jenseits der chaotischen gesellschaftlichen Änderungsprozesse überhaupt durchsetzbar sind. 
 
11) Warum der Hambacher Forst nicht Chemnitz ist
Auf eines kann man sich verlassen: Hetzt in Deutschland der rechte Mob, werden Menschen von Neonazis mit dem Tode bedroht, melden sich früher oder später Extremismusforscher zu Wort und mahnen, man dürfe aber auch die linksextreme Gewalt nicht vergessen. Diese werde in der Bundesrepublik nämlich unter-, die rechte hingegen überschätzt. [...] Die Frage ist, warum die mahnenden Stimmen gerade dann besonders laut werden, wenn die Öffentlichkeit über rechte Gewalt erschrickt - wenn auf der Straße sichtbar wird, wie sich aggressiver völkischer Nationalismus Raum nimmt? Was sind das für Menschen, die ausgerechnet dann über linksextreme Gewalt sprechen wollen? Eckhard Jesse, Jahrgang 1948, hatte bis vor vier Jahren einen Lehrstuhl an der TU Chemnitz inne. Er glaubt an starke Gemeinsamkeiten zwischen Rechts- und Linksextremismus. Dass ihre Vertreter "einerseits weit voneinander entfernt und andererseits dicht benachbart sind, wie die Enden eines Hufeisens". Er hat sich das mit dem Hufeisen selbst ausgedacht, die wissenschaftliche Kritik daran ist vielfältig, grundlegend und massiv. Doch seine Expertise wird auch geschätzt, zum Beispiel vom Verfassungsschutz. Zur Vorgehensweise von Experten wie Eckhard Jesse gehört es, dass sie beteuern, Links- und Rechtsextremismus nicht miteinander gleichsetzen zu wollen, um dann genau das ausgiebig zu tun. In seinem Tagesspiegel-Beitrag hat Jesse die Taten von Chemnitz in einem Satz abgehandelt, um dann mit sechs Mal so vielen Worten die der Umweltaktivisten anzuprangern. Er beschreibt, wie sich "teilweise angekettete" Aktivisten in rechtswidrig entstandenen Baumhäusern verschanzten, wie Polizisten mit Fäkalien beworfen wurden. Und er kommt eben nicht zu dem Schluss, dass ein Vergehen schwerer wiegt als das andere. Dass Fäkalienwürfe zwar eklig und dumm sind, aber nicht mit Morddrohungen und Übergriffen gegen Andersdenkende und Journalisten vergleichbar sind. Jesse lässt alles gleichwertig nebeneinander stehen. Genau das ist Gleichsetzung. (Tagesspiegel)
Auch hier werden absolut richtige und notwendige Beobachtungen ausgesprochen, die zu der in Fundstück 5 angesprochenen Problematik gehören. Die Gleichsetzung von Phänomenen, die sich nicht gleichsetzen lassen, gehört zu den zerstörerischsten Trends unserer Tage. Während des großen RAF-Terrors in den 1970er Jahren war schließlich auch nicht die opportune Zeit, um in epischer Breite das NS-Erbe der CDU zu diskutieren (wurde bestimmt auch gemacht, aber meines Wissens nach nicht so prominent wie heute die gegenteilige Entwicklung). Man stelle sich vor, die Ermordung Schleyers mit "ja schon schlimm, aber schaut mal an, wer beim CDU-Landesverband Vorsitzender ist" zu kommentieren. Das ist aber letztlich das, was hier passiert. Und dadurch wird der Diskurs verschoben. Mein Beispiel hätte linksextreme Gewalt legitimiert, weil die anderen ja auch irgendwie Dreck am Stecken haben. Das hat die SPD aber nie getan. Auf der anderen Seite sollte nicht Nazi-Gewalt in Sachsen legitimiert werden, und schon gar nicht von Organen wie dem Verfassungsschutz. Dass es trotzdem geschieht, ist ein Zeichen für strukturelle Probleme.
 

Donnerstag, 27. September 2018

Sarrazin und Sasse debattieren Straßenführung, Arbeitsrecht und Integrationspolitik in Indien - Vermischtes 27.09.2018

Die Serie "Vermischtes" stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Ein Kannibale in Nadelstreifen
Ich sage es gleich vorab: Ich habe Sarrazins neuen Schmöker nicht gelesen und habe es auch nicht vor. Obwohl es dann sofort heißen wird, man dürfe sich kein Urteil erlauben. Ich habe auch „Mein Kampf“ nicht gelesen und weiß doch so ungefähr, um was es geht. Ich betrachte diesen Lesebefehl als eine Art Vergewaltigung wie beim „German Chair“ – eine Foltermethode, die ehemalige Nazis für die Assads ersonnen haben: Man muss stundenlang Marschmusik hören, nur damit man hinterher an einem Musikseminar teilnehmen darf. Warum sollte ich das tun? [...] Houellebecq ist Literatur, Sarrazin ist Seminar. Ein Buchhalter, der mit ermüdend endlosen Zahlen sein Mantra von der islamischen Invasion verkündet. Er ist ein One-Trick-Pony. Wie bei einer Schallplatte, die irgendwo zwischen 33 und 45 (rpm!) hängengeblieben ist, wiederholt er in faszinierender Unbeirrbarkeit seine Gebetsformeln. Dabei so treffsicher wie ein Wanderprediger, der seit 10 Jahren den Weltuntergang vorhersagt. Variationen? Nicht vorgesehen! Seine Thesen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Der Islam duldet keine andere Gesellschaftsform neben sich, er vermehrt sich dominant-rezessiv und er wird uns auch im Westen irgendwann demographisch erledigen – einfach weil die islamische Mutter mehr Kinder in die Welt setzt als die christliche. Der Islam wird in zwei bis drei Generationen die westlichen Gesellschaften „auffressen“. Das hat er wirklich so gesagt! Wir nennen sie wegen des genannten Zeitfaktors der Einfachheit halber die Drei-Generationen-Theorie. Und da mich das Buch und sein Anlagenapparat nicht interessieren, beschränke ich mich nur auf diese These. (Salonkolumnisten)
Das Faszinierende daran, dass dieser Artikel mit deutlicher Verspätung erscheint (sorry dafür) ist, dass in den drei Wochen seit ich ihn hier eingespeichert habe die Diskussion völlig über Sarrazin drüber gegangen ist. Der verquaste Käse, der er produziert, hat kurz die eingepreiste Erregung produziert, aber der Aufstand der Anständigen hat anders als 2011 deutlich geholfen. Das Ding ist schnell in der Versenkung verschwunden und wurde nicht wieder atemlos diskutiert, als ob Sarrazin ein ernstzunehmender Denker wäre, der irgendwelche tiefen Wahrheiten über Deutschland ausspricht. Das zeigt auch mal wieder, dass diese miesen Bücher ohne starkes Pushen durch BILD und Co keine Chance haben, dermaßen die Agenda zu bestimmen. Äußerungen wie die der "Hart aber fair"-Redaktion, man betreibe kein Agenda-Setting, sind vor diesem Hintergrund noch hohler als ohnehin. Ich hoffe, dass das nun das letzte ist, was wir vom graumelierten Schnurrbartträger zu hören bekommen. Es gibt eh keinen Mangel an solchen Leuten da draußen. Hat eigentlich einer mal wieder von Buschkowsky gehört? Der kann gleich in das Loch hinterherspringen, in dem Sarrazin sitzt.

2) Es darf kein privates Eigentum an Baugrund mehr geben
Das größte Problem ist, dass Immobilien und damit in Summe auch Stadtentwicklung, kurz: all unsere gebaute Umwelt, zunehmend aus der Sicht der Finanzinvestoren gehandhabt werden. Grund und Boden sowie die Gebäude darauf haben wichtige Funktionen im Finanzsystem. Dort werden die Schulden gemacht und untergebracht, die erforderlich sind, um auf der anderen Seite Unmenge an Guthaben zu erzeugen. Was in den Häusern oder mit einem ganzen Stadtgefüge passiert, hat nur noch sekundäre Bedeutung. Aber es ist offensichtlich ein Bewusstseinswandel im Gange, für den ich den Durchbruch erhoffe: Wohnen als Infrastruktur der Stadt zu verstehen. [...] Nicht die Lösung, aber eine Voraussetzung dafür: Boden und Wohnen dürfen keine Ware sein. Es darf kein privates Eigentum mehr an Baugrund geben, sondern nur noch die Nutzung davon. Das funktioniert durch die Vergabe eines Grundstücks mit einem Erbbaurecht. Denn damit werden Boden und Haus in zwei Eigentumspositionen aufgeteilt. Die Kommune bleibt Eigentümerin des Bodens und vergibt das Recht, ein bestimmtes Haus dort zu bauen. So wie heute mit Planungs- und Baurecht etwa der Neigungswinkel eines Daches durchgesetzt werden kann, würde das Erbbaurecht finanzielle und soziale Aspekte des Wohnens regeln und sichern. Das besonders Schöne an Erbbaurechten ist, dass sich für Bebauungsmöglichkeiten, die günstiges Wohnen verlangen, nur noch solche Bauherren interessieren, die die gleichen Interessen verfolgen, nämlich kommunale Wohnungsbaugesellschaften sowie Selbstnutzer und Genossenschaften. (SZ)
Nicht dass es die geringste Chance auf Umsetzung für diese Maßnahmen gäbe, aber tatsächlich ist Besitz privaten Baugrunds natürlich ein treibender Faktor in kommunalem Stillstand. Im Schnitt haben Besitzer deutlich größeres Interesse an Kommunalpolitik - je mehr Boden sie besitzen, desto mehr. Am übelsten sind deswegen die großen Bauernfamilien, wenn sie den Gemeinderat dominieren und die Baupolitik der Gemeinde nicht nur blockieren, weil kein Haus andere Dachziegel haben darf als das eigene und die eigene Adresse doch bitte eine Sackgasse bleiben soll, sondern auch, weil sie mafiöse Absprachen zur Freigabe neuen Baugrunds mit maximaler Preissetzung treffen. Ich hatte darüber in "Dereguliert die Äcker!" schon mal geschrieben. Dazu kommt, dass der weit verbreitete Immobilienbesitz zwar für das Individuum häufig gewinnbringend, gesamtwirtschaftlich aber ineffizient ist. Nicht ohne Grund sind Wachstumszentren häufig Gegenden, in denen der Anteil der Mieter sehr hoch ist. Ich spreche da ja durchaus aus Erfahrung. Auch Widerstand gegen Flüchtlings- oder Obdachlosenheime ist erwartungsgemäß von den Immobilienbesitzern deutluch stärker. Auf der anderen Seite sind solche Menschen natürlich auch auf andere Art gesellschaftsstabilisierend. Ihre geringe Flexibilität sorgt dafür, dass sie sich Deregulierungen im Arbeitsrecht eher entgegenstellen als Mietnomaden und ein Interesse an verlässlichen, guten Jobs haben - und natürlich an guten Inflationsraten, die ja auch Wachstumstreiber sind.

3) Straßen müssen mehr sein als reine Transportwege für Autos
Immer noch wollen zu viele Menschen ein eigenes Auto. In unserer westlichen Gesellschaft, aber auch in Entwicklungsländern gilt das immer noch als Statussymbol. Aber so viele Autos passen gar nicht in die Stadt. Zum Glück findet in Großstädten, aber auch bei der heranwachsenden Generation langsam ein Umdenken statt. Wir brauchen flexiblere Transportsysteme. Mir schwebt ein Mix aus Car Sharing, öffentlichem Nahverkehr und Fahrrädern vor. Je weniger Platz wir Autos auf den Straßen einräumen, desto eher verwenden die Menschen öffentliche Verkehrsmittel oder Fahrräder als Alternative. Und den frei gewordenen Platz kann man begrünen und so mehr öffentlichen Raum schaffen. Abgesehen davon, dass wir uns aus gesundheitlichen Gründen eh mehr bewegen sollten, müssen wir uns gut überlegen, wie wir Straßen und Wege künftig gestalten wollen. Die simpelste ist sicherlich, Fahrradwege zu bauen. Aber wenn es experimenteller sein darf, denke ich an vielfältig gestaltete Straßen. Je nach Tages- oder sogar Jahreszeit kann eine Straße ganz unterschiedliche Anforderungen erfüllen. Man könnte sie zur Rush Hour mit zwei Fahrspuren für Autos öffnen, tagsüber dann aber eine Spur für Fahrräder reservieren - und am Wochenende vielleicht ganz für den Verkehr sperren, damit Kinder dort spielen können. Zur Weihnachtszeit flankiert man die Straßen mit Verkaufsbuden - früher wurde ja auch auf der Straße gehandelt und geredet. Auf diese Weise wird die Straße selbst zu einem öffentlichen Ort. Mobilität soll ja die Freiheit des Einzelnen garantieren - dieses Motto kann man ganz neu begreifen. (SZ)
Die Artikelserie zur Stadtplanung in der SZ ist wahrlich interessant. Anders als die massenhafte Enteignung der Immobilienbesitzer haben die hier vorgeschlagenen Ideen einen Hauch von Realisierungschance. Städte wie Amsterdam oder Krakau machen bereits vor, dass Stadtkerne autofrei gestaltet werden können (und sollten), und flexiblere Einsatzmöglichkeiten wie die hier vorgeschlagenen könnten durchaus auch helfen, die Städte lebenswerter zu gestalten. Ich denke auch weiterhin, dass das selbstfahrende Auto uns hier einen ganz neuen Blick geben kann, flexiblere Nutzungsweisen zu entwickeln.

4) Wenn Integration gelingt, wächst das Konfliktpotenzial
Umso erfrischender liest sich das neue Buch des Integrationsforschers Aladin El-Mafaalani. Mit seinen Thesen stellt er die Endlosdebatte über Islam und Integration gehörig auf den Kopf, indem er einen Blick in die Vergangenheit wirft und einordnet, und das besonnen und durchweg anschaulich. In "Das Integrationsparadox" lautet der Tenor: Niemand hat gesagt, dass es einfach wird, aber Deutschland ist auf einem guten Weg zur offenen Gesellschaft. Gelungene Integration erhöhe nun mal das Konfliktpotenzial - immerhin entstehen die Konflikte deshalb, weil zwei Seiten, die vorher nichts miteinander zu tun hatten, nun miteinander sprechen. Ein Fortschritt also. El-Mafaalani geht sogar noch ein Stück weiter, er schreibt: "Was in 25 Jahren passiert ist, rechtfertigt es, von einem neuen Jahrtausend zu sprechen." Und er erklärt auch, wie er auf diese steil anmutende These kommt. Immerhin ist derzeit von der Spaltung der Gesellschaft die Rede, über Integration wird oft laut, böse und nicht selten mit Halbwissen diskutiert. Gefühlt jeden Sommer wird der Burkini zum Sinnbild gescheiterter Integration stilisiert und jeden Winter muss der Wintermarkt alias Weihnachtsmarkt für das Sinnbild der schleichenden Islamisierung herhalten - auch wenn nie wirklich jemand weiß, wer noch mal für die Einführung des "Wintermarkts" war. Sind diese Endlosdebatten also sinnvoll, ja, vielleicht sogar integrationsfördernd? Sie sind zumindest besser als ein "zu schnelles Näherkommen", schreibt El-Mafaalani. Denn das führe zu einem Zusammenprall, dem sogenannten Clash of Civilizations. Das gefühlte Sich-im-Kreis-Drehen sei demnach nichts weiter als der "anstrengende Prozess des Zusammenwachsens einer offenen Gesellschaft", Deutschland befände sich im Prozess des langsameren Näherkommens, das zwar zu Reibungen und Schließungstendenzen führe - was aber nun mal dazugehöre. [SZ)
El-Mafaalani setzt hier einen optimistischen Gegenpunkt auf die aktuellen Debatten, was ich durchaus schätze. Möglicherweise hat er dabei sogar Recht, aber mir scheint ein Faktor hier deutlich unterzugehen: Der Konflikt als solcher ist alles, aber kein Garant einer vernünftigen Lösung. Man sieht diese Argumentation immer wieder, wo Konservative, die sich einer Veränderung in den Weg stellen, damit argumentieren, dass der Wandel schon von selbst käme, wenn man nur nicht darauf bestünde. Diese Argumentationslinie kann man bei der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre in den USA genauso treffen wie bei der von Transsexuellen und ihrem Recht, aufs Klo gehen zu dürfen. Der Streit wird bejammert, und es gäbe ja, wenn man den Bigotten das Feld nur überließe, die Erfolge viel schneller, weil sie dann freiwillig gewährt würden. Dafür aber findet sich kein Beleg in der Geschichte. Fortschritt kommt nicht als Geschenk, er muss erkämpft werden, jeden Tag. Man sollte El-Mafaalani deswegen nicht so lesen als sei der Streit als solcher quasi Performance. Der Streit hat einen offenen Ausgang, und sowohl die Reaktionären als auch die Progressiven, die Konservativen und die weitgehend desinteressierte Mitte können als Sieger herausgehen.

5) Election season in a dangerous democracy
Last Thursday’s morning papers in India settled something that we have been debating for a while. A front-page report about the arrests of five political activists in The Indian Express read, “Those held part of anti-fascist plot to overthrow govt, Pune police tell court.” We should know by now that we are up against a regime that its own police calls fascist. In the India of today, to belong to a minority is a crime. To be murdered is a crime. To be lynched is a crime. To be poor is a crime. To defend the poor is to plot to overthrow the government.  When the Maharashtra state police conducted simultaneous raids on the homes of several well-known activists, poets, lawyers, and priests across the country, and arrested five people—three high-profile civil rights defenders and two lawyers—on ludicrous charges, with little or no paperwork, the government would have known that it was stirring up outrage. It would have already taken all our reactions into account, including all the protests that have taken place across the country, before it made this move. So why has this happened? Recent analyses of actual voter data, as well the Lokniti-CSDS-ABP Mood of the Nation survey, have shown that the ruling Bharatiya Janata Party (BJP) and Prime Minister Narendra Modi are losing popularity at an alarming (for them) pace. This means that we are entering dangerous times. There will be ruthless and continuous attempts to divert attention away from the reasons for this loss of popularity, and to fracture the growing solidarity of the opposition. It will be a constant circus from now until the elections in 2019—arrests, assassinations, lynchings, bomb attacks, false flag attacks, riots, pogroms. We have learned to connect the season of elections with the onset of all kinds of violence. Divide and rule, yes. But add to that—divert and rule. From now until the elections, we will not know when, and where, and how the fireball will fall on us, and what the nature of that fireball will be. (New York Times)
Es ist in jedem Land dasselbe. Getragen von einer Welle der Unzufriedenheit wird ein rechter Populist ins Amt getragen. Wenig verwunderlich ist die simple Analyse genauso wenig tragfähig wie die noch simpleren Rezepte dagegen. Desillusionierung macht sich breit, und der rechte Neu-Autokrat verlässt sich vollends auf das Standbein der identity-politics, peitscht die Atmosphäre in ein "Wir gegen sie" auf. Das reicht nicht, weswegen zuerst verdeckte, dann offene Repression beginnt, um die schwindende Mehrheit zu erhalten. Indien macht da keine Ausnahme, und das Land, das die weltweit größte Demokratie darstellt, ist in seinem Abrutschen eine ganz andere Dimension als etwa Ungarn. Die Entfernung und vergleichsweise geringe wirtschaftliche Bedeutung des Subkontinents sorgen dafür, dass er in hiesigen Überlegungen keine große Rolle spielt. Man sollte aber nie vergessen, dass sowohl Indien als auch sein nicht gerade durch stabile politische Verhältnisse berühmter Nachbar Pakistan über Atomwaffen verfügen. Dass auf diesem Feld bisher noch nie eine Katastrophe passiert ist bedeutet nicht, dass es auch künftig keine geben wird. Man sollte daher ein Auge auf den Entwicklungen in Indien haben.

 6) Deradicalizing white people
I have lost count of how many times I have been asked as a Muslim, “Where are the moderate Muslims and how come they aren’t combating extremism?” Well, I am at least a visible moderate Muslim, so allow me to ask: Where are the moderate whites, and what are they doing to combat extremism? Picciolini believes it’s a fair question. He urges “moderate whites” to be allies with people of color, to learn how to use white privilege to help minorities, and to stop trying to hide the problem of white violent extremism under the rug. For her part, Belew advocates putting resources into helping Americans understand the white power network as a “social movement,” and widespread education for law enforcement and government—especially the branches involved in surveillance and enforcement, but also prosecutors and judges. Humera Khan thinks early intervention in the school system is necessary; she believes it’ll take a coalition of fellow students, teachers, and community members to help kids who might be vulnerable to white power indoctrination. Clergy have a part to play, says Mubin Shaikh, especially in Evangelical Christian communities; they could be more aware and proactive in reaching out to people in their community whom they feel are slipping away. After all, this is exactly what’s been asked of Muslim-American communities since 2001. (New York Times)
Die in diesem Artikel aufgeworfenen Forderungen und Vorschläge sind mehr als nur eine konträre Spielerei, die ironisch die häufigen Aufforderungen an PoC zur Zurückweisung von Extremisten brechen. Tatsächlich ist das Schweigen der weißen Mehrheitsgesellschaft ein entscheidender Problemfaktor im Rahmen der allgegenwärtigen Radikalisierung nach rechts. Anstatt diese Radikalisierung einfach gewähren zu lassen, das Overton-Fenster beständig zu verschieben und unwidersprochen rassistisches Gedankengut stehen zu lassen und damit zu legitimieren, müssen gerade die nicht betroffenen Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft ihre Opposition deutlich machen. Andernfalls bleibt das Lieblings-Narrativ aller Rechtspopulisten für ihre eigene Legitimation - dass man die "schweigende" Bevölkerungsmehrheit vertrete - unwidersprochen und damit durch die normative Kraft des Faktischen irgendwann wahr.

7) NATO and the myth of the liberal world order
Behind Trump’s bullying and bluster, though, the core message he delivered in Brussels was not that different from those given by previous administrations. Indeed, the same kvetches have recurred under every US government, Democrat and Republican alike, since the end of World War II. Even before NATO was founded in 1949, there were disagreements between the US and UK over how to divide the burden of the postwar transatlantic security architecture; Wallace Thies, in his 2002 book on NATO, Friendly Rivals, dubbed it “an argument even older than the alliance itself.” Eisenhower grumbled to his national security team in 1958 that “we should ask the European governments to what extent they intend to continue leaning on the US.” Kennedy insisted at a National Security Council meeting in 1963 that “we cannot continue to pay for the military protection of Europe while the NATO states are not paying their fair share and living off the fat of the land.” Nixon’s Under Secretary of State Elliot Richardson reiterated the message in 1970, saying, “The United States believes that our European allies can and should do more.” In 1977, Carter, too, called for a significant upgrading of NATO capabilities, and set the other members a target for military spending of 3 percent of GDP. Even as Reagan massively increased US military spending, the 1985 National Defense Authorization Act repeated the appeal to NATO allies to hike their own expenditures. NATO summits under Clinton and George W. Bush likewise involved regular exhortations to allies to finally meet the targets that had previously been agreed on. At the 2002 Prague summit, for example, Bush extracted a verbal promise from the other members to increase their military spending to at least 2 percent of GDP (they had almost all fallen well short of the 3 percent target set in 1977). But it was only under Obama, at the Wales summit in 2014, that this was formalized in an official agreement signed by all member states, specifying a deadline of 2024. (New York Times)
Ich denke die historische Perspektive, die in diesem sehr lesenswerten Artikel zur Geltung kommt, hilft der Relativierung der aktuellen Krise im europäisch-amerikanischen Verhältnis. Ich halte es zwar für korrekt anzunehmen, dass die Trump-Administration bleibenden Schaden hinterlassen wird; dieser ist aber nicht so lebensbedrohlich, wie das aktuell aussehen mag. Die Beschwerden, die Trump gerade mit Verve vorträgt, sind genauso wenig neu wie die europäische Reaktion der (verbalen) Erfüllung dieser Forderungen, die Trump-Anhänger als Monstranz vor sich hertragen. Die wahre Gefahr für die NATO und die transatlantischen Beziehungen ist daher weniger der hoch öffentliche Streit um die Verteidigungshaushalte, sondern um die Frage, ob die Partner ihre Verpflichtungen einhalten werden. Und hier sorgt Trump aktuell für große Unsicherheit, die destabilisierend wirken kann. Die zweite große Gefahr, die nicht davon ausgeht, sind Spaltungsversuche durch Russland, das natürlich die NATO gerne zerfallen sehen würde. In beiden Prozessen ist Deutschland nicht unbeteiligt; an seiner Bündnistreue (und -effektivität) im Ernstfall werden zurecht Zweifel gehegt, und seine schwankende Haltung gegenüber Russland hilft für eine geeinte Front so wenig wie die Trumps).

8) "Die 60-Stunden-Woche ist völliger Quatsch"
In Österreich könnte der Arbeitsmarkt schon bald flexibilisiert werden. Die Regierung aus ÖVP und FPÖ möchte ein Gesetz zur Arbeitszeitflexibilisierung auf den Weg bringen, um den 12-Stunden-Tag und die 60-Stunden-Woche zu ermöglichen. [...] "Nicht einmal jeder Zweite ist bei uns heute mit seinem Arbeitszeitumfang zufrieden. Jeder Dritte möchte weniger arbeiten als bisher. Gleichzeitig wollen die meisten Beschäftigten mehr Selbstbestimmung, wenn es um die Arbeitszeit geht", sagt Beate Müller-Gemmeke, Sprecherin für Arbeitnehmerrechte der Grünen-Fraktion im Bundestag, gegenüber t-online.de. "Die 60 Stunden Woche ist völliger Quatsch! Wer sich im 21. Jahrhundert und in Zeiten der Digitalisierung für eine Verlängerung der Arbeitszeiten ausspricht, verkennt die Realität. Es geht nicht um mehr Arbeitsstunden, sondern um weniger." [...] "Heutzutage gibt es die Möglichkeit, sich ab 15 Uhr um die Kinder zu kümmern und wenn diese im Bett sind, noch kurz ein paar E-Mails zu bearbeiten", sagt Michael Theurer, stellvertretender Vorsitzender der FDP-Fraktion im Bundestag, gegenüber t-online.de. "Notwendig ist also zweifelsohne die Flexibilisierung des Arbeitszeitgesetzes, damit die Menschen selbst entscheiden können, wann sie wie und von wo arbeiten." Die FDP fordert mehr Flexibilität und bereits im März brachte man den Gesetzentwurf zu einer 48-Stunden-Woche im Bundestag ein. Dies würde laut den liberalen auch den Arbeitnehmern zu Gute kommen. "Am Gesetzgeber sollte die Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht scheitern", meint Theurer. [...] Die Vorstöße bei dem Arbeitszeitgesetz sehen insbesondere Gewerkschaften kritisch. "Mit dem 12-Stunden-Tag ist die Koalition in Österreich komplett auf dem Holzweg, auch wenn sie Freiwilligkeit proklamiert. Wie frei ist ein Arbeitnehmer, wenn Mobbing oder Kündigung die Alternative zu Mehrarbeit sind?", sagt Annelie Buntenbach, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes, t-online.de. "Arbeitszeit muss eine Grenze haben und zwar verbindlich per Gesetz, damit die Gesundheit der Beschäftigten geschützt wird." (T-Online)
Ich bin da wenig überraschend bei den Kritikern der Initiative. Nicht, weil Flexibilisierung der Arbeitszeiten grundlegend falsch wäre. Der Argumentation der FDP stimme ich grundsätzlich zu. Meine Skepsis ist bezüglich der Freiwilligkeit. In dem Moment, wo die Gesetzesinitiative so kommt wie das hier vorgeschlagen ist, wird die Freiwilligkeit zur Farce, weil der Erhalt (oder das Bekommen) des eigenen Jobs von der Annahme der Arbeitsbedingungen des Arbeitgebers abhängt. Man hat das ja bei jeder Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten gesehen. Ich habe kein Problem mit der Liberalisierung der Arbeitszeiten, wenn auf der anderen Seite verlässliche und wirksame Schutzmechanismen für die Arbeitnehmer bestehen. Die sind aber notwendigerweise mit bürokratischer Einmischung und viel Kontrolle, mehr Beamten und Verletzungsverfahren verbunden - also selbst im günstigsten Fall mit Kosten und Ärger für die Unternehmen, was die Idee, ihnen hier Spielräume zu öffnen, etwas ad absurdum führt. Nicht ohne Grund wurden die Arbeitszeiten ja kategorisch in einigen wenigen Fällen festgelegt (Wochenarbeitszeit, Regeln für Schichtdienste, etc.). Auch eine Liberalisierung der besser verdienenden Berufe (für die die Initiative ja ostentativ ist) leiden unter diesen Problemen. Meine Zustimmung bekommen solche Reformen daher dann, wenn ein entsprechendes Sicherungspaket integriert ist. Und das ist bei den liberalkonservativen Vorschlägen dezidiert nicht der Fall.

9) Früher nannte man das Säuberung
Will die AfD die freiheitlich-demokratische Grundordnung abschaffen? Nein, sagte der AfD-Vorsitzende Gauland in einem am Mittwoch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienenen Interview. Kein vernünftiger Mensch wolle, dass sie „wegmuss“. Nur das politische System müsse weg. Nur das politische System? Auch das ist kein bescheidenes Ziel. Kurt Sontheimer brauchte schon zu jener Zeit, als Gauland noch für den liberalen Flügel der hessischen CDU stand, mehrere hundert Seiten, um nur die „Grundzüge des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland“ zu beschreiben. In keinem Kapitel dieses Standardwerks käme man auf die Idee, die mit dem Grundgesetz errichtete freiheitlich-demokratische Grundordnung ließe sich vom politischen System der Republik trennen. Gauland aber behauptet das. Für ihn muss „das politische System im Sinne des Parteiensystems“ weg. Er meint damit „die Parteien, die uns regieren. Ich kann auch sagen: das System Merkel.“ [...] Doch Gauland will mehr. Es geht ihm nicht nur um Merkel, sondern um „das System Merkel“. Zu ihm rechnet er „eine Menge Leute in der CDU, die ihre Politik fortsetzen wollen“, und generell „diejenigen, die die Politik mittragen, das sind auch Leute aus anderen Parteien und leider auch aus den Medien. Die möchte ich aus der Verantwortung vertreiben.“ Früher nannte man das Säuberung. [...] Seiner Darstellung zufolge ist die AfD eine „urdemokratische Partei“. Die anderen aber nicht? Merkel wurde von ihrer Partei neunmal zur Vorsitzenden gewählt – und viermal vom Deutschen Bundestag zur Kanzlerin; er ist jedes Mal aus allgemeinen, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen. In der SPD gingen dem Beschluss, in von Merkel geführte Regierungen einzutreten, Mitgliederbefragungen voraus. In Artikel 21 Grundgesetz heißt es: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Gauland aber spricht von einem „politischen System, das sich überholt hat“. Vom „System“ sprachen auch die Nationalsozialisten, wenn sie ihre Verachtung der ersten deutschen Demokratie, der Weimarer Republik, deutlich machen wollten. Systemparteien, Systempolitiker, Systemjournalisten – auch der „Lügenpresse“-Vorwurf stammt aus jener Zeit, die für Gauland nur ein „Fliegenschiss“ war. Der Schulterschluss mit den Rechtsradikalen findet nicht nur auf den Straßen von Chemnitz statt. [...] Schwerer verständlich ist, warum die Verleumdung des ganzen „Systems“ keinen Protest bei jenen mehr hervorruft, die noch erkennen können, dass diese Republik bei allen Mängeln, Irrwegen und Versäumnissen die freiheitlichste und demokratischste ist, die es je auf deutschem Boden gab. Weil man nicht ungewollt zu einem Verstärker der AfD-Propaganda werden will, gegen die die „Systemparteien“ immer noch kein Rezept gefunden haben? Oder zeigt sich hier, wie bei Trump, schon ein Gewöhnungseffekt, auf den die AfD ebenfalls setzt? Das wäre gefährlich. Denn ohne Widerspruch können schleichend, aber auch sprunghaft Begriffe neu besetzt und Maßstäbe verschoben werden. Das darf man den Brandstiftern im Biedermann-Sakko nicht durchgehen lassen, die jetzt an vielen Stellen zündeln. (FAZ)
Ich habe immer wieder die Radikalisierung des Diskurses angesprochen, die am rechten Rand der Konservativen stattfindet, und das hier ist ein weiteres Beispiel dafür. Die permanente demokratische Delegitimierung Angela Merkels durch die AfD hat bereits längst Eingang in einst bürgerliche Kreise gefunden. Man nehme als Beispiel nur den ehemaligen FAZ-Kolumnisten Don Alphonso, der dieser Tage auf Twitter einen bayrischen Seperatismus und Auflösung der BRD als einzig möglicher Ausweg forderte, weil der demokratische Prozess nicht ausreiche. Effektive Kritik und Abwehr dieser Radikalisierung kann nur aus der bürgerlichen Mitte kommen, aus der diese Leute ins radikale Spektrum wegbrechen.

10) Warum unfähige Männer so oft in Führungspositionen sind
Vor ein paar Wochen haben wir darüber berichtet, dass immer noch viel zu wenige Frauen in europäischen Aufsichtsräten sitzen, auch wenn die Zahl langsam steigt. Das Ungleichgewicht ist bekannterweise ein Problem, das nicht nur die Aufsichtsräte haben, sondern fast jede höhere Führungs- und Managementebene. Argumente dafür, warum diese Bereiche immer noch so männerdominant sind, gibt es viele. Sie reichen von stark rückständigen und konservativen Meinungen, zum Beispiel dass Frauen einfach nicht für die leitenden Positionen geeignet sind, über das gemäßigte Argument, dass der Großteil der Frauen gar kein Interesse an solchen Positionen hätte bis hin zur viel zitierten und faktisch vorhandenen „gläsernen Decke“.  [...] Der argentinische Psychologe und Sozialwissenschaftler Tomas Chamorro-Premuzic forscht seit vielen Jahren zum Thema Persönlichkeit und Führungskraftkompetenzen. Aus seinen Forschungen hat er eine Theorie entwickelt, die das eigentliche Problem für männerdominierte Führungsebenen in einer tief in uns verankerten Fehlannahme begraben sieht. [...] Überheblichkeit, als Selbstbewusstsein getarnt, wird, das ergaben Chamorro-Premuzics Studien, fälschlicher Weise als Führungsqualität missverstanden. In Gruppen, die noch keine Führungsperson haben, werden oft Personen als Anführer gewählt, die aggressive, selbstbezogene und narzisstische Tendenzen aufweisen. [...] In Führungspositionen sind ganz andere Kompetenzen wichtiger: Bescheidenheit, emotionale Intelligenz, Teamfähigkeit. Attribute, die deutlich mehr Frauen in sich vereinen – die aber auf dem Weg nach oben nicht gefragt sind. Es sind also nicht nur viel mehr Männer in Führungspositionen als Frauen, diese Männer sind auch noch viel zu oft völlig ungeeignet.  [...] Für Chamorro-Premuzics ist das der eigentliche Grund für die Benachteiligung der Frauen in Führungspositionen und auf dem Weg dahin. Die grundlegende Fehlinterpretation von Überheblichkeit als Führungskompetenz, führt eigentlich inkompetente Männer in die wichtigsten Positionen unserer Gesellschaft, die sich damit selbst schadet. Chamorro-Premuzic plädiert deshalb für einen Wandel unseres Verständnisses von guten Führungspersonal. Damit in Zukunft weniger unfähige Männer, fähigen Frauen den Weg versperren. Und damit unsere Gesellschaft fairer, besser und erfolgreicher geführt werden kann. Das ist wohl das wichtigste Ergebnis seiner Forschung. Denn überhebliche, narzisstische, inkompetente, aber trotzdem erfolgreiche Frauen gibt es schließlich auch. Man denke zum Beispiel an die französische, rechte Politikerin Marine Le Pen. Es kann also nicht darum gehen, Frauen darin zu fördern, aggressiver und überheblicher zu werden, damit sie durch die gläserne Decke stoßen können. Es geht viel mehr darum, die positiven Eigenschaften, die viele Frauen mitbringen, gewinnbringend für einen neuen Führungsstil einzusetzen. (edition F)
Es ist wichtig, sich angesichts solcher Artikel ständig vor Augen zu halten, dass Frauen keine besseren Menschen sind. Die "positiven Eigenschaften, die Frauen mitbringen" sind ja nicht durch die Biologie in die Wiege gelegt, sondern werden bei Frauen gesellschaftlich gefördert, während sie bei Männern geächtet werden - und umgekehrt. Eigenschaften wie Durchsetzungsvermögen, dominantes Auftreten und Ehrgeiz werden bei Männern positiv und bei Frauen negativ bewertet. Umgekehrt sind Eigenschaften wie Teamfähigkeit, Einfühlungsvermögen und Sensibilität bei Männern negativ und bei Frauen positiv bewertet. Der Artikel macht daher in meinen Augen denselben Fehler, den er der Gegenseite vorwirft, nämlich die natürliche Überlegenheit eines Geschlechts für Führungsaufgaben zu postulieren. Aber das ist Quatsch. Es gibt ein bestimmtes Set an Fertigkeiten und Eigenschaften, das gute Führungskräfte hervorbringt. Dieses war in der Vergangenheit zu stark auf solche Eigenschaften und Fertigkeiten reduziert, die üblicherweise mit Männern assoziiert werden. Nun in das andere Extrem abzurutschen ist weder gut für die Gleichberechtigung noch für Unternehmen und Politik, die dann eine andere Gruppe von einseitig ausgestatteten Führungskräften bekämen.

11) The wasted mind of Ben Sasse
Dignity is one of Ben Sasse’s things. He’s also into duty, thoughtfulness, empiricism, and respect for democratic traditions—and while most politicians would probably claim to support those ideals, Sasse sets himself apart by frequently challenging his party on their behalf. [...] This, in a nutshell, is the central problem of Ben Sasse. He is a performatively deep thinker, an advocate of public decency who makes a case for good-faith discourse that is both eloquent and, in the FAKE NEWS!!!!!!1! era, timely. He states that case convincingly in his new book about raising hard-working and civic-minded children, The Vanishing American Adult. “Living in a republic demands a great deal of us,” he writes in a sort of mission statement for his public persona. “Among the responsibilities of each citizen in a participatory democracy is keeping ourselves sufficiently informed so that we can participate effectively, argue our positions honorably, and hopefully, forge sufficient consensus to understand each other and then to govern.” [...] Sasse has the intellectual credentials and résumé that Paul Ryan wants you to think he has.  [...] I have some Sasse-ian empathy for Ben Sasse. It must be exhausting to be the good-faith guy in a party whose approach is all bad faith. I genuinely appreciate his candor and intelligence. But the tough love Sasse wants parents to show their children requires me to point out that if Nebraskans had elected a cravenly partisan alt-right bozo as their senator in 2014 instead of a genial Ph.D., American public life would be little different today. Sasse is probably doing exactly what his constituents want him to do right now—Trump won Nebraska by 25 points. But it doesn’t seem like he will be able to maintain such a large gap between his stated values and his record indefinitely without losing either his national reputation—which must matter to him, or else why write a general-interest book for a major publisher—or his sanity. At some point Sasse will have to actually interrupt Bill Maher; he’ll have to actually run against Donald Trump instead of suggesting that it would be nice if someone else did; he’ll have to challenge his own president not just by tweeting but by putting a hold on an executive-branch nominee until the Judiciary Committee, of which he’s a member, agrees to hearings on Trump’s obstruction of the FBI’s Russia investigation; he’ll have to refuse to vote for a motion to proceed on the health care bill until it gets a public hearing. It will be hard work, and he will get a lot of blowback from his own party and its dogmatic activists. But living in a republic demands a great deal from us. (Slate)
Ich verfolge Ben Sasses Karriere schon eine ganze Weile; der Grund dafür dürfte offensichtlich sein ;) Tatsächlich ist er der Kandidat, den ich mir als Gegner für eine künftige Präsidentschaftswahl wünsche. Nicht, weil sein Sieg für mich eine akzeptable Konsequenz wäre - ich würde ihn natürlich erbittert bekämpfen - sondern weil er tatsächlich der konservative Denker und Charakter zu sein scheint, den andere Republicans nur performen.
Der eigentliche Wahlkampf könnte, einen entsprechenden liberalen Kandidaten vorausgesetzt, tatsächlich jener erlauchte "Wettkampf der Ideen" werden, der immer das überhöhte Leitbild von Wahlkämpfen ist. Mein Traum wäre ein Wahlkampf Obama vs. Sasse, natürlich mit einem Sieg Obamas. Das wäre effektiv eine Folge der Serie "West Wing", und mir ist klar, dass das eine Phantasie ist. Wenn aber Sasse und seinesgleichen, trotz aller im obigen Artikel zurecht aufgelisteter Kritikpunkte die Zukunft der republikanischen Partei wären, wäre ich sehr erleichtert. Und zumindest könnte man auf ein Mindestmaß intellektueller Ehrlichkeit hoffen, anders als in dem von Lügen und Manipulation getriebenen medial-politischen Kommunikationskomplexes der conservatives heute.

Sonntag, 23. September 2018

Der Verlust der Wirklichkeit

Um 2016 herum war das Wort der "Filterblase" in jedermanns Munde. Immer wieder wurde betont, dass wahlweise Progressive oder Konservative in einer Blase lebten (es kommt immer auf den persönlichen Standpunkt an) und die von der Mehrheitsgesellschaft geteilte Realität nicht mit bewohnten, wodurch es dann zu allerlei schlechten Effekten kommt. Diese an und für sich nützliche Theorie geriet innerhalb kürzester Zeit zum politischen Kampfbegriff der Rechten und ist mittlerweile aus der Mode geraten. Auf der Linken hat er sich nie wirklich durchsetzen können, wird aber unter diversen Synonymen natürlich trotzdem gegen den politischen Gegnern geschleudert. In dem Zusammenhang wurde auch immer wieder darüber gesprochen, wie Soziale Netzwerke und die Struktur unserer Nachrichten zur Bildung solcher Blasen beitragen. Ich denke dass die Degenerierung zum politischen Kampfbegriff uns leider die Sicht darauf verstellt hat, dass die Aufspaltung von Realitäten ein profundes und jegliche ideologische und parteiischen Grenzen überspannendes Problem geworden ist.

Meine These ist hierzu die: es gibt inzwischen effektiv keine Konsens-Realität mehr, weil die beherrschende Stellung der sie schaffenden Akteure in unserer Gesellschaft, die früher für eine allseits anerkannte Realität sorgte, nicht mehr gegeben ist. Das betrifft in erster Linie die Massenmedien, vor allem die Öffentlich-Rechtlichen, und nachgeordnet Personen von öffentlicher Autorität wie Politiker, Pressesprecher, Behördenchefs und Ähnliche.

Was meine ich damit konkret? Niklas Luhmann hat in seiner berühmten Systemtheorie bereits vor Jahrzehnten die Behauptung aufgestellt, dass unsere Realität maßgeblich von den Massenmedien geprägt wird. Vor deren Erscheinen waren es andere Autoritäten, die das Weltbild und die Realität prägten (etwa die Kirche für einen mittelalterlichen Bauern). Jahrzehntelang hatte etwa die Tagesschau in Deutschland eine beinahe sakrale Bedeutung in der Prägung von Realität. Die ernsten, aber ruhigen Sprecher und Sprecherinnen erklärten, was sich an einem Tag an Relevantem ereignet hatte. Spötter stellten schon früher den glücklichen Umstand fest, dass in der Welt immer gerade so viel passierte, dass es 15 Minuten Tagesschau füllte. Aber die Auswahlfunktion der Tagesschau-Redaktion war unabänderlicher Standard, ob etwas geschehen und wichtig war. Berichteten ARD und ZDF am Abend darüber, dann war es relevant. Taten sie es nicht, war es nicht relevant. Eine ähnliche Funktion nahmen überregionale Blätter wie die BILD, SZ und FAZ oder natürlich die Lokalzeitungen ein, wenn es um die Ereignisse um den eigenen Wohnort ging.

Ich verwende das Präteritum, weil die andauernde Medienkrise diese Gegebenheiten hinfällig gemacht hat. Die Lokalzeitungen sind seit spätestens den 1990er Jahren in einem dauernden Niedergang, der mittlerweile selbst solche publizistischen Flaggschiffe wie die BILD erfasst hat, deren Auflage und Wirkungskreis beständig sinken. Die Tagesschau ist mittlerweile ein Medium für Menschen jenseits der 60, und das nicht nur, weil sie sich so anfühlt - die Zuschaueranalysen der Sender sprechen eine eindeutige Sprache.

Doch dieser Zuschauer- und Leserschwund ist nur eine Seite der Medaille. Er ist vorrangig wirtschaftlich relevant: die sinkenden Zahlen bedingen ein geringeres Angebot und einen allgemeinen Qualitätsverfall, weil sich alles auf der Suche nach der größten Abonnentenzahl am kleinsten gemeinsamen Nenner ausrichtet. In den letzten 20, 30 Jahren entstand so das Problem einer großen Einheitsmeinung, der permanenten Großen Koalition, aus der Herdenverhalten wie die unreflektierte Begeisterung für die wirtschaftsliberale Reformpolitik oder die Willkommenskultur 2015 entstand. Gegen diese Entwicklung kämpften erst die Linken - man denke NachDenkSeiten als pars pro toto -, dann die Rechten an. Beide nutzten Begriffe von "Manipulation", "Meinungsmache" und "Lüge" als Frame für diese Einseitigkeit der medialen Palette, ein Framing, das sich nun rächt, weil es zu einem allgemeinen Vertrauensverfall beigetragen hat.

Der Aufstieg der Sozialen Netzwerke auf der einen Seite, der Konsumenten von den von Niklas Luhmann noch als systemisch entscheidend begriffenen Massenmedien unabhängig gemacht hat, und der allgemeine Vertrauensverlust auf der anderen Seite sorgen dafür, dass es keine Institution mehr gibt, die eine allgemein gültige Realität definieren kann. Egal welche politische Ausrichtung man selbst vertrat, wurde früher im Allgemeinen nicht gezweifelt, dass die Tagesschau die Realität wiedergab. Man stritt zwar um die Interpretation oder die Priorität (sprich: Beitragslänge), den diese jeweiligen Realitätsbeschreibungen hatten, aber nicht darüber, ob Dinge tatsächlich passiert waren.

Das ist aber heutzutage zunehmend der Fall, und das sorgt dafür, dass es immer schwieriger wird, einen gemeinsamen Referenzrahmen zu bilden. Das ist für jemanden, der ein engagierter Parteigänger der jeweiligen Frage ist, erst einmal kein Problem. Bin ich etwa ein überzeugter Sozialdemokrat, so muss ich mir keine Sorgen darüber machen, welche Ereignisse wie einzuordnen sind - Johannes Kahrs und Andrea Nahles werden es mir mitteilen, und ich muss den Frame nur übernehmen. Alexander Gauland und Alice Weidel übernehmen diese Funktion bei der AfD, und so weiter. Aber nur ein kleiner Teil der Bevölkerung sind engagierte Parteigänger, die in der Lage sind den Nachrichten und deren Einordnungen so zu folgen, dass sie alle Wendungen mitmachen können. Bin ich zum Beispiel engagierter SPD-Parteigänger, so änderte sich meine Realität bezüglich des Verfassungsschutzes innerhalb einer Woche viermal. Erst hatten wir einen kompetenten Chef, der von der Opposition angegriffen wurde, dann wurde er untragbar und musste weg, was meine Partei heldenhaft einforderte, dann gewann Andrea Nahles einen erfolgreichen Deal, dann war der Deal aber schlecht und musste neu verhandelt werden. Verfolge ich als Parteigänger die Nachrichten aufmerksam und bekomme das Framing geliefert, kann ich diese Schwünge einerseits mitmachen und mich andererseits gegen konkurrierende Narrative immunisieren.

Tue ich das aber, wie die Mehrheit der Deutschen, nicht, so prasseln völlig widersprüchliche Narrative auf mich ein. Verfolge ich zudem - erneut wie die Mehrheit der Deutschen - die Nachrichten nur gelegentlich und bruchstückhaft, so erhalte ich diese Narrative nur in verstümmelter und völlig inkohärenter Form. Anstatt ein parteiideologisch geschlossenes Weltbild formen zu können, bleibt reines Chaos. Der einzige Eindruck, der sich dann aufdrängen kann, ist der, dass niemand irgendetwas Genaues weiß. Und das ist ein neues Phänomen. Hätte vor 20 Jahren die Tagesschau erklärt, dass es eine Hetzjagd in Chemnitz gegeben hätte, hätte dies eine Realität konstituiert. Heute erklären dagegen konkurrierende Kanäle wahlweise, dass das Video überhaupt nichts derartiges zeige, dass es nur ein Nacheilverhalten zeige oder dass vorher auch schlimme Dinge passiert seien oder was auch immer. Als nur mäßig interessierter Beobachter ist es mir unmöglich, eine klare Realität zu bilden. Der Eindruck ist, dass niemand Genaues sagen kann. Und das ist tödlich.

Seit mittlerweile über einem Jahr fahre ein ein Selbst-Experiment zu diesem Thema. Ich lese praktisch keine Nachrichten über die Mueller-Ermittlungen gegen Trump und sein Wahlkampfteam wegen des Verdachts auf russische Einflussnahme im Wahlkampf 2016. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie es um die Ermittlungen aktuell steht, welche Leute wegen welchen Verbrechen angeklagt sind und wie die jeweiligen Parteien zu den Detailfragen stehen. Angesichts dessen, dass ich täglich viele Nachrichten über verschiedene Kanäle konsumiere, bekomme ich natürlich über Nachrichtenosmose - Erwähnungen in themenfremden Artikeln, Überschriften, etc. - trotzdem Dinge mit. Aber ich beschäftige mich nicht aktiv mit dem Thema.

Der Eindruck, der sich dann unweigerlich aufdrängt, ist der einer konstanten Lawine von immer neuen Enthüllungen. Ich kann inzwischen nur zynisch auflachen wenn in meiner Timeline progressive Journalisten zum x-ten Mal von den "entscheidenden" oder "alles verändernden" neuen Enthüllungen schreiben. Die gibt es zuverlässig alle ein, zwei Wochen, ohne dass sich ostentativ etwas wahrnehmbar ändert. Angesichts der gewaltigen Menge an ständig neuen Nachrichten gibt es aber nur zwei Möglichkeiten, diese einzuordnen:

a) Es ist was dran, und Trump hat (von mir undefinierbaren, weil Detailwissen mangelnden) Dreck am Stecken.

b) Das Ganze ist ein riesiges, schmutziges, politisches Spiel seiner innerparteilichen Gegner.

Ob ich Variante a) oder b) anhänge hängt nicht auch nur im Geringsten daran, welche Qualität die Nachrichten und Enthüllungen haben. Sie hängen daran, welchem politischen Stamm ich mich zugehörig fühle. Denn Progressive und Konservative teilen keine gemeinsame Realität. In den USA ist das wesentlich weiter fortgeschritten als in Deutschland: FOX News etwa berichtet über die meisten dieser Enthüllungen nicht einmal; in der konservativen Filterblase finden sie schlicht nicht statt. In der progressiven Blase, auf der anderen Seite, ist jede dieser Enthüllungen von erderschütternder Bedeutung und zeigt einmal mehr die bodenlose Bosheit der GOP auf. Mir als uninformiertem, uninteressierten Zuschauer ist völlig unklar, was die Wahrheit ist (so es denn eine gibt); ich falle also auf mein normales Framing zurück und gehe davon aus, dass a) korrekt ist.

Eher unfreiwillig habe ich dasselbe Experiment im Falle Maaßen mitgemacht. Aus persönlichen Gründen war ich gerade an den zwei, drei Tagen, als die Geschichte mit dem Chemnitz-Video lief, nicht in der Lage der aktuellen Nachrichtenlage jenseits der gröbsten Überschriften zu folgen. Die atemlose 24/7-Berichterstattung ging mir also raus. Seither geht sie aber davon aus, dass ich ihr gefolgt bin. Dieses Loch im Kontext macht es mir unmöglich, eine vernünftige Meinung auf Basis irgendwelcher "Fakten" zu bilden. Ich habe es dann auch gar nicht versucht und nicht einmal das eigentliche Video geschaut. Meine Überlegung war, dass es keinen Sinn macht. Aus der Nachrichtenlage schien mir offensichtlich, dass ein allgemein anerkanntes Bild der Geschehnisse ohnehin nicht existierte. Wo ernsthaft darüber diskutiert wird, ob nun eine Hetzjagd oder ein Nacheilverhalten sichtbar sind, braucht man auf so etwas nicht zu hoffen. So investierte ich die kognitive Energie erst gar nicht sondern fiel einfach auf mein progressives Framing zurück: Der Verfassungsschutz ist ohnehin nicht vertrauenswürdig, Seehofer sowieso der Feind, ergo ist Maaßen der Bösewicht und versucht den Rechten zu helfen, in deren großen politischen Plan das Ganze eh passt. Das spart mir viel Mühe und Ärger und führt letztlich zu dem für mich wahrscheinlichsten Ergebnis.

Das ist natürlich nur anekdotisch. Aber ich wäre nicht verwundert, wenn es vielen Menschen ähnlich geht. Normalerweise werden wir in unseren Überzeugungen nur sehr selten erschüttert und prüfen diese daher nicht. Das gilt für die Machenschaften des Verfassungsschutzes ebenso wie für die Frage, ob Gender-Identitäten angeboren oder anerzogen sind. Ohne eine allgemein anerkannte Institution, der die Mehrheit der Menschen soweit vertraut, dass diese eine gemeinsame Realität konstituiert, werden wir uns zwangsläufig in Parallelrealitäten aufspalten. Der Plan der AfD etwa, ein eigenes Nachrichtennetz zu schaffen - FOX News und RT stehen offensichtlich Pate - ist da nur folgerichtig. Für die Demokratie ist das eine lebensbedrohliche Situation. Einen Ausweg kann ich aktuell nicht erkennen.

Donnerstag, 20. September 2018

Die Affäre Maaßen: Ein Lehrstück in zehn Teilen

Nach einigen turbulenten Tagen, in denen es schien, als ob die Große Koalition über die Personalie Maaßen platzen könnte, hat sich die Lage nun wieder beruhigt. Zur Erinnerung: Bundesverfassungsschutzpräsident Maaßen war, wie man das höflich so ausdrückt, "in die Kritik geraten", weil er öffentlich anzweifelte, dass das Video, das eine Hetzjagd auf Mitbürger mit Migrationshintergrund in Chemnitz zeigte, echt war. Beweise oder auch nur Indizien gab es dafür keine; Maaßen ruderte später zurück, ihm sei es nur um die Begriffsdefinition "Hetzjagd" gegangen. Weitere Indiskretionen gesellten sich zu den Verfehlungen der letzten Jahre und zwangen die SPD dazu, sich der Oppposition anzuschließen und Maaßens Ablösung zu fordern. Es wurde insinuiert, dass die Koalition auf dem Spiel stünde. Horst Seehofer, Maaßens Dienstherr, nutzte die Gelegenheit und schärfte angesichts der anstehenden Bayernwahl sein Profil, indem er sich öffentlich hinter Maaßen stellte. Merkel tauchte ab und hoffte, dass sich das Problem schnell lösen möge - was es dann auch tat. Maaßen wird Staatssekretär (zwei Besoldungsstufen höher) im Innenministerium, wofür allerdings wegen der verschärften Haushaltsregeln ein anderer Staatssekretär gehen musste. Seehofer, nie um ein Nachtreten verlegen, feuerte dafür einen kompetenten SPD-Staatssekretär aus dem Bauressort. Die Affäre Maaßen ist mit Sicherheit ein Lehrstück, aber vermutlich fragen sich viele, für was eigentlich. Das soll im Folgenden aufgezeigt werden, denn tatsächlich ist die Affäre in zehnerlei Hinsicht lehrreich.

Da wäre einmal die altbekannte Problematik der Blindheit des Verfassungsschutzes, wenn es um rechte Umtriebe geht. Wo man immer schnell dabei ist, die Gefahr von links zu beschwören (und das sicherlich in den meisten beobachteten Fällen nicht zu Unrecht) zierte sich der Verfassungsschutz auffallend, die AfD und ihre Tochterorganisationen unter Beobachtung zu nehmen und versagt geradezu chronisch darin, rechtsradikale Organisationen in Deutschland zu beobachten und lahmzulegen - oft genug wegen der starken Verflechtung mit V-Leuten, ein Problem, das in der linksextremen Szene pointiert nicht existiert.

Diese Kritik ist so alt wie das Amt selbst, und von daher passte die Chemnitz-Video-Aussage Maaßens (dessen Positionierung am rechten Rand der Union nicht gerade ein Geheimnis ist) auch hervorragend ins Muster. Es darf getrost angenommen werden, dass Maaßen sich bewusst war, wie seine Aussage aufgefasst werden würde. War er es nicht, so ist er im Amt ohnehin eine Fehlbesetzung, denn wer in solch sensiblen Angelegenheiten dermaßen im Ton daneben langt wie er es selbst von sich behauptet (ohne dabei die entsprechende Einsicht aufzuweisen, die mit solchen Fehlleistungen einhergehen sollte) ist ungeeignet für die Leitung einer Behörde wie dem Verfassungsschutz. Angeblich rechnete Maaßen ohnehin mit seiner baldigen Ablösung und nutzte diese Krise effektiv als Bewerbung für neue Ämter; was da dran ist, kann ich allerdings nicht beurteilen. Die Aussage um das Chemnitz-Video jedenfalls disqualifizierte ihn als Verfassungsschutzleiter.

Das Problem des rechtslastigen Verfassungsschutzes bleibt auch nach der NSU-Affäre und der kompletten Amtszeit Maaßens ungeklärt. Anstatt sich um Aufklärung der Vorgänge zu bemühen, blockt das Amt jegliche Versuche weiterhin ab. So ist nach Jahren immer noch unbekannt, wer und warum eigentlich die Akten der NSU-Morde geshreddert hat; auch sonst sind werden Strukturreformen weiterhin vermisst. Der Verfassungsschutz ist ein extrem politischer Geheimdienst, einmal qua Amt - das ist seine Aufgabe. Aber ein anderes Mal ist er es, weil er selbst Partei ist und allzuoft bereit, zwar hart gegen links vorzugehen, aber nur sehr zögerlich und halblebig gegen rechts. Dass diese politische Schlagseite immer noch genauso virulent ist wie immer, ist die erste Lehre aus dem Fall Maaßen.

Das alles wäre jedoch wahrscheinlich in dieser Form nie passiert, stünde nicht bald eine Wahl in Bayern an, für die unser Innenminister miserable Umfragewerte verkraften muss. In der CSU werden bereits seit Monaten die Messer gewetzt, um Seehofer loszuwerden. Der Innenminister kämpft zudem einen offenen Kampf gegen Merkel, die er unbedingt mit in den Untergang reißen will, koste es was es wolle. Jede Gelegenheit zum öffentlichen Streit wird hierzu von Seehofer instrumentalisiert, weswegen er sich in Chemnitz auch hinter die Sachsen-CDU stellte und so diesen rechten Pfuhl in der schwärenden Flanke der Union nährte. Maaßen profitierte daher geschickt von Seehofers Anreizen; dieses clevere politische Taktieren straft nebenbei auch die Vorstellung Lügen, Maaßen habe unschuldig übersehen, welche politische Wirkung seine Äußerung erzielten würde. So aber drängt die Dynamik einer Landtagswahl mit Macht in die Bundespolitik und drohte, die Kanzlerin mit in den Abgrund zu reißen. Sie hätte darüber mit Schröder einen trinken gehen können, der kennt das auch. - Diese Mechanismen sind die zweite Lehre aus dem Fall Maaßen.

Doch auch diese Dynamik wäre nicht vorstellbar ohne die politische Schwäche Merkels. Zwar ist auch vorstellbar, dass die ganze Chose nur Theaterdonner ist und Merkel in Wirklichkeit inhaltlich mit Seehofer und Maaßen übereinstimmt; das halte ich aber für unwahrscheinlich. Naheliegender ist daher anzunehmen, dass Merkels Position innerhalb der Union derzeit schwach ist, so schwach, dass sie nicht in der Lage ist, Seehofers Frechheiten zu begegnen und diese überwiegend aussitzen muss, bis er (hoffentlich) nach den Bayernwahlen abserviert ist, für die Ministerpräsident Söder bereits seit Wochen die Verantwortung weit von sich schiebt. Die Richtlinienkompetenz einer Kanzlerin reicht eben auch nur so weit wie ihr politisches Kapital. Das ist die dritte Lehre aus dem Fall Maaßen.

Gelöst wurde die Krise durch einen klassischen Kompromiss. Der offizielle Auslöser kam von der SPD, die öffentlich erklärte, Maaßen nicht weiter tragen zu wollen. Die Union musste den Mann daher entweder absetzen oder den Koalitionsbruch riskieren - ein klassisches Ultimatum. Da Seehofer aber seinerseits nicht als Verlierer dastehen wollte und über genügend Macht verfügte, sich einem entsprechenden Framing aggressiv zu widersetzen, musste Maaßen offiziell befördert werden, damit beide Seiten Sieg erklären konnten. Dadurch erklärt sich die Personalrochade im Innenministerium. Das Wegloben von unbequem gewordenen Amtsträgern ist eine lange Tradition in einer Politik, in der das Ermorden von Kontrahenten allgemein als unfein gilt (die Römer hatten da in ihrer Republik weniger Skrupel). Die Bundeswehr kennt dafür mit dem Generalinspekteur der Bundeswehr sogar ein eigenes Amt; böse Zungen behaupten, dass der Bundespräsident und Bundestagspräsident ähnliche Funktionen erfüllen. Die Koalition wurde so zum Preis von zwei Besoldungsstufen und einem entlassenen Staatssekretär gerettet. Demokratien lösen Krisen dieser Art so. Das ist die vierte Lehre aus dem Fall Maaßen, die offensichtlich für viele immer wieder überraschend kommt.

Dass der Kompromiss diese Form annahm, ist allerdings der Schwäche der SPD zu verdanken. Diese pokerte mit ihrem Ultimatum mindestens ebenso hoch wie Seehofer, und sie hatte keine sonderlich gute Hand. Das zeigte sich, nachdem Merkel und der Rest der Union wenig Anzeichen machten, Maaßen einfach zu entlassen. Die SPD wurde schnell merklich ruhiger. An einem Koalitionsbruch hatten sie angesichts der Umfragewerte kein Interesse, geplant war er auch nicht. Maaßen war zudem trotz aller obigen Erklärungen kein gutes Objekt, um einen Bruch mit der CDU zu inszenieren, geplant war ein solcher ohnehin nicht (und nur Narren brechen eine Koalition ohne Plan). Ohne echte Druckmittel und mit wenig guten Optionen hatte sich die SPD in eine Ecke manövriert, in der sie gezwungen war, jeden Formelkompromiss zu akzeptieren. Seehofer, dem diese Mechanik als politisches Naturtalent nicht gerade verborgen geblieben war, dreht das Messer mit Genuss in der Wunde der SPD und feuerte einen unschuldigen SPD-Staatssekretär, einfach weil er es konnte. Ohne Druckmittel Ultimaten zu stellen ist immer gefährlich, aber der SPD blieb wenig Wahl, denn schweigen konnten sie angesichts von Maaßens Verfehlungen auch nicht. Das ist die fünfte Lehre aus dem Fall Maaßen.

Überhaupt interessant ist das aufplusternde Gehabe Seehofers, dessen Kommunikation auf einem sehr urtümlichen Niveau funktioniert. Es geht, ganz im Geiste der Zeit des Rechtspopulismus, um Machismo und auftrumpfendes Balzgehabe. Wer hat den (metaphorischen) Längsten? Es ist ein Spiel, das Angela Merkel aus Prinzip nicht spielt und das die SPD nur verlieren kann. Es ist eine Perfomance von Männlichkeit, wenn Seehofer breitschultrig neben und hinter Maaßen steht und diesen begleitet. Diese Art der politischen Kommunikation beherrschte auch Gerhard Schröder aus dem Effeff, und sie spricht etwas tief in der Wählerschaft an. Eine Mehrheit der Wähler liebt diese leere Auftrumpferei. Das ist die sechste Lehre aus dem Fall Maaßen.

Und der arme Herr Adler, dessen Job im Rahmen des politischen Kuhhandels verloren ging? Der ist natürlich das eigentliche Opfer des politischen Lavierens. Er hatte mit der Sache nichts zu tun, musste aber zum Beweis der männlichen Überlegenheit Seehofers seinen Hut nehmen. Das ist natürlich für Herrn Adler, der sicherlich ein fähiger Experte für das Bauwesen war und nun durch eine Nullnummer im Anzug und schlechter Brillenwahl ersetzt wird, ein schwerer Schlag. Aber Staatssekretäre werden unter anderem dessen auf Besoldungsstufe B11 bezahlt und mit großzügigen Pensionen abgesichert, weil sie politische Positionen innehaben, die für Formelkompromisse dieser Art geopfert werden können. Sie haben das mit Spitzenpositionen in der Wirtschaft gemeinsam. Jedem Staatssekretär muss das bewusst sein. Daher sollte Adler hier nicht zum Märtyrer stilisiert werden. Seehofers Handlung war egozentrisch und eklig, aber wahrlich nicht ungewöhnlich. Das ist die siebte Lehre aus dem Fall Maaßen.

Wir müssen an dieser Stelle noch einmal zum Verfassungsschutz selbst zurückkehren. Denn was die Krise ebenfalls gezeigt hat ist, dass die Verwaltung - ob das die Beamtenschaft im Innenministerium oder im Bundesamt für Verfassungsschutz ist - eine eigene Agenda hat. Auch das ist nichts Neues, das ist in jeder Institution so, ob Behörde oder größere Firma. Der Selbsterhalt der eigenen Strukturen und die Bewahrung der eigenen Kompetenzen stehen immer an erster Stelle, und jede Institution reagiert sensibel auf Einmischungen von außen. Dazu will jede Institution die Art, wie sie ihren Job macht, nicht ändern. Im Fall von Polizei und Verfassungsschutz ist das eine wesentlich zu breite Komfortzone nach rechts und eine Null-Toleranz-Politik nach links. Jeder Versuch, das zu ändern, wird einen backlash provozieren. Wer mit dem nicht rechnet, verschafft innerparteilichen Gegnern wie Seehofer und Maaßen Verbündete. Das ist die achte Lehre aus dem Fall Maaßen.

Man sollte auch nie unterschätzen, wie Mediennarrative in einer solchen Krise wirken können. Das hat besonders die SPD leidvoll erfahren müssen. Obwohl eigentlich Merkel die eigentlich zentrale Figur der Krise ist - sie ist Kanzlerin und hat weder Innenminister noch Geheimdienstchef auch nur ansatzweise im Griff, vom größeren Problemkomplex der Flüchtlingsintegration ganz zu schweigen - hat es die SPD geschafft, in der Berichterstattung die Hauptrolle des Verlierers einzunehmen. Ihre ohnehin schlechte Verhandlungsposition wurde durch Mediennarrative, die die Frage des Koalitionsbruchs zum Tages-Event aufputschten, noch verstärkt, während diese mediale Aufmerksamkeit gleichzeitig Merkel entlastete. Für Maaßen hatte die Konzentration auf die machtpolitische Frage ("Schafft es die SPD?") den netten Nebeneffekt, dass seine Äußerung, die ja ursächlich gewesen war, völlig in Vergessenheit geriet und er sich als braver Beamter, der in die Mühlen der Parteipolitik gerät, präsentieren und dadurch Verbündete in anderen Teilen der Verwaltung, besonders der Polizei, gewinnen konnte. Die mangelnde Kontrolle über die Mediennarrative konstituiert daher die neunte Lehre im Fall Maaßen.

Unsere letzte Lehre ist damit eng verknüpft. Bereits früh in der Affäre roch die BILD Blut. Für das Blatt, dessen erste Aufgabe immer das Generieren hoher Auflage und dessen zweite Aufgabe das Verschieben des Overton-Fensters nach rechts ist, fielen hier zwei Dinge zusammen. Von Anfang an pushte die BILD die Botschaft, dass Maaßen ein Klartexter im Geiste Sarrazins war, ein Mann für, wie es immer heißt, "unbequeme Wahrheiten" und jemand, der von all den Gutmenschen aus politischen Motiven verfolgt wird. Andere konservative Medien und Journalisten sprangen schnell auf den Zug auf (Jan Fleischhauer etwa entblödete sich nicht, in einer Kolumne Maaßen emphatisch Recht darin zu geben, einen so aufgeladenen Begriff wie "Hetzjagd" nicht zu benutzen und eine Woche später an derselben Stelle von einer "Treibjagd" auf Maaßen zu schreiben). Auch in einer Zeit ständig sinkender Auflagen für das Schmierblatt ist dessen Kampagnenwirkung weiterhin nicht zu unterschätzen. Das unvermeidbare Buch von Maaßen jedenfalls ist der Status als Bestseller bereits sicher. Das ist die zehnte Lehre aus dem Fall Maaßen.