Samstag, 29. September 2018

Religionsverbote im Hambacher Forst, Komplimente falsch finden und entschlossen Schweinefleisch essen - Vermischtes 29.09.2018

Die Serie "Vermischtes" stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) CDU-Abgeordnete will keine Muslime in der Partei
Die Bundestagsabgeordnete Veronika Bellmann aus Sachsen hat ihre umstrittenen Aussagen über die angebliche Unvereinbarkeit zwischen dem Islam und einer Mitgliedschaft in der CDU verteidigt. Sie sehe keinen Grund, sich dafür zu entschuldigen oder gar persönliche Konsequenzen zu ziehen. Muslime gehörten nicht die CDU, hatte Bellmann gesagt. Das gelte auch für säkulare, nichtpraktizierende Muslime. "Heute geben sie sich säkular und morgen doch wieder streng gläubig", wurde Bellmann in der rechtsgerichteten Zeitung "Junge Freiheit" zitiert. Hilfreich könne allenfalls ein "öffentliches oder schriftlich dargelegtes Bekenntnis zum Grundgesetz" sein. Hintergrund der Äußerungen von Bellmann ist die mögliche Kandidatur der Muslimin Aygül Özkan für die CDU bei der Hamburger Bürgerschaftswahl 2020. [...] Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU) forderte Bellmann nach ihren Aussagen auf, sich bei Özkan "und bei allen Muslimen, die sich in der Union engagieren", zu entschuldigen. Andernfalls solle sie ihr Bundestagsmandat niederlegen, da sie dieses der CDU verdanke. Doch Bellmann denkt nicht daran: Sie sehe keinen Grund, sich dafür zu entschuldigen oder gar persönliche Konsequenzen zu ziehen. "Mein Mandat habe ich nicht von der CDU, sondern in allen Bundestagswahlen seit 2002 immer direkt von den Wählern meines Wahlkreises", betonte Bellmann. Bellmann, 57, ist seit 2002 Bundestagsabgeordnete. Sie gehört zum rechtskonservativen Flügel der Unionsfraktion. Im September 2016 sagte sie in einem Interview mit der "Huffington Post", die Christdemokraten sollten Koalitionen mit der AfD nicht ausschließen. (SpiegelOnline)
Das ist nicht mehr der "rechtskonservative" Flügel der Partei. Wer ein bestimmtes religiöses Bekenntnis komplett aus der Partei ausschließen will, verlässt den Boden des Grundgesetzes. Diese Leute sollte die CDU auch aktiv loszuwerden versuchen und nicht halten. Bellmann kann sich ja als parteilose Kandidatin aufstellen lassen; ich bin sicher, die Wähler werden ihr das Mandat wiedergeben, dass sie ja überhaupt nicht der CDU und deren Unterstützung verdankt. Ansonsten kann sie sich im AfD-Ortsverein darum streiten, ob sie oder ein altgedienter Rechtsextremer die Bewerbung bekommen dürfen, da hat sie sicher auch tolle Erfolgsaussichten. Aber abseits des Sarkasmus, die CDU sollte diese Leute wirklich aus der Partei drängen. Sie sind ein schlechter Einfluss, der ihnen nicht auch nur das geringste hilft. Es ist ja nicht so, als würde dieser Rand die Kontrolle über die Partei gewinnen (hoffentlich...), und solange sie drin sind, setzen sie konstant die Agenda und schaden ihrer Partei zugunsten der eigenen Sache. Man hat das früher bereits an prominenten Abweichlern gesehen, man denke nur an Oswald Metzger: der Kerl bezog seine ganze Karriere, all seine Prominez, aus seiner öffentlichen Abweichung von seiner Partei. Als er in die CDU eintrat, war er innerhalb weniger Wochen komplett von der politischen Bühne verschwunden und musste feststellen, dass ihn auch sonst keiner haben wollte. Alles, was diese Art Abgeordneter hat, ist sich parasitär am öffentlichen Widerstand gegen die eigene Partei zu verköstigen.

2) Nennt meine Tochter nicht hübsch!
Versteht mich nicht falsch: Ich finde meine Tochter hübsch. Genau genommen, finde ich sie atemberaubend schön. Manchmal schaut sie mir in die Augen und mein Herz bleibt fast stehen. Weil, diese Wimpern. Und dennoch möchte ich, dass die Welt aufhört ihr ihr Äusseres ständig um die Ohren zu hauen. Ich selber wusste es auch lange nicht besser. Als ich kinderlos war, schenkte ich meinen schwangeren Freundinnen rosa Strampler, weil sie ein Mädchen erwartete. Die Babyabteilungen machten es klar: Hier Rosa mit Blümchen für Mädchen. Da Hellblau mit Schiffen für Buben. Entsprechend sagte ich Dinge, ohne viel zu überlegen. Dinge, die ich eigentlich gut meinte. Wenn ich eine Freundin und ihre Tochter traf, sagte ich zum Kind: «Ach, hast Du ein schönes Röckchen!» Traf ich eine andere Freundin und ihren Sohn: «Hey, du bist aber gross und stark!». [...] Aber wenn die ganze Welt um sie herum meine Töchter eben doch in die Rosa-Kiste zwingt, muss ich Gegensteuer geben. In Hoffnung, dass sie eines Tages frei entscheiden können. Und irgendwo zwischen all dem Rosa und Hellblau ihr eigenen Töne entdecken. Unvoreingenommen ihren eigenen Weg gehen, ihre Stärken und Interessen verfolgen. Denn dieses scheinbar harmlose Rosa-hübsch-Ding ist nur der Anfang. [...] Ich möchte nicht, dass meine Mädchen in einer Welt aufwachsen, in der sie hübsch, nett und brav sein müssen. Ich möchte, dass sie ihre Haarspangen tragen, weil sie Freude dran haben. Und nicht um den anderen zu gefallen. Ich möchte, dass sie mit Postautos oder Puppen spielen, weil sie es interessant finden. Und nicht weil es ihnen so beigebracht wurde. (Chezmamapoule)
Man sollte den kompletten Artikel lesen, die vielen Beispiele, die darin genannt werden, sind interessant und unterfüttern die zentrale These weiter. Ich weiß dass das hier im Blog mittlerweile wie eine hängengebliebene Schallplatte ist, und bestimmt wird gleich wieder in den Kommentaren festgestellt, wie das in Wahrheit alles biologisch determiniert ist, aber noch einmal: Die Gesellschaft setzt Rollenerwartungen, und sie setzt sie bereits vom Kleinkindalter an. Das fängt bei bestimmten Ästhetiken an, etwa die Vorliebe für Rosa, Herzen und Glitzer bei Mädchen und Blau, Fußball und Monstern bei Jungs, bevor die Kinder auch nur alleine aufrecht sitzen können, bei den Bestärkungen und Abschwächungen die sie erfahren und bei den Erwartungen, die an sie formuliert und mit denen sie im Alltag umgeben werden. Kinder lernen in diesem Alter rapide, und sie lernen vor allem durch Nachahmung. Was ihre Umwelt ihnen vorlebt nehmen sie auf und reproduzieren es unreflektiert. Und Geschlechterrollen werden ihnen permanent aus allen Quellen vorgelebt. Da kann man übrigens als einzelne Institution, ob als Eltern oder als Lehrer, vergleichsweise wenig machen. Ohne einen breiten gesellschaftlichen Wandel (der zwar kommt, aber laaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaangsam) wird sich nichts bewegen.

3) Backing down is ok - if you do it for the right reasons
This is a view that bugs me. It’s not really a conservative view or a liberal view, it’s a view that says once you’ve made a mistake, then that’s that. Backing down is the worst possible sin, so just suck it up and bull your way through something that you know is wrong. This is crazy. Sometimes, yes, you are caving in to a mob when you reverse yourself on something like this. That’s not a good look. But sometimes the mob is right and you should back down. Does anyone seriously think it’s better to continue mindlessly with something we know is wrong than it is to change our minds and do the right thing, just because it might expose the fact that we’ve conceded a point? I know that conceding a point is perhaps the worst thing anyone can do in modern politics, so I’m just shouting into the wind. But it’s worth an occasional thought. Sometimes the mob has a point. Sometimes they don’t. It’s up to you to decide whether (a) their point is a worthwhile one that should prompt a change of course, or (b) after some genuine consideration, it still doesn’t move you, in which case you should stand your ground no matter how sharp the pitchforks get. Neither response should be automatic. (Mother Jones)
Zu sagen, dass man falsch lag, gehört zu den Kardinalssünden der Politik. Es ist gleich neben die Wahrheit sagen. Wer auch immer das macht, verliert. So oft Wähler oder Journalisten betonen, wie doof sie es finden, dass niemand mal einen Fehler zugeben oder im Wahlkampf die Wahrheit sagen kann: wann immer ein Politiker es tut, wird brutal über ihn hergefallen. Von daher ist es kaum verwunderlich, dass das nicht passiert. Und man sollte nicht den Fehler machen anzunehmen, dass das nur ein Problem in der Politik ist. In zahllosen Familien ist es ebenfalls normal, dass weder Eltern gegenüber ihren Kindern noch die Kinder gegenüber ihren Eltern einen Fehler zugeben. Die einen tun es aus einem falsch verstandenen Verständnis von Autorität nicht, die anderen, weil das Zugeben eines Fehlers schlimmere Strafen mit sich bringt als sein Verschweigen. Dieses Verhalten zieht sich in Schule und Universität (wo von der bekritzelten Bank bis zur vergessenen Hausarbeit keine Fehler zugegeben sondern lieber dumme Ausreden gesucht werden) bis in Unternehmen, wo Vorgesetzte meinen, das Zugeben eines Fehlers untergrabe ihre Autorität und lieber alle Untergebenen nacheinander belasten (und damit das Betriebsklima zerstören) und wo Kollegen einnander die Schuld zuschieben, weil das Verantwortlichkeiten auflöst und im Kollektiv auflöst statt die Verantwortung zu übernehmen, weil die Konsequenzen wiederum so schlimmer sind (was auch das Betriebsklima stört). Die völlige Unfähigkeit, auf der einen Seite Fehler einzugestehen und auf der anderen Seite generös mit eingestandenen Fehlern umzugehen und die richtigen Konsequenzen zu ziehen ist ungeheur zerstörerisch, durch die ganze Gesellschaft hindurch.

4) Sehnsucht nach Entschlossenheit
Denn die Haltung, die in diesen Worten sichtbar und fühlbar wird, ist Entschlossenheit. Entschlossenheit, den Kampf um unser Gemeinwesen, unseren Staat, unsere Demokratie aufzunehmen. Und diese Entschlossenheit muss auch, nein, muss gerade von der Spitze her geführt werden. Warum? Weil sie auch heute noch in Zeiten der Deliberationsgesellschaft und der Moderationspolitik notwendig ist in manchen Situationen. Wir kennen sie ja, die Kanzlerin. Und daher wissen wir auch schon länger, dass es ihr schwer fällt, ihre Politik umfassend und verständlich zu erklären. Aber als es vor rund einer Woche in Chemnitz nicht nur Demonstrationen, sondern auch rechtsradikale Ausschreitungen gab und die Staatsgewalt quasi schwächer präsent war als bei einem Fußballspiel der dritten Liga, da hörte man aus dem Kanzleramt nur ein paar dürre Sätze im Ton amtlicher Stellungnahmen. Der Bundesinnenminister schwieg sogar ganz – und nachdem, was man jetzt von ihm hörte, wäre es vielleicht sogar besser gewesen, er hätte ganz geschwiegen. [...] Noch schlimmer wird die ganze Sache, wenn man sieht, dass der Innenminister sich nur inspiriert zeigt, wenn er seine Ränkespiele gegen Merkel fortführen kann. Dabei wäre es geboten, Geschlossenheit in der Regierung zu zeigen. Entschlossenheit und Geschlossenheit – das ist ein Geschwisterpaar, so stark wie Jeanne d’Arc und Nelson Mandela zusammen. Nun hat der Staat ja auch ein paar Machttechniken und -instrumente, die ihn zu einem wehrhaften machen. Das Gewaltmonopol gehört zu den ersten. Wenn das bröckelt, erheben die Dämonen ihre Köpfe. Es gehört zu der Liberalität Deutschlands, dass der Staat es manchmal damit nicht so genau nimmt. Aber wenn sich der gesellschaftliche Druck erhöht, dann muss auch der Rechtsstaat seine Durchsetzungskraft zeigen. (Salonkolumnisten)
Was die Salonkolumnisten hier einfordern ist gefährlich, schwierig und richtig zugleich. Gefährlich, weil Entschlossenheit und das Ignorieren irgendwelcher Stimmungen in Medien und Bevölkerung nicht unbedingt dem demokratischen Gedanken entspricht und die Regierung sehr schnell auf eine schiefe Bahn bringt, in der sie der Überzeugung ist, es besser als der ungewaschene Pöbel zu nehmen und auf diesen keine Rücksicht nehmen zu müssen. Um seine Unterstützung nicht zu verlieren, wird dann gern auf gemeinsame Feinde eingeprügelt (Ausländer beispielsweise). Ein Abrutschen in den Autoritarismus geht schnell, weil die im Artikel angesprochene Sehnsucht nach Autorität stets wenigstens latent vorhanden ist; man sehe nur nach Ungarn oder Polen. Schwierig, weil das korrekte Umsetzen einer solchen Entschlossenheit ein gutes Gespür für den richtigen Anlass und den richtigen Ton braucht. Die wenigsten Themen verdienen eine entschlossene, aktive und ihr Gewaltmonopol voll ausnutzende Regierung. Man sieht das gerade im Hambacher Forst ja ganz gut. Wesentlich zu schnell kommt es so zu Überreaktionen, die dann das eigentliche Anliegen delegetimieren. Richtig, weil manche Situationen eben doch ein solches Handeln erfordern. In diesen Situationen braucht es eine Regierung, die den nötigen Mut dazu hat und auch bereit ist, die Konsequenzen (Abwahl oder wenigstens Stimmenverlust) zu tragen. Fans der Agenda2010 werden das als eine solche Situation ausmachen.

5) Die Konservativen wären die Rettung gegen Rechts
Wenn Demokratien von rechts bedroht werden, spielen konservative Bewegungen eine besonders wichtige Rolle in ihrer Verteidigung. Im Großbritannien des 19. Jahrhunderts beispielsweise schafften es die Tories, die Royalisten und Reaktionäre in das parlamentarische System zu integrieren und damit die Extremisten an den Rändern des politischen Spektrums zu isolieren. Scheitern die konservativen Parteien allerdings darin, die Demokratie zu verteidigen, wird es nur umso gefährlicher. Im frühen 20. Jahrhundert etwa überließen etablierte konservative Parteien in europäischen Ländern von Italien bis Deutschland den Extremisten die Schalthebel der Macht oder verwandelten sich in offene Feinde der Demokratie. Das Ergebnis war eine politische Katastrophe von ungekanntem Ausmaß. Das ist der Grund, warum Konservative das "Scharnier der Geschichte" sein können, wie der Politikwissenschaftler Daniel Ziblatt in seinem meisterhaften Buch Conservative Parties and the Birth of Democracy argumentiert hat. Verteidigen sie die Demokratie, überlebt das System für gewöhnlich. Machen sie gemeinsame Sache mit den Feinden der Demokratie oder räumen sie kurzfristigen Gewinnen den Vorrang vor dem langfristigen Einsatz zum Erhalt demokratischer Institutionen ein, steht die Tür für alle möglichen Arten von Autokraten offen. [...] Aber die vielleicht schockierendste Nachricht wurde in den vergangenen Tagen bekannt. Angela Merkel schmiedet faktisch eine taktische politische Allianz mit dem fortgeschrittensten Feind der liberalen Demokratie in Europa: Viktor Orbán. [...] Die Implikationen für die europäische Politik sind enorm. Erstens ist es jetzt klarer denn je, dass die Europäische Union in absehbarer Zukunft zutiefst illiberale und sogar undemokratische Staaten als vollberechtigte Mitglieder tolerieren wird. [...] Wenn konservative Politiker wirklich die Scharniere der Geschichte sind, dann könnte Merkel einmal als eine derjenigen in Erinnerung bleiben, die an der wichtigsten Herausforderung ihrer Zeit gescheitert sind und der antidemokratischen Rechten nicht die Stirn geboten haben. (Die Zeit)
Auch das ist ein Argument, das ich schon öfter vorgebracht habe. Die Verantwortung für den Kampf und die Abgrenzung gegen Rechts gebührt den Konservativen. Die Linken bekämpfen sie ohnehin. Das läuft ja in die andere Richtung genauso: dass die Konservativen sich gegen Linksextremismus stellen ist klar; die Haltung der moderaten Linken (oder Sozialdemokraten oder wie man sie auch immer nennt) ist die spannende Frage, denn sie definiert letztlich, was im Diskurs noch als erlaubte Position gilt. Und man muss den Konservativen hier als Gesamtheit leider ein mieses Zeugnis ausstellen, denn eine klare Abgrenzung nach Rechts ist immer noch zu vermissen. Während die SPD in diese Richtung jahrelang eher überreagierte (man erinnere sich an die geradezu militante Abgrenzung zur kompletten LINKEn während der 2000er Jahre), ist die CDU/CSU zu nachsichtig mit ihren eigenen rechtskonservativen Elementen (siehe Fundstück 1) und der AfD. Aktuell scheint es da einen Bewusstseinswandel zu geben; wohl auch unter dem Eindruck der miserablen Umfrageergebnisse aus Bayern. Ich bin mal vorsichtig optimistisch.

6) Schafft zwei, drei, viele vegane Menüs
Veganes Essen ist großartig. Nicht unbedingt – das hängt vor allem von der Zubereitung ab – geschmacklich, sondern funktional. Veganes Essen ist das „One size fits all“ der menschlichen Ernährungsweisen, der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich Veganer, Vegetarier, Pescetarier, Muslime, Juden, Hindus und etliche weitere Religionsgemeinschaften einigen können. Natürlich gibt es immer noch die Strenggläubigen, die es nicht ohne offizielle Halāl-, Koscher- oder Bio-Zertifizierung essen würden, aber für die übergroße Mehrheit reicht „vegan“ völlig aus, um den Speiseanforderungen ihrer jeweiligen Glaubensüberzeugung gerecht zu werden. Gibt es mindestens ein veganes Menü in der Kantine, gibt es für Veganer, Vegetarier, Muslime, Juden und Hindus eine gangbare Alternative zu den Standardgerichten, bei deren Zubereitung womöglich das gemischte Hack aus Rinder- und Schweinefleisch in guter deutscher Markenbutter gebraten wird. Würde – was unbedingt zu befürworten ist – jede Kantine zusätzlich zu den üblichen Gerichten ein veganes Menü anbieten, wäre unzähligen Minderheiten geholfen, da ihnen damit zumindest immer ein Menü offensteht, mit dem sie nicht gegen ihre Überzeugung verstoßen. [...] Richtig, der Baum wird brennen. Und er wird lichterloh brennen, im Gegensatz zum Veggie-Day bleibt es nicht bei den obligatorischen Morddrohungen auf Facebook, irgendwer – vermutlich selbsternannte Abendlandverteidiger, gerne aber auch Salafisten oder militante Tierschützer – wird zum Molotowcocktail greifen, um seiner erbärmlichen Vorstellung von einer besseren Welt mit abgefackelten Menschen Ausdruck zu verleihen. Das Szenario mag sich im ersten Moment arg hypothetisch anhören, aber die Abendlandverteidiger laufen sich bereits warm. Schon jetzt haben sie einen Schweinefleisch-Fetisch entwickelt, der sich nicht über Geschmack, Zubereitung oder Nährwert herleiten lässt, sondern allein über die Präsenz von Muslimen. Auf Muselgrusel-Webseiten wie PI-NEWS wird mit einem Schwein um Spenden geworben, Pegida-Gänger tragen Schilder mit Aufschriften wie „Ich bin für Schweinefleisch auf dem Gartengrill! Bin ich deshalb ein Nazi?“, in asylkritischen Foren geben sich besorgte Bürger Pseudonyme wie „Pork Eating Crusader“, selbst Landwirtschaftsminister Christian Schmidt, CSU, entblödete sich nicht, Schweinefleisch als essentiellen, aber bedrohten Teil einer ausgewogenen Ernährung hinzustellen. Andere Leute werden wegen Job- oder Beziehungsproblemen um den Schlaf gebracht, beim Abendlandverteidiger ist’s ein imaginiertes Schweinefleischverbot, das ihn fiebrige Nächte verbringen lässt. (Salonkolumnisten)
Ich finde Tobias Blankens Vorschlag aus dem Artikel mehr als nur vernünftig. Er löst im Endeffekt einen Riesenhaufen Probleme und nimmt den Staat aus der bescheuerten Rolle als Arbiter zwischen Religionsstreitigkeiten heraus, ohne dabei irgendwelche Richtungen besonders zu begünstigen (die Speisegebote der Muslime gegenüber Hinduisten etwa). Auch für etwas gesundheits- und umweltbewusstere Fraktionen wäre somit gleich etwas dabei, und Wahlfreiheit wäre auch weiterhin gewährleistet. Ich finde auch Blankens Argument bemerkenswert, wie erst der Vorschlag für einen Tag mit vegetarischem Hauptmenü die irren identity-politics auf der Rechten ausgelöst hat, in denen der Verzehr von Schweinefleisch plötzlich zum nationalen Monument geriert und unablässig für die deutsche Leitkultur ist. Reaktanz ist eine starke psychologische Kraft.

7) Künftige Wirtschaftspolitik - Die Zukunft liegt links
Wenn man die Liste der ganz großen Wirtschaftsprobleme unserer Zeit durchgeht – von Wohnungsnot bis Reichtumsgefälle -, fällt auf, dass so gut wie keins davon mit den leicht brachialen konservativ-wirtschaftsliberalen Rezepten der vergangenen Jahrzehnte zu lösen sein wird. Also von rechts. Wer all diese Krisen lösen will, braucht etwas anderes als überholte Prinzipien.
  • Gegen die nächste Finanzkrise hilft nicht per se mehr Staat, aber eine deutlich bessere Regulierung: etwa viel höhere Anforderungen an Banken, Eigenkapital zu halten. Da würden auch Finanztransaktionssteuern helfen. Vielleicht auch wieder besser gesteuerte Wechselkurse.
  • Gegen absurd hochschnellende Immobilienpreise braucht es neue Regeln, die das Spekulieren unattraktiv machen – egal, ob die Mietpreisbremse da taugt oder nicht. Im Zweifel auch viel höhere Steuern.
  • Gegen ausgebliebene öffentliche Investitionen hilft, mehr Geld gezielter und effizienter in die Zukunft zu stecken, nicht weniger. Dann braucht man in Zukunft auch weniger Geld dafür, die Schäden zu beheben, die ausgebliebene Investitionen verursacht haben.
  • Gegen abdriftende Regionen hilft womöglich am ehesten, solche Umbrüche viel früher zu erkennen – statt alles immer nur dem Glauben daran zu überlassen, dass der Markt es schon richten wird. Und viel stärker darein zu investieren, dass diejenigen, die darüber ihre Existenz zu verlieren drohen, schnell aufgefangen werden.
Klingt alles furchtbar? Nach viel zu viel Staat? Mag sein. Nur dann müssen halt schlaue Regeln dafür entworfen werden, wann es einzuschreiten gilt – und wie das am besten und effizientesten gelingt. Damit nicht Willkür einzieht. Es hilft ja nichts, wenn das Marktdogma in manchen Dingen einfach zu viel Unsinn anrichtet. Da braucht es eine ganz neue Definition dessen, was der gute Staat wirklich besser machen sollte – und was nicht. Und dazu muss man dann natürlich auch Geld investieren, um hochqualifizierte Kräfte in die Amtsstuben zu bekommen. Ob all das jetzt furchtbar links ist? Na ja, nach dem Zweiten Weltkrieg gab es – auch als Lehre aus dem in den Dreißigerjahren schon einmal gescheiterten, naiven Wirtschaftsliberalismus – einen ziemlich weitgehenden Konsens darüber, dass es etwa für Banken eine strikte Kontrolle braucht, Wechselkurse besser offiziell festzulegen sind (um Spekulation zu stoppen) und nicht überall immer alles dereguliert werden musste. Und damals regierten in Deutschland ja auch keine Linksradikalen, sondern ein gewisser Konrad Adenauer und ein Ludwig Erhard. Damals galt all das eben nicht als links, sondern als vernünftig. Was sich erst ändern sollte, als in den Siebzigerjahren plötzlich wieder Leute ankamen und behaupteten, dass die Welt viel besser sein wird, wenn man (mal wieder) alles Mögliche privatisiert und den Staat abbaut und den Finanzmärkten möglichst freien Lauf lässt. Bis am Ende der kollektiven Gehirnwäsche fast alles als irgendwie links wirkte, was nicht zufälligerweise den Reichen und Wohlhabenden diente – und ein gewisser Gerhard Schröder, Sozi, befand, dass es angeblich keine linke und rechte Politik mehr gebe, sondern nur noch eine richtige. Eine, die in Wahrheit ziemlich weit, sagen wir, rechts war. Höchste Zeit, die Maßstäbe mal wieder zu zurechtzurücken. Um die nächsten großen Katastrophen abzuwenden. Ob das jetzt links heißt oder nicht. Und egal, ob mit oder ohne Sahra und Oskar. (Wirtschaftswunder)
Während ich dem Artikel zustimmen würde, dass die richtigen Lösungen für die wirtschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit definitiv links liegen (oh Wunder), so sehe ich "die Zukunft" leider ganz und gar nicht dort. Ich kann aktuell nicht auch nur den zartesten Sahmen dafür ausmachen, dass diese Wirtschaftspolitiken künftig die Agenda bestimmen könnten. Die einzige Partei, die wenigstens Teile davon vertritt ist die LINKE, und die streitet lieber darüber, warum russische Agenten voll im Recht sind, wenn sie Abweichler in anderen Staaten vergiften, warum die Krim schon immer russisch war oder ob man nicht viel lieber die Flüchtlinge rauswerfen sollte, um endlich Friedenspolitik gegen die USA zu machen - oder so ähnlich.

8) Festung Europa: Es wird Zeit für ein anderes Bild
Die Reformen im Umgang mit prekärer Migra­tion sind typi­scher­weise nicht blosse Nach­jus­tie­rungen oder Anpas­sungen, sondern Para­dig­men­wechsel, wenn auch Wechsel inner­halb des über­ge­ord­neten Para­digmas, dass Migra­tion abge­wehrt werden müsse. Zunächst wurde der Zugang zum Arbeits­markt für Asyl­su­chende möglichst lange abge­schottet. Das hat sich als Fiasko erwiesen. Dann wurden Asyl­su­chende immer stärker an der Peri­pherie der Gesell­schaft, an möglichst entle­genen Orten unter­ge­bracht. Das hat sich als aufwen­dige Schi­kane heraus­ge­stellt. Dann wurden die Gründe für ein Nicht­ein­treten auf ein Asyl­ge­such stetig ausge­baut, soweit, bis die Frage, ob auf ein Gesuch einge­treten werden könne, fast ebenso kompli­ziert zu beant­worten war, wie das Gesuch selbst, weshalb auch diese Politik abge­bro­chen und durch möglichst rasche Verfahren, verbunden mit einem leis­tungs­fä­higen Repres­si­ons­dis­po­sitiv, ersetzt worden ist. Dieses wird mitt­ler­weile seiner­seits wieder über­la­gert von der Idee, Migra­tion möglichst vor Ort abzu­fangen und das Ersu­chen um Asyl möglichst zu erschweren, indem die Stellen, an denen dies möglich ist, sich weiter hinter Gelände und Zäune zurück­ziehen. Keiner dieser Para­dig­men­wechsel ist anti­zi­pie­rende Gestal­tung. Alle sind der Versuch einer Reak­tion auf einem Feld, das von anderen, von Migrie­renden oder ihren Herkunfts­staaten, aufgetan wurde. [...] so ist die Idee von Zentren ausser­halb Europas auch deshalb unrea­lis­tisch, weil sie die Notwen­dig­keit von sehr viel Infra­struktur und Personal mit sich bringt, das entlang eines sehr weit­läufig gewor­denen Aussen­rings unter prekären Bedin­gungen eine freud- und frucht­lose Arbeit leisten müsste. Es ist spätes­tens dieser Moment (nach huma­ni­tären Gesichts­punkten wäre der Moment schon viel früher gekommen), an dem die Stra­tegie der Festung grund­sätz­lich hinter­fragt werden muss; wo die Frage erlaubt sein muss, ob an der Idee, Migra­tion grund­sätz­lich abwehren zu wollen nicht etwas grund­le­gend verkehrt sei. Aber die Meta­pher von der Festung erschwert es, diese Grund­satz­frage zu stellen. [...] Es ist wichtig, regu­la­to­ri­sche Tech­niken zu erör­tern, mit denen Migra­tion möglichst huma­nitär und möglichst klug allmäh­lich libe­ra­li­siert werden könnte. Aber noch wich­tiger – weil dieser tech­ni­schen Lösungs­suche vorge­la­gert – ist der Mut und die Bereit­schaft, sich vom Tunnel­blick zu eman­zi­pieren, der inner­halb der Festung unbe­merkt den Blick verengt. Es braucht die Bereit­schaft, eine Welt zu denken, in der Migra­tion grund­sätz­lich erlaubt ist und nur noch ausnahms­weise verboten. Es braucht den Mut, sich auf eine Zukunft einzu­lassen, in der Migra­tion sich aus struk­tu­rellen Gründen zuneh­mend staat­li­cher Kontrolle entwinden wird. Haben wir uns damit einmal abge­funden, werden viele mensch­liche Härten und Grau­sam­keiten, die wir heute hinzu­nehmen bereit sind, nicht mehr vertretbar sein. Sie sind nur vor dem Hinter­grund einer Festungs-, Dammbruch- und Rück­ge­win­nungs­logik erklärbar. (Geschichte der Gegenwart)
Die Sprache bestimmt das Bewusstsein. Abgesehen davon, dass "Festung Europa" ohnehin ein nationalsozialistisch vorbelasteter Begriff ist, hat die Argumentation des obigen Artikels einen großen Erkenntnisgehalt: Wer in diesen Begriffen denkt, der denkt kaum lösungsorientiert. Sich einzugraben und auf Abwehr zu setzen hat dazu noch selten irgendwelche Probleme gelöst. Selbst die mittelalterlichen Burgen, die da in Metaphern gerne bemüht werden, dienten als temporäre Zufluchtsorte vor plündernden Horden, bevor Entsatz - eine reichlich mobile Lösung - eintreffen konnte. Doch die Vertreter dieser Lösung verlassen sich darauf, dass das Problem schon weiterziehen werde, wenn man nur die Türen schließt. Das aber ist noch nie passiert. Ich weiß nicht, was genau die Lösung sein könnte, aber genau deswegen braucht es eine Diskussion, in der Lösungen diskutiert werden statt nur Abwehrreaktionen.

 9) Brett Kavanaugh is a man the right can get behind
Any number of grub-like Yale jurist-ghouls with diamond-edged ‘80s-dad hair and uniformly right-wing ideas about constitutional law could get confirmed to fill the Supreme Court’s vacant ninth seat, and once in that seat could be counted upon to plagiarize Anton Chigurh dialog into incumbent legal precedence for the next three decades. The earth contains no shortage of these. And so, in the aftermath of the discovery that Brett Kavanaugh, the one Donald Trump happened to nominate for the gig, quite likely attempted to rape a 15-year-old girl in the summer of 1982 (and, perhaps less important though no less relevant, almost certainly lied to the Senate about the use of stolen materials to aid George W. Bush’s judicial nominees) and has been living comfortably with this fact about himself for the ensuing 36 years, it should be easy enough to withdraw his nomination and move along to the next crypto-Nazi cottage cheese sculpture in the pipeline. He’d breeze through confirmation, whoever he was: You could pretty much count on the Senate Judiciary Committee’s terminally third-brained centrist Democrats lining up to play themselves. And that would be a success, theoretically: A new, arch-conservative Supreme Court justice, possibly even one not tainted by a credible accusation that he once tried to rape a child. But that would not be enough. It has to be this guy. It has to be this guy now more than ever. It has to be this guy, now, because he has been accused, credibly, of attempting to rape a 15-year-old girl in 1982—moreover because people believe this should be considered a disqualifying blight on his record. The thing that must happen is that those people must be defeated. That is the whole point. What must be shown to the whole world is that this, even this, cannot stop him. The bigger the outrage that can be brushed aside, the more thorough the defeat for the people who thought something, anything, might take precedence over this white man being the pick of another white man. And so, in a single whirlwind week—or maybe less, time moves weird in the hell dimension and it’s easy to lose track—the Republican party and its mouthpieces have been happy bordering on gleeful to shuffle through increasingly absurd and contradictory defenses of Kavanaugh. [...] The important thing to note is: Nobody, nobody, believes a single one of these defenses, most likely not even the people offering them. Believing any of them would defeat the point of the exercise, which is to demonstrate that it doesn’t matter, to put this son of a bitch across with a completely unhidden sneer, to say all but explicitly We know he did this, you know he did this, everyone knows he did this, and you couldn’t stop us anyway. The wild variety and complete inconsistency of all these defenses aren’t bugs; they’re features. [...] But first, the thing to do is to describe it accurately. When they eventually ram Kavanaugh through, and they will, it won’t be despite all of this. It will be because of it. (The Concourse)
Weil ich drei Wochen lang keine Vermischtes geschrieben habe, ist dieser Artikel mittlerweile ebenfalls ein bisschen veraltet. In dem Fall ist das klasse, weil die Voraussagen genauso eingetroffen sind. Das ganze Drama um die Nominierung Brett Kavanaughs ist eine einzige Übung in rechten identity-politics, in denen absurder- und perverserweise gerade die Tatsache, dass Kavanaugh Vorwürfen von sexueller Gewalt ausgesetzt ist seine Nominierung wahrscheinlicher macht. Die Mechaniken, die da bei den Republicans mittlerweile ablaufen, sind nur noch abstoßend und toxisch. In einem seltenen Fall der korrekten Anwendung von Bothsiderism wird darauf hingewiesen, dass die Polarisierung der Supreme-Court-Nominierung auch von den Democrats massiv vorangetrieben wird. Das ist korrekt, und ich denke es ist wichtig festzustellen, dass dies bei der letzten Nominierung - als Neill Gorsuch den gestohlenen Sitz Antonin Scalias bekam - dezidiert nicht geschah, weil Gorsuch zwar ein politischer Gegner war, aber eben nicht offene Flanken wie Kavanaugh aufwies, weswegen auch einige Red-State-Democrats für ihn stimmten. Mit Kavanaug aber haben die Republicans jemanden aufgestellt, der unabhängig von politischen Positionen inakzeptabel ist. Mit demselben Fehler haben sie bereits einen Senatssitz in Alabama verloren. Es könnte ihnen auch hier einiges kosten. Dazu kommt, dass der Nominierungskampf für die Democrats eine Gelegenheit ist, den Geist von Anita Hill auszutreiben, der seit längerem über der Partei schwebt, was sicherlich zu dem Fervor beiträgt, mit dem sich die Parteibasis gegen Kavanaugh stellt und ihre Senatoren auf Linie zwingt.

10) Polarization in Poland - The worst is yet to come
This is not 1937. Nevertheless, a parallel transformation is taking place in my own time, in the Europe that I inhabit and in Poland, a country whose citizenship I have acquired. And it is taking place without the excuse of an economic crisis of the kind Europe suffered in the 1930s. Poland’s economy has been the most consistently successful in Europe over the past quarter century. Even after the global financial collapse in 2008, the country saw no recession. What’s more, the refugee wave that has hit other European countries has not been felt here at all. There are no migrant camps, and there is no Islamist terrorism, or terrorism of any kind. More important, though the people I am writing about here, the nativist ideologues, are perhaps not all as successful as they would like to be (about which more in a minute), they are not poor and rural, they are not in any sense victims of the political transition, and they are not an impoverished underclass. On the contrary, they are educated, they speak foreign languages, and they travel abroad—just like Sebastian’s friends in the 1930s. What has caused this transformation? Were some of our friends always closet authoritarians? Or have the people with whom we clinked glasses in the first minutes of the new millennium somehow changed over the subsequent two decades? My answer is a complicated one, because I think the explanation is universal. Given the right conditions, any society can turn against democracy. Indeed, if history is anything to go by, all societies eventually will. [...] By contrast, the polarizing political movements of 21st-century Europe demand much less of their adherents. They don’t require belief in a full-blown ideology, and thus they don’t require violence or terror police. They don’t force people to believe that black is white, war is peace, and state farms have achieved 1,000 percent of their planned production. Most of them don’t deploy propaganda that conflicts with everyday reality. And yet all of them depend, if not on a Big Lie, then on what the historian Timothy Snyder once told me should be called the Medium-Size Lie, or perhaps a clutch of Medium-Size Lies. To put it differently, all of them encourage their followers to engage, at least part of the time, with an alternative reality. Sometimes that alternative reality has developed organically; more often, it’s been carefully formulated, with the help of modern marketing techniques, audience segmentation, and social-media campaigns. (The Atlantic)
Dieser großartige und sehr, sehr lange Artikel (unbedingt Zeit mitbringen zum Lesen, lohnt sich) versucht, den großen Bogen zu spannen und die polnische Autokratisierung in einen breiteren Kontext einzubetten. Ich denke das Argument, dass grundsätzlich jede Demokratie gefährdet gegen diese Art der Übernahme ist, ist absolut richtig. Die Folge ist, dass das korrekte Analysieren der Mechanismen, die zu dem Abrutschen in den Autoritarismus führen, von entscheidender Bedeutung ist, weil man nur dann vernünftige Gegenmaßnahmen ergreifen kann. Diese Idee setzt natürlich voraus, dass es so etwas wie vernünftige Gegenmaßnahmen überhaupt gibt, und dass sie jenseits der chaotischen gesellschaftlichen Änderungsprozesse überhaupt durchsetzbar sind. 
 
11) Warum der Hambacher Forst nicht Chemnitz ist
Auf eines kann man sich verlassen: Hetzt in Deutschland der rechte Mob, werden Menschen von Neonazis mit dem Tode bedroht, melden sich früher oder später Extremismusforscher zu Wort und mahnen, man dürfe aber auch die linksextreme Gewalt nicht vergessen. Diese werde in der Bundesrepublik nämlich unter-, die rechte hingegen überschätzt. [...] Die Frage ist, warum die mahnenden Stimmen gerade dann besonders laut werden, wenn die Öffentlichkeit über rechte Gewalt erschrickt - wenn auf der Straße sichtbar wird, wie sich aggressiver völkischer Nationalismus Raum nimmt? Was sind das für Menschen, die ausgerechnet dann über linksextreme Gewalt sprechen wollen? Eckhard Jesse, Jahrgang 1948, hatte bis vor vier Jahren einen Lehrstuhl an der TU Chemnitz inne. Er glaubt an starke Gemeinsamkeiten zwischen Rechts- und Linksextremismus. Dass ihre Vertreter "einerseits weit voneinander entfernt und andererseits dicht benachbart sind, wie die Enden eines Hufeisens". Er hat sich das mit dem Hufeisen selbst ausgedacht, die wissenschaftliche Kritik daran ist vielfältig, grundlegend und massiv. Doch seine Expertise wird auch geschätzt, zum Beispiel vom Verfassungsschutz. Zur Vorgehensweise von Experten wie Eckhard Jesse gehört es, dass sie beteuern, Links- und Rechtsextremismus nicht miteinander gleichsetzen zu wollen, um dann genau das ausgiebig zu tun. In seinem Tagesspiegel-Beitrag hat Jesse die Taten von Chemnitz in einem Satz abgehandelt, um dann mit sechs Mal so vielen Worten die der Umweltaktivisten anzuprangern. Er beschreibt, wie sich "teilweise angekettete" Aktivisten in rechtswidrig entstandenen Baumhäusern verschanzten, wie Polizisten mit Fäkalien beworfen wurden. Und er kommt eben nicht zu dem Schluss, dass ein Vergehen schwerer wiegt als das andere. Dass Fäkalienwürfe zwar eklig und dumm sind, aber nicht mit Morddrohungen und Übergriffen gegen Andersdenkende und Journalisten vergleichbar sind. Jesse lässt alles gleichwertig nebeneinander stehen. Genau das ist Gleichsetzung. (Tagesspiegel)
Auch hier werden absolut richtige und notwendige Beobachtungen ausgesprochen, die zu der in Fundstück 5 angesprochenen Problematik gehören. Die Gleichsetzung von Phänomenen, die sich nicht gleichsetzen lassen, gehört zu den zerstörerischsten Trends unserer Tage. Während des großen RAF-Terrors in den 1970er Jahren war schließlich auch nicht die opportune Zeit, um in epischer Breite das NS-Erbe der CDU zu diskutieren (wurde bestimmt auch gemacht, aber meines Wissens nach nicht so prominent wie heute die gegenteilige Entwicklung). Man stelle sich vor, die Ermordung Schleyers mit "ja schon schlimm, aber schaut mal an, wer beim CDU-Landesverband Vorsitzender ist" zu kommentieren. Das ist aber letztlich das, was hier passiert. Und dadurch wird der Diskurs verschoben. Mein Beispiel hätte linksextreme Gewalt legitimiert, weil die anderen ja auch irgendwie Dreck am Stecken haben. Das hat die SPD aber nie getan. Auf der anderen Seite sollte nicht Nazi-Gewalt in Sachsen legitimiert werden, und schon gar nicht von Organen wie dem Verfassungsschutz. Dass es trotzdem geschieht, ist ein Zeichen für strukturelle Probleme.
 

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