Dienstag, 29. März 2022

Italienische Soldaten trinken saarländische Hafermilch und erzählen im Interview Verschwörungstheorien - Vermischtes 29.03.2022

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.

Montag, 28. März 2022

Rezension: Isabel Wilkerson - Caste. The lies that divide us

 

Isabel Wilkerson - Caste. The lies that divide us

Der Umgang mit dem Holocaust war und ist für die Deutschen ein schmerzhafter und von Konflikten und Auseinandersetzungen geprägter Prozess. Von der Weigerung, sich damit zu befassen, zu dem Versuch, eine klare Trennung zwischen einigen wenigen "bösen Nazis" und dem Rest der unwissenden, unbescholtenen Mehrheit zu ziehen bis hin zu dem qualvollen Prozess der Anerkennung, dass Mitwissendenschaft und sogar Mittäter*innenschaft wesentlich weiter verbreitet waren als vorher wahrgehabt dauerte es Jahrzehnte. Der Prozess ist noch immer nicht abgeschlossen, hat seine blinden Stellen und zwingt uns ständig zur immer wieder neuen Auseinandersetzung. Ich erwähne diese Geschichte deswegen, weil solche Auseinandersetzungen mit der eigenen Vergangenheit keine Selbstverständlichkeit und nicht die Regel sind. Dass die ständigen Rufe nach einem Schlussstrich bisher in Deutschland nicht verfangen konnten, ist ein kleines Wunder. Solche Auseinandersetzungen aber sind nicht exklusiv für uns. Großbritannien beginnt langsam, sich mit seiner Kolonialgeschichte auseinanderzusetzen, und die USA führen seit mehreren Jahren einen scharfen Kampf um das Erbe von Sklaverei und Rassismus, der noch in seinem Anfangsstadium steckt. Es ist vor diesem Hintergrund, vor dem man Isabel Wilkersons Buch "Caste. The lies that divide us" gesehen werden muss. Es gibt zahlreiche Abhandlungen über Rassismus, die sich in einer erschreckenden Geschichte nach der anderen erschöpfen. Wilkerson hat, obwohl sie mehr als genug Geschichten in diesem Kontext zu erzählen hat, eine andere Zielrichtung vor. Sie versucht, ein neues Theoriesystem zu schaffen, um über den Rassismus in den USA, seine Natur und seine Wurzeln nachzudenken. Ihre These: es geht nicht so sehr um Rassismus, sondern um das Schaffen eines Kastensystems. Dazu weitet sie den Blick und zieht das nationalsozialistische Deutschland und das indische Kastenwesen als Vergleiche heran.

Ihre grundsätzliche These ist, dass der (amerikanische) Rassismus nicht nur verstanden werden darf als ein individuelles Element abwertender Haltungen, sondern als die Gesellschaft ordnendes und strukturierendes System. Sie verwendet dazu den Begriff "Kaste". Die Gesellschaft ist in mehrere Kasten unterteilt, denen unterschiedliche Wertigkeiten zugesprochen werden und für die andere Rechte und Gesetze gelten, mal explizit - wie etwa während der Sklaverei oder der späteren Segregationsphase -, mal implizit bei der Benachteiligung von Jobs, den Morden durch die Polizei und vielem mehr.

Der Beginn dieses amerikanischen Kastensystems findet sich im Jahr 1619, als die ersten Sklaven amerikanischen Boden betreten. Es ist also fast so alt wie die angelsächsische Besiedlung des Kontinents selbst. Dieser lange Zeitraum von über 400 Jahren ist es auch, der zu der tiefen Verankerung dieses Kastensystems in der amerikanischen Gesellschaft führte, die zwar von den US-Konservativen harsch bestritten wird, aber geschichtswissenschaftlich eindeutig feststellbar ist. Wilkerson zeichnet die Genese dieses Kastensystems nach, das zu Beginn grundsätzlich noch rechtlich gleichberechtigte schwarze Bürger*innen der Kolonien kannte, aber unter dem vergiftenden Einfluss der Sklaverei zunehmend zu einer biologisch begründeten Kastenordnung überging, die in den 1700er Jahren fest installiert war und selbst freien Schwarzen keinen gleichen Status zuerkannte.

Aus diesem System heraus bildeten sich zahlreiche soziale Konventionen und institutionelle Normen, die zu guten Teilen bis in die heutige Zeit überdauert haben. Anhand von Praxisbeispielen führt Wilkerson eine theoretische Unterfütterung ein, unter anderem "Die Acht Säulen der Kaste" und zahlreiche Wirkungsmechanismen. Dabei zieht sie immer wieder den Vergleich zum Nationalsozialismus einerseits heran, in dem ein neues Kastensystem aus dem Boden gestampft wurde, das auf einem übersteigerten Rassismus basierte, und das indische Kastensystem, das nicht von rassischen, sondern eher klassismischen Systemen ausgeht und religös untermauert ist.

Die Stärke dieser Vergleiche finden sich vor allem dann, wenn etwa aufgezeigt wird, wie sehr Amerika für die Nationalsozialisten ein Vorbild war. Die jüngere Holocaustforschung hat darauf immer wieder hingewiesen, aber Wilkerson zeigt besonders deutlich, dass die amerikanische Rassengesetzgebung den NS-Funktionären ein Vorbild war, das sie aber nicht komplett umsetzten, weil es ihnen zu radikal war (!). Diese Vergangenheit ist in den USA völlig weichgewaschen und weitgehend noch nicht aufgearbeitet. Auch die Strukturen des indischen Kastenwesens helfen, weil es wegen seiner langen Bestehenszeit das besterforschte Kastensystem ist und so ebenfalls zahlreiche Vergleiche zulässt, vor allem was den Umgang mit der niedrigsten Kaste anbelangt, zu der Wilkerson ein widerwärtiges und fürchterliches Beispiel nach dem nächsten bringt.

Diese Vergleiche finden allerdings auch deutliche Grenzen, die immer wieder die Frage aufbringen, ob Wilkerson sich wirklich einen Gefallen damit getan hat. So düster faszinierend die Traditionslinien der Nürnberger Rassegesetze gegenüber den Jim-Crow-Gesetzen sind, so fällt doch in Details immer wieder auf, dass Wilkerson nicht firm in der Geschichte ist, etwa wenn sie bezüglich der Lynchings, bei denen die Weißen Souvernirs der getöteten Afroamerikaner*innen kauften und ausstellten, behauptet, dass nicht einmal die Nazis so etwas getan hätten. Ich stand nur von einer Museumsscheibe getrennt vor einer NS-Geldbörse aus Menschenhaut, das ist leider nicht wahr. Auch die vorbildhaft herangezogene deutsche Vergangenheitsbewältigung steckt voller Detailfehler. Das alles bringt die Frage auf, ob bei der (mir nicht besonders bekannten) indischen Geschichte ähnliche Fehler sind. Wilkersons journalistische Wurzeln scheinen hier deutlich durch, die einer klaren und guten Geschichte den Vorzug vor historischer Akkuratheit zu geben scheinen.

Das allerding ist Detailkritik. Die eigentliche Argumentation besteht problemlos aus eigener Kraft, so sehr, dass sich die Frage stellt, ob der (ohnehin nicht kohärent durchgehaltene) Ansatz des Vergleichs und der Allgemeingültigkeit nicht einfach ein Sich-Übernehmen der Autorin darstellt. Denn ihre scharfsinnige Betrachtung der Geschichte und Funktionsweise des amerikanischen Kastensystems hätte ja auch mit einem einzelnen Kapitel zu den Einflüssen auf die Rassegesetze einerseits und die ähnliche Funktionsweise Indiens andererseits genügt. Aber zurück zur Substanz.

Wilkerson zeichnet das amerikanische Kastenwesen aus der Genese der Sklaverei nach. Es umfasst auch von Anfang an mehr als nur die simple binäre Ordnung Weiß vs. Schwarz. Die indigene Bevölkerung, Einwander*innen aus dem nicht angelsächsischen (und, absurderweise, skandinavischen Raum, der in einer beängstigenden Parallele zum NS-Rassenwahn laut Wilkerson in den USA höher geschätzt wird als eine Herkunft aus England!) weißen Europa, Einwander*innen aus Süd- und Osteuropa, Lateinamerikaner*innen, asiatische Einwander*innen, karibische Einwander*innen, Inder*innen - alle werden in eine differenzierte rassische Kastenhierarchie sortiert, in der nur eines beständig ist: Schwarze sind ganz unten. Und selbst die Schwarzen selbst werden, wie Wilkerson mit scharfem Blick analysiert, intern in Unterkasten sortiert.

Die Sklaverei stellt sicherlich den Höhepunkt der blutigen Ausbeutung, Unterdrückung und Ermordnung der Afroamerikaner*innen dar. Aber das in den USA so lange gehegte Narrativ, dass die Emanzipation mit Ende des Bürgerkriegs das Problem quasi gelöst habe, dass aber spätestens Martin Luther King es beseitigt habe, wird von Wilkerson klar zerlegt. Der Horror der Sklaverei wird in den Südstaaten praktisch sofort durch neue Strukturen - Stichwort Jim Crow - ersetzt, die die Schwarzen weiterhin unten halten, und durch brutalen und tödlichen Terror durchgesetzt. Es handelt sich um ein rassistisches Terrorregime, das den Vergleich mit Besatzungsregimen des 20. Jahrhunderts in Osteuropa nicht zu scheuen braucht, ein Kapitel der Geschichte, das die Hälfte des amerikanischen politischen Spektrums gerade per Gesetz totzuschweigen versucht. Die Lynchjustiz, die über mehr als 70 Jahre ungehemmt im Süden der USA herrschte und der zehntausende von Menschen zum Opfer fielen, ist einer kollektiven, bewussten Amnesie unterworfen, die erst seit den späten 2010er Jahren langsam gelüftet wird.

Doch das Ende der Sklaverei brachte das Kastensystem des Südens paradoxerweise auch nach Norden. Die Freiheit der Schwarzen, ihren Wohnort und ihr Glück im Norden zu suchen, brachte diesen dazu, eine jahrhundertelange Trennung aufzuheben - die zwischen Nord und Süd - und ebenfalls ein Kastensystem zu installieren, das zwar nicht so blutig wie das Terrorregime des Südens war, aber an Effektivität wenig nachstand. Systematisch wurden Schwarze am sozialen Aufstieg gehindert, diskriminiert und an ihre untergeordnete Stellung erinnert.

Wilkersons Verdient ist weniger, die Geschichte nachzuzeichnen (wobei sie das als herausragende Journalistin mit großem Geschick tut), sondern dem Ganzen durch ihre Begrifflichkeit und theoretischem Unterbau der Kaste Struktur und Erklärungsgehalt zu geben. Anstatt vor individuellen Akten des Terrors und der Unterdrückung zu stehen und kopfschüttelnd zu fragen, wie "damals" so etwas geschehen konnte, zeigt sie die Logik eines Systems auf - und wie es sowohl Unterdrückende als auch Unterdrückte in seinen eigenen Erhalt zwingt, von der Rekrutierung armer weißer Südstaatler in Sklavenpatrouillen zu heutigen selbsternannten Vigilanten und Bürgermilizen, die den Erhalt der "Ordnung" auf sich nehmen. Der Vergleich mit der deutschen Holocaustverarbeitung drängt sich auf, wo die Erkenntnis, dass es eben nicht einige wenige moralisch pervertierte Täter in einem mystischen "früher", sondern ein systemischer Massenmord war, ebenfalls eines langen und schmerzlichen Prozesses bedurfte.

Wilkerson weist auch immer wieder darauf hin, dass der Erhalt dieses Kastensystems nicht nur der unterdrückten Kaste schadete, sondern auch der durchsetzenden Kaste selbst (in einer gespenstischen Parallele zu "Das Patriarchat schadet allen"). Seit 400 Jahren leben die Weißen in den USA bei Kontakt mit Schwarzen in einem ständigen Stresszustand, früher weil man stets Rebellion befürchten musste, heute wegen völlig überzogener Kriminalitätsbefürchtungen. Neben diesen gesundheitlich-emotionalen Kosten leidet die herrschende Kaste auch unter anderen sehr realen Kosten. Wilkerson geht auf diese Aspekte nicht schwerpunktmäßig ein, aber ich halte sie für mehr als diskussionswürdig. Das Ausmaß, in dem das amerikanische Kastensystem - und weniger die liberale Philosophie, die die USA ja durchaus mit Großbritannien teilen - die Struktur des Landes bestimmt, ist atemberaubend.

So etwa das lange Wehren der USA gegen auch nur den geringsten Sozialstaat. Während in Europa ein Land nach dem anderen Grundsicherungen einführte, kamen diese in den USA erst ein halbes Jahrhundert später im Rahmen des New Deal, und auch dann mit so vielen komplizierten und ineffizienten Einschränkungen, damit ja keine Schwarzen in ihren Genuss kommen konnten. Die Verabschiedung einer allgemeinen Krankenversicherungen im Rahmen dieser Reformen scheiterte an den Democrat-Südstaatlern, die verhindern wollten, dass Schwarze davon profitieren. Als ab den 1950er Jahren die Desegregierung erzwungen wurde, reagierten die Südstaaten mit einer geradezu absurden Selbstverletzung.

Diese ist übrigens glaube ich der Teil der ganzen Geschichte, der am heftigsten unterdrückt wird. So kennen heute alle einschlägig Gebildeten zwar die Geschichte von Little Rock, wo Bundestruppen schwarzen Schüler*innen den Zugang zur Schule erzwangen (spätestens die aus heutiger Sicht problematische Szene aus "Forrest Gump" ist vielen geläufig), aber praktisch niemand, wie es weiterging. Die Schüler*innen wurden von ihren weißen "Mitschüler*innen" systematisch ausgegrenzt und körperlich attackiert. Sie bekamen kein Essen und nachdem die Bundestruppen verschwunden waren, wurden sie aus der Schule herausgedrängt. Um der Desegregierung zu entgehen, schlossen die öffentlichen Schulen für mehr als anderthalb Jahre komplett, in denen es einfach für niemanden Unterricht gab - nur damit die Schwarzen nicht auch zur Schule konnten! Danach eröffneten die Schulen als Privatschulen wieder, denen das oberste Gericht der herrschenden Kaste, der Supreme Court, das Recht auf Diskriminierung bis heute zugesteht, und die Segregation hielt an.

Dasselbe Spiel findet sich in Parks, Schwimmbädern und anderen öffentlichen Einrichtungen. Als die Rechtsprechung des Supreme Court ihre Desegregierung erzwang, öffneten sie nicht für alle, sondern wurden komplett geschlossen. Zahlreiche Städte gingen soweit, ihre Schwimmbäder mit Beton auszugießen, damit sie nicht gezwungen werden konnten, diese für Schwarze zu öffnen. Die öffentlichen Institutionen wurden privatisiert, geschlossen oder ihrer Mittel beraubt. Diese atemberaubende Vernichtung öffentlicher Güter geschah zur Aufrechterhaltung des Kastensystems.

Auch andere Mechanismen dieses Systems verschlagen einem die Sprache. Die berühmte amerikanische Demokratie etwa dient ebenfalls direkt der Aufrechterhaltung des Kastensystems. Die in den USA gewählten "school boards", über die Eltern massiven Einfluss auf Unterricht, Bildungspläne und Schulen erhalten, sind bis heute deutlich weiß dominiert. In den Südstaaten stellten die weißen "school boards", die auch für schwarze Schulen zuständig waren, immer die schlechteren Kandidaten ein - damit die Qualität der Schulen, die zudem keine Finanzmittel erhielten, mit Sicherheit schlecht war. So erhielten die guten Kandidat*innen keine Jobs, sondern nur die Schlechten, ein System, das sich auch durch die Privatwirtschaft zog und die generationenlang eingeübte Tradition schuf, auf keinen Fall gut in der Schule zu sein - was die herrschende Kaste dann wiederum zur Rechtfertigung des Kastensystems nutzte, weil die untere Kaste ja offensichtlich nichts taugt.

Ich könnte endlos so weitermachen. Das Buch ist voll mit diesen Beispielen, die die Funktionsweise des Kastensystems in über 30 geordneten Kapiteln untermalen. Selbst für jemanden, der sich mit dieser Geschichte bereits recht gut auskannte, ist es voll mit Details und Analysen, die das Ganze in einen Zusammenhang setzen, der in seiner erschreckenden Allumfassenheit vorher schlicht undenkbar schien. Diese Lektüre ist schmerzhaft, aber sie lohnt.

Donnerstag, 24. März 2022

Gedanken zur Haushaltsdebatte

 

Ich schaue ja normalerweise eigentlich nie Politik im O-Ton, weder in Bundestagsdebatten noch in Talkshows. Aber das mag noch ein Überbleibsel der Merkel-Ära zu sein, denn die Haushaltsdebatte im Bundestag am 23.03.2022 hat mich dann doch genug interessiert, um die Wortbeiträge von Friedrich Merz und Annalena Baerbock komplett anzuschauen (warum die beiden? Weil Schnippsel von Baerbocks Rede in meiner Timeline landeten und ich den ganzen Kontext wollte). Die Haushaltsdebatte gehört zu den Ritualen des Parlamentarismus, an denen die ganz großen Leute aus Regierung und Opposition ihre Reden gegeneinander halten und an denen der parlamentarische Diskurs praktiziert wird. Im Idealfall kommen da rhetorische Meisterstücke heraus (etwa Lafontaine preisgekrönt 2007), allzu häufig eher nicht. Ich fand aber sowohl Merz als auch Baerbock bemerkenswert genug, dass ich die beiden etwas ausführlicher diskutieren will.

Dienstag, 22. März 2022

Rezension: Aus Politik und Zeitgeschichte - Green New Deals

Aus Politik und Zeitgeschichte - Green New Deals

Spätestens seitdem der linke Flügel der Democrats in den USA den Green New Deal als neuen Schlachtruf für sich entdeckte, ist er als Konzept in der breiten politischen Debatte angekommen. Als Ursula von der Leyen in ihrer Funktion als Kommissionspräsidentin der EU einen "Green Deal" einforderte (wohlgemerkt ohne das allzu sozialdemokratische "New"), war die Vorstellung einer "grünen Transformation" im politischen Mainstream verankert. Nur, Konzepte zum "Green (New) Deal" gibt es zahlreiche, weswegen das vorliegende Heft im Titel auch zu Recht die Pluralform verwendet. Und letztlich verstehen alle unter dem Gummi-Begriff ein Sammelsurium ihrer jeweils eigenen bevorzugten Politiken. Linke fordern massive staatliche Investitionen; worin, ist da eher sekundär. Bei Grünen ist klar, dass jeder Green New Deal eine Abkehr von fossilen und nuklearen Technologien bedeuten muss, während Konservative und Liberale vor allem eine Entfesselung von Markt und Innovation sehen. Einig sind sich aber alle, dass die Zukunft irgendwie grün sein müss. Umso wichtiger, dass hier etwas Licht in den Nebel der Begriffe gebracht wird.

Montag, 21. März 2022

Oskar Lafontaine betreibt mit der Spritpreisbremse wertebasierte Außenpolitik in chinesischen Talkshows - Vermischtes 21.03.2022

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.

Freitag, 18. März 2022

Rezension: Bill Watterson - Calvin and Hobbes Complete Edition

 

Bill Watterson - Complete Calvin&Hobbes Complete Edition (Hardcover) (Paperback)

Calvin and Hobbes ist zwar vielleicht nicht der berühmteste, aber wohl einer der einflussreichsten Comic-Strips, die je in US-Zeitungen erschienen sind. Zwischen 1985 und 1995 (eine vergleichsweise kurze Zeit für einen solchen Strip) erschien er wöchentlich und zog ein großes Publikum an. Ich hatte bisher keinen großen Bezug dazu. Einzelne Strips oder sogar nur Panels tauchten immer wieder in meinem Orbit auf, als Memes oder auszugsweise in der Timeline. Aber ich hatte mich nie groß damit beschäftigt. Ich hatte es aber immer auf der (stets zu langen) To-Do-Liste, und dieses Jahr habe ich mich entschlossen, diese Bildungslücke endlich zu füllen und meine Comicsammlung mit einer Calvin&Hobbes-Gesamtausgabe zu bereichern.

Donnerstag, 17. März 2022

Rezension: Mark Mazower - Hitlers Imperium

 

Mark Mazower - Hitlers Imperium (Mark Mazower - Hitler's Empire)

Das 2009 erschienene "Hitlers Imperium" des britischen Historikers Mark Mazower beschäftigt sich mit der Frage der Verwaltung der von den Nazis eroberten Gebiete. Untrennbar mit diesem Thema ist stets die Frage nach dem Potenzial verbunden, das das Deutsche Reich besaß, diesen Krieg tatsächlich zu gewinnen. Denn von der Ausbeutung der Ressourcen des unterworfenen Europa hing alles ab; sie war das explizite Ziel des Krieges, elementar als "Lebensraum" in die NS-Ideologie eingebunden. Bekanntlich gelang es den Deutschen nur in sehr eingeschränktem Maße, ihre Ziele zu erfüllen. Die Gründe dafür sind vielfältig und komplex; sie reichen von praktischen Herausforderungen über Inkompetenz zu ideologischen Einschränkungen. In Letzteren sieht Mazower wieder und wieder den eigentlichen Grund für das immanent notwendige Scheitern der Nazis in ihren Absichten.

Dienstag, 15. März 2022

Andrew Jackson leistet mit Macron auf Bürgergeld bei Klausuren ein Jahr Freiwilligendienst in Libyen bei der Bundeswehr ab - Vermischtes 15.03.2022

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

Warum die NATO nicht in Kiew einmarschiert

 

Disclaimer: Dieser Artikel setzt voraus, dass mein Artikel zur Logik der Abschreckung bekannt ist. Ich bin außerdem kein Experte für das Thema, weswegen die folgenden Ausführungen eher als work in progress anzusehen sind. Ich freue mich auf die Diskussion!

Im Überschwang der Solidarisierung mit der Ukraine gehen dieser Tage viele Beobachtende reichlich weit in ihren Forderungen nach Maßnahmen gegen Russland. Sanktionen können nicht scharf genug sein, Waffensysteme aller Art sollen geliefert werden, man bejubelt Freiwillige, die in den Krieg ziehen, fordert Flugverbotszonen, die Aufnahme der Ukraine in die NATO während der laufenden Kampfhandlungen oder sogar den Einsatz von NATO-Truppen auf dem Gebiet der Ukraine während selbiger laufender Kampfhandlungen. Ich will versuchen, etwas deutlicher zu machen, warum Russland agiert wie es agiert und warum der Westen darauf so reagiert wie er reagiert. Ich möchte dabei unzweifelhaft deutlich machen, dass ich die Leute verabscheue, die gerade mit erstaunlicher Hochmütigkeit über die Zukunft der Ukraine entscheiden zu können glauben oder einfach nur naiv mit dem Zauberstab der Verhandlungen wedeln.

Beginnen wir mit dem Kalkül für Russland selbst. Wir haben mit der Ukraine ein Musterbeispiel für das von mir im letzten Artikel beschriebene Paradox der "instabilen Stabilität", das durch Atomwaffen entsteht. Wäre Russland keine Atommacht, so wäre eine internationale, vermutlich NATO-geführte Militärmission vermutlich längst im Gange. Mindestens Luftschläge gegen den Aggressor dürften im Repertoire sein. Diese Option ist aber nicht auf dem Tisch. Russland ist eine Atommacht, und als solche gibt es keine Möglichkeit, ohne das unannehmbare Risiko eines thermonuklearen Weltkriegs militärisch in der Ukraine einzugreifen. Putin war diese Logik natürlich klar, weswegen er militärisch von westlichen Reaktionen auch wenig zu befürchten hatte. Wir kümmern uns gleich noch um die wirtschaftliche Seite mit den Sanktionen; lassen wir das erst einmal beiseite.

Nur Narren wie Matthias Döpfner können ernsthaft fordern, dass NATO-Truppen direkt in den militärischen Konflikt mit Russland eingreifen. Aber das ist eine glasklare rote Linie, die außer diesen Narren allen Akteuren völlig klar ist. Ein solcher Eingriff ist außerhalb des Handlungsfelds. Wesentlich unklarer ist die Lage, wenn es um die Unterstützung der Ukraine geht, also vor allem die Bereitstellung von Material, Informationen und Waffen.

Hierbei handelt es sich um die "inneren Bewegungen", die im Abschreckungsartikel angesprochen wurden. Im Vorfeld der Krise galt zumindest die Lieferung von Waffen bereits als eine rote Linie, die viele Staaten nicht zu überschreiten bereit waren. Vor allem Deutschland tat sich hier hervor. So blockierte die Bundesregierung einen Weiterverkauf alter Geschütze aus DDR-Beständen und weigerte sich, auch nur Pullover zu liefern, sofern diese im Flecktarnmuster gehalten waren. Keine Militärgüter in die Ukraine, man wollte die Situation auf keinen Fall eskalieren lassen. Andere Länder waren etwas forscher, aber substanzielle Lieferungen erhielt die Ukraine von niemandem, da man keinesfalls eine Rote Linie überschreiten wollte und, das ist ebenfalls wichtig, der Raum für solche Aktionen durch die eigene öffentliche Meinung eingeschränkt war. Gerade in Deutschland war die Lieferung von Militärgerät politisch nicht mehrheitsfähig; hier waren externe Bewegungen notwendig, um diesen Spielraum zu erweitern. Auch dazu kommen wir gleich noch.

Die Vorstellung aber, man könnte einfach ein Geschwader Mig-29-Maschinen über die USAF und den Stützpunkt Rammstein an die Ukraine übergeben, ist vor diesem Hintergrund geradezu gefährlich naiv. Hierzu müssten ukrainische Piloten in direktem Kontakt mit NATO-Personal und auf NATO-Bündnisgebiet Waffen direkt aus dem Besitz der NATO übernehmen - oder aber NATO-Personal die Ukraine betreten und diese Waffen direkt übergeben. Das wäre eine direkte Interventionsstufe, die zumindest gefährlich nahe an Russlands Rote Linien kommt, diese aber möglicherweise auch überschreitet - ein Risiko, das im Westen (glücklicherweise) niemand einzugehen bereit ist.

Wir sehen die Gefährlichkeit dieser Manöver bereits auf viel niedrigschwelligerer Ebene. Lkw-Konvois mit Nachschubgütern und Kleinwaffen aller Art aus Polen und dem Baltikum sind relevante Ziele für Russland, das zwar die Lufthoheit nicht vollständig innehat, aber doch genug, um reale Bedrohungen für solche Konvois darzustellen.

Ob die Mig-29 oder ein Konvoi mit Panzerabwehrwaffen - der Krieg findet direkt an der Grenze des NATO-Bündnisgebiets statt. Eine Eskalation ist sehr leicht vorstellbar. Würden die Mig-29 etwa tatsächlich übergeben, so hätte Russland ein Interesse, sie zu zerstören. Am verwundbarsten wären sie bei der Übergabe - wo aber die Gefahr einer Eskalation besonders hoch ist. Dasselbe gilt für Konvois mit Panzerabwehrwaffen. Wie schnell kann es passieren, dass Geschosse NATO-Personal erwischen, auf der falschen Seite der Grenze landen oder ein Flugzeug NATO-Luftraum verletzt? Jede solche Intervention birgt ein Eskalationsrisiko, weswegen die beteiligten Staaten sehr vorsichtig sein müssen.

Und Russland fährt seine eigenen externen Bewegungen, um den Bewegungsspielraum der NATO einzuschränken. Als Putin die russischen Atomstreitkräfte in höchste Alarmbereitschaft versetzte, tat er dies, um deutlich zu signalisieren, dass er zur Eskalation bereit war. Die Attacken russischer Truppen auf Atomkraftwerke können entweder als bedauerliche Kollateralschäden gelesen werden - oder als weiteres Signal, dass Russland zu nuklearer Eskalation bereit ist. So oder so schränken sie den Spielraum der NATO ein, weil sie die Roten Linien Russlands verschieben.

Doch natürlich beschränken sich diese Bewegungen Russlands nicht auf die Zeit nach dem Angriff. Der Angriff selbst war eine klassische "interne Bewegung": ein Versuch, in einem angrenzenden Staat ohne Atomwaffen und Schutz durch eine andere Atommacht mit einem schnellen Schlag - ein kombinierter Vorstoß von Panzerverbänden und Luftlandetruppen zu neuralgischen Punkten der gegnerischen Verteidigung - vollendete Tatsachen zu schaffen, in diesem Fall einen regime change, bei dem eine neue pro-russische Regierung die Abtrennung der Krim und der Donbass-Gebiete akzeptiert und so ein für Russland vorteilhaftes strategisches Vorfeld in Europa geschaffen hätte.

Dieses Vorgehen steht in krassem Gegensatz etwa zur Invasion der USA im Irak 2003. Die USA konnten wesentlich methodischer vorgehen und eroberte Gebiete absichern, weil sie nicht schnell vollendete Tatsachen schaffen mussten. Ihre Strategie erlaubte ihnen, die militärische Strategie statt die Politik den Gang der Ereignisse bestimmen zu lassen. Zwar versuchte Putin zuvor, durch externe Bewegungen seinen eigenen Spielraum zu vergrößern (wie dies die USA mit den gefälschten "Beweisen" für Massenvernichtungswaffen 2003 taten), aber dies gelang nur eingeschränkt.

Einerseits war die russische Propaganda, anders als die amerikanische 2003, in einem Paradox gefangen: bislang war Putin stets als Verteidiger der nationalen Souveränität aufgetreten. Nun verletzte er diese im eigenen Interesse. Niemand, nicht einmal China (dessen moderate Unterstützung für Russland eigentlich von allen Seiten eingepreist war und dessen Neutralität im Konflikt eine schwere Niederlage für Putin darstellt), akzeptierte die russische Linie. Umgekehrt waren die externen Bewegungen der NATO sehr erfolgreich, die den russischen Spielraum einschränkten, indem sie von Beginn an (sehr akkurat) die russischen Absichten vorhersagten und die offensichtliche Lüge von den "Manövern" der Armee an der ukrainischen Grenze damit zerstörten.

Warum aber, könnte man nun fragen, schränkte die NATO von Beginn an ihren eigenen Bewegungsspielraum ein, indem sie die militärische Option vom Tisch nahm? Präsident Biden machte von Anfang an unmissverständlich deutlich, dass es keinesfalls zu einer NATO-Intervention kommen würde, unabhängig davon, wie der Krieg verläuft. Warum? Der Grund dafür ist einfach: da dies offensichtlich die russischen Roten Linien überschreiten würde und sehr wahrscheinlich zu einer nuklearen Eskalationsspirale führen, wäre eine solche Drohung entweder geradezu absurd unverantwortlich oder ein Bluff. Ein solcher Bluff aber, von Putin aufgedeckt, würde die Position der NATO im Allgemeinen und der USA im Speziellen an anderen Standorten gefährden; dazu aber später mehr.

Das russische Kalkül war also Folgendes: eine schnelle Operation schafft vollendete Tatsachen des regime change, worauf der Westen mit weitgehend symbolischen Sanktionen reagiert, deren Folgen Putin bereits einkalkuliert hatte und die strafenden, nicht strategischen Charakter hatten: ihr Zweck wäre gewesen, die Schaffung vollendeter Tatsachen zu bestrafen und ein Unterpfand für Verhandlungen zu sein, ähnlich den Sanktionen 2014 im Minsk-Prozess. In einigen Jahren wären diese Sanktionen schrittweise wieder abgeschafft worden.

Dieses Kalkül ist nicht aufgegangen. Der Grund dafür liegt nicht in brillanten Manövern des Westens, sondern einzig und allein in den Handlungen der Ukraine selbst. Diese ist nämlich, egal was Neokolonialisten wie Richard David Precht denken mögen, ein souveräner Staat. Anstatt wie 2014 die russische Operation geschehen zu lassen, leistete die Ukraine entschlossen Widerstand. Das Regime Präsident Selenskys erwies sich als deutlich widerstandsfähiger, als sowohl Putin als auch der Westen angenommen hatte. Sowohl die inneren Bewegungen der Ukraine - eben dieser Widerstand - als auch die externen Bewegungen veränderten die Handlungsspielräume der beteiligten Akteure drastisch.

Über Nacht brach weltweit, aber besonders im Westen, eine Sympathiewelle mit der Ukraine aus, die politische Hindernisse, die für Jahrzehnte bestanden hatten, beiseite wischte. Die "Zeitenwende" der deutschen Verteidigungspolitik ist dafür nur ein Beispiel. Behauptete die Regierung vor dem Wochenende des Angriffs noch, mit einer Lieferung von 5000 Helmen ein "starkes Zeichen" zu setzen, öffneten sich nach dem Wochenende die Schleusen. Innerhalb einer Woche erhielt die Ukraine mehr Panzerabwehrwaffen, als die russische Armee Panzer besaß, auch aus Deutschland - um nur ein Beispiel zu nennen.

Dieser Erfolg beruht auch auf den geradezu brillanten externen Bewegungen der Ukraine und dem überraschenden Totalversagen der entsprechenden russischen Bewegungen. Nachdem Putins Propagandamaschine von der Krim über den Brexit und Trump zur Flüchtlingskrise gewaltige Erfolge im Westen feiern konnte, blieb sie dieses Mal praktisch wirkungslos. Stattdessen gewann die Ukraine die Schlacht um die öffentliche Meinung durchschlagend, sowohl im eigenen Land - was den Widerstand überhaupt erst ermöglichte - als auch im Westen, wo der überraschend heftige Widerstand der Ukraine die Handlungsspielräume der Regierungen dramatisch veränderte. Dabei half ihr natürlich die geografische und ethnische Nähe zum Westen: der Ukraine fiel es wesentlich leichter als der syrischen Opposition, westliche Sympathien zu gewinnen. Es war "echt", "im Herzen Europas" und was der abstoßenden Formulierungen nicht mehr durch die Medien geistert.

Möglich wurde das alles durch das Versagen der russischen Armee. Anstatt wie geplant vollendete Tatsachen zu schaffen, blieben sie im Schlamm der Rasputiza stecken. Über Nacht verwandelte sich die hochmoderne, gefürchtete Goliath der russische Armee in einen überforderten Haufen Amateure, der vom David der ukrainischen Armee niedergestreckt wurde. Dieser dramatische Ansehensverlust erweiterte erneut die Spielräume des Westens bei der Unterstützung der Ukraine.

Das wurde nicht nur bei den Waffenlieferungen deutlich, sondern auch bei den Sanktionen. Anstatt weitgehend symbolische Sanktionen punitiven Charakters nach einem fait d'accompli durchzusetzen, belegte der Westen Russland mit einem Maßnahmenbündel, das mit jedem Tag an Schärfe zunahm. Waren ein Ausschluss aus SWIFT und ein Einfrieren der russischen Dollarreserven zu Beginn als "nukleare Option" diskutiert worden, so zeigte sich nur Tage später die Dummheit solch überzogener Metaphern. Ein Ende dieser Eskalationsspirale von Sanktionen ist bislang nicht abzusehen. War zu Beginn des Krieges etwa für alle Beteiligten völlig klar, dass die Flüsse fossiler Rohstoffe aus Russland, vor allem Öl und Gas, nicht angetastet würden, werden genau diese nun diskutiert. Die Folgen der Sanktionen für die russische Wirtschaft sind verheerend.

Aber: Sanktionen sind mittel- bis langfristig wirkende Maßnahmen. Alle Analyst*innen sind sich einig, dass sie den Verlauf des eigentlichen Krieges in der Ukraine nicht beeinflussen werden. Dieser entscheidet sich an den Fähigkeiten der russischen Armee, Selensky zur Annahme von Bedingungen zu zwingen. Das Ziel der Ukraine ist dabei zumindest bisher nicht, die russische Armee zu besiegen - das wirkt immer noch wie ein wesentlich zu hoch gegriffenes Ziel, wenngleich einige Beobachtende bereits ihren Kollaps vorhersagen - sondern die russischen Forderungen zu begrenzen. Dieses Ziel verfolgt auch die NATO mit ihren Bewegungen: sie versucht, das Fenster möglicher Aktionen so einzuschränken, dass Putin seine Kriegsziele nicht erreichen kann und weniger Optionen hat. Zumindest der regime change scheint zur Stunde weitgehend vom Tisch zu sein, die Ukraine also zumindest ihr Ziel des Erhalts der Souveränität erreichen zu können.

Für die Außenpolitik des Westens mit der Ukraine ergibt sich hier ein Dilemma. Es ist nämlich im Interesse der Ukraine, dass der Westen eskaliert und in seinen Handlungen die Roten Linien Russlands überschreitet. Die Lieferungen von immer mehr und besseren Waffen, die Aufnahme in NATO oder EU wären legitime Szenarien für einen ukrainischen "Sieg". Nur bergen sie ein solches Risiko für eine nukleare Eskalation des Krieges, dass sie aus Sicht des Westens unannehmbar sind. Gerade der Erfolg der externen Bewegungen der Ukraine schafft hier im Westen eine gefährliche Eskalationsspirale von Forderungen, wie sie etwa in Döpfner deutlich wurde, und erfordert einen kühlen Kopf in der Politik, der glücklicherweise von allen Beteiligten bisher gezeigt wird. Nicht auszudenken, wäre in dieser Situation immer noch Trump im Weißen Haus.

Doch der Krieg geht noch auf anderen Ebenen in seiner Bedeutung über die Ukraine und NATO hinaus. Das Verhalten der Akteure, vor allem der USA, wird von allen Seiten aufmerksam beobachtet, von niemandem aber genauer als von China. Anders als im Fall der Ukraine haben die USA nämlich für Taiwan eine bewusst ambivalente Sicherheitsgarantie abgegeben. China würde lieber heute als morgen das "abtrünnige" Eiland übernehmen, notfalls mit Gewalt. Aber anders als in der Ukraine haben die USA bewusst die Option einer militärischen Verteidigung nicht vom Tisch genommen. Sie haben sich andererseits auch nie fest verpflichtet, wie das etwa mit Japan oder Südkorea der Fall ist. Diese strategische Ambivalenz dient der Abschreckung Chinas, und die Handlungen der USA im Ukrainekrieg geben der Führung in Beijing Rückschlüsse auf ein mögliches Verhalten der Supermacht in einem Konflikt um Taiwan. Wir erinnern uns, bei Abschreckung geht es um die Wahrnehmung.

In diesem Spannungsfeld bewegen sich auch Sanktionen. Beweist der Westen im Fall der Ukraine, dass er bereit ist, auch ökonomische Schmerzen zur Sicherung der eigenen Werte in Kauf zu nehmen, ist das ein deutliches Signal an Länder wie China, dass ihnen dasselbe Schicksal blühen könnte. Wie realistisch das ist, sei angesichts der Größe und Bedeutung der chinesischen Volkswirtschaft und ihrer größeren ökonomischen globalen Verflechtung einmal beiseitegelassen (Russlands BIP ist nicht einmal so groß wie das Italiens, nur zum Vergleich). Die Hoffnung wäre, dass das Risiko als so groß eingeschätzt wird, dass Beijing es nicht darauf ankommen lässt.

Der Ukrainekrieg ist aber für China auch aus anderen Gründen ein relevantes Anschauungsobjekt. Ebenso wie die chinesische Armee war die russische vergleichsweise hoch gerüstet und professionalisiert, aber seit Jahrzehnten weitgehend ohne Kampferfahrung. Es gibt ernsthafte Zweifel daran, wie hoch der Kampfwert der chinesischen Armee im Ernstfall tatsächlich wäre. Ihre Doktrinen sind alle unerprobt, ebenso das Zusammenspiel der Teilstreitkräfte. Das überraschende Ausmaß des russischen Versagens in der Ukraine ist ein abschreckendes Beispiel für einen möglichen chinesischen Überfall auf Taiwan, bei dem der Albtraum amphibischer Landungen und eine mögliche Verwicklung der USA dazukommen.

Und das alles ist, in a nutshell, die Dynamik des Ukrainekriegs auf strategischer Ebene. Wie das Ganze ausgehen wird, ist völlig unklar. Vielleicht wird der ukrainische Widerstand gerade völlig überschätzt, die russische Armee erholt sich bald und erreicht ihre Ziele doch noch. Vielleicht friert der Konflikt ein und verwandelt sich zu einem weiteren Afghanistan für die russische Armee. Vielleicht kollabiert die russische Armee tatsächlich, mit unabsehbaren Folgen für Putins Regime und die Stabilität der gesamten Region. Vielleicht passiert etwas völlig anderes. So oder so aber hat der russische Angriff eigentlich keine positiven Optionen gelassen. Jeder Ausgang ist mit schrecklichem Leid für die ukrainische Bevölkerung verbunden, und die Welt ist ein unsicherer Ort, als sie das vor dem Februar 2022 war.

Montag, 14. März 2022

Die Logik der Abschreckung

Zwischen 1949 und 1991 war die Welt in eine Szenario der Abschreckung gefangen. "Gegenseitig gesicherte Zerstörung", "Erstschlag", "Zweitschlag" und "Nuklearer Winter" waren Begriffe, die den meisten Menschen geläufig waren. Immer wieder kochte die Furcht vor einem alles vernichtenden Atomkrieg hoch, besonders in den 1980er Jahren. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs ist diese Angst weitgehend verflogen. Die zweite Generation, die ohne diese ständige Hintergrundfurcht aufwächst, wird gerade volljährig. Ich sehe mich gerade als Teil der ersten Generation - als die Mauer fiel war ich fünf Jahre alt, als die Sowjetunion zu existieren aufhörte sieben, ich habe keine Erinnerungen an den Kalten Krieg -, aber ich habe mich qua Profession viel mit dem Thema beschäftigt. Genug jedenfalls, um ziemlich entsetzt darüber zu sein, wie viele Leute diese Dinge entweder nie gelernt, oder noch verrückter, wieder vergessen zu haben scheinen. Und Grund genug, sich einmal damit zu beschäftigen, wie Logik der Abschreckung eigentlich funktioniert. Aus aktuellem Anlass, gewissermaßen.

Freitag, 11. März 2022

Putins Wasserträger und Springers Narrenreigen

 

Die Furcht vor einem Atomkrieg erreicht derzeit Höchststände, wie seit Mitte der 1980er Jahre nicht mehr gesehen wurden. Hamsterkäufe von Notfallvorräten werden unternommen, und die Fensterscheiben wackeln, weil Alarmrotten der Bundeswehr über Wohnvierteln die Schallmauer durchbrechen. Würden sie funktionieren, hätten wir vermutlich auch einen Test der Notfallsirenen gehört. Der illegale Angriffskrieg Putins auf die Ukraine hat, je nach Sichtweise, entweder Illusionen über die Welt zerstört oder eine Zeitenwende der internationalen Beziehungen eingeleitet. Eine ganze Reihe von früheren Wasserträgern Putins sieht inzwischen ziemlich blöd aus - was diese leider nicht davon abhält, weiter Unsinn zu reden -, während sich auf der anderen Seite ein Narrenreigen formiert, der am liebsten sofort auf dem grünen Tisch die Leopard Kampfpanzer auf die ukrainische Steppe befehligen würde.

Mittwoch, 9. März 2022

Putin, Trump und Biden beleidigen Schüler*innen auf Amazon und parken im Geflüchtetenaufnahmelager falsch - Vermischtes 09.03.2022

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

Fundstücke

1) Rick Scott pushes own GOP agenda as McConnell holds off

The Florida Republican senator is devising a conservative blueprint for Republicans to enact should they win Senate and House majorities this fall. Among Scott’s priorities: completing the border wall and naming it after former President Donald Trump, declaring “there are two genders,” ending any reference to ethnicity on government forms and limiting most federal government workers — including members of Congress — to 12 years of service. It’s a bold move for the first-term senator and National Republican Senatorial Committee chair. But Scott said the 31-page GOP agenda he’s crafted is separate from his work chairing the party’s campaign arm, adding that it’s “important to tell people what we’re gonna do.” It’s a clear break from Senate Minority Leader Mitch McConnell, who has declined to release a GOP agenda heading into the midterms. [...] The 11-point plan is a mix of longtime Republican positions, such as enacting a national voter ID law and shrinking the federal government, combined with culture war politics that define many GOP voters in the pro-Trump wing of the party. Scott said no one should be surprised that he’s devising his own plans, given his past record. (Burgess Everett, Politico)

Die republikanische Agenda besteht bereits seit vielen Jahren aus nichts als grievance politics. Man kann ja die Agenda der Democrats ablehnen, aber sie haben eine, die man ablehnen könnte. Der größte Politzyniker des Jahrhunderts, Mitch McConnell, hat die Lage wieder einmal richtig erkannt, wenn er in bewährter Tradition versucht zu verhindern, dass die Partei irgendwelche Positionen einnimmt. Denn viele ihrer Positionen - wenngleich bei weitem nicht alle! - sind völlig unbeliebt. Aber was an Substanz da ist, ist es. Es ist auch auffällig, wie chaotisch die Partei agiert. Es fällt nur niemandem auf, weil es nicht dem Klischee entspricht ("Democrats in disarray!"), aber ein Machtzentrum existiert nicht. Wenig überraschend: McConnell will 2022 nur die Mehrheit im Senat zurück (dann kann er wieder alles blockieren, und mehr braucht er nicht), und 2024 ist die Plattform ohnehin, welche Spinnerei Trump zur Stunde gerade einfällt.

2) The real reason Putin played a pussycat during the Trump presidency

But it's far more likely he hoped for something very different. As Jonathan Last pointedly suggested on Tuesday in his newsletter for The Bulwark, Trump expressed his desire on numerous occasions for the United States to withdraw from NATO altogether. He did so while campaigning for president in 2016. He did so as president. And apparently, he even made clear to advisers he hoped to make it a reality after he won re-election in 2020. Since such a withdrawal is Putin's fondest wish, it makes far greater sense to suppose his relative restraint during the Trump presidency was a function of a reasonable expectation he might get everything he wanted without having to fire a shot. Only now, with a less … unorthodox American president in charge, has war become Putin's only means of advancing his more immediate aim of ensuring NATO moves no closer to Russian territory. Putin didn't play nice guy from 2017 to 2020 because he was afraid of Donald Trump. He did so because he knew he had nothing to fear from the fanboy in the Oval Office. (Damon Linker, The Week)

Ich weiß nicht, ob das der "real reason" ist, aber er ist in jedem Falle sinnhaltiger als die Idee, dass Trump so abschreckend auf Putin wirkte, dass der sich nicht traute. Laut einigen republikanischen Quislings, etwa John Bolton und Mike Pompeo, plante Trump einen NATO-Austritt in einer zweiten Amtszeit. Ich traue diesen feigen Lügnern kein Stück über den Weg, aber dass Trump das tun wollte, glaub ich sofort. Das wäre natürlich der Hauptpreis für Putin gewesen, und in der Zwischenzeit war es nicht so, als wäre Trump ein Hindernis für seine Pläne gewesen. Wir wissen glaube ich alle gut, wie Trump kriminell in die Ukraine verstrickt war - und wie sich die Republicans weigerten, ihn deswegen zu impeachen.

3) Student Shaming – ein Problem im (digitalen) Lehrer*innenzimmer

Damit wird ein Verhalten von Lehrpersonen bezeichnet, die sich über Schwächen oder Regelverstöße von Schüler*innen lustig machen. Das kann vor der Klasse oder hinter verschlossenen Türen im Lehrer*innenzimmer passieren – oder auch halb-anonym auf digitalen Plattformen. Lehrpersonen erzählen sich dumme Sätze, welche Schüler*innen geäußert haben, empören sich über Frechheiten von Lernenden oder tauschen sich über Fehler und Faulheit junger Menschen aus. Aus der Sicht von Lehrpersonen ist Student Shaming oft ein Ventil: Es ist anstrengend und belastend, junge Menschen zum Lernen zu bringen. Viel Engagement verpufft, weil es ignoriert wird. Gute Absichten haben weniger Erfolg als gewünscht. Sich mit Kolleg*innen darüber auszutauschen, entlastet, es befreit. So weit, so verständlich. Doch es gibt zwei grundsätzliche Probleme damit, die Joshua Eyler in einem lesenswerten Essay herausgearbeitet hat: Erstens erzeugen sie ein Bild von einer Opposition zwischen Lehrenden und Lernenden, das nicht mit dem Bild einer Lehrperson zu vereinbaren ist, deren primäres Ziel darin besteht, jungen Menschen bei ihrer Entwicklung zu unterstützen. Zweitens zeigen Lehrpersonen, die Student Shaming betreiben, keine Bereitschaft zu verstehen, weshalb Lernende Fehler machen, gegen Regeln verstoßen, die Hausaufgaben nicht erledigen etc. (Philippe Wampfler, Schule Social Media)

Student Shaming ist ein reales Lehrerzimmerproblem. Ich glaube, einer der Hauptgründe dafür ist auch, dass es kaum anerkannte Möglichkeiten für positive Alltagskommentare über die Schüler*innen und den eigenen Unterricht gibt, zumindest ist das meine Vermutung. Die permanente Negativität bezüglich der Schüler*innen im LZ ist ansteckend. Meine Theorie ist, dass viele Lehrkräfte - mich eingeschlossen - sich nicht trauen, gute Dinge zu sagen. Und das ist verständlich. Wenn ich ins LZ gehe und mal wieder meckere, wie doof alle SuS sind, erreiche ich damit das Lehrkräfteäquivalent, das die meisten Menschen beim Meckern über die Jugend von heute, die Verspätungen der Bahn oder die moderne Technik haben: schnelles, zustimmendes Kopfnicken, ein Lacher, das Schaffen von gemeinsamer Identität. Viel mehr steckt da glaube ich oft nicht dahinter. Es ist eine gegenseitige Versicherung, In-Group zu sein. Wenn ich dagegen ins LZ komme und positive Dinge über SuS sage, ist die Gefahr groß, dass sich Kolleg*innen angegriffen und kritisiert fühlen oder dass es wie Angebnerei wirkt: "Schaut her, was für tollen Unterricht ich mache, ich habe hier eine Prahl-Geschichte."

Diese Gefahr besteht beim Meckern nicht, wo wir immer eine Gemeinschaft bilden. Berichte ich etwas positives, ist die Wahrscheinlichkeit für diese Gemeinschaftsbildung viel geringer. Das ist eine sehr toxisch Dynamik, aber sie existiert zweifelsohne und ist mit Sicherheit auch nicht LZ-spezifisch. Das gibt es in jedem Beruf. Dieses Meckern ist immer da, dient immer der Abgrenzung. Wir gegen die. Um Zweifel die Deppen aus Abteilung B, über die sich alle in Abteilung A lustig machen - und umgekehrt. In unserem Beruf hat das nur drastischere Konsequenzen als wenn ich mich bei den Kolleg*innen im Einkauf versichere, dass die Leute aus der Produktion doof sind. Weil das bei uns junge Menschen in der Entwicklung beeinträchtigt. Diese Verantwortung haben wir, uns deswegen stehen wir auch in größerer Pflicht, etwas dagegen zu tun. Ich überlege da schon eine Weile, was möglich ist. Mein aktueller Gedanke: Eine "Pflicht", jeden Tag was Positives zu sagen. Tolle Geschichten sharen.

4) Volkes Stimmen

Dabei verrät gerade der historische Kontext, wieso man die Rede von der „vierten Gewalt“ besser dort gelassen hätte, wo sie hingehört: im neunzehnten Jahrhundert. [...] Seit demokratisch gewählte Abgeordnete das Kabinett stellen und keiner königlichen Exekutive mehr gegenüberstehen, hat die Rede von der „vierten Gewalt“ als strenger Kontrollinstanz ihren Sinn verloren. Denn logischerweise muss in der Presse der Standpunkt der Regierung selbst verfochten werden können, wenn diese Regierung von einer Bürgermehrheit getragen wird – schon in Henry Reeves „viertem Stand“ findet auch die Position der Herrschenden ihren Platz. [...] Alles andere wäre absurd: Wie könnte die Gesellschaft selbst politisch Macht ausüben, wenn dieselbe Machtausübung in den Organen ihrer Öffentlichkeit der folgenlosen, unverantwortlichen Kritik ausgeliefert würde? Die Begleitung der Arbeit der Regierung mit stützenden Gründen kann nicht verwerflich sein, wenn eine gesellschaftliche Majorität sie doch aus ebendiesen Gründen ins Amt gewählt hat. Natürlich muss die Presse auch eine gewählte Regierung weiterhin kritisieren – schon deswegen, weil ein Teil der Bürger sich in Opposition befindet und auch in einer parlamentarisch verantwortlichen Regierung Korruption und Misswirtschaft blühen. Reeve wies darauf hin, dass in der Presse die Inhaber „ungewöhnlicher Meinungen“ zu Wort kommen, die im Parlament naturgemäß unterrepräsentiert sind. Ein Unterlassen in dieser Rücksicht wäre öffentlich anzuklagen. Aber dass berufsmäßige Kommentatoren auch in großer Zahl einschneidende Pandemiemaßnahmen stützen oder gar stärkere fordern, kann in einer Republik an sich kein Vorwurf sein. Die Presse ist seit der allgemeinen Durchsetzung der Demokratie eben keine „vierte Gewalt“ mehr – nicht aus innerem Versagen, sondern im Gegenteil, weil sie erreicht hat, was sie erreichen wollte. (Oliver Weber, FAZ)

Ich finde das einen sehr guten Artikel, der einen wertvollen Kontext herstellt. Die Vorstellung, die Presse müsse die Regierung immer kritisieren und angreifen, ist unglaublich schädlich. Denn dadurch entsteht der weit verbreitete Eindruck, sie mache "alles falsch", "alle Politiker*innen" seien korrupt, und so weiter. Es fördert Demokratieverdrossenheit. Ich glaube, das hängt auch stark mit dem Wegfall offener parteiischer Presse seit den 1980er Jahren zusammen. Vorher wusste ich klar: die ZEIT ist pro FDP, die FAZ ist pro CDU, der SPIEGEL ist pro SPD. Klar waren die parteiisch, in wesentlich größerem Ausmaß als heute (glaubt mir, ich hab meine Staatsexamensarbeit zum Thema geschrieben und hatte das vorher überhaupt nicht auf dem Schirm). Das ist ja auch einer der Gründe, warum ich eher für mehr denn weniger Meinungsartikel und klare Haltung argumentiere.

5) Warum demonstriert niemand gegen Putin?

Wenn die Massen für das, was ohnehin die herrschende und offizielle Meinung ist, auf die Straßen gehen, dann fühlt man sich bloß an Iran erinnert, wo es die Herrschenden schon nötig haben werden, den Einklang mit den Massen zu zelebrieren. In der liberalen Demokratie wäre es redundant und eine Zeitverschwendung, die Zustimmung zur Politik der Regierung laut zu demonstrieren. [...] Die Aktivisten der „Letzten Generation“ dagegen sind als junge Menschen schon demographisch in der Minderheit gegenüber den Alten, denen die schlimmsten Folgen des Klimawandels erspart bleiben werden. Wenn sie Gesetze brechen, werden sie sich dafür verantworten müssen. Aber dass sie, mit relativ drastischen Methoden, die Mehrheit der Indifferenten erschrecken wollen, schon weil, bis sie die entscheidenden Machtpositionen erreicht haben, es vermutlich zu spät sein wird: Das ist der Grund, weshalb Demonstrationen erfunden worden sind. (Claudius Seidl, FAZ)

Genauso wie in Fundstück 4 haben wir hier eine kluge Einordnung. Es ist redundant, für etwas zu demonstrieren, das ohnehin von allen geteilt wird. Demonstrationen dienen dazu, die "soziale Erlaubnis" herzustellen, sich zu etwas zu bekennen, zu zeigen, dass man nicht alleine ist und dadurch Verbündeten zu ermöglichen, sich offen zu zeigen. David Roberts hat diesen Mechanismus, nicht nur für Demonstrationen, in diesem Twitterthread schön aufgeschrieben.

6) Democrats need to back Biden more loudly on Ukraine

Democrats generally seem less inclined than Republicans to loudly boast about what they've done, and I've always ascribed this partly to a lack of conviction: They're afraid of committing themselves for fear that things might go sour later on and they'll look stupid. As Brian says, we pay a price for this. We haven't boasted much about the stimulus bill getting the economy back on track, so the void has been filled by conservatives and the media going crazy about inflation. Everyone stayed quiet about the Afghanistan withdrawal, so the void was filled with nonstop coverage of "chaos" and bad planning. Right now, Dems are mostly fairly quiet about Biden's rather remarkable diplomatic successes over Ukraine—which are fairly subtle and need explaining—so the void is filled with Fox News talking heads claiming that Biden is "weak" and Putin isn't afraid of him. I dunno. I've never understood this. Am I wrong about Democrats' aversion to boasting about what they (or their president) have done? Are they talking a lot and I'm just not hearing it? Or what? (Kevin Drum, Jabberwocky)

Ich habe meine Bekannten aus den Reihen der Politikberatung gefragt, ob Drums Einschätzung stimmt und woran das liegt. Deren Antwort war effektiv ein "Yeah, we've always been bad at this." Aber ein Problem zu erkennen ist ja immerhin schon einmal ein Fortschritt, wenn auch ein kleiner. Und ein Problem ist es. - Siehe zu diesem Thema auch der Artikel "The Shadow Congress" im Atlantic, der kritisiert, dass vom Kongress praktisch nichts zu sehen ist. Angesichts der dräuenden Midterms sicherlich auch nicht gerade die beste Situation.

7) Kids Have No Place in a Liberal Democracy

Our world is structured around the core notion that people are free and equal, and that ideally they ought to be left alone by state and neighbor to manage their own affairs, so long as their activities don’t impose upon others. From these simple premises and a handful of others that follow in close rhyme, we derive our democratic republic; our freedoms of thought, assembly, religion, association, and speech; and our indignation at being told what to do. In that sense, children are a paradox for liberalism. On the one hand, it’s crucial that they obey adults in their daily life, because they rely on adult competence and judgment to stand in while they develop their own. On the other, the helplessness of children, coupled with the fact that they too are wholly human persons, obligates others to them—meaning, in short, that children both take orders and give them by nature of their very existence. Children are bundles of obligations, theirs and ours to them, and their vulnerability and needs leave little room for the sort of political freedom the imaginary liberal subject is presumed to have. [...] And so in liberalism, as in life, children throw things into chaos and uproar. (Believe me when I say I find this to be one of their many charms.) They make a mess of things. They break the rules. They test limits. They create situations, to put it lightly, wherein adults behave in ways they wouldn’t normally. Nowhere is this clearer than in schools, which is where all of these philosophical problems manifest as screaming matches at town halls. (Elizabeth Bruenig, The Atlantic)

Es ist ein interessantes Problem, das dem Liberalismus inhärent ist. Grundsätzlich sollen alle Bürger gleiche Rechte erhalten, aber die Grenze dessen, was den "Bürger" konstituiert, ist ständig umstritten. War es in der Anfangszeit des Liberalismus noch eine kleine Oberschicht reicher Männer, so weitete sich diese Schicht nach und nach über das 19. Jahrhundert auf alle Männer aus, ehe sie Anfang des 20. Jahrhunderts auch alle Frauen umfasste. Seither senken wir die Grenze beim Alter sacht nach unten ab (von 25 auf 16), aber die Grundidee, dass nur Erwachsene mündige Bürger*innen und damit Inhabende der vollen Bürgerrechte sein können, ist weiterhin prävalent. Die Existenz von Kindern ist ein Paradox des Liberalismus, das vor allem dadurch gelöst wird, dass man sie in die Vormundschaft von Bürger*innen gibt - ihren Eltern, üblicherweise.

Dasselbe Vorgehen nutzt der Liberalismus beim Umgang mit Minderheiten und nutzt es historisch für Frauen. Die Konstruktion, die Bruenig hier beschreibt - "bundles of obligation" - wurde genutzt, um Frauen, Minderheiten und Arme von liberalen Rechten auszuschließen, ohne dabei die Fiktion eines freien Staatswesens aufs Spiel zu setzen. Wie bei Kindern - als die sie sowohl sprachlich als auch rechtlich gehandelt wurden - hatten sie nicht die Fähigkeit, verantwortlich am Staatswesen teilzunehmen, und waren daher Mündel derjenigen, die es waren.

Der Liberalismus hat heute noch nicht nur das Problem mit Kindern, sondern auch mit Einwander*innen, die in einem merkwürdigen Spannungsfeld von Rechten einerseits und Obligationen beziehungsweise Entmündigung andererseits leben. Ich würde die These in den Raum werfen, dass dies auch der Konstruktion der Menschenrechte zu verdanken ist, die den Bereich der Bürgerrechte zwar überlappen, aber nicht deckungsgleich sind. Wo die Kreise dieses Venn-Diagramms sich nicht berühren, entstehen Konflikte.

8) Amazon's $31b "ad business" isn't

To make this clear: Amazon retail business today is as an intermediary, a chokepoint capitalist marketplace with customers corralled on one side and merchants on the other, with a gate in between where it collects rent to let one side talk to other. [...] Remember when Amazon's screen real estate was given over to "Customers who bought this also bought this" and "Customers who viewed also viewed"? Today those slots are filled with "Sponsored products related to" and "Brands related to this category." In other words, Amazon has converted its "customer-centric" personalization system, which emphasized the products it predicted you would like best, into an auction house, where the products that have paid the most come first. [...] There is one major seller that is immune from this arms-race to buy your business from Amazon: Amazon itself. Amazon's own-brand business – which data-mines its business customers' sales data, manufacturing information, and other commercial intel, and then knocks them off – doesn't have to buy the top of the page. Amazon's own products get those slots for free. Which means that Amazon has tied a $32b anchor around its sellers' necks, then asked them to compete with its knockoffs of their products by outbidding them in search- and product-pages, on which Amazon can top any third-party bid by writing an unlimited check to itself. Amazon became Amazon because of extremely specific, explicit political choices that were made by a string of US administrations, starting with Ronald Reagan and ending with Donald Trump. (Cory Doctorow, Pluralistic)

Mir ist das auch schon aufgefallen. Die Suchergebnisse bei Amazon wie bei Google sind voller Werbung, die Bewertungen praktisch nutzlos. Wenn man das weiß - und Leute, die sich im Internet auskennen, wissen das üblicherweise, sind aber nur ein Bruchteil der Nutzendenschaft - kann man darum herum arbeiten, auch wenn es nervt. Aber das Einkaufserlebnis hat sich wesentlich verschlechtert.

Das war völlig absehbar. Amazons Strategie war von Beginn an, Monopolist zu werden und dann den fetten Reibach zu machen. Die waren ziemlich offen damit. Und wie Doctorow in dem Artikel ja auch darlegt: sie taten das mit dem Einverständnis eines Staates, der sich weigerte, den Laden vernünftig zu regulieren. Die Einzelhändler haben zwei Jahrzehnte lang Zeter und Mordio geschrieen, während Amazon sie aus dem Markt gedrängt hat. Jetzt ist der Moloch so mächtig, dass es schon eine herkuleische Zerschlagung bräuchte. Wie so oft arbeiten Großkapitalisten und staatliche Regulateure Hand in Hand.

Aber das entlässt die Konkurrenz nicht aus der Verantwortung. Ja, Amazon wurde auch mit aggressiven Preistaktiken und den oben beschriebenen Methoden zu dem Moloch, der es jetzt ist, aber es bietet eben auch einen nach wie vor uneingeholten Kundenservice, ist immer noch die bequemste Einkaufsmethode und ist zuverlässig. Genauso wie die traditionellen Medien geschlafen haben und dann um vorteilhafte Gesetze gegen Google, Facebook und Co schrieen, so schliefen die traditionellen Einzelhändler gegen Amazon. Das darf man halt auch nicht vergessen.

9) Urteil zum aufgesetzten Parken: 50.000 Autos in Bremen müssten umparken

Ein Urteil des Verwaltungsgerichts Bremen sorgt für Denkfalten im dortigen Senat. Es geht darum, eine Lösung zu finden für tausende Autos, die momentan in der Stadt illegal parken. Eigentümer und Bewohner von Wohnhäusern in drei Bremer Stadtteilen hatten von der Straßenverkehrsbehörde verlangt, gegen die seit Jahren an beiden Straßenseiten auf Gehwegen aufgesetzt parkenden Autos einzuschreiten. Da die Behörde dies Mitte 2019 ablehnte, gingen die Beschwerdeführer gegen die zuständige Verkehrssenatorin vor das Verwaltungsgericht. [...] Die Straßenverkehrsbehörde hatte argumentiert, sie habe keinen Handlungsspielraum, wenn sich die für die Gefahrenabwehr zuständigen Behörden Ordnungsamt, Polizei und kommunaler Ordnungsdienst nach ihrem Ermessen gegen ein Einschreiten entschieden. Verkehrsschilder müssten nicht aufgestellt werden, da den Autofahrern die Parkvorschriften bekannt seien. Das Gericht meint hingegen, die Straßenverkehrsbehörde sei nicht darauf beschränkt, Verkehrsschilder aufzustellen. Sie sei spezialisiert auf weitere Vorkehrungen, dazu gehören auch Verwaltungsvollstreckungen. Ihr stehe grundsätzlich ein Ermessen zu, ob sie gegen das aufgesetzte Gehwegparken einschreitet. Dabei dürfe die Behörde sich wegen der Besonderheiten des Einzelfalls nicht grundsätzlich gegen ein Einschreiten entscheiden. Schließlich seien die Kläger wegen der Dauer und Häufigkeit der Verstöße erheblich in ihrem Recht beeinträchtigt, die Gehwege beim Verlassen und Wiederaufsuchen ihrer Wohnhäuser zu nutzen. [...] Die Straßenverkehrsbehörde könne die Kläger auch nicht darauf verweisen, sich an die Ordnungsbehörden zu wenden, da diese in den betroffenen Wohnstraßen meist nicht einschritten, die Kläger seien damit faktisch rechtsschutzlos gestellt. Die betroffenen Autofahrer könnten sich nicht auf ein "Gewohnheitsrecht" berufen. [...] Der Bremer Innensenator meint, das Urteil gehe an der Realität vorbei. Würde es konsequent umgesetzt, hätten Zehntausende Autofahrer keinen Parkplatz mehr für ihr Auto, erklärte Sprecherin Rose Gerdts-Schiffler laut Weser-Kurier. (Andreas Wilkens, heise)

Ich sage es immer wieder: der massenhafte Rechtsbruch von Autofahrenden wird hingenommen und ist akzeptiert, wird nicht verfolgt. Ohne diesen massiven Rechtsbruch funktioniert das ganze System nicht. Besonders auffällig wird das wenn sich, wie hier, die Behörden schlichtweg weigern, geltendes Recht durchzusetzen. Und klar geht das Urteil an der Realität vorbei. An der Realität geht schon seit Längerem vorbei, welche Kollateralschäden die Pkw haben. Zumindest die Großstädte müssen so weit wie möglich von dieser Last befreit werden, und das erfordert einen massiven Wandel der Infrastruktur. Der Wahnsinn, dass wir zwei Drittel unserer Fläche als Abstellfläche für Fahrzeuge versiegeln und bereitstellen, die 23 Stunden am Tag nur herumstehen, muss aufhören.

10) Die seltsame Verwunderung über die Aufnahmebereitschaft der Osteuropäer

Wer von der Offenheit der Osteuropäer für die Ukrainer tatsächlich überrascht ist, nimmt offenbar wesentliche Unterschiede zwischen dieser Migrationsbewegung und den abgelehnten Wanderungsströmen nicht wahr. [...] Ebenso offensichtlich: Ukrainer sind anderen Osteuropäern nicht nur räumlich, sondern auch kulturell nahe. Sie teilen häufig den christlichen Glauben, und wenn nicht, dann eine gewisse Prägung durch das Christentum und seine kulturellen Niederschläge. Ihre Staaten entstanden in historischen Wechselwirkungen und die Nachbarvölker wissen, wie Schnaps und Schinken schmecken. Es fällt einem Ungarn leichter, Blicke, Mimik und Gestik eines Ukrainers richtig zu deuten als die eines in Afghanistan sozialisierten Menschen. Nach Polen kamen schon seit der Krim-Annexion 2014 anderthalb Millionen Ukrainer, ohne dass es dort in nennenswertem Umfang zu dem gekommen wäre, was man in Deutschland „Integrationsprobleme“ nennt. [...] Bei den Ukrainern, die über die Grenze kommen, handelt es sich außerdem vor allem um Frauen und Kinder. Seit der Generalmobilmachung kontrollieren die ukrainischen Grenzpolizisten jedes Auto, dass ins Ausland fahren möchte. Männer zwischen 18 und 60 Jahren müssen bleiben und sich in den Reservistenverbänden melden. Viele Ukrainer kehren sogar aus dem sicheren Ausland zurück, um zu kämpfen. Bei der Asylmigration aus dem Nahen Osten und Afrika, die von den osteuropäischen Regierungen behindert wird, sind hingegen junge Männer überrepräsentiert. (Marcel Leubecher, Welt)

Ich bin überhaupt nicht verwundert, aber ich bin Marcel Leubecher sehr dankbar, dass er den zugrundeliegenden Rassismus so offen ausspricht. Leute wie ich haben schließlich seit Jahren gesagt, dass das Problem Rassismus ist, nur um von Leuten wie Leubecher belehrt zu werden, dass, nein, nein, das sind nur berechtigte Sorgen über Integrationsfähigkeit und bla und blubb. Alles, um das es in Wahrheit schon immer ging, war: diese Leute sehen anders aus, und das mag ich nicht. Die kleinbürgerliche Borniertheit als Todesurteil für Zehntausende. Trevor Noah hat noch einen schönen Schnippsel, der zeigt, dass dieses rassistische Phänomen sich natürlich auch andernorts findet.

Resterampe

- Der texanische Gouverneur hat angeordnet, dass alle Eltern von Transkindern offiziell wegen Kindesmisshandlung verfolgt werden sollen. Erzählt mir bitte noch mal, wie viel schlimmer die Linken sind.

- Wer in Reaktion auf meinen Artikel zur Zeitenwende an mehr Informationen zu Verteidigungsausgaben des Westens und der Struktur derselben interessiert ist, wird hier fündig.

- Nachdem die Republicans gerade das Recht auf Abtreibung abschaffen, haben sie bereits das nächste Ziel im Auge: Verhütungsmittel. Die gehen echt voll in Richtung Gilead.

- Wer mehr Angst haben will, kann diesen Thread zur Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs lesen.

- Eine Rezension zu Mulders "The Econonmic Weapon", das ich ja hier auch rezensiert habe, und ein ergänzender Twitterthread mögen geneigte Lesende interessieren. Weitere Rezension hier.

- Dieser Artikel von Sabine Rennefanz versucht sich an Erklärungen für das "Verständnis" der Ostdeutschen zu Putin und Russland, kommt aber kaum über paternalistisches "sind halt die Ostdeutschen" hinaus, das die Bürgerlichen noch empört zurückwiesen, als es um Impfungen ging.

Montag, 7. März 2022

Putins Wasserträger und Springers Narrenreigen, Teil 1: Die Linkshänder

Die Furcht vor einem Atomkrieg erreicht derzeit Höchststände, wie seit Mitte der 1980er Jahre nicht mehr gesehen wurden. Hamsterkäufe von Notfallvorräten werden unternommen, und die Fensterscheiben wackeln, weil Alarmrotten der Bundeswehr über Wohnvierteln die Schallmauer durchbrechen. Würden sie funktionieren, hätten wir vermutlich auch einen Test der Notfallsirenen gehört. Der illegale Angriffskrieg Putins auf die Ukraine hat, je nach Sichtweise, entweder Illusionen über die Welt zerstört oder eine Zeitenwende der internationalen Beziehungen eingeleitet. Eine ganze Reihe von früheren Wasserträgern Putins sieht inzwischen ziemlich blöd aus - was diese leider nicht davon abhält, weiter Unsinn zu reden -, während sich auf der anderen Seite ein Narrenreigen formiert, der am liebsten sofort auf dem grünen Tisch die Leopard Kampfpanzer auf die ukrainische Steppe befehligen würde.

Dienstag, 1. März 2022

Rezension: Jonathan M. Katz - Gangsters of Capitalism

 

Jonathan M. Katz - Gangsters of Capitalism (Hörbuch)

Jonathan Katz' "Gangsters of Capitalism" hat einigen Wirbel verursacht und wurde mit zahlreichen positiven Kritiken besprochen; der Autor war auch in einer Folge von "Why is this happening" zu Gast, wo er einen Teil des Buchs mit Chris Hayes diskutiert. Ich sage hier bewusst "einen Teil", weil ich vom Podcast und auch anderen Besprechungen den Eindruck hatte, dass das Buch vor allem als Biografie Smedley Butlers zu verstehen ist und anhand seines Lebens diese Epoche des amerikanischen Kapitalismus' nachvollzieht, doch das ist nicht ganz korrekt. Katz ist die Stationen von Butlers Leben nachgefahren und erforscht im journalistisch-essayistischeren Teil des Buchs die Gegenwart von diesen Stationen Butlers Wirkens. Das macht das Buch eher besser als schlechter. Aber der Reihe nach.

Smedley Butler war ein Marine, der seinen ersten Kriegseinsatz im zarten Alter von 16 Jahren (er log bei bezüglich seines Alters) im amerikanisch-spanischen Krieg bei der Eroberung Kubas erlebte und seither eigentlich keinen kriegerischen Konflikt ausließ, ehe er 1928 zum letzten Mal zum Einsatz kam. Der mit zahlreichen Medaillen ausgezeichnete Kriegsheld ist einer der Säulenheiligen Quanticos, ein Vorbild für viele Marines bis heute. Gleichzeitig ist er aber auch ein von Linken gerne zitierter Kritiker des Imperialismus: in den 1930er Jahren erlebte er eine wahre Sinnkrise, schrieb mehrere Bücher (unter anderem "War is a Racket"), bezeichnete sich in einer berühmten Rede als einen "Racketeer for Capitalism" (wovon sich auch Katz' Titel des etwas zeitgenössischeren "Gangsters" ableitet, der sich auf das ganze Marine Corps bezieht) und verhinderte quasi im Alleingang einen Putsch von Rechtsextremisten und Businessleuten gegen Roosevelt 1933. Ein bewegtes Leben, wahrlich.

Katz folgt Butlers Biografie von den Anfängen im Krieg gegen Spanien 1898 bis in die 1930er Jahre, aber er nutzt sie mehr als Aufhänger fü ein wesentlich ambitionierteres Programm, weswegen ich vom journalistischen Teil sprach. Während Katz' intensive Forschungen sich in der Qualität und Tiefe der historischen Betrachtung deutlich bemerkbar machen - der Autor recherchierte über fünf Jahre in Archiven und las sich offensichtlich gewaltige Wissensbestände an - befasst sich ein guter Teil des Buches damit, wie diese Orte heute aussehen und welche Langzeitfolgen das Engagement der USA dort hatte.

Die Struktur des Buches schwingt daher zwischen biografischer Geschichtserzählung (und auch auf die Gefahr hin, dass wir die olle Diskussion wieder aufmachen, es ist trotz der extensiven Recherche eine Geschichtserzählung, während Brockschmidt etwas ganz anderes unternommen hat) auf der einen Seite und der journalistischen Berichte Katz' selbst, der diese Orte besucht und mit Menschen vor Ort spricht. Letzteres gleitet teilweise etwas ins Alberne ab, wenn Katz etwa versucht, einen nächtlichen Boot-Trip Butlers über eine philippinische Bucht nachzuvollziehen, nach dem dieser einen Nervenzusammenbruch erlitt, nur um festzustellen, dass er (Katz) sich nicht in seinen (Butlers) Kopf versetzen kann. Es sind solche Albernheiten, die angelsächsischen Geschichtsforscher*innen ihren schlechten Ruf in der deutschen Geschichtswissenschaft einbringen.

Auf der anderen Seite ist diese Struktur sehr flüssig geschrieben und macht das Buch unglaublich unterhaltsam, was man bei der Thematik nicht vermuten sollte. Die Zeit vergeht bei der Lektüre wie im Flug, und Katz findet einen hervorragenden Rhythmus im Wechsel zwischen den Passagen von vor 100 Jahren, in denen Butler als "Gangster" im Dienst des Kapitalismus agiert, und heute, wo viele dieser Länder die Geschehnisse von damals, in den USA längst verdrängt, als Gründungsmythen neu inszenieren und sich gegen die USA stellen.

Und das ist die eigentliche, halb verdeckt laufende Linie von Katz' Buch. Es ist eine längst überfällige Aufrechnung mit der eigenen Vergangenheit, der sich auch etwa Großbritannien, Belgien oder Frankreich bisher nur höchstens unvollständig stellen. Im Interesse geradezu lächerlich spezifischer und kleiner Wirtschaftsinteressen (worüber sich bereits Butler in seinem ersten politischen Moment 1909 in einem Brief an seine Mutter echauffiert) werden amerikanische Soldaten in ferne Länder geschickt und richten ungeheuere Bluttaten an.

Der Krieg gegen Spanien 1898 führt zum ersten Erwerb von Kolonien, aber er weckt eigentlich erst den Appetit der USA. In einem mehrjährigen, blutigen Krieg, der in einer Ära ohne Luftwaffe fast eine Dreiviertel Million ziviler Opfer kostet, werden die Philippinen unterworfen (was eigentlich nur gelingt, weil der philippinische Präsident viel zu lange Feldschlachten schlägt und zu spät auf Guerillakriegsführung umschwenkt, womit die USA in Südostasien noch so ihre Erfahrungen machen werden). Amerikanische Marines schlagen mit den Boxeraufstand nieder und führen sich in Honduras, Nicaragua, Panama und Bolivien auf, als wären sie die Herrscher dort.

Diese weitgehend vergessene Geschichte ist das eine; sie gewinnt ihre pointierte Bedeutung aber in den Besuchen des heutigen Katz, der etwa den Ort eines Massakers der amerikanischen Truppen in den Philippinen besucht und dort Zeuge eines Reenactments wird, in dem die Philippinos nachspielen, wie US-Soldaten Frauen vergewaltigen und Alte bajonettieren, ehe sie mit Begeisterung mit Macheten auf die Invasoren losgehen und sie in Stücke schlagen, oder wenn er in China ein Museum besucht, in dem die Niederschlagung der Boxer als gewaltige historische Lektion für Generationen chinesischer Schulkinder aufbereitet wird, dass man ein starkes Militär brauche, das gegen die USA bestehen kann. Oder wenn er in Nicaragua die Propaganda des örtlichen Diktators beschreibt, der sich vor allem dank eines stets mehrheitsfähigen Anti-Amerikanismus an der Macht hält - ein Anti-Amerikanismus, der angesichts der Geschichte des Landes leider wohl begründet ist.

Generell fällt auf, dass die rassistische Unterscheidung in "zivilisierte" Staaten, die eine völkerrechtlich kodifizierte Behandlung verdienen, und "unzivilisierte" Staaten, gegenüber man ungebunden ist, so zeittypisch sie auch war, für die Betroffenen verheerende Effekte hatte. Die von Lady Liberty ausgesandten Dough Boys haben genauso wenig Inhibitionen, Massaker zu verüben, wie Leopolds Privatarmee im Kongo oder die mörderische Truppe von Trothas in Namibia. Die Verbrechen, die die amerikanischen Soldaten verüben, sind in ihrer Regelmäßigkeit und in ihrem Umfang einfach nur schockierend.

Genauso schockierend ist, wie es zu den Invasionsentscheidungen kommt. Wer auch nur die geringste Berührung mit Kolonialismuskritik hatte, dürfte beim Namen "United Fruit" aufstehende Nackenhaare bekommen, aber die Geschäftsinteressen, die in den USA die Politik bestimmen, sind von einer ganz eigenen Qualität und werden von Katz sehr gut nachgearbeitet. Auffällig ist auch der Export des amerikanischen Rassismus'; nicht nur werfen Butler und die Politiker mit rassistischen Begriffen um sich, sie löschen die Leistungen schwarzer Soldaten und örtlicher Verbündeter aus der Geschichtsschreibung und segregieren die Länder, die sie erobern, nach amerikanischem Vorbild. Die Folgen dieser Politik prägen die Gesellschaft dieser Staaten bis heute und hinterließen ein jahrzehntelang wirkendes, giftiges Erbe - wie auch in den USA selbst, die immer noch mit diesem Erbe ringen und das wohl angesichts der Radikalisierung der Konservativen und der Zentralität des Rassismus für die Bewegung noch für Jahrzehnte tun werden.

Ebenso auffällig ist, wie die Namen Roosevelt, Mahan und Hoover zusammen mit dem Butlers durch die Jahrzehnte gleiten. Herbert Hoover, der spätere US-Präsident, war finanziell an zahlreichen der zwielichtigen Operationen beteiligt. Dasselbe gilt für die Familie Roosevelt, die gleich zwei relevante Präsidenten dieser Ära hervorbrachte. Und die epochale Bedeutung Mahans sollte allen, die sich für die Zeit interessieren, geläufig sein. Roosevelts Außenpolitik in den 1930er Jahren war, an der wenig beachteten kolonialen Peripherie, dementsprechend auch bei weitem nicht so progressiv wie im Inland. Er betrachtete sich selbst stets ohne Scham als Imperialisten.

Doch die USA stürzten nicht nur Regierungen in Mittelamerika und im Pazifik, um die Interessen der Großunternehmen durchzusetzen. Sie führten auch neue Ordnungssysteme ein, die diese Länder auf Jahrzehnte belasteten - das bereits erwähnte toxische Erbe dieser Politik. Wohin die Marines zogen, folgte ihnen die Segregation und spaltete Gesellschaften, oft zum Punkt von Bürgerkrieg und Genozid in den folgenden Jahrzehnten. So zwang Butler nicht nur Haiti dazu, eine neue Verfassung einzuführen, die amerikanischen Geschäftsleuten Zugang zu den Plantagen gab - indem er mit einigen Marines und den Waffen im Anschlag das Parlament zur Demission zwang - und war so direkt verantwortlich für das furchtbare folgende Regime von Papa Doc, sondern gründete auch die erste Guardia National, eine militarisierte Polizei, die mit liberaler Gewaltanwendung die Kontrolle für die kapitalistischen Interessen aufrecht erhielt.

Dies führte in den USA zu einem Skandal, als diese kolonialen Methoden im Inland angewendet wurden. In den 1920er Jahren war Butler für eine Zeit lang Polizeichef von Philadelphia, und er strukturierte die Polizei als erste in den USA auf eine Weise, die uns heute bekannt vorkommt. Er trainierte sie in der kolonialen Sichtweise, erst zu schießen und dann meist nicht zu fragen, die Anwohner*innen als Feinde zu betrachten und die Minderheiten zu unterdrücken. Dieses Vorbild würde sich weit über die USA hinaus ausbreiten, auch wenn Butler selbst - der es sich mit der republikanischen korrupten "Maschine" der Stadtpolitik verscherzte, als er auch gegen reiche Verbrecher vorging - nicht mehr involviert war.

Er selbst war aber mittendrin, als die kolonialen Methoden zum ersten Mal gegen Seinesgleichen angewandt wurden: als die betrogenen Veteranen des Ersten Weltkriegs 1933 nach Washington marschierten, um ihre Bonuszahlungen einzufordern, schoss das amerikanische Militär sie brutal zusammen - mit den eingeübten Methoden der Unterdrückung in den amerikanischen Kolonien. Den Zeitgenossen war das zutiefst bewusst, denn sie beschwerten sich lautstark darüber, so behandelt zu werden wie Menschen in "Bananenrepubliken" - und unter denen, die sich lautstark beschwerten, war auch Butler.

Abgesehen von seinen irrlichternden Versuchen, seinen Ruhm zu Geld machen, endet damit Butlers Geschichte in den 1930er Jahren. Die Verschwörung gegen Roosevelt, die er aufdeckte, wurde nie ernsthaft verfolgt - zu gut vernetzt waren die reichen Interessen. Die Parallelen zum 6. Januar 2021 allerdings sind unübersehbar, und eine wenngleich gewundene Linie führt von den Gewalttaten der kolonialen Epoche der USA bis in die Gegenwart, ob für die "Bananenrepubliken" oder die Vereinigten Staaten selbst.

Manchmal geht mir Katz hier mit seiner Linienziehung etwas zu weit, setzt Ereignisse zu sehr gleich und konstruiert arg simplifizierte Kontinuitäten; es ist in diesen Momenten, wo die journalistischen Instinkte klar über die des Historikers gewinnen. Aber das Buch bleibt insgesamt ungemein wertvoll, schon allein, weil es eine weitgehend vergessene - oder verdrängte - Epoche der Geschichte behandelt, die gleichzeitig aber ungemein wichtig für das Verständnis der heutigen Welt ist. Denn die Völker am receiving end des amerikanischen Imperialismus erinnern sich sehr gut.