Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.
Fundstücke
1) Das 100-Milliarden-Euro-Risiko der Bundeswehr
Vor allem an moderner und militärisch schlagfertiger Ausrüstung fehlt es, die Truppe ist ein Sanierungsfall. Zweitens haben auch die Steigerungen des Wehretats seit dem ersten Ukrainekrieg 2014 die Missstände nicht ausreichend beheben können. Denn die Mittel kamen kurzfristig mit dem jährlichen Haushalt und waren in ihrer Höhe unvorhersehbar. Damit lassen sich keine langfristigen Projekte solide finanzieren. Und drittens zeigten die Haushaltsvoraussagen der Bundesregierung zumeist Senkungen oder einen konstanten, aber keinen steigenden Haushalt in den Folgejahren an. Unter diesen Bedingungen konnte die Bundeswehr nur hier und da instand setzen, sich aber keinesfalls sanieren. Das Paket ermöglicht es der Bundeswehr nun, auf einen Schlag viele Löcher zu stopfen, Bestellungen zu vergrößern und Vorhaben zu beginnen, die bislang das Portemonnaie nicht hergab. [...] Es gibt zwei Entwicklungen, die der Streckung entgegenwirken: Rüstungsindustrie und Lobbyisten machen Druck, das Geld schnell auszugeben. Und auch die Bundesregierung selbst will das „Sondervermögen“ rasch investieren, damit sie nicht in dieser Legislaturperiode die Schuldenbremse einhalten kann. Denn die 100 Milliarden Euro werden nicht auf die Staatsschulden angerechnet. Wie dann die nächste Bundesregierung ab 2025 zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für den Verteidigungshaushalt ausgeben will, so wie es sich NATO-Staaten gegenseitig versprochen haben und gleichzeitig die Schuldenbremse einhalten soll? Das ist dann ihr Problem. Dabei verbietet es sich sicherheitspolitisch, nur bis zur nächsten Wahl zu denken. Mit dieser Herangehensweise würde die historische Zeitenwende von Kanzler Scholz schon aus der Kurve geworfen. Die Bundesregierung dürfte in dem Fall am Ende der Legislatur mit einer Reihe überteuerter und teils nur halbfertiger Rüstungsprojekte dastehen. In den bisherigen Bedarfslisten der Bundeswehr finden sich nahezu keine strategischen Projekte, die sich über einen kurzfristigen Geldsegen realisieren ließen. (Christian Mölling/Torben Schütz, FAZ)
Ich hab ein ähnliches Problem aus eigener Erfahrung miterlebt. Als die Pandemie die katastrophale Lage der digitalen Infrastruktur an Schulen schonungslos offenlegte, verabschiedete der Bundestag den "Digitalpakt", mit dem Schulen Gelder für Digitalisierung beantragen konnten. Diese Gelder waren an ein riesiges bürokratisches Buhai gebunden, das an den Schulen gewaltige Ressourcen an Arbeitszeit in Anspruch nahm (jede Schule musste einen eigenen "Medienentwicklungsplan" erstellen, der am Ende doch bei jeder Schule praktisch gleich aussah, weil, oh Wunder, halt überall dasselbe fehlte, nämlich alles) und das Ganze ewig verzögerte. Dazu waren die Gelder zweckgebunden, durften also für bestimmte Dinge nicht verwendet werden. Überrascht wen, dass sie vor allem für die am dringendsten benötigten Dinge nicht verwendbar waren? So dauerte es ewig, bis die Gelder abgerufen und genutzt wurden.
Gleichzeitig ist auch dieses Tanzen um das Goldene Kalb der Schuldenbremse wieder typisch deutsch. Es wird noch sehr lange brauchen, bis endlich politisch eingestanden wird, was für eine riesige politische Eselei das Ding war, aber ich bin zuversichtlich, dass man auch weiterhin Wege darum herum finden wird. In die gleiche Kerbe schlägt auch der Mangel an strategischen Projekten: woher sollen die denn auch kommen? Bisher haben alle Planenden bei der Bundeswehr, genauso wie im Schulbereich, damit rechnen müssen, das kein Geld da ist und auch nicht da sein wird und man nur den Mangel verwalten kann. Natürlich gibt es da jetzt keine fertigen Pläne in der Schublade, weder für die Digitalisierung der Schulen (oder, Gott behüte, saubere Toiletten) oder dafür, eine Armee mit 250.000 tatsächlichen einsatzfähigen Soldat*innen zu haben.
Man muss nicht lange im Internet wühlen, um Beispiele zu finden, wie die Ukrainerinnen, die jetzt nach Deutschland kommen, von Rassisten fetischisiert werden. Es gibt zahlreiche Tweets, in denen Männer erklären, sie würden gern »zwei junge blonde und fesche Ukrainerinnen« aufnehmen (»lieber als ein Afghane«), »endlich kann man hübsche Ukrainerinnen daten«. Männer schreiben: »Ich werde mir eine blonde Ukrainerin angeln« oder »hab Platz für ein paar Ukrainerinnen (Lach-Emoji)«, andere antworten: »Du Schlingel (Lach-Emoji)«. Es gibt einen Videoausschnitt, in dem man sieht, wie junge Frauen mit langen, glatten Haaren und sexy Partykleidern aus einem Fahrzeug steigen, jemand hat darauf den Text montiert: »Erste ukrainische Flüchtlinge in München angekommen.« Wenn Sie »deutsche Frauen« googeln, dann bekommen Sie als erste Ergebnisse: die deutsche Fußballnationalmannschaft, den deutschen Frauenrat, journalistische Beiträge über Emanzipation. Wenn Sie »ukrainische Frauen« googeln (und als Suchoption »bis 2021« eingeben, um die Ergebnisse vor dem Krieg zu sehen), finden Sie Texte über Armut und Zwangsprostitution. Wenn Sie »slawische Frauen« googeln, finden Sie Seiten von Heiratsvermittlungen und Texte über Schönheit. Und auf diese ohnehin schon bestehende Fetischisierung kommt der Krieg jetzt noch obendrauf. Kriege bringen die hässlichsten Seiten veralteter Männlichkeitsbilder ganz besonders zum Vorschein. (Margarete Stokowski, SpiegelOnline)
Das Faszinierende am Internet ist, dass man diesen ganzen ekligen Scheiß, den es natürlich schon immer (und früher noch viel mehr als heute) gab, inzwischen offen sieht. Es ist nicht überraschend, dass Leute so etwas sagen. In vielen (glücklicherweise immer weniger) Milieus gelten solche Sprüche immer noch als Marker von Männlichkeit, und ich würde bei den meisten annehmen, dass wenig dahinter steckt als ein ekliger Sinn für Humor. Das ist die Marke von "Wenn die Frau im Wohnzimmer ist war die Kette zu kurz"-Witzen. Ich denke, dass das überhaupt thematisiert werden kann und Empörung hervorruft ist ein sehr gutes Zeichen, einmal mehr das von el-Mafalaani erklärte Integrationsparadox: es ist gerade, dass wir solche Fortschritte auf dem Gebiet gemacht haben, dass das jetzt überhaupt sichtbar ist und dass es dann öffentliche Abwehrreaktionen gibt, die ja quasi eine gesellschaftliche Hygiene darstellen.
3) Die Spritpreisbremse ist ein populistischer Unsinn
Doch die dramatische Lage in der Ukraine mit allen ihren Verwerfungen für die Energiemärkte gebietet es, besser durchdachte Lösungen zu erarbeiten. Es muss mehr sein als ein populistischer Schnellschuss, der wohl auch noch gar nicht durchfinanziert zu sein scheint, selbst wenn er vom Bundesfinanzminister kommt. Erleichterungen bei den Spritpreisen müssen zunächst einmal so gestaltet sein, dass sie dem Effizienzgedanken dienen [...] Wer die Preisspitzen mit Staatsmitteln kappt, belohnt vor allem diejenigen, die viel Sprit verbrauchen. Und das sind ausgerechnet jene, die große Autos fahren und es sich leisten könnten, mehr zu zahlen. Ähnlich unspezifisch würde im Übrigen eine Mehrwertsteuersenkung auf Kraftstoffe wirken, wie sie unter anderem von der Union gefordert wird. Deshalb muss der Staat diejenigen kompensieren, die am stärksten betroffen sind. Gezielte Hilfen statt Gießkannen-Prinzip. [...] Die Zeiten sind für solche Versuchungen zu gefährlich. Die Menschen in Deutschland haben jetzt Ehrlichkeit verdient, und die schließt ein, dass die Regierenden ihnen schonungslos erklären, dass es Zumutungen geben wird. Nicht für alles kann der Staat die Bürgerinnen und Bürger kompensieren. (Gerald Traufetter, SpiegelOnline)
Der Tankstellensozialismus der FDP kommt nicht sonderlich überraschend, auch nicht, dass Lars Feld hat zusammen mit Lindner spontan seine Meinung geändert hat. Die FDP ist nicht blöd; die erkennt einen Wahlschlager, wenn sie ihn sieht. Der überwältigende Gegenwind aus allen Richtungen (ich glaube, das ist auch das erste Mal, dass ich mit Clemens Fuest, dem Chef des ifo-Instituts, einig bin), von links bis rechts, tut dem keinen Abbruch. Ja, die Spritpreisbremse schlägt allem ins Gesicht, für was Union und FDP angeblich immer waren, natürlich ist sie fiskalisch unverantwortlich, natürlich ist sie ökonomisch total sinnlos, aber verdammt, ist sie nicht politisch echt wirksam? Ich könnte mich endlos darüber aufregen und genauso endlos darüber amüsieren. Aber am Ende des Tages ist das eben deutsche Politik, und diese Mechanismen gelten für alle Parteien.
Das eigentliche Problem berühren sie natürlich überhaupt nicht. Da wäre einerseits der Profit der Energiekonzerne, an die man sich natürlich nicht rantraut. Letzthin stolperte ich über die Formulierung, es "besteht der Verdacht einer Absprache der Mineralölkonzerne", und da musste ich wirklich herzlich lachen. Deren Kartell ist seit Jahrzehnten anerkanntes Fakt, aber im Autoland Deutschland war es noch immer leichter, die Benzinpopulismuskeule rauszuheulen und à la Tobias Hans auf den Staat einzuschlagen, der sich "bereichern" würde, anstatt auf die wahlspendenden Konzerne.
Und das wäre das Dritte: Die Kosten der Spritpreisbremse, wie sie Tobias Hans vorschlägt, betragen rund 33,5 Milliarden. Kostenloser ÖPVN in ganz Deutschland, eine "völlig unbezahlbare Utopie", kostet 13,3 Milliarden. Wir sehen genauso wie beim Sondervermögen für die Bundeswehr, dass es keine Frage des Geldes ist. FDP und CDU haben kein Problem, mit einem Wimpernschlag Milliarden öffentlicher Gelder in Schulden für ökonomisch komplett unsinnige Investitionen zu verbrennen, wenn es ihren Interessen dient. Dass das für den Klimaschutz, für die hohen Mieten, für Obdachlose oder die vielen anderen Probleme nicht möglich sein soll, ist einfach nur lächerlich.
4) The end of the end of history: what have we learned so far?
1. Power of oligarchy. The power of oligarchy when it encounters le raison d’état is limited. We tended to believe that Russia, being an oligarchic capitalist economy, is also one where the rich decisively influence policy. Perhaps that in many everyday decisions that is the case. [...] Nor did all the buying of influence by the rich Russians among the Tories in the UK or both political parties in the US matter. Neither did the “sanctity of private property” on which the United States was created (and which so much attracted the oligarchs to move their stolen wealth there in the first place). The US proceeded to probably the largest inter-state transfer of wealth in history. It is the equivalent of Henry VIII’s seizure of church lands. While we have seen such gigantic confiscations within countries (the French and Russian revolutions) we have never seen it, in one fell swoop, in 24 hours, between the countries. [...] 2. Financial fragmentation. The corollary of this point is that extremely rich people are no longer safe from political forces—even if they change citizenship, contribute to political campaigns, or dedicate a wing of a museum. They can fall victim to geopolitics they do not control and which are much beyond their remit—and at times beyond their understanding. [...] 3. The end of the end of history. [...] The current war displays to us that the complexity of the world, its cultural and historical “baggage”, is great and that the idea that one type of system will eventually be embraced by all is a delusion. It is a delusion whose consequences are bloody. To have peace, we need to learn to live while accepting differences. These differences are not trivial differences that go under the current title of being open to variety, in way we dress, in our sexual preferences or the food we eat. The differences we need to accept, and to live with, are much more fundamental and they relate to the way societies function, what they believe in, and what they think is the source of legitimacy of their governments. (Branko Milanovic)
Milanovic bringt hier sehr interessante Punkte auf. Ich habe diese Argumentation schon immer vertreten und fühle mich da jetzt durchaus als bestätigter Hipster und werfe mich in "told you so"-Pose: die Nicht-Besteuerung multinationaler Konzerne, die Nicht-Regelung multinationaler Kapitalflüsse, die Nicht-Besteuerung international tätiger Superreicher, das war schon immer eine Wahl, kein Naturgesetz. Die Leichtigkeit, mit der man an die Vermögen der russischen Oligarchen, an die Gelder der russischen Banken und an unerwünschte Zahlungsflüsse herankam, straft alle Ausreden der vergangenen 30 Jahre darüber, wie die Globalisierung das angeblich unmöglich mache, Lügen.
Wesentlich beunruhigender, und hier bin ich wahrlich nicht im "ich hab es immer gewusst"-Camp, ist Punkt 3. Ich spüre intellektuelle Schmerzen dabei, dass offensichtlich die Kräfte des Liberalismus und der regelbasierten Weltordnung nicht nur an ihre Grenzen geraden, sondern massiv unter Gefahr geraten sind. Die Antwort kann meines Erachtens aber nicht lauten, dass man sie einfach auch aufgibt und in eine "dog eats dog"-Welt übergeht. Dazu aber weiter unten in Fundstück 5 und 7 mehr.
5) Die Irrtümer der China-Politik
Deutschland war über viele Jahre hinweg Exportweltmeister in einer offenen Weltwirtschaft, und so verwundert es nicht, dass mit den „deutschen Interessen“ vor allem deutsche Exportinteressen gemeint waren und werden. Sie gelten ganz im Stile der europäischen Kabinettspolitik des 19. Jahrhunderts als die Domäne eines harten außenpolitischen Realismus, während Werte wie Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte als eine Form von minderem, nachrangigem Idealismus abgetan werden. Welch ein Irrtum! Deutschland gehört zu den großen Profiteuren des Aufstiegs Chinas zur Weltmacht. Die Dekade der Angela Merkel wurde von den immerwährenden Exporterfolgen der deutschen Wirtschaft vor allem Richtung China überstrahlt. Nicht außenpolitischer Realismus, sondern industrie- und außenpolitische Blindheit haben diese Zeit geprägt. Heute wachen Deutschland und Europa in einer Wirklichkeit auf, in der wesentliche Teile der deutschen Industrie unter dem Primat der Interessen in eine gefährliche Abhängigkeit von dem Riesenmarkt China geraten sind. China setzt den Marktzugang zu seinem gewaltigen Binnenmarkt ganz gezielt als geopolitisches Druckmittel ein, so wie jüngst mit Australien geschehen. [...] In der Welt von morgen, ohne allgemeinverbindliche Regeln für den freien Handel, wird es sehr viel mehr auf die innere Balance von Werten und Interessen, auf die normative Stabilität dieser Balance ankommen, als in den Jahrzehnten davor. (Joschka Fischer, Tagesspiegel)
Wir sehen an diesem Beispiel einmal mehr, dass die "wertbasierte Außenpolitik", wie sie von den Grünen und vor allem Annalena Baerbock vertreten wird, in vielem sehr viel realistischer ist als ihr das Kritiker*innen gerne vorwerfen. Wir sind darauf angewiesen, dass Außenpolitik wertebasiert ist. Der Liberalismus, der lange aus ideologischen Gründen nicht als Wert, sondern als Naturgesetz begriffen wurde, ist das Fundament unseres Handelns. Die deutsche Exportwirtschaft funktioniert nur, weil sie innerhalb einer wertebasierten Ordnung stattfindet. Je mehr Länder sich dieser Werteordnung entziehen - Russland und China vorne dran, aber auch Polen oder Ungarn - desto größer ist der Schaden für Deutschland.
Es ist daher nicht eine Wendung in eine unrealistische, idealistische Außenpolitik, wenn Baerbock eine wertebasierte Außenpolitik einfordert. Es ist eine Wendung zum Realismus, ein Anerkennen, dass wir von der Einhaltung dieser Werte abhängen. Die bisherige Vorstellung, dass wir quasi ganz wertneutral einfach ohne jeden Interessenskonflikt jenseits Angebot und Nachfrage durch die Welt kommen würden, DAS war die idealistische, unrealistische Verblendung.
Die Erbschaftsteuer trifft bundesweit alle gleichermaßen, doch am Ausnahmemarkt München fluchen sie besonders darüber. Seit die Preise in der Stadt explodiert sind, ist der Übergang von Immobilienvermögen von einer Generation auf die nächste beim Eigentümerverband Haus und Grund in München das vorherrschende Thema. Nach Ansicht des Verbandsvorsitzenden Rudolf Stürzer liegt das größte Problem darin, dass die Freibeträge bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer in ganz Deutschland gleich und seit zwölf Jahren unverändert sind, die Immobilienwerte sich in der Republik aber vollkommen auseinanderentwickelt haben. Für Kinder der Verstorbenen liegt der Freibetrag zum Beispiel bei 400.000 Euro. „Schon für ein Reihenhaus in München kann Erbschaftsteuer in sechsstelliger Höhe anfallen. Für ein klassisches Mietshaus in Millionenhöhe“, sagt Stürzer. Nicht nur der Verband der Immobilieneigentümer schlägt Alarm angesichts der vermeintlich armen steinreichen Erben. „Brandheiß“ nennt der auf Erbschaftsfragen spezialisierte Anwalt Stephan Lang die Situation. In den vergangenen fünf Jahren habe sich die Zahl der Fälle in seiner Kanzlei verdreifacht, sagt er. Doch Lang will gar nicht über Einzelschicksale reden. „Die sind zwar bedauerlich, für viele hängt Herzblut am Erbe“, sagt er. Vielmehr gehe es um größere, wohnungspolitische Fragen und um Steuergerechtigkeit. Das verstünden bisher zu wenige, wettert er. [...] Die Eigentümerlobbyisten warnen: Durch die Erbschaftsteuer würden kleinere Vermieter vom Wohnungsmarkt der Stadt verdrängt. Denn deren Häuser kaufen ausschließlich professionelle Investoren auf. Eine andere Käufergruppe kommt bei den zu Höchstpreisen gehandelten Objekten gar nicht mehr zum Zug. „In der Folge passiert genau das Gegenteil dessen, was jede Stadtverwaltung sich wünscht: Das Haus wird entmietet, luxussaniert, und den Rest kann man sich an fünf Fingern abzählen“, schlussfolgert Lang. (Judith Lembke/Birgit Ochs, FAZ)
Diese ganze Situation ist völlig absurd. Da erben Leute Millionenwerte und das reicht nicht, um diese Millionenwerte zu bewohnen, weil eine über Jahrzehnte völlig fehlgeleitete Immobilienpolitik für Mondpreise gesorgt hat. Ich verstehe völlig, wie schmerzhaft es sein muss, das Häuschen von Oma verkaufen zu müssen, weil man die Erbschaftssteuer nicht zahlen kann. Aber was für ein Luxusproblem ist das! Und wie wenig ist es die Aufgabe des Staates, dieses Problem verteilungspolitisch anzugehen! Jeden Tag verlieren tausende von Menschen ihre Bleibe, weil sie wegen der Gentrifizierung aus ihren Wohnungen gedrängt werden, und die Politikoder verrennt sich in Mietendeckel und andere wenig geeignete Mechaniken (SPD, Grüne, LINKE in Berlin) oder tut nichts (Rest der Parteien und der Republik).
Und natürlich haben Ochs und Lembke Recht, wenn sie sagen, dass auf die Art das Ganze nur noch schlimmer wird, weil die Immobilienspekulanten so das Zeug aufkaufen, das die Familien wegen der hohen Kosten nicht halten können, und die Preise weitertreiben und die Wohnungsnot in den Städten verschärfen. Aber die Antwort kann doch nicht Umverteilungspolitik für ein paar hundert reiche Erb*innen sein, während zehntausende unter steigenden Mieten ächzen und die Politik nichts als Sonntagsreden entweder an die alles regelnde Macht des Marktes, das Übel des Kapitalismus oder Aufrufe an die soziale Gerechtigkeit hat. Wo Politik sein sollte, ist einfach nur ein gähnendes Loch.
Behrends: Die deutsche Gesellschaft allgemein und eben auch die SPD haben keinen emphatischen Freiheitsbegriff, wie ihn Polen und Briten, Amerikaner und nun auch Ukrainer kennen. Sie tauschen Freiheit gern gegen Sicherheit, zuweilen gegen Bequemlichkeit aus wie zuletzt in der Ära Merkel. [...]
WELT: Viele in der SPD sagen nun nach dem Überfall auf die Ukraine, sie seien von Putin belogen und getäuscht worden. Halten Sie das für glaubwürdig?
Behrends: In der SPD gab es in den letzten Jahrzehnten eine intellektuelle Entleerung, und es machte sich ein Funktionärstypus breit, der sich sein Weltbild nicht von der Wirklichkeit eintrüben lassen will. Diese Leute sind vielleicht von Putin tatsächlich überrascht worden, ich habe da keinen Zugang. Sie wollten es auch nie genau wissen.
Hinzu kommt, dass deutsche Außenpolitik schon vor 2014 in Russland nicht so genau hinsah, etwa bei der Barbarei der Tschetschenien-Kriege. Es gibt eine längere Tradition des Ignorierens – und umso mehr Überraschung, wenn das Ausblenden nicht mehr funktioniert und wir feststellen müssen, dass es mit Putin keine Einigung geben kann.
WELT: Warum keine Einigung?
Behrends: Weil es sich um einen Wertkonflikt handelt, den man nicht im Dialog auflösen kann. Putin will in Osteuropa eine russische Einflusssphäre errichten, in der Staaten nur begrenzt souverän sind. Er will Amerika aus Europa zurückdrängen.
Wir im Westen hingegen sind aufgerufen, die Ordnung von 1989 zu verteidigen, die darauf beruht, dass alle Staaten gleich souverän sind, Lettland und die Ukraine nicht weniger als Russland. Zwischen dem Westen und Russland herrschen nicht Missverständnisse, die wir vertrauensvoll ausräumen könnten, sondern fundamentale Gegensätze im Verständnis nationaler Souveränität und europäischer Sicherheit. (Matthias Kamann, Welt)
Inhaltlich bin ich voll bei Behrends, aber der Vorwurf mit dem "leeren Funktionstypen" ist mir zu platt. "Leere Funktionstypen" sind immer die anderen, während die Leute der eigenen Seite voll aufrichtigen Werten und Tatendrang, Pragmatismus und übersprühend vor intellektuellem Elan sind. Das ist eine ad-hominem-Attacke, die dem eigentlichen Argument schadet. Und das ist ja völlig korrekt. Die SPD steht vor dem Scherbenhaufen von fünf Jahrzehnten verkorkster Außenpolitik. Das wird bisher kaum so wahrgenommen, auch weil Olaf Scholz es mit beeindruckendem Merkelismus schafft, einfach die SPD von vor 2021 von der jetzt regierenden SPD zu trennen. Warum alle auf den gleichen Trick reinfallen, mit dem Merkel 16 Jahre durchkam, ist mir schleierhaft, aber das ist eben auch der Stand des deutschen Journalismus' und der öffentlichen Debatte.
In Deutschland lieben wir den diskursiven Nebel. Vier Talkshows bieten uns die Öffentlich-Rechtlichen regelmäßig, alle haben fast zwei Jahre lang ausschließlich die pandemische Lage beackert. Natürlich kann man sagen, das lag an der historischen Herausforderung, es lag aber auch daran, dass es der deutschen politischen Diskurskultur entspricht, das Klein-Klein aufzublasen, so zu tun, als verstehe man in den Redaktionen den armen Michel oder die Luise in Bottrop; ich weiß nicht, wie man diese Kunstfiguren des mittelmäßigen Verstehens im Journalismus sonst noch nennt. Diese Vorstellung, dass die Bürgerinnen und Bürger im Durchschnitt eben nicht in der Lage wären, strukturelle Fragen in den Blick zu nehmen, Verbindungen zu ziehen und so nach Schaltstellen zu suchen, an denen man Größeres bewegen könnte. Dieses beharrliche Unterschätzen der demokratischen Öffentlichkeit, tausend Nostalgiesendungen wurden in den letzten zwei Jahren produziert, man will uns ja Ablenkung schenken, daher auch die Behauptung: Der erneute Angriff auf die Ukraine kam „plötzlich“ und „unerwartet“. Wer hätte das ahnen können, fragen jetzt einige, als müsste man sich freisprechen. All das, was Putin jetzt tut, kam mit Ansage. Wir müssen anfangen, das kollektive Wegsehen aufzuarbeiten. Die Ermüdung, wenn es um die komplexen politischen Fragen der Welt geht, die Hintergrundinformationen verlangen. Es fehlen Formate, die große politische Themen auf eine Art präsentieren, dass sie zu breiten gesellschaftlichen Debatten werden. Die „Talkshows“ sollten ergänzt werden durch wirkliche Gesprächsformate – ohne Politiker in der Runde, die sowieso nur das wiederholen, was sie schon in ihren Nachrichtenstatements abgegeben haben. (Jagoda Marinic, taz)
Ich sage das seit Jahren. Die Talkshows sind reine Unterhaltungsveranstaltungen, es Politzirkus, in dem Leute sich als Clowns betätigen - oder bestenfalls als Hofnarren, denen erlaubt ist, die Wahrheit zu sagen, weil niemand sie ernst nimmt. Aber ich will an der Stelle gar nicht weiter meckern, sondern sagen, was ich mir wünschen würde. Mein Format wäre erstens: Politiker*innen treffen nicht aufeinander. Da kommt nur ein Phrasendreschen bei raus. Zweitens: Politiker*innen werden von interessierten und neugierigen Journalist*innen befragt (mein Goldstandard ist das Interview von Gaus mit Dutschke), statt von solchen, die nur versuchen, sie in die Pfanne zu hauen. Und die Antworten werden dann auch nicht genutzt, um sie in die Pfanne zu hauen. Drittens: das Ziel muss sein, das am Ende ein Erkenntnisgewinn da ist. Ich will die Leute verstehen. Wenn man jemanden wie zum Beispiel Kubicki interviewt, dann tut das doch bitte, um seine Haltung zu verstehen, nicht um Krawall zu kriegen. Dass Kubickis ganze politische Existenz nur dem Krawall dient, ist ja den Anreizen geschuldet und nicht einer charakterlichen Fehlstellung bei ihm (hoffe ich zumindest).
Ein Beispiel: man denke zurück an Anfang 2021, als Kevin Kühnert für einen Skandal sorgte, weil er die Möglichkeit der Kollektivierung von BMW ins Spiel brachte. Statt sofort Denkverbote auszurufen und zu versuchen, Kühnert zu canceln (man merkt wie doof die Begriffe sind, wenn man sie mal in ungewohntem Kontext bringt, nicht?), hätte man mit ihm darüber sprechen können, was er sich da eigentlich genau vorstellt. Wirklich interessiert nachfragen und die Tiefe diskutieren. Die Chance ist nicht schlecht, dass sich das dann als heiße Luft entpuppt hätte. Das hätte Kühnert mehr geschadet - und den Kräften des Liberalismus mehr geholfen - als das "Skandal!"-Gebrülle und der "Gotcha!"-Triumphalismus, der stattdessen rauskam. Es ließen sich solche Beispiele im Dutzend billiger für jede Partei finden.
Lafontaine scheiterte an Gerhard Schröder, den er nicht ganz ernst nahm, dem er sich überlegen fühlte. Lafontaine, nicht Schröder, war der Liebling der deutschen Linken in den Anfängen der Ökologiebewegung und auch der Medien, dem "Spiegel" vornweg. Auch deshalb bewunderte der Gerd den Oskar, von dem er sich einiges abschaute. Und dann schaltete der Gerd den Oskar aus. Der Gerd wurde Kanzler und der Oskar sein Finanzminister. Das hielt der Oskar nicht aus und schon gar nicht durch. Am 11. März 1999 schmiss er hin, zog sich ins Saarland zurück. Ein Schock, nicht nur für die Regierung, sondern für das ganze Land. Und das passierte der Sozialdemokratie, in der sich Größere wie Brandt/Schmidt/Wehner miteinander arrangiert hatten und Solidarität ein Leitbegriff war, eher zu viel gebraucht als zu wenig. Für Lafontaine gilt der Satz: Die wenigsten Menschen scheitern an ihrer Intelligenz, sie scheitern an ihrem Charakter. Andere traten vor ihm aus politischen Gründen von ihren Ämtern zurück, zum Beispiel Willy Brandt. Lafontaine aber genießt bis heute das Privileg, dass er hinwarf und nicht mehr gesehen ward. Von da an ging es mit ihm bergab. Ein Rechthaber war er immer gewesen und wurde es jetzt umso mehr. Die Linke war für ihn das Instrument, die SPD kleinzumachen, sie aus der Regierung zu hebeln und ihr irgendwann die Bedingungen fürs Regieren zu diktieren. Eine Zeit lang ging es ja auch gut. Die Linke wuchs, im Osten sowieso, aber auch im Westen. Rot-Rot-Grün schien sich zur Regierungsalternative auszuweiten. Was wäre das für ein Triumph gewesen! Was für eine Genugtuung hätte darin gelegen! Doch nichts ist daraus geworden. (Gerhard Spöh, T-Online)
Es wundert mich keine Sekunde, dass Lafontaine und Schröder nicht miteinander konnten; zwei einander so ähnliche Egomanen können niemals den gleichen Raum einnehmen ohne sich die Luft zum Atmen zu nehmen. Die verdienen einander. Am schönsten wäre ja, wenn sie jetzt zusammen eine neue Partei aufmachen würden. Ich würde auch eine neue Lafontaine-Partei sehr begrüßen. Alles, was die LINKE unter 5% hält.
Lafontaines Weg ist auch ein bisschen eine Tragödie, gerade weil der Mann so unleugbar Talent hatte. Nicht nur als Politiker, er ist auch intelligent und gebildet. Lafontaines Arroganz war nicht unbegründet; er hatte mehr Sachverstand als 90% seiner Kolleg*innen, er konnte besser reden als sie, konnte begeistern, er war ein Naturtalent. Nur stand er sich immer selbst im Weg. Seine unangenehmen Charakterzüge sorgten dafür, dass all dieses Talent letztlich vor allem destruktiven Zielen diente (zumindest ab 1999).
10) Ukraine gives Europe a key swing vote in the US-China rivalry
Diplomatically, the war reinvigorated US alliances and revitalised sanctions as a diplomatic tool. Now China is presented with an uncomfortable strategic trilemma. First, Beijing wants to remain aligned with Moscow given their common vision, values and substantial energy and military-technology interests. Second, China needs to adhere to the most sacrosanct principles in its foreign policy: protecting sovereignty and territorial integrity. Third, it wants to minimise the damage to its relations with the US and Europe, its top trading partners over the past decade. Yet, in response, China’s top diplomats have rejected the studied neutrality of 2014, when Russia annexed Crimea. It openly expresses sympathy and support for Moscow’s actions, avoids any responsibility, denies the contradictions in its position, blames the US and Nato and calls for diplomacy. Thus, the war and its geopolitical and economic consequences puts multiple pressures on China during an exceptionally challenging year for its leaders. (Evan Medeiros, Financial Times)
Es ist glaube ich mittlerweile jeder und jedem klar geworden, dass China der zweitgrößte Player auf der Welt ist, militärisch, wirtschaftlich und politisch. Seine Haltung im Ukrainekrieg ist daher von Interesse, weil seine Haltung zu allem von Interesse ist. Angeblich denkt China darüber nach, Russland zu unterstützen - das würde alles ändern. Daran müssen wir uns gewöhnen: das Gewicht Chinas, und dass es unseren Interessen meist nicht eben kongruent ist.
Und da sind wir dann bei Europa. Das muss endlich seine Außenpolitik auf die Pfanne bekommen, sonst wird es ewig nur das Objekt sein, das in der Weltpolitik hin- und hergeschoben wird. Ich halte aber diese Idee eines "swing vote" eher für ein Echo der alten Vorstellung mancher Europäer aus dem Kalten Krieg, dass man zwischen USA und Sowjetunion eine Art "dritten Weg" gehen könnte. Diese Vorstellung ist besonders in Frankreich und Deutschland verbreitet, und ich halte sie für Unfug. Unsere Sicherheit ist von den USA abhängig, und unsere wirtschaftliche Integration mit den USA ist um ein Vielfaches höher als die mit China. Das sind Realitäten, um die keine Sonntagsreden rumkommen.
Resterampe
a) Dieser Artikel beklagt sich über das "fucking westist leftsplaining" Russlands, und bekanntlich sehe ich das ähnlich.
b) Als Nachtrag zu meinem Artikel über die strategische Situation der Ukraine hier diese großartige Kritik an den dummen Flugverbotszonen-Forderungen.
c) Eine Studie hat ergeben, dass die deutsche Meinungslandschaft bei den Corona-Hilfen ziemlich pluralistisch war, während die italienische Schuldenkrise zu 95% das neoklassische Argument wiedergekäut hat. Das auch mal wieder für die, die eine riesige linke Verschwörung in der Medienlandschaft wittern.
d) Die Überschneidungen von Querschwurblern und Putin-Verstehern sorgen dafür, dass einige alte Artikel für die Welt jetzt ziemlich peinlich sind.
e) Sehr witziger Beitrag zu der ganzen "CRT"-Debatte.
f) Missouri verbietet Frauen in einem neuen Gesetz, den Staat zu verlassen, um eine Abtreibung vornehmen zu lassen.
g) Die ganze Absurdität der Auto-Identitätspolitik in einem Wortwechsel.
h) Wenig überraschend außer für die illusionären Optimisten dürfte sein, dass die überwiegende Mehrheit der Russ*innen den Angriffskrieg gegen die Ukraine gutheißt.
i) Wer sich für die Finanzströme Osteuropas interessiert, findet hier ausführliches Material.
j) Dieser Erfahrungsbericht mit homöopatischer Medizin macht einfach nur wütend und wirft einmal mehr die Frage auf, warum der Scheiß mit so viel öffentlichem Geld gefördert wird.
k) Was wirklich völlig ohne Überraschung ist: Impfgegner*innen finden Putin toll.
l) Zu Fundstück 9 mit Lafontaine ganz interessant ist auch diese Einschätzung von Thorsten Hildt.
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