Donnerstag, 29. Juni 2017

Schuld sind immer die anderen

Als Donald Trump die Wahl in den USA gewann, wurden viele Schuldige ausgemacht. Da war Hillary Clinton, die Wahlkampffehler begangen haben sollte. Da waren die Medien, die Trump zu viel unkritischen Raum einräumten. Da waren die Democrats, deren Programm angeblich zu abgehoben sei, die zu weit weg sind von den "echten" Amerikanern draußen in den ländlichen Gebieten (da hab ich schon ein paar Takte dazu gesagt).

Als Großbritannien in einer Volksabstimmung den Brexit beschloss, wurde darüber gejammert, wie schlecht der Remain-Wahlkampf war. Dass Jeremy Corbyn nicht wirklich in der EU bleiben wollte. Dass die Brexit-Befürworter gelogen hatten, dass sich die Balken biegen. Dass die Presse das noch anheizte.

Als in Frankreich Marie Le Pen nur einen Fußbreit vom Elysse-Palast entfernt schien, wurde bejammert wie abgehoben die Parteien seien. Dass sie die Sorgen und Nöte der Menschen nicht ernst nähmen. Dass Le Pen lügt und Falschaussagen verbreitet. Das Spiel lässt sich für jede Wahl wiederholen, wo Rechtspopulisten gegen den Rest der Welt standen. Fällt jemandem auf, wer in dieser Liste grundsätzlich niemals beschuldigt wird?

Es ist der Wähler. 70.000 Menschen in drei Staaten des Mittleren Westens reichten, um Trump zum Präsidenten zu machen. 52% stimmten für den Brexit. 34% haben im zweiten Wahlgang für Le Pen gestimmt. Alle Analysen nehmen diese Menschen beständig in Schutz.

Wie kann man es wagen, Leuten mit Südstaatenflaggen im Pickup und großzügigem Gebrauch des N-Worts als Rassisten zu verunglimpfen? Da muss man rausfinden, was die umtreibt, und muss ihnen Angebote machen und auf gar keinen Fall im Wahlkampf sagen, dass Rassismus nicht ok ist, denn damit würde man sie beleidigen.

Wie hätten 52% der Briten sich auch "richtig" entscheiden sollen, wenn Boris Johnson, Nigel Farage und die Yellow Press ihnen die Hucke volllügen? Sie haben den Brexit auf falschen Annahmen beschlossen. Auf keinen Fall waren uninformierte Ressentiments gegen Ausländer beteiligt.

Auf keinen Fall darf man die Franzosen, die eine Proto-Faschistin zur Präsidentin machen würden, für diese Überzeugung verantwortlich machen. Stattdessen muss man Verständnis zeigen. Den Leuten geht's nicht gut, da ist es ganz normal, wenn sie Ausländer hassen und die Demokratie abschaffen wollen.

Ich kann diese Scheiße nicht mehr hören. Schuld sind immer die anderen, aber nie die Wähler. Der Souverän einer Demokratie ist im öffentlichen Diskurs immer merkwürdig nebulös, hat keine Autonomie und keine, nun ja, Souveränität. Stets wird so getan, als ob Wähler für die Folgen ihrer Entscheidungen nicht verantwortlich seien. Das sind dann immer die Medien, die Politiker, die Lobbyisten. Aber nie, nie, nie diejenigen, die ihr Kreuz gesetzt haben.

Das ist eine Infantilisierung der Wähler. Eine Demokratie ohne Wähler kann es nicht geben, und wer glaubt, die Gründe für die Wahlentscheidung grundsätzlich immer bei irgendwelcher Beeinflussung von außen suchen zu müssen, ist schief gewickelt. Der Wähler in der Demokratie hat nicht nur Rechte, er hat auch Pflichten. Der Wahlakt ist kein institutionalisiertes Ablassen von Ressentiments, kein Kanal für undefinierten Protest, kein bloßes Mittel der Kommunikation mit den Repräsentanten.

Die Wahl dient dazu, die Regierung und das Parlament, das die Gesamtheit der Deutschen in den nächsten vier Jahren in der Welt und zuhause repräsentieren soll, zu bestimmen. Die Wahl über den Austritt aus der Europäischen Union ist keine Gelegenheit zu zeigen, dass man keine Ausländer mag, sondern eine tiefgreifende, monumentale Entscheidung in der Geschichte des Landes. Als Präsidenten der USA den ungeeignetsten und gefährlichsten Clown aller Zeiten zu wählen, nur weil man gerne Frauen Schlampen und Schwarze Nigger nennen möchte, ist kein Zeichen eines irgendwie übersehenen versteckten Volkswillens, sondern von demokratischer Unreife.

Irgendwo ist der Unterschied zwischen Meinungsäußerung - auf Demonstrationen, in Blogposts, Einträgen in sozialen Netzwerken, wütenden Leserbriefen, Redenschwingend auf der Straße oder im Schreiben von Petitionen und Abgeordnetenpost - und der Wahl der Richtung, in die das komplette Land in den nächsten Jahren gehen soll, völlig verloren gegangen. Das ist ein weltweites Phänomen, und es ist problematisch.

Wir müssen damit beginnen, den Wähler auch wieder zur Verantwortung zu ziehen - und die Politik dazu zu zwingen, die andere Seite dieser Verantwortung zu stellen, indem sie Alternativen im demokratischen Rahmen benennt, statt dieses Feld dem Abschaum von Rechts zu überlassen. Wähler müssen sich darüber klar werden, dass sie mit einer Stimme bei der Wahl einen Repräsentanten wählen, der für die nächsten vier oder fünf Jahre für sie Entscheidungen trifft, und dass es da vielleicht nicht schlecht wäre, wenn derjenige auch rudimentäre Qualifikation dafür vorweisen kann. Und Politiker müssen in diesem System dazu gebracht werden, ihre Entscheidung deutlicher und verständlich zu erklären, so dass es Verantwortliche gibt - für das Gute wie für das Schlechte. Der Gesundheit der Demokratie würde das nur guttun.

Mittwoch, 28. Juni 2017

Asymmetrische Homoehe

Wenn Angela Merkel eine Wahlkampfstärke hat, dann ist es das, was sie als "asymmetrische Demobilisierung" bezeichnet - das Entfernen jeglicher kontroverser Punkte aus dem Wahlkampf. Aus Sicht ihrer CDU ist das clever. Merkel versucht seit dem Debakel von 2005, nie auf der falschen Seite einer Debatte zu sein. Wenn die Stimmung im Volke schwenkt, schwenkt Merkel mit. Das ist eine andere Definition von konservativ als sie Adenauer pflegte, aber sie ist es, die die CDU als Volkspartei erhält - und diesen Status dem großen Gegner von einst, der SPD, vorenthält.

Dies konnte 2013 in der raschen und unkontroversen Einführung eines Mindestlohns beobachtet werden, der von der SPD nie als ein überragender Erfolg verbucht werden konnte und der Merkel auch nicht schadete. Seither ist die SPD eines griffigen Themas mehr beraubt und muss stattdessen im Wahlkampf jede Ausnahme und jede Centhöhe verteidigen, weil sie an der Regierung beteiligt ist. Dasselbe geschieht nun mit der Homo-Ehe.

Erst verkündeten die Grünen, dass sie keine Koaliton ohne "Ehe für alle" eingehen würden, dann folgte die SPD nach, einen kontroversen Wahlkampfschlager riechend, bei dem sie - endlich einmal - die Mehrheitsmeinung im Volk gegen die CDU auf ihrer Seite hätte. Als dann auch noch die FDP folgte, war klar, dass jeder Widerstand zwecklos war. Merkel handelte rasch: unter Deckung einer fadenscheinigen Geschichte von der Urlaubsbekanntschaft mit einer homosexuellen Frau erklärte sie die Homo-Ehe zur Gewissensfrage, was ihre Verabschiedung quasi sicher macht.

Damit brach sie den Koalitionsvertrag, den die SPD bisher stets eingehalten hatte. Schulz und seine Wahlkämpfer ließ das Manöver wutschnaubend zurück, und das Einbringen der Abstimmung "noch diese Woche" war nur der durchschaubar bemühte Versuch, Dominanz zur Schau zu stellen und sich selbst als treibende Kraft zu positionieren. Das wird kaum gelingen, waren es doch die Grünen, die den Trend begannen, und die FDP, die den letzten Sargnagel in die Hetero-only-Ehe einschlug.

Merkel hat damit noch vor offiziellem Wahlkampfbeginn das einzige Thema, das hätte kontrovers werden können und bei dem eine Mehrheit der Deutschen sicher gegen die CDU steht (ganz im Gegensatz etwa zur Europa-Politik) entschärft. Ihrem Stimmenanteil wird es gut tun. Dem demokratischen Meinungsstreit eher nicht.

Freitag, 16. Juni 2017

Helmut Kohl, Staatenlenker

Bundesarchiv, B 145 Bild-F074398-0021 / Engelbert Reineke / CC-BY-SA 3




Ich respektiere Helmut Kohl als Staatsmann. Ich glaube, das ist das Statement das in seiner Präzision genug Raum lässt einerseits der Kritik, die ein in den 1980er und 1990er Jahren regierender CDU-Kanzler von jemandem wie mir offensichtlich erwarten kann, und andererseits der Würdigung seiner unbestrittenen Erfolge als Bundeskanzler. Anlässlich seines heutigen Todes soll hier beidem Platz gewidmet werden.

Ich selbst habe Kohl nicht sonderlich bewusst erlebt, er ist für mich vor allem ein historisches Fakt. Meine erste aktiv wahrgenommene Bundestagswahl war 1994, und damals war ich 10 Jahre alt und erfuhr, dass man CDU wählt. 1998 habe ich dann beiläufig einige TV-Spots im Fernsehen gesehen, unter anderem einen, in dem Kohl nicht von der Enterprise gebeamt wird. Das war halbwegs clever. Keine Ahnung, ob ich damals den Namen seines Konkurrenten gekannt hätte. Von daher habe ich mich mit dem Mann erst auseinandergesetzt, als Schröder bereits einige Jahre Kanzler war. Persönliche Gefühle und Erinnerungen an seine Zeit habe ich nicht.

Ich stelle dies voran, weil die Kanzler, die man selbst erlebt hat - vor allem die ersten, die man so richtig wahrgenommen hat, als das politische Ich gerade erwachte - prägend sind. Bei mir war das Schröder. Bei denen, die sich an Kohl gerieben haben und die damals erbittert über Vergangenheitsbewältigung und Wiedervereinigung gestritten haben, wird der Name vermutlich noch einige Affekte wachrufen. Das ist hier nicht der Fall.

Helmut Kohl war eine hervorgehobene Figur deutscher Bundespolitik seit den frühen 1970er Jahren. Er gehörte zu den großen innerparteilichen Konkurrenten von Rainer Barzel, dessen Karriere 1972 im gescheiterten Misstrauensvotum gegen Brandt endete und den Weg für die Kandidatur des Rheinland-Pfälzischen Ministerpräsidenten 1976. Seine reichlich eindeutige Niederlage gegen Nemesis Helmut Schmidt gefährdete ihn zwar, aber sein taktisches Geschick ermöglichte es ihm, als CDU-Leitfigur erhalten zu bleiben und 1980 Franz-Josef-Strauß die Bühne zu überlassen. Derart als loyaler Parteisoldat etabliert, war er es, der vom Koalitionswechsel der FDP 1982 profitierte.

Als Kohl damals unter demokratisch nicht ganz lupenreinen (wenngleich völlig legitimen) Umständen an die Macht kam, deklarierte er die "geistig-moralische Wende". Der Begriff war nie so genau ausdefiniert gewesen, wie es in der Rückschau oft dargestellt wurde, aber er enthielt eine Aura von wirtschaftlichem Aufbruch bei gleichzeitigem Eingrenzen der alternativen Milieus und Protestbewegungen. Vage wie er war erlaubte er es außerdem jedem, seine eigenen Hoffnungen und Wünsche darauf zu projizieren. Die Rezession der frühen 1980er Jahre hatte die Bevölkerung außerdem mürbe gemacht für neue Ideen, und so konnte Kohl sich mit den schnell ausgerufenen Neuwahlen 1983 eine eigene, nun geruchsneutrale Mehrheit sichern - und zudem die Genugtuung, dass die FDP beinahe an dem Koalitionswechsel zerbrach.

Seine Anfangszeit war reichlich holprig. Mehrmals vergriff er sich stark im Ton, machte den konservativen Scharfmacher (ein Job, den er bald Getreuen wie Heiner Geißler überließ) und beleidigte den neuen sowjetischen Staatschef Gorbatschow, ohne sich über die internationale Wirkung seiner Stammtischparolen klar zu sein. Auch in den USA machte er sich nur wenig Freunde damit, als er den Präsidenten über einen Soldatenfriedhof führte, auf dem Waffen-SS-Mitglieder mit militärischen Ehren bestattet waren und diesen zu einer verkappten Ehrenbezeugung vor dieser nicht gerade rühmlichen Episode zwang. Es ist ein Urinstinkt der Politiker rechts der Mitte, gegen das was sie als "politische Korrektheit" begreifen¹ anzurennen, und vermutlich war dies bei Kohl Überkompensation. Er wurde bald merklich vorsichtiger.

Dazu hatte er auch allen Grund. Ende der 1980er Jahre war die Stagflation zwar vorbei, aber die Arbeitslosigkeit unverändert hoch, während die Staatsschulden - seit jeher Bewertungslatte der konservativen Politiker - stiegen und stiegen. Zudem hatte sich Kohl bereits damals in seinen Privatkrieg mit den Journalisten von stern, Spiegel, Zeit und - später - taz verbissen, der nicht gerade Stimmungsfördernd war. Der rechte Flügel der CDU fand ihn zu lasch, die Republik zu langweilig, die Wirtschaft zu wenig energisch, kurz: Kohl hatte wenig Fans. So wenig, dass die Wahlen 1991 als düstere Aussicht am Horizont erschienen und einen innerparteilichen Putsch auslösten. Kohls taktisches Geschick sicherte ihm ein zweites Mal in der sicher geglaubten Niederlage die Parteispitze, und es war Lothar Späth, der sich nie von dem Versuch erholen sollte. Kohl hatte stets einen langen Atem und ein Elefantengedächtnis, wenn es um Rache ging.

So oder so sah es allerdings 1989 danach aus, als ob Kohl vor allem als ein gescheiterter Kanzler in die Geschichte eingehen würde, vielleicht noch kurz vor Erhardt und Kiesinger, aber sicher nicht vor Adenauer, und wohl auch nicht vor Brandt und Schmidt. Sehr zum Chagrin der hartgesottenen Konservativen hatte er schließlich in guter bundesrepublikanischer Tradition die Ergebnisse der sozialliberalen Jahren, von Mitbestimmung über Ostpolitik, stehen lassen und sogar auf ihnen aufgebaut. Darin sehen wir zum ersten Mal Kohl, den Staatenlenker. So wie Willy Brandt nie danach trachtete, die Adenauer'sche Politik ungeschehen zu machen, sowenig suchte Kohl, die seine zu vernichten. Ändern, reformieren, umgestalten - gewiss. Aber abschaffen? Kohl war ein echter Konservativer, kein Republican.

Die eigentliche Schicksalsstunde aber schlug dann im Herbst 1989. War die schwarz-gelbe Regierung in den 1980er Jahren systemstabilisierend für die DDR gewesen (man erinnere sich nur an den Milliardenkredit Strauß'!), so nutzte er nun die Chance, die ihm die ostdeutsche Zivilgesellschaft verschafft hatte. Die Wiedervereinigung war die wohl größte außenpolitische Einzeltat in der ganzen bundesrepublikanischen Geschichte. Vier Alliierte und ein Satellitenstaat mussten alle von ihr überzeugt werden, dazu noch die eigene Partei und in guten Teilen das eigene Volk. Auch wenn heute viel Folklore über Spaziergänge mit Gorbatschow dabei ist, so zeigte sich hier doch deutlich, wie gereift Kohl im Gegensatz zu seinen frühen Ausbrüchen in die Außenpolitik war. Die Situation war ungeheuer chaotisch und mit Sicherheit auch in höchstem Maße stresserfüllt. Er blieb gelassen und verhandelte ein Jahr lang das effektive Ende des Kalten Krieges (auch wenn das damals, auch für ihn, noch nicht absehbar war).

Gleichzeitig zeigte sich hier auch wieder sein taktisches Genie. Es würde eine vorgezogene Bundestagswahl 1990 geben. Noch 1989 schickte die CDU ihre Leute nach Ostdeutschland, assimilierte die "Allianz für Deutschland" und wandelte sie innerhalb kaum eines halben Jahres in fünf neue Landesverbände der CDU um. Die Ressourcen des Staates, die ihm als Kanzler zur Verfügung standen, nutzte er für einen massiven Wahlkampf in seinem Sinne. Die Chancen seines Konkurrenten Lafontaine sanken stetig, aber der Todesstoß war vermutlich seine Entscheidung, gegen allen wirtschaftlichen Rat eine Währungsunion auf Basis 1:1 zuzulassen. Bis heute ist in höchstem Maße umstritten, ob politisch überhaupt eine andere Maßnahme wirklich realistisch war. Kohl gab damit aber bereits den Startschuss für die breit angelegte Deindustrialisierung der DDR.

In Teilen war diese angesichts des Stands der ostdeutschen Wirtschaft sicherlich unvermeidbar. Aber wo die Währungsunion und Reisefreiheit noch mit dem Druck des Augenblicks und den politischen Notwendigkeiten begründet werden konnten, gab es für die Treuhandanstalt und die absolute Ideenlosigkeit eines Umgehens mit den Verlierern der Einheit weniger Entschuldigung. Vielleicht war Kohl 1991 auch ähnlich erschöpft wie Willy Brandt es 1973 war. Jedenfalls erlaubte er es, dass die zweite Reihe der Partei den Profiteuren und Wirtschaftskriminellen freie Bahn ließ. Innerhalb von zwei Jahren war Ostdeutschland nicht voller blühender Landschaften, sondern voller Industrieruinen. Die großen Erwartungen, die er selbst aus wahlkampftaktischen Gründen genährt hatte, holten die Politik ein.

Die Zeit zwischen 1993 und 1998 wurde von praktisch allen Seiten als eine Zeit der Lähmung und des Stillstands empfunden. Für Progressive geschah zu wenig: in der Umweltpolitik, in der Familienpolitik, in der Wirtschaftspolitik. Für Liberale geschah auch zu wenig: viel zu wenig Deregulierung, viel zu viel Bürokratie, viel zu viel Staat. Bundespräsident Herzogs berühmte "Ruck-Rede" von 1997, die quasi der Startschuss für den Reformwahnsinn von 2002-2006 war, war mindestens so sehr an Kohl wie an die Gewerkschaften und anderen traditionellen Gegner der neoliberalen Wende gerichtet. 1998 trat Kohl gegen alle Vernunft ein weiteres Mal als Kanzler an, anstatt Schäuble das Feld zu überlassen. Er verlor krachend gegen Gerhard Schröder, nun als der Pattex-Kanzler, der seinen Sessel nicht aufgeben konnte. Vollends zerstört wurde sein Ruf in der Spendenaffäre 1998-2000, als er die Aufklärung massiv behinderte und für seinen eigenen Status lieber die Partei und, vor allem, Wolfgang Schäuble mit in den Untergang zog. Es war kein schönes Bild.

Heute ist das alles im Dunst der Geschichte verschwunden. Wie bei jeder historischen Person bleibt maximal ein prägender Moment zurück. Bei Kohl ist das die Wiedervereinigung. Sie nötigt schon allein deswegen Respekt ab, weil es sich um eine absolute Krisensituation handelte. Die obigen Kritikpunkte einmal beiseite: die Situation hätte in einem Desaster enden können. Es ist Kohls Verdienst, dass sie das nicht wurde, weil er im Moment größter Bedrohung den Staat sicher durch die turbulenten Zeiten brachte. Das ist genau das, was ein Kanzler können muss, egal, welcher Partei er angehört. Wir sehen um uns herum genug Beispiele von Staatenlenkern, die in einer Krise zusammenbrechen². Für Kohl war es die größte Stunde. Sie ist seine Legende.

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¹ Wenn es den Begriff damals schon gegeben hätte, Kohl hätte ihn geliebt.

² Man denke an Chamberlain 1938/39, an Bush 2005, May 2017. Umgekehrt kommt Kennedys ganzer Ruhm aus der einen gemeisterten Krise 1962.

 

Samstag, 10. Juni 2017

Wenn ich König der SPD wär...

Liebe SPD, Wenn es stimmt, dass es in Deutschland etwa 40 Millionen Bundestrainer gibt, dann gibt es mit Sicherheit ein oder zwei Millionen SPD-Vorsitzende. Ihr seid auch ein spannender Gegenstand: euer Wähleranteil sank seit 2005 um gut ein Drittel, und seither scheint nichts wirken, um euch aus dem Jammertal zurückzubringen. Martin Schulz, der mit seinem Neuheitseffekt kurz für Aufwind sorgte, ist nun da, wo sich vor ihm bereits Steinmeier und Steinbrück fanden. Da bietet es sich doch an, meine ungebetenen Ratschläge ebenfalls an die Partei zu bringen¹. Ich habe das in eine 8-Punkte-Liste gefasst. Leute lieben Listen².

1) Die Extremisten sind ein dankbarer Gegner

Ihr seid eine Mitte-Links-Partei. Ihr könnt kübelweise politischen Unrat über die AfD kippen, ohne dass es der Kernwählerschaft zu sehr schadet. Und ihr braucht einen Feind. Martin Schulz ist super geeignet, um sich bei den anderen europäischen Ländern, vor allem aber Frankreich, einzuhaken und eine gemeinsame Front gegen den Rechtspopulismus aufzubauen. Das sollte DAS Thema der SPD sein. Die Versuche der AfD, ihre reaktionäre Ader als Gerechtigkeit für's Volk zu verkaufen sind ein idealer Anlass, um ständig selbst über soziale Gerechtigkeit zu sprechen - und nicht in dem langweiligen Singsang mit leeren Formeln, sondern konkret in Opposition zur AfD. Was ist Gerechtigkeit wirklich? Was ist fair? Was ist modern? Was ist offen? Was ist gut? Die Antwort muss in allen Fällen wenn nicht schon "SPD" heißen, so doch wenigstens auf roten Plakaten stehen. Schwingt euch zum Verteidiger von Demokratie und Freiheit gegen den Extremismus von rechts. Da kann man auch gerne ein bisschen Folklore aus Weimar drauf packen, oder wenn man es konfrontativer mag aus den Auseinandersetzungen mit der CDU/CSU bis einschließlich Strauß. Und keine Angst, das Profil der AfD damit zu heben oder sonst so was, das hat der LINKEn auch nie geholfen.

2) Euer Problem ist Merkel

Das Hauptproblem der SPD ist Angela Merkel. Irgendein verknöcherter CDU-Reaktionär wäre ein ordentlicher Gegner, der eine schöne Folie abgibt an der man sich reiben kann. Angela Merkel dagegen ist die Meisterin des Teflon. Sie neutralisiert Themen und Aufreger, noch bevor im Willy-Brandt-Haus das Design der Plakate fertig ist. Da Merkel persönlich ziemlich beliebt bei den Leuten ist (außer bei der "Volksverräterin Merkel"-AfD, aber da sollte die SPD lieber die Finger von weg lassen), machen direkte Angriffe wenig Sinn. Glücklicherweise hat die CDU selbst die Anleitung geliefert, was man in so einem Fall machen kann: assoziiere deinen todlangweiligen Gegner mit einem aufregenden Gegner. Für die CDU und FDP war es immer das dankbare Schreckgespenst der LINKEn: stellt euch mal vor, die machen eine Koalition mit denen! MIT DENEN! Das ist ja quasi DDR!

Da konnte die SPD noch so oft beteuern, dass sie nie, nie, niemals mit DENEN eine Koalition eingehen würde. Also, hängt der CDU die AfD um den Hals. Zieht die sächsischen Quislinge vor die Kamera und zitiert jeden noch so obskuren CDU-Gemeinderat, der gerne mit der AfD punktuell zusammenarbeiten würde als sei der nächste Generalsekretär. Keiner wird euch glauben dass Merkel das machen will, also baut den rechten Flügel der CDU (der eh dauernd öffentlich über Merkels viel zu flüchtlingsfreundlichen Kurs grummelt) als den Feind auf, der jeden Moment die arme Kanzlerin entmachten will. Das lässt gleichzeitig Merkel als schwach und angreifbar erscheinen, während Gottkanzler Martin Schulz mit 100% Zustimmung im Rücken (ja, macht damit Werbung) den Rechten die Stirn bietet. Die Story schreibt sich doch von selbst.

3) Ignoriert die BILD

Seit 2005 war die BILD ein konstanter Gegner der SPD. Erinnert sich noch jemand an "Lügilanti"? Oder "Beck muss weg"? Keine noch so enge Anbiederung an die CDU und ihre Positionen wird die Leute bei Axel Springer auf eure Seite ziehen. Die BILD ist ein Medium im Niedergang. Ihre Leser sind alt und reaktionär. Die wählen euch nicht und werden euch nicht wählen. Scheißt auf die BILD. Ihre Feindschaft ist ein Ehrenabzeichen. Erwähnte ich schon, dass eure Feinde auf der Rechten stehen? Assoziiert das Schmierblatt mit dem Gegner aus 1) und 2). Keine Bange, eure Leute machen die Verbindung ohnehin instinktiv. Das läuft.

4) Scheiß auf Zahlen und Programme

Wisst ihr was eure schlimmste Obsession ist? Wunderbar ausgefeilte Programme, mit 150 Seiten, voller detaillierter policy-Vorschläge und Bezahlbarkeitsrechnungen. Und warum? Weil's keinen interessiert. Niemand liest Parteiprogramme, außer beim politischen Gegner. Die suchen irgendeinen obskuren Mist von Seite 134 und führen eine Kampagne damit. Remember Veggie-Day! Eine Zehn-Punkte-Liste tut's auch. True Story: ich habe versucht auf eurer Homepage eine Zusammenfassung in einem Absatz zu finden, wofür die SPD findet. Das gibt es nicht. Dafür 21 verschiedene Seiten, die eure Kernthemen erklären. Einundzwanzig! Die. liest. keine. Sau. Wisst ihr, was im CDU-Wahlprogramm steht? Ich auch nicht. Und auch sonst niemand. Weil's keinen interessiert. Und das gilt für euer Programm auch. Stattdessen braucht ihr Narrative, aber dazu kommen wir gleich.

Vorher gibt es nämlich noch was Wichtigeres: Vergesst Zahlen. Ihr habt diese echt süße Idee, dass die Vorschläge aus eurem Wahlprogramm bezahlbar sein müssen. Das ist völliger Blödsinn. Niemand interessiert, ob etwas aufkommensneutral finanziert wird oder nicht, die tun alle nur so. Habt ihr jemals erlebt, dass in der BILD die Frage thematisiert wird, wie die Steuerkürzungen der FDP eigentlich gegenfinanziert werden? Da steht dann ein Hokuspokus vom sich selbst tragenden Aufschwung, mit ein paar erfundenen Zahlen. Das könnt ihr auch. Wer kriegt was? Die 99%. Wer zahlt? Die Bonzen. Fertig. Eure Vorschläge sind so oder so hinfällig, weil ihr einen Partner braucht. Rechnen kann man immer noch in den Koalitionsverhandlungen. Schaut euch Schäuble an: der verspricht Hilfspakete für Griechenland, Steuerkürzungen für alle, aber besonders für die Mittelschicht, und die Renten bleiben stabil. Und das kostet keinen Cent! Und niemand zieht auch nur eine Augenbraue hoch, denn die CDU ist bekanntlich die Partei wirtschaftspolitischer Seriosität. Egal wie sehr ihr euch bemüht, das Handelsblatt wird euch nie liebhaben. Die Leute nehmen immer an, dass ihr Geld ausgebt. Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich's gänzlich ungeniert. Das klingt zynisch. Aber die anderen machen es auch, ihr merkt das nur nicht, und ihr schießt euch selbst in den Fuß.

5) Nicht jeder versteht unter seriös das Gleiche

Es ist kein Geheimnis, dass die meisten Leitmedien nur eine Form von Wirtschaftspolitik anerkennen: die ordoliberale Form. Nicht alle von ihnen haben das gleiche erotische Verhältnis zu ökonomischen Schmerzen wie es Wolfgang Schäuble und das Handelsblatt haben (ernsthaft, die Leute sind wesentlich zu glücklich dabei, Phrasen wie "Gürtel enger schnallen", "über Verhältnisse leben", "Anpassungen" und "Wahlgeschenke" durch die Gegend zu werfen, wenn es um den Lebensstandard der kleinen Leute geht), aber die wenigsten sehen in höheren Investitionsausgaben nicht sofort die Hand des Teufels. Kennt euer Publikum. Wenn man die Leute fragt, ob sie einen ausgeglichenen Haushalt wollen, sagen sie alle ja, aber wenn man sie fragt ob sie bereit sind dafür Rentenkürzungen hinzunehmen eher nicht.

Verbindet euer cleveres Narrativ aus 4) unf 5) damit und definiert eine eigene Seriosität. Ihr seid für Fortschritt, ihr seid für ein ordentliches Leben. Wen interessieren die finanzpolitischen Vorlesungen der Elitenschwätzer bei der CDU und FDP? Die Leute werden euch nie abnehmen, dass ihr den Haushalt besser kontrolliert als Schwarz-Gelb, und dafür wählen sie euch auch nicht (schon mal vom Mommy-Daddy-Divide gehört?). Hört auf euch als das zu inszenieren als das ihr gerne gesehen werden wollt und konzentriert euch darauf wie euch die Leute sehen wollen, auf deren Stimmen ihr angewiesen seid.

6) Ihr braucht Narrative

Statt der 21 Kernprogrammpunkte braucht ihr eine Story. Eine, die ihr ständig wiederholt. Per-ma-nent. Zwei oder drei knackige Slogans, die man bei jeder Gelegenheit raushauen kann. Und zwar welche, die auch irgendeine Bedeutung transportieren. "Mehr Soziale Gerechtigkeit" ist kein Slogan. Das wollen wenn man sie fragt alle. Die SPD kommt nur dann an die Regierung, wenn sie es schafft einen Aufbruch zu vermitteln. Für die Verwaltung des Niedergangs war schon immer die CDU zuständig. Ob das der "Machtwechsel" von 1969 und das anschließende Motto der "Lebensqualität" ist oder die "Innovation und Gerechtigkeit" von 1998, ihr müsst eine glorreiche Zukunft prophezeien und euch nicht als Wahrer von Besitzständen gegen die anonyme Macht der Globalisierung inszenieren. Das ist der Job der LINKEn. Schaut auf Macron, schaut auf Obama, schaut (*schauder*) auf Tony Blair. Die haben das alle so gemacht. Und auch hier: Mut zur Lücke. Die konkreten Maßnahmen sind viel weniger wichtig als die Vision. Helmut Schmidt war anderer Meinung, aber der wurde auch abgewählt.

7) Ihr braucht eine Führungsfigur

Eure zweitschlimmste Obsession ist zu glauben, dass die ganze Republik vor dem Wahljahr voller knisternder Spannung an den Fingernägeln kaut um endlich zu erfahren, wer euch in den Wahlkampf führt. Aber ein Dreivierteljahr ist ein Witz. Ihr habt 2009 den Steinmeier hingestellt, weil niemand anderes verfügbar war, und 2013 Steinbrück hervorgezogen, weil es dem wahrlich nicht an Selbstbewusstsein mangelte. Die Kandidaten aber, die jemals Kanzler wurden, kannte man ordentlich vorher. Gerhard Schröder war schon 1994 ein Top-Tier in der SPD, und Lafontaine war schon mal Kanzlerkandidat. Willy Brandt habt ihr dreimal aufgestellt bis es endlich geklappt hat, und Schmidt war wahrlich auch nicht unbekannt.

Man hört es jetzt schon raunen, dass ihr nach der Wahl Manuela Schwesig hochpuschen wollt. Kann man schon machen, aber wenn, dann dankt Martin Schulz artig für seine Dienste, macht ihn zum Oppositionsführer im Bundestag und haltet Schwesig raus, so dass sie von außen kritisieren kann. Und dann pusht sie. Vier Jahre lang. Oder macht das gleiche mit Schulz. Hat beides Vor- und Nachteile. Aber glaubt bitte nicht irgendjemand fände es spannend, wenn ihr die Entscheidung bis 2021 rausschiebt. Ihr braucht eine Figur, die das in 5) beschlossene Narrativ a) glaubwürdig und b) permanent in die Welt hinausposaunen kann. Für Europa und gegen AfD? Nehmt Schulz. Für Fortschritt, Innovation, Zukunft? Schwesig.

8) Konzentrierter Wahlkampf

Ihr habt 2013 Peer Steinbrück aufgestellt. Der wollte einen Wahlkampf à la 2009 machen. Das war eine doofe Idee, aber das war die einzige Art Wahlkampf, die er vernünftig vertreten konnte. Stattdessen habt ihr mit dem Programm von 1987 seinen Wahlkampf organisiert, und weil der Mann keine institutionelle Bindung hatte und keine eigene Machtbasis (ein dickes Warnsignal übrigens) konnte er dem nichts entgegensetzen. Wenn ihr euch für eine Führungsfigur entschlossen habt, um Gottes Willen, dann macht nicht Wahlkampf gegen sie. Das Willy-Brandt-Haus scheint eigentlich dauerhaft im Schadensbegrenzungsmodus. Werft diese institutionelle Vorsicht über Bord. Bringt eure externen Berater von BUTTER (und Jim Messina und wen auch immer ihr von außerhalb einkauft) alle zusammen und setzt sie auf das Narrativ an, und nur auf das. Sonst wird das nichts.

Puh.

Also, liebe SPD, das wären meine ungebetenen Ratschläge. Euch wird aufgefallen sein, dass sie reichlich unkonkret sind. Das ist wahr. Aber ich bin auch kein Politikberater. Das ist eine billige Position, ja. Aber die wenigsten potenziellen Bundestrainer müssen den Job je ernsthaft machen, also hoffe ich, ihr verzeiht mir. Ich hab euch lieb.

Liebe Grüße

Stefan

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¹ Ich weiß, da besteht kein kausaler Zusammenhang. Seht's mir nach, der Artikel brauchte einen Einstieg ;)

² Citation needed.

 

Freitag, 9. Juni 2017

Fragen an Großbritannien

Es ist noch zu früh um Analysen zu erstellen die mehr tun als die eigenen Vorurteile zu bestätigen, daher möchte ich eine Betrachtung der gestrigen General Election in Großbritannien in Form eines Fragenkatalogs verfassen. Der Gedanke ist, bei der Sichtung von zusätzlich verfügbaren Daten darauf zu achten ob sich irgendwelche Rückschlüsse ziehen lassen. So oder so ist das Ergebnis unerwartet. War vor einigen Wochen noch ein Erdrutschsieg der Tories mit einer dreistelligen Mehrheit in den Karten gewesen, hat Theresa May nun weniger Sitze als zuvor. Im Großen und Ganzen haben die Umfrageinstitute den stetigen Trend zu Labour und weg von den Tories auch abgebildet; einige haben angesichts des Versagens von 2015 (wo der tatsächliche Erdrutsch der Konservativen übersehen worden war) wohl etwas überkorrigiert. Doch nun genug der Vorrede, auf in medias res!

Gegen May oder für Corbyn?

Wenn es eine Sache gab in der sich Beobachter des Wahlkampfs einig waren dann, dass Jeremy Corbyn ein Mühlstein um den Hals der Chancen von Labour sein würde. Die Frage ist nun, ob diese Wahl hauptsächlich ein Votum gegen May oder für Corbyn darstellt. Für erstere These spräche der desaströse Wahlkampf der Tories, die wirklich alles gegeben haben um die Wahl in den Wind zu werfen (von Mays Weigerung an einer TV-Debatte teilzunehmen über ihre über-harte Linie zu der Definition der Wahl über krasse Haushaltskürzungen zulasten der Armen und Mittelschicht, die für Labourwähler ausschlaggebendes Thema waren), für letzteres die Tatsache, dass die Wahlbeteiligung der Jungwähler (18-24 Jahre) mit 74% gigantisch hoch war und dieses demographische Segment überwiegend Corbyn-Fan ist. Vermutlich ist es am Ende ein Mix aus beidem.

Siegstrategie für Labour?

"Besser als erwartet" war schon immer der Trostpreis der Politik. Man bekommt eine Menge positive Medienaufmerksamkeit, aber kaufen kann man sich davon wenig. Mit knapp 270 Sitzen ist Labour zwar bei weitem nicht so vernichtet worden wie es erwartet worden war, ist aber andererseits auch weit von einer Mehrheit entfernt. Wenn man bei gleichbleibenden Faktoren einen kompetenten Tory-Wahlkampf annimmt, sollte das Ergebnis kein Grund für Freudenschreie bei Labour sein. Die Partei ist weiterhin auf dem Pfad der SPD in einen permanenten zweiten Platz.

Schottland wird Tory-Gebiet?

Vor dem Siegeszug der SNP war Schottland ein zuverlässiger Sitzproduzent von Labour. Genauso wie Theresa May scheint sich aber auch SNP-Chefin Sturgeon verrechnet zu haben, denn ihr zweites Unabhängigkeitsreferendum wird von der Bevölkerung klar abgelehnt. Die Partei dient nun wohl vor allem dazu, den linken Stimmenpool aufzuteilen und den Tories mit Minderheitenergebnissen Sitze zuzuschanzen. Wenn sich daraus tatsächlich ein Trend ergibt, sind das sehr schlechte Nachrichten für Labour und, natürlich, die SNP.

Mehrheit für soft Brexit?

Bereits klar ist, dass die meisten Briten den Bullshit geglaubt haben, den die Tabloids, UKIP und die Tories ihnen über Brexit erzählt haben: es wird total einfach, wir bekommen alles was wir wollen, und danach geht es allen besser. In den letzten Monaten ist die Wahrheit über den hard Brexit immer mehr eingesackt. Theresa May hat wohl darauf gebaut, es mit einer "Schweiß, Blut und Tränen"-Strategie erreichen zu können, das Volk hinter dem hard Brexit zu vereinen. Gibt es nun eine Mehrheit für einen soft Brexit, mit verlängerter Austrittsdauer, Konzessionen oder eventuell sogar ein zweites Referendum? Ich bin eher skeptisch, aber da gilt es ein Auge drauf zu halten.

Was wollen die Lib Dems?

Die Liberal Democrats wollten nach den desaströsen Erfahrungen 2010-2015 keine weitere Koalition mit den Tories. Das war zumindest am Wahlabend die offizielle Linie. May ist nun offen für eine Koalition (zwangsläufig), aber wenn die Lib Dems diese weiterhin kategorisch ablehnen wird es wohl Neuwahlen geben. Solche wären sicher das Ende für May. Aber was genau wollen die Lib Dems erreichen? Spielen sie einfach nur auf Zeit und Konzessionen? Oder wollen sie tatsächlich keine Koalition? Corbyn ist sicherlich keine Alternative, weder ideologisch noch von einer möglichen Sitzverteilung her.

Gibt es einen europäischen Trend zur Mitte?

Das ist die für mich im Moment spannendste Frage: die europäische Dimension. Seit Donald Trumps Sieg im vergangenen November verloren die Rechtsradikalen in jeder europäischen Wahl klar zugunsten der Zentristen Stimmen. In den Niederlanden traf es Geert Wilders, dessen Träume von einer Regierungsübernahme sich zerschlugen, in Frankreich scheiterte Le Pen an Macron, in Großbritannien wurde UKIP völlig zerstört und der ultrarechte Kurs von Theresa May brachte ihr nicht den gewünschten Erfolg, während in Deutschland Angela Merkels Position sicher wie eh und je scheint. Ich neige derzeit dazu, einen Trend zu einer Europäisierung der Politik zu konstatieren. Die gesamteuropäische Dimension der Politik nimmt eine größere Rolle ein (wenngleich sicher noch keine entscheidende) und hier sah es für die Tories in Großbritannien echt schlecht aus. Sie haben damit auch das gleiche Problem wie alle rechten Parteien: ihre Wählerschaft ist alt und stirbt aus, die Jungen wählen Mitte-Links.

Soweit ist das alles. Ich halte den Artikel offen und werde ihn ergänzen, wenn sich neue Fragen auftun - gerne auch in den Kommentaren.