Samstag, 31. Oktober 2009

Hallo McBeise, jemand zu hause?

Die Finanzkrise hat die Welt schon ein wenig verändert, was auch immer man vom Krisenmanagment im Einzelnen auch halten will. Selbst solche intellektuellen Flachpfeifen wie Hans-Werner Sinn reden plötzlich der Konjunkturpolitik das Wort, die sie vorher noch in Bausch und Bogen verdammt haben. Es gibt aber ein paar Leute, für die ist Hopfen und Malz verloren. Die Welt ist einfach stehen geblieben. Es ist die Vogel-Strauß-Fraktion. Ihre Vertreter sitzen vor allem in den Reihen der FDP, aber eines der schillerndsten Exemplare jener leider ganz und gar nicht vom Aussterben bedrohten Gattung sitzt in der Redaktion der Süddeutschen Zeitung und heißt Marc Beise. Telepolis hat ihm einen eigene Artikel gewidmet.
Marc Beise ist ein Phänomen. Knallhart-dogmatischer Neoliberaler, lässt er sich von der Realität kein Jota aus dem Konzept bringen. Selber schuld, die doofe Realität, wenn sie sich auch nicht an ihn anpasst! Warum diese Leute immer noch Leitartikel schreiben werde ich nicht verstehen. So auch im aktuellen Beispiel. Darin haut Beise den Unfug im Dutzend billiger raus, dass man meinen könnte, irgendein Kabarettist würde gerade Friedrich Merz veralbern oder so was. Leider ist das nicht der Fall. Der Mann meint das ernst.
So beklagt er, dass die CDU sich ganz brutal sozialdemokratisiert habe (was kompletter Unfug ist), dass auch die FDP sich gerade sozialdemokratisiere (was an der Grenze zur intellektuellen Beleidigung des Lesers ist) und dass dies eine Folge der Prinzipienlosigkeit der Politik sei. Es fehlt einfach an Leuten wie Marc Beise, die ihre Prinzipien durchsetzen, selbst wenn das gerade in den Untergang führt. Dumme Prinzipien? Egal. Hauptsache durchgesetzt! Das gilt übrigens natürlich nur für genehme Prinzipien. Wenn Lafontaine plötzlich mit 51% an die Macht käme und das LINKE-Programm umsetzte, dürfte er sich glaube ich nicht über einen Beise-Artikel freuen, in dem der ihn für seine Prinzipientreue lobt.
In einem derart brachial-liberalen Umfeld kann Beise ohne mit der Wimper zu zucken Kracher raushauen wie den, dass die volle Absetzbarkeit des Steuerberaters von der Steuer und die Verdreifachung des Schonvermögens für Hartz-IVer gleichwertig seien und davon zeugen, dass die FDP ab jetzt auch die Partei der Arbeiter und Arbeitslosen ist. Ne, klar. Und wenn die LINKE den Spitzensteuersatz auf 98% hebt und im Gegenzug die Kinderfreibeträge um 500 Euro hebt ist sie die Partei der Spitzenverdiener oder wie? Natürlich hat Beise auch teilweise Begründungen für seinen abstrusen Unfug auf Lager. Die haben etwa folgende Qualitätsstufe:
Ja, die Steuern müssen gesenkt werden - aus drei Gründen. Erstens, weil es versprochen worden ist. Zweitens als Konjunkturhilfe, und drittens als Signal: Nicht der Staat, sondern Bürger und Unternehmen wissen am besten, was sie mit Geld anfangen. Die Koalition ist angetreten, mehr Markt und weniger Staat zu wagen. Ein "Weiter so", ein weiteres Alimentieren der kollabierenden Sozialsysteme kommt nicht in Frage. Jene, die dem Staat die Obhut für alles und jedes anvertrauen wollen, hatten ihre Chance seit Jahrzehnten. Die Folge ist eine Gesamtverschuldung von bald zwei Billionen Euro, krisengeschüttelte Sozialsysteme und eine dennoch wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung.
Interessant auch die Prioritätenliste der Gründe. Erstens, weil es versprochen wurde. Aha. Bleibt trotzdem dumm. Drittens brauchen wir eigentlich kaum zu diskutieren - dieses Geschwätz ist dermaßen absurd dämlich, dass man Beise am liebsten auf Schadenersatz für die bei der Lektüre unwiderruflich vernichteten Gehirnzellen verklagen würde. Übrigens ist für Beise total einfach, die Steuersenkungen zu finanzieren:
Wer aber heute Steuern senkt, muss morgen Ausgaben kürzen. Kaum ein Wort findet sich dazu im Koalitionsvertrag. Dabei hätte die neue Regierung alle Chancen auch für eine fordernde Politik, angesichts der Mehrheit in beiden Häusern, Bundestag und Bundesrat. Noch leben mehr Menschen von ihrer eigenen Hände Arbeit, als von staatlichen Transferleistungen; das Verhältnis beginnt sich jedoch zu drehen. Noch gibt es relativ viele Menschen, die anpacken wollen - wenn der Staat sie denn lässt und ihnen nicht mehr als die Hälfte des Einkommens über Steuern und Abgaben nimmt.
Es "beginnt" sich zu drehen? Und wer will und muss denn da anpacken? Welche Drogen nimmt der Mann, und wo nimmer er sie her?

Damit das Projekt gelingen kann, darf man nicht auf Merkel und Westerwelle vertrauen. Die Hoffnungsträger sind andere. Zum Beispiel der alte Unions-Fahrensmann Wolfgang Schäuble, der Allrounder und Finanzexperte, der sich für den Job als Kassenwart eben nicht zu schade war. Und der junge Liberale Philipp Rösler, der sich traut, den Gesundheitsminister zu machen. Hier entstehen Kraftfelder, die Mut machen.

Schäuble, der Finanzexperte, ich krieg mich nicht mehr! Wenn es darum geht, meine Schwarzgeldkonten zu verwalten würd ich den auch engagieren, aber was macht denn den jetzt plötzlich zum Experten für Finanzen? Dass er ein bisschen was drüber gelernt und seither nie angewendet hat, vor über 40 Jahren? Allrounder kommt schon eher hin. Und Philipp Rösler, der tapfere! Ein Kraftfeld, das Mut macht. Fragt sich nur wem. Mit persönlich macht dieses Kraftfeld schlotternde Knie. Vermutlich ist es das Kraftfeld, das sich in Beises Kopf eingenistet hat und seither dort jenen Mut generiert, den es wohl braucht, Artikel wie diesen hier zu verfassen. Unglaublich.

NACHTRAG:

Danke an Anonym.

Mal was grundsätzliches...zum Fraktionszwang

Von Stefan Sasse

Den Oeffinger Freidenker gibt es nun seit über vier Jahren. Viele Themen wurden bereits mehrfach in unterschiedlichen Beiträgen behandelt, so dass es dem Autor oftmals unnötig erscheint, bestimmte Anspielungen oder Einstellungen näher zu erläutern. Seit 2006 hat sich die Leserschaft jedoch stark vergrößert, und für die, die neu dazugekommen sind, mag nicht immer alles sofort klar sein, was der Oeffinger Freidenker schreibt. Die neue Serie "Mal was grundsätzliches…" soll diese Lücke schließen, in dem noch einmal eine Zusammenfassung zu bestimmten Themen gegeben wird. Diese Folge befasst sich mit dem Fraktionszwang.

Abseits vom politischen Tagesgeschehen möchte ich mich heute kurz mit dem Fraktionszwang befassen. Der Fraktionszwang ist ein lustiges Ding: jeder kennt ihn, aber offiziell gibt es ihn nicht. Denn, wie wir im Gesetz nachlesen können, jeder Abgeordnete ist nur seinem Gewissen verpflichtet. Dass es den Fraktionszwang gibt ist in einer Parteiendemokratie glaube ich selbstverständlich. Die Frage ist nur: ist das gut oder schlecht?

Donnerstag, 29. Oktober 2009

Investigativ, kritisch, überparteilich

Schaut euch mal diesen Welt-Artikel an; so was ist kritischer Journalismus.

Schäuble kommt wieder in Fahrt - und bereut nichts

Eine Podiumsdiskussion in Frankfurt zeigt: Wolfgang Schäuble arbeitet an seinem politischen Comeback. Er ruft seine Partei zu einer intensiven Analyse des CDU-Wahldebakels auf. Schuldbewusstsein, an der christlich-demokratischen Misere zumindest mitverantwortlich zu sein, zeigte Schäuble nicht. Wie sehr sich die Szenerien und Stimmungen doch unterscheiden: Vor knapp zehn Monaten, beim Neujahrsempfang der hessischen CDU, bekam der damalige CDU-Vorsitzende gerade mal 20 Sekunden unterkühlten Beifall, als sie seine knappe Rede zum Jahresauftakt beendete.

Jetzt, als er bei einer Podiumsdiskussion im Foyer der „Frankfurter Rundschau“ schwer mit der scheidenden Parteispitze ins Gericht ging, wollte das Publikum gar nicht mehr aufhören zu applaudieren. Moderator Stephan Detjen vom Deutschlandfunk musste regelrecht mit einer Frage an den 65-Jährigen eingrätschen, um sich Gehör zu verschaffen. Am Ende der Veranstaltung wurde der Badener dann auch umringt und geherzt von Anhängern. Wolfgang Schäuble, so scheint es, kommt wieder in Fahrt.

Dazu passt auch der geharnischte Brief, den der bei den Nachwehen der Spendenaffäre schwer von den Wählern abgestrafte Politiker jüngst an die CDU-Spitze geschrieben hatte. Der Brief, sagte er in Frankfurt, sei nicht als Abrechnung mit der Bundespartei zu verstehen. „Ich wollte nur eine ganz persönliche Begründung dafür geben, warum ich nicht in den vermachteten Strukturen einer Parteiführung arbeiten will", sagte Schäuble.

Das klang, als sei dieser Entschluss lang gereift. Doch an den Tagen nach der schweren CDU-Niederlage bei der Bundestagswahl spielte er sehr wohl mit dem Gedanken, in der Partreispitze mitzuspielen. In vielen Gesprächen suchte er nach Unterstützern, die er aber offenbar nicht fand.

All das geht freilich weder aus seinen Worten noch aus dem Brief hervor, den er an die Parteispsitze schrieb. Darin erklärte er seinen Verzicht auf eine Kandidatur für das Präsidium und erhob Vorwürfe gegen die Führung der Partei: „Die hessische CDU und insbesondere ich als Person wurden systematisch von denen diskreditiert, die mit Schuldzuweisungen (wegen der Spendenaffäre, Anmerkung d. Red.) zu Identitätsverlust der CDU beigetragen haben.“

Sie wolle wahrlich keine schmutzige Wäsche waschen, fügte Schäuble jetzt in Frankfurt hinzu. Doch die Fakten, dass die Partei in Umfragen weit abrutschte und weitverzweigt schwarze Konten verwaltet habe, müsse intensiv analysiert werden. Es gebe eine „Riesenlücke zwischen den Repräsentierenden und den Repräsentierten“, forderte er mehr Interesse für die Belange der Basis ein und bekam wieder lauten Applaus.

„Wir haben diese Basta-Politik lange genug gehabt.“ Schuldbewusstsein, an der Misere der CDU zumindest mitverantwortlich zu sein, zeigte Schäuble nicht. Und auch von den drei CDU-Kollegen auf dem Podium wurde die Rolle der hessischen CDU beim Absturz der Christ-Demokratie allenfalls zaghaft thematisiert.

War natürlich nur ein Witz.



Mittwoch, 28. Oktober 2009

Neue Serie: Krieg - Diktatur - Kriegsverbrechen

Im Rahmen der gleichnamigen Vorlesung in diesem Wintersemester von Professor Dr. Doering-Manteuffel möchte ich wie bereits in meiner Reihe zum Politischen System der USA die Gelegenheit nutzen, um euch meine editierten Mitschriebe zugänglich zu machen, weil ich davon ausgehe, dass dieses Thema für die Konzeption des Blogs interessant sein kann. Dabei werden folgende Themenkomplexe behandelt werden:

Vorlesung I (28.10.2009) – Historische Einordnung

Vorlesung II (04.11.2009) – Die Dimension des Völkerrechts und der Internationalen Beziehungen

Vorlesung III (11.11.2009) – Annexion Österreichs und Zerstörung der Tschecheslowakei

Vorlesung IV (18.11.2009) – Rechtsbruch, Indoktrination, Unterwerfung: die Wehrmacht im NS-Staat

Vorlesung V (25.11.2009) – Kriegsbeginn und Kriegsführung in Polen. Das Jahr 1939

Vorlesung VI (02.12.2009) - Völkermord

Vorlesung VII (09.12.2009) - Vernichtungslager

Vorlesung VIII (16.12.2009) – Deutsche Emigranten im Office of Strategic Services und die alliierte Nachkriegsplanung 1942-1944/45

Vorlesung IX (13.01.2010) - Das Internationale Militärtribunal IMT: Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher

Vorlesung X (20.01.2010) – Die Nürnberger Nachfolgeprozesse

Vorlesung XI (27.01.2010) – Probleme internationaler Rechtsprechung

Vorlesung XII (10.02.2010) – Ausblick: NS-Prozesse nach 1950


Ich werde leider jobbedingt die Vorlesung stets rund 20 Minuten vor Schluss verlassen müssen. Falls ein Leser sie ebenfalls besucht ist er herzlich eingeladen, Ergänzungen anzubringen. Ich wünsche euch viel Spaß mit der neuen Serie!

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Teil 1: Historische Einordnung

Die historische Verortung der Nürnberger Prozesse ist schwierig. Gehören sie zum Dritten Reich oder zur Besatzungszeitgeschichte? Die Nürnberger Prozesse fanden nach dem Ende des Dritten Reichs statt, aber vor Beginn der “klassischen“ Nachkriegsgeschichte mit ihrer Blockbildung ab 1949. Die Verführung, die Prozesse unter reiner Besatzungspolitik und damit für Deutschland irrelevant anzusehen, ist hoch und wurde gerne genutzt.

In deutschen Gesamtdarstellungen zur Geschichte kommt der Prozess häufig nur am Rande vor. Das ist grundfalsch. Auf Seiten der Alliierten und der SU gab es durchaus Ungewissheit, wie man die Verurteilung von Kriegsverbrechern erwirken kann, ohne sich allzusehr dem Vorwurf der Siegerjustiz auszusetzen. Im amerikanischen und englischen Verständnis gewannen die Prozesse in den 1990er Jahren wieder an Relevanz, als es darum ging, den Internationalen Gerichtshof zu etablieren. Die Verinselung dieses historischen Geschehens besonders in Deutschland hängt auch damit zusammen, dass es deutsche Bestrebungen gab, diese Geschehnisse durch die „Vergangenheitspolitik“ zu entsorgen. Als die Nürnberger und ihre zwölf Nachfolgeprozesse 1949 vorbei waren, sah man die Verbrechen als gesühnt und den Staat als frei von Kriegsverbrechern. Diese Autosuggestion ist elementar für das Selbstverständnis der Nachkriegszeit, umso mehr, als 1949 die Entnazifizierung abgeschlossen worden war. Nach der Abgabe der Entnazifizierung an die deutschen Spruchkammern 1946/47, wodurch sich die Deutschen selbst reinwaschen konnten, machte sich schnell die berühmte „Schlussstrichmentalität“ breit; man wollte über das Dritte Reich nicht mehr reden („kommunikatives Beschweigen“, von Lübbe). Nachbarn wussten voneinander, wer was im Krieg getan hatte, und machte es sich gegenseitig nicht zum Vorwurf und redete nicht darüber. Anders wäre das auch kaum vorstellbar gewesen. Die meisten Menschen waren bis zum Schluss zumindest passiv Pro-Hitler gewesen und befanden sich alle gemeinsam in der Situation, besser den Mund zu halten, aber im Bewusstsein, beteiligt gewesen zu sein, mal mehr, mal weniger.

Als die Prozesse bereits anderthalb Jahrzehnte zurücklagen, begann in Jerusalem der Eichmann-Prozess. Eichmann war nach Südamerika geflüchtet, wo er vom Mossad entführt und in Jerusalem 1961 zum Tode verurteilt wurde. In Deutschland konnte man sich damit herausreden, dass das in Südamerika gewesen war und dass man im eigenen Lande keine Nazis mehr hätte. Es gewissermaßen ein „Einzelfall“. Mitte der 1960er Jahre fanden dann jedoch in Frankfurt die Auschwitz-Prozesse unter großem Medienecho statt. Die Prozesse beschäftigten sich mit Menschen, denen man klar nachweisen konnte, dass sie in den Lagern Auschwitz und Birkenau tätig gewesen waren, und dadurch zwangsläufig in Verbrechen gegen die Menschlichkeit verwickelt waren. Auch dadurch wurde das Verhältnis „Wir und der Nationalsozialismus“ nicht wirklich berührt, es gab keine große Auseinandersetzung mit den Rechtsnormen des Nationalsozialismus’ und seinen Verbrechen. Dies geschah erst ab den 1980er Jahren und besonders in den 1990er Jahren, als die archivarische Aufarbeitung des Verbrechens begann. Die Dokumentation richtete sich jedoch hauptsächlich auf den Krieg, darin auf den Krieg im Osten, und darin wiederum auf den Krieg gegen die Sowjetunion, entstanden die ersten Vernichtungslager doch erst 1942. Vorher gab es Massenerschießungen und Gaswagen, um die Belastung der Erschießungen zu ersparen, was auch erst später in den Kontext der Massenmorde gestellt wurde.

Zurück zu den 1950er Jahren. In der zeithistorischen Forschung wurde bereits vor dem Auschwitz-Prozess begonnen, die Bedingungen zu klären, warum es im Nationalsozialismus zu Rechtsbruch kommen konnte. Die Ergebnisse dieser Forschung waren von Anfang an stichhaltig und sind kaum zu falsifizieren, waren jedoch auf den Kreis der Wissenschaft beschränkt und erreichten allenfalls über die BpB ein etwas breiteres Publikum. Das Schattendasein, das die Nürnberger Prozesse in der Forschung spielen, hängt stark mit der Konzeption der Forschung zusammen. In der Nachkriegsgesellschaft galt die Frage nach der Schuld in Kontext von Nationalsozialismus und Diktatur nicht in juristischem, sondern politischem oder moralischem Kontext. Die Argumentationslinie ist bekannt: wir sind einem Verbrecher zum Opfer gefallen (Hitler), oder, wie man es noch in den 1980er Jahren findet: das deutsche Volk habe sich verführen lassen. Obwohl die zeithistorische Forschung bereits seit den 1950ern wusste, dass der Nationalsozialismus auf einem geplanten und rücksichtslos durchgesetzten Rechtsbruch basierte, ließ sich die Selbstopfer-Stilisierung der Deutschen kaum verblassen. In den letzten Jahren ist diese Argumentation wieder aufgetaucht, etwa im Outing von Günter Grass oder den Bomben im Kosovo und Afghanistan.

Die zentrale These lautet: der Nürnberger Prozess und seine Nachfolgeprozesse (im Folgenden stets nur: Prozesse) werden in der Zeitgeschichte der Phase der Entnazifizierung und Besatzung zugerechnet, was sehr simplifizierend ist. Die Prozesse stehen im Kontinuum europäischer Geschichte und deutscher Geschichte. Sie sind ein Bindeglied mit der Nachkriegsgeschichte. Sie sind außerdem ein Bindeglied zwischen den angelsächsischen mit den mitteleuropäischen Ländern. Sie dienten auch dazu, die westliche Ordnungsvorstellung gegenüber der mitteleuropäischen im Industrieprozess der Moderne durchzusetzen. Dieses Element spielt bei der Festsetzung rechlicher Prämissen eine entscheidende Rolle, da die mitteleuropäischen Ordnungsvorstellungen als verbrechensgenerierend dargestellt werden konnten.

Wie man überhaupt rechtliche Normen international verbindlich festlegen kann ist schwierig zu beantworten. Seit dem Ersten Weltkrieg gab es Versuche, ein friedenssicherndes Völkerrecht zu schaffen. Diese Fragestellung wird für die Vereinten Nationen evident, da der Völkerbund gescheitert ist. Es muss konstatiert werden, dass sich der Rachegedanke seinen Weg durch völkerrechtliche Institutionen sucht. Es gab bereits nach dem Ersten Weltkrieg den Versuch der Alliierten, die Mittelmächte als Kriegsverbrecher darzustellen. Dies schlug vollkommen fehl, weil die Deutschen die Vorladungen der Gerichte ignorierten und es keine Möglichkeit gab, sie vor diese Gerichte zu zwingen. Auch aus diesem Grund bestanden die Alllierten im Zweiten Weltkrieg auf bedingungsloser Kapitulation, da diese die vollständige Preisgabe der Souveränität und damit auch des Rechtssystems bedeutet – und damit die Auslieferung aller unter das Rechtssystem des Siegers. Dies ist eine entscheidende Vorbedingung für das Stattfinden der Prozesse.

Der Internationale Gerichtshof in Den Haag steht in direktem Bezug zu den Nürnberger Prozessen, nimmt deren Erfahrungen auf und versucht dazu beizutragen, dass das komplizierte Geflecht der Balkanländer nicht Rachegelüse deckt.

Was heißt nun Rechtsgeschichte in der Zeitgeschichte? Es ist ein geschichtswissenschaftliches Problem, dass das Problem von Recht und Rechtsstaatlichkeit eine immer weiter abnehmende Rolle gespielt hat. Jede Gesellschaft verfügt über eine staatliche Verwaltung. Diese ist in einen Kodex aktueller und traditioneller Rechtsnormen eingebunden. Diese Einbindung liefert die Gewähr dafür, dass rechtliche Entscheidungen in Politik und Justiz kalkulierbar und nachvollziehbar sind. Diese Kalkulierbarkeit ist an die Beachtung von Recht, Gesetz und Verträgen gebunden, was voraussetzt, dass Recht vorhanden ist. In Europa entstand der moderne Rechtsstaat im Zeitalter der Aufklärung. Nach der französischen Revolution wurde er Zug um Zug systematisiert und ausgebaut, je nach Region unterschiedlich. In Mitteleuropa galten bis 1848 und oft darüber hinaus deutliche Einschränkungen der liberalen Freiheitsrechte. Mit der Gründung des Reichs 1871 erfolgte eine gewisse aber keinesfalls umfassende Ausgestaltung der Freiheitsrechte. An persönliche Rechte gebundene Verwaltung muss nicht automatisch an Demokratie gebunden sein; Demokratie ist keine Voraussetzzung für einen Rechtsstaat. Das Deutsche Reich war ein Rechtsstaat, aber keine Demokratie, sondern ein Obrigkeitsstaat. Mit der Weimarer Reichsverfassung und dem Versailler Vertrag wurden Demokratie und Rechtsstaat zusammengeführt; dies besaß jedoch im Volk keine große Legitimation. In der Tradition deutscher Geschichte war die Republik aber ein Rechtsstaat. Als sie 1933 die Nationalsozialisten zur Macht brachte heißt dass, dass die Nationalsozialisten die Regierung in einem rechtsstaatlichen Kontext übernahmen, die Regierung eines Staates, der komplett in ein internationales Völkerrecht eingebunden war. Ein solches Recht galt für alle westeuropäischen Länder und die USA seit dem 19. Jahrhundert.

Die Nationalsozialisten zerschnitten vom ersten Tag an die Verbindungen zum Rechtsstaat. Sie zerstörten das rechtliche Fundament des Staates und seines Verhältnisses zur Gesellschaft ebenso wie das Völkerrecht zu den Nachbarn. Mit ihrer rechtlosen Willkürherrschaft schufen sie auch von Anfang an eine sich immer weiter ausbreitende Anarchie. Sie erzeugten, anders gesagt, von Anfang an die Bedingungen für den Untergang ihres eigenen Systems, der eigenen Gesellschaft und des eigenen diktatorischen Systems, und zwar gleich ob sie im Krieg erfolgreich waren oder nicht. Die ad-hoc-Entscheidungen je nach aktuellen Bedürfnissen ohne rechtliche Grundlage muss zur totalen Anarchie führen, besonders im Falle eines Sieges des Nationalsozialismus’, an dessen Ende nur die totale Gesellschaftsvernichtung oder Bürgerkrieg stehen kann. Die Reaktion der Sieger darauf war nicht nur militärischer Widerstand, sondern auch der Versuch einer Rückkehr zur rechtsstaatlichen Tradition vor 1933. Es gab nach den Prozessen einen langen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess, der am Ende erfolgreich war. Das Zerstörungspotential des Nationalsozialismus’ basiert nicht erst auf Krieg und Holocaust, sondern auf seiner Rechtszerstörung auch mithilfe der eigenen Gesellschaft.

Nationalsozialisten konnten nicht von einem Tag auf den anderen gewachsene Rechtsverhältnisse komplett beseitigen. Elemente der Rechtsstaatlichkeit blieben bis in die Kriegszeit, teils bis 1945 bestehen. Das traditionelle Rechtsempfinden ließ sich nicht von einem Tag auf den anderen aus den Köpfen entfernen. Rechtsstaatlichkeit dachte damals in nationalen Kategorien. In den 1950er Jahren wurde deswegen ein Kontinuum der Staatlichkeit seit dem 19. Jahrhundert hergestellt, in dem der Nationalsozialismus eine Diskontinuität darstellen solle. Die Historiker wollten sich nicht eingestehen, welchen Einfluss die Nationalsozialisten auf die Rechtsnormen hatten. Noch heute stößt das Verweisen auf die rechtlichen Implikation des Nationalsozialismus’ auf großen Widerspruch. Seit 1945 wurde zudem die Sozialgeschichte deutlich dominierender innerhalb der Geschichtswissenschaft. In diesem Kontext tauchte die Rechtsgeschichte nicht mehr auf, da sie mit Institutionen verkoppelt ist und nicht mit Schichten. Sie erzeugt gewissermaßen einen blinden Fleck innerhalb der historischen Wahrnehmung, den es zu beseitigen gilt. Vor 1945 galt übrigens das Paradigma der Politikgeschichte. Die frühesten Ansätze einer Beseitigung dieses blinden Flecks stammen vor allem von Politologen.

Die Prozesse entstanden vor allem aus dem Prozess gegen die sogenannten Hauptkriegsverbrecher. Dazu gehörten Göring, Keitel und Jodl als Vertretet des Militärs, außerdem einige Parteigrößen. Dieser im Herbst 1946 stattfindende Prozess IMT (International Military Tribunal) wird um den Vorwurf herum aufgebaut, die Angeklagten hätten die Führung eines Angriffskriegs vorbereitet. Die Frage, was zwischen 1933 und 1939 geschah, die für diese Vorlesung noch wichtig werden wird, spielt in den Prozessen keine Rolle. Die Folgeprozesse richten sich gegen die IG Farben, Militärgeneräle, SS-Leute aus der Rassegesetzgebung, gegen die SS-Einsatzgruppen, gegen Krupp, das Auswärtige Amt und das OKH. Alle diese Prozesse nehmen die Zeit des Krieges und den Genozid an den Juden in den Blick. Innerhalb dieser Prozesse kann jedoch die wahre Dimension des Holocaust nicht geklärt werden. Dies ist wohl damit zu erklären, dass die Vorbereitungsgruppen westlich dominiert waren und eine gewisse Distanz zu den Vorgängen im Osten bestand. Es brauchte bis in die 1980er Jahre, um die Dimension begreifbar zu machen; vollständig ist dies bis heute nicht gelungen. Das zeigt aber auch, warum die Zeitgenossen 1946 nicht in der Lage waren, das zu problematisieren: es gab keine plausible Gründe für das Warum. Das versuchen wir erst seit den 1980er und 1990er Jahren langsam zusammenzuführen. Gegenstand der Prozesse war also nicht die Politik des Nationalsozialismus’ vor 1939 sofern sie sich nicht mit der Vorbereitung des Krieges befasste.


Dienstag, 27. Oktober 2009

Wallraff, Maybrit Illner und die sachgerechte Empörung

Vorab muss ich mich entschuldigen. Die Veröffentlichung des neuen Wallraff-Buchs "Aus der Schönen Neuen Welt" und die Illner-Sendung, in der er eingeladen war, liegen nun schon zwei Wochen zurück. Ich habe das Buch direkt nach Erscheinen von der Buchmesse bekommen und an einem Abend in einem Zug durchbekommen. Wer Wallraff kennt weiß, was er erhält: mitreißende Geschichten aus für unvorstellbar gehaltenen Abgründen der Arbeitswelt, in die Wallraff undercover abgetaucht ist, und die einen wirklich bewegen. Dass sein Schreibstil eigentlich eher holprig ist und er sich weder besonders aufs Formulieren noch auf Dramaturgie versteht fällt da kaum ins Gewicht: die Authenzität der Berichte und ihre Schockkraft fegen so etwas hinweg.
Gleichzeitig fällt an seinem neuen Buch aber auch auf, dass fast die Hälfte nicht mehr aus tatsächlichen Reportagen besteht, sondern aus Material, das ihm zugetragen wurde. Hier fällt Wallraff deutlich ab. Diesen Kapiteln fehlt nicht nur der Schwung, sondern auch - und das ist schlimmer - die Legitimation, da Wallraff sich auf Hörensagen verlässt, statt selbst zu recherchieren. In diesem zweiten Teil des Buches ist er gewissermaßen nur für ein Cameo aktiv geworden, als er sich von dem berühmten Arbeitsanwalt Helmut Naujoks, der sich mit der "Kündigung von Unkündbaren" (Titel seines Buchs; es geht um Gewerkschafter, Schwangere und dergleichen) einen Namen als "Mann für's Grobe" in der Welt der Arbeitgebervertreter gemacht hat.
In der Maybrit-Illner-Sendung vom 15.10. trifft Wallraff auch auf Naujoks, der noch gar nicht wusste, dass Wallraff mit ihm gesprochen hatte. Dazu gab es eine ver.di-Gewerkschafterin, die ständig mit Naujoks zu tun hat, Hans-Olaf Henkel und den völlig farblosen CDU-Mittelstandsvertreter Michael Fuchs, der die ganze Sendung eine Sprechblasenmaschine bleibt. Und hier kommen wir zu der Sendung, die ich nur empfehlen kann. Denn in ihr sieht man, wie sich berechtigte Anliegen demontieren lassen.
Eigentlich sollte bei dieser Gästeschar alles gesagt sein: Naujoks ist klar als Buhmann konzipiert, Wallraff kann schockierende Enthüllungen anbringen und für Empörung sorgen, die Christina Frank von ver.di als Fachfrau stützen kann. Henkel ist im Endeffekt aufs Schweigen verdammt und Fuchs aufs Sprechblasenproduzieren. Nachdem Wallraff aber bereits bei Maischberger am 22.9. eine extrem schlechte Performance abgegeben hatte war ich gespannt, wie er mit dieser herausragenden Startkonstellation umgehen würde.
Um es kurz zu machen: er hat's voll verkackt. Bereits vor der Sendung war mir klar, dass das Gespann Naujoks und Henkel nur eine Möglichkeit hatte, diese Sendung zu überstehen und diese nutzen MUSSTE: den ersten empörten Angriff Wallraffs über sich ergehen lassen, ihn sich in Rage reden und dann aufs Messer laufen lassen. Wallraff hätte außerdem klar sein müssen, dass mit Fuchs und Henkel auf Seiten Naujoks zwei professionelle Öffentlichkeitsarbeiter gegen ihn stehen, während er nur eine unsichere Verbündete in Christina Frank hat, die solche Situationen auch nicht gewohnt ist. Und tatsächlich ist genau das eingetreten, was ich befürchtet habe: Henkel frisst Wallraff bei lebendigem Leib. Ich sagte anfangs die Sendung sei interessant. Dies begründet sich daraus, dass man darin sehen kann, wie Henkel die Stimmung um 180 Grad drehen kann. Man kann nur beeindruckt gratulieren und ihm danach die Pest an den Hals wünschen.
Was also ist passiert? Wallraff hat in der für ihn typischen Empörungsgeste, laut werdend, Naujoks direkt angeklagt. Verbrecherische Methoden warf er ihm vor, außerhalb des Gesetzes zu operieren und was dergleichen mehr ist. Eigentlich war klar, dass diese Vorwürfe berechtigt sind. Ich meine, Naujoks hat ein Buch darüber geschrieben! Ihm blieb also kaum mehr, als energisch den Kopf zu schütteln, während die Antipathie des Publikums beinahe mit Händen zu greifen war. Fuchs indessen war damit beschäftigt zu verkünden, dass der Kündigungsschutz nicht angetastet werde - dabei bleibt es für den Rest der Sendung. Henkel indessen argumentiert. Er relativiert hier ein wenig, dort ein wenig, bittet Wallraff um Mäßigung und platziert einen kleinen Nadelstich nach dem anderen. Frank indessen hat zwar mehr Geschichten von geschädigten Naujoks-Opfern, kann aber damit nicht punkten, wirkt eher diffus. Selbst der Auftritt eines Gastes inklusive Anwalt, der Naujoks in direkten Worten anklagt, hilft nichts - Henkel entschärft alles mit dem süffisanten Hinweis, dass allein sein Hiersein zeige, dass auch Arbeitnehmer einen Anwalt haben dürften, und dieses Recht stehe ja wohl auch Arbeitgebern zu.
Tusch. Plötzlich sind die Opferrollen verdreht. Vor Wallraffs staunenden Augen proklamiert Henkel gleiches Recht für Arbeitgeber, als ob die bisher rechtlich schutzlos einer juristischen Einheitsfront der Arbeitnehmer gegenüber säßen. Hier bräuchte es jetzt geschicktes Argumentieren anhand Beispielen und Fakten. Wallraff aber tut genau das, was man in dieser Situation, in Deutschland zumal, auf keinen Fall tun darf. Er wird aggressiv. Klagt Naujoks wieder direkt an. Steht sogar auf, wird laut. Auch Naujoks wird laut, Henkel lächelt weiter. Schließlich beendet Illner mit dem leisen, aber tödlich giftigen Kommentar, dass der Lauteste nicht immer Recht habe, die Diskussion. Ab sofort hat Henkel endgültig die Lufthoheit. Seine Argumente sind es, die am Ende bestehen. Dass es schwarze Schafe gibt hat er nie abgestritten - aber das sind in seiner Welt Einzelfälle und können vor Gericht zugunsten der Arbeitnehmer gelöst werden. Dieser Eindruck bleibt. Wallraff hat auf ganzer Linie verloren.
Das war vorhersehbar. Das macht es auch so ärgerlich. Wallraff hätte sich dessen im Klaren sein müssen und sich entsprechend vorbereiten. Die deutschen Zuschauer mögen es nicht, wenn Leute laut werden oder gar aggressiv eine Position vertreten, egal, wie berechtigt sie ist. Henkel als erfahrener Öffentlichkeitsarbeiter wusste das und zog seine Schlüsse. Er hat gewonnen. Wir können nur hoffen, dass dies den Beteiligten Verliern für die nächste Talkshow eine Lektion bleibt.

Der kranke Mann Deutschlands - Deutschlands Bildungssystem, Teil 5: Lehrerbildung

Teil 1: Auftakt
Teil 2: Welche Wurzeln hat unser Bildungssystem?
Teil 3: Schulformen
Teil 4: Infrastruktur
Teil 5: Lehrerbildung
Teil 6: Die Universitäten

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Heute wollen wir uns in der Serie zum Bildungssystem der Lehrerbildung widmen. Dies besteht aus zwei Teilen, einem Großen und einem Kleinen. Der große Teil befasst sich mit der universitären Ausbildung und dem anschließenden Referendariat, der zweite kleine Teil mit der Lehrerfortbildung während des Berufs. Dies hängt nicht mit Prioritäten zusammen, etwa dass die spätere Fortbildung einfach unwichtig wäre, sondern damit, dass es mir hier an persönlichen Erfahrungen mangelt und dass ich mich auf einige wenige Erzählungen befreundeter, fertiger Lehrer verlassen muss. Die Lehrerausbildung an Universität und Referendariat wird sich aus naheliegenden Gründen auf das Lehramt für Gymnasien in Baden-Württemberg beschränken müssen, was die konkreten Beispiele anbelangt. Für alles andere fehlen mir die Erfahrungen.

Um Lehrer zu werden, muss man hierzulande – sofern man kein Quereinsteiger ist – ein Studium mit dem ersten Staatsexamen abschließen (wobei man eine zugelassene Fächerkombination braucht), danach das Referendariat absolvieren und danach das zweite Staatsexamen bestehen. Aus erstem und zweitem Staatsexamen ergibt sich die Endnote, mit der man sich an den Schulen bewerben kann. Das erste Staatsexamen bewertet dabei die wissenschaftlich-fachliche Eignung des angehenden Lehrers, das zweite Staatsexamen die pädagogisch-fachdidaktische Eignung. Um das Studium anzutreten, benötigt man das Abitur (und je nach Fach den richtigen Schnitt).

Während des Studiums muss man eine Reihe von fachwissenschaftlichen Seminaren, Vorlesungen und Übungen absolvieren, die deutlich über den Schulstoff, der später gelehrt wird hinausgeht und die Befähigung vermitteln sollen, wissenschaftlich zu arbeiten – sie sind also keine Ausbildung für Lehrer, sondern angehende Wissenschaftler. Über Sinn und Unsinn dieser Aufteilung kommen wir später noch zu sprechen; in der Kritik ist sie dauerhaft, weswegen die Struktur auch beständig reformiert wird. Nach aktuellem Stand müssen deswegen für jedes Fach ein fachdidaktisches Seminar, insgesamt zwei Seminare zu pädagogischen Studien und je eine Vorlesung zur Einführung in die Pädagogik und die pädagogische Psychologie absolviert werden. Außerdem müssen die Lehramtsstudenten zwei Scheine (Qualifikationen) für EPG (Ethisch-Philosophische Grundbildung) erwerben, mit denen den Lehrern das Handwerkszeug für ethische Entscheidungen an die Hand geben soll. Die pädagogischen Studien und EPG-Seminare gehen außerdem zu insgesamt 10% in die Note des ersten Staatsexamens ein. In Baden-Württemberg müssen die Studenten inzwischen auch ein Praxissemester absolvieren, das während des Studiums eingeschoben wird und helfen soll, Untaugliche bereits während des Studiums auszusieben.

So weit die Formalien. Die Realität sieht natürlich nicht ganz so rosig aus. Da ist zum Beispiel der drohlich im Hintergrund dräuende Bologna-Prozess, der eigentlich eine Umstellung aller Studiengänge auf das Bachelor-Master-System vorsieht – auch für das Lehramt, das bisher über Staatsexamen geregelt wird. Erste zärtliche Versuche, einen „Bachelor of Education“ zu schaffen, sind im Sande verlaufen – die Kultusbürokratie erklärte, keine Lehrer mit Bachelor einstellen zu wollen. Da aber im Schnitt nur ein Drittel aller Bachelorstudenten auch einen Master machen, der nicht garantiert ist, kann das nicht funktionieren. 2010 müsste die Umstellung laut Bologna erfolgt sein – dass das nicht passieren wird ist jedem klar, und sieht man sich die Zustände in den ehemaligen Magister- und Diplomstudiengängen an kann man nur drei Kreuze machen und sich darüber freuen. Ein Kommilitone von mir studiert im sechsten Semester auf Bachelor – einen Bachelor, den es schon lange nicht mehr gibt und für den kaum jemand die richtigen Scheine ausstellen kann, weil er schon drei- oder viermal geändert wurde.

Solange das Staatsexamen weiter existiert, und dafür spricht dieser Tage einiges, wird also die bisherige Struktur weiter existieren. Unwahrscheinlich ist, dass es große Änderungen am fachwissenschaftlichen Teil geben wird. Die Universitäten geben viel auf die wissenschaftliche Ausbildung und sind nicht geneigt, hier Abstriche zu machen – im Vergleich zu von vor zehn oder gar zwanzig Jahren ist eine rapide Steigerung an Pflichtveranstaltungen und damit eine stärkere Formalisierung des Studiums auszumachen. Diese Tendenz ist besonders stark in den pädagogisch-fachdidaktischen Veranstaltungen, die durch die verschiedenen Reformen (vor allem die Lehramtsreform von 2001) aufgepropft wurden, um dem ewigen Vorwurf, die Studenten würden erst im Referendariat mit der schulischen Wirklichkeit konfrontiert entgegenzuwirken. In den viereinhalb Jahren, die ich mittlerweile studiere, wurden die Anforderungen für diese Veranstaltungen immer weiter verschärft; durchschnittlich ändern sich die Prüfungsordnungen alle zwei Semester verbindlich für alle Studierenden. Als ich anfing, waren die beiden Vorlesungen noch Sitzscheine – das heißt, sie wurden erfolgreich bestanden, indem man sich jede Vorlesung in eine Liste eintrug. Danach konnte man im Prinzip auch wieder gehen, ein Angebot, von dem viele Gebrauch machen. Dies hängt damit zusammen, dass die Prüfungsordnung vorsieht, dass die Scheine für diese beiden Vorlesungen unbenotet sind und für die „erfolgreiche Teilnahme“ ausgestellt werden.

Nun gab es für die Professoren, die vor fast leeren Vorlesungssälen lehrten, sobald die Anwesenheitslisten durch waren, zwei Möglichkeiten. Sie konnten die Situation einerseits akzeptieren und sagen, dass die Studenten erwachsen waren und ihre eigene Entscheidung treffen konnten, wie das eigentlich dem Selbstbild der universitären Ausbildung entspricht. Oder aber sie verschärfen die Bedingungen. Genau das ist passiert, was interessant ist. Zuerst wurden Klausuren eingeführt, die statt der ständigen Anwesenheit die selbige dokumentieren sollten. Dies führte dazu, dass erst recht niemand die Vorlesungen besuchte sondern stattdessen einfach nur die Klausur schrieb, die relativ einfach zu bestehen war – angesichts von 400 bis 500 Studenten, die diese Vorlesungen pro Semester besuchen, ist etwas anderes als Multiple-Choice kaum möglich. Letztes Semester (Sommersemester 2009) wurden die Bedingungen deshalb erneut verschärft: nun wird die Anwesenheit durch während der Vorlesung abzugebende und nach der Vorlesung online zu lösende Aufgaben kontrolliert. Gleichzeitig werden die Seminare zu den „Pädagogischen Studien“ standardisiert. Früher gab es zahllose Themen in diesen Seminaren, von der Leistungsbewertung im offenen Unterricht zu der Sinnhaftigkeit von Hausaufgaben über Formen offenen Unterrichts. Inzwischen gibt es fast nur noch die standardisierten Module „Lehrer, Lernen, Unterricht“ (LLU), die ab nächstem Jahr verpflichtend sein werden.

Diese Entwicklung ist sowohl interessant als auch paradox. Offensichtlich gelingt es den Veranstaltern der pädagogisch-fachdidaktischen Kurse nicht, die Studenten dafür zu interessieren, so dass diese freiwillig teilnehmen würden – was den fachlich-wissenschaftlichen Veranstaltungen problemlos gelingt, wo man je nach Veranlagung aus einem bestimmten Fachbereich seine Veranstaltungen wählt. Die Wahlfreiheit wird zugunsten standardisierter Module sogar immer mehr abgeschafft, der Prüfungsdruck jedes Semester erhöht. Dies ist besonders widersinnig, als dass das allen Erkenntnissen der modernen Pädagogik zuwiderläuft, denenzufolge die besten Lernergebnisse bei Freiwilligkeit erzielt werden – was beispielsweise in der letzten Woche in der Vorlesung „Pädagogische Psychologie“ vom Professor Trautwein ausführlich erklärt wurde, nur um diesen zwei Sätze später betonen zu lassen, dass es mehr Druck, Zwang und Pflichtveranstaltungen geben werde, da die Studenten sonst nicht teilnehmen würden. Am heutigen Morgen begrüßte er die Studenten ohne jede Ironie mit der Feststellung, dass er sich darüber freue dass sich immer noch so viele für die Vorlesung interessieren würden. So viele Kapazitäten zur Selbsttäuschung finden sich sonst nur bei Spitzenpolitikern der SPD.

Die pädagogische Ausbildung an den Universitäten disavouiert sich so selbst. Dazu kommt, dass der Stoff extrem dröge ist und mit den späteren Tätigkeiten an der Schule nichts zu tun hat. In der pädagogischen Psychologie, der unter den Studenten mit Abstand verhasstesten Veranstaltung dieser Art, lernen wir beispielsweise die korrekte Auswertung von wissenschaftlichen Studien. Albern? Aber ja.

Nicht viel besser sind die EPG-Veranstaltungen. Der erste Kurs soll dabei Grundlagen bilden. Hierzu werden meist verschiedene Philosphen von Aristoteles über Kant zu Heidegger besprochen und in einer Klausur abgefragt. Praktischer Nutzen für den Lehrberuf: null. Als Feigenblatt wird diskutiert, wie man Kant auf schulische Alltagsprobleme anwenden kann. Das hat in etwa den gleichen Unterhaltungswert wie in der pädagogischen Psychologie, wo Professor Trautwein voller Ernsthaftigkeit erklärte, dass es kein schlimmeres Problem gäbe als wenn man bei einem im Unterricht störenden Schüler nicht die richtige pädagogische Theorie gelernt habe. Die zweite EPG-Veranstaltung soll das Ganze mit dem eigenen Fach in Bezug bringen, was dazu führt, dass das Dekanat der jeweiligen Fakultät einige Veranstaltungen gleichzeitig zu EPG-II-Veranstaltungen erklärt, ohne dass die Professoren auch nur wüssten wie man einen Schein dafür ausstellt, geschweige denn, was das für Anforderungen an sie stellen könnte. Ich bin aber zuversichtlich, dass hier ebenfalls bald eine nervtötende wie überflüssige Pflichtveranstaltung generiert wird.

Die Fachdidaktik, also die Lehre vom Lehren des Fachstoffs, wird je nach Fach unterschiedlich gehandhabt. Meist erlernt man das Erstellen von Unterrichtsentwürfen und damit etwas Praxisnahes. Das ist das Positive, das sich über die Veranstaltungen sagen lässt. Das Dumme ist nur, dass das, was man in einer semesterlangen fachdidaktischen Veranstaltung an der Schule macht, in zwei Tagen im Praxissemester ebenso erlernt wird. Trotzdem sind die fachdidaktischen Veranstaltungen noch das sinnvollste des gesamten universitären Komplexes.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die pädagogisch-fachdidaktischen Veranstaltungen kaum ein Feigenblatt gegen Kritiker des Systems der Lehrerausbildung sind. Sie multiplizieren genau die Fehler des Systems, die sie zu beheben vorgeben und haben inzwischen das oben beschriebene Eigenleben entwickelt, das sie in eine stetige Spirale des Desinteresses seitens der Studenten und der Erhöhung des Drucks treibt.

Was aber ist mit der fachlichen Ausbildung? Wie bereits eingangs erwähnt sind die meisten Veranstaltungsthemen weit entfernt vom Schulstoff. Spätrömische Kaiser und ihr Verhältnis zur Christianisierung, Linguistik des Deutschen, Der Vordere Orient in den Internationalen Beziehungen – das alles sind keine Themen, die in der Schule behandelt werden. Sind sie deswegen fehl am Platze? Ich sage nein. Der Lehrer muss über ein deutlich größeres Fachwissen verfügen als seine Schüler, sonst kann er nicht effizient unterrichten. Dazu kommt, dass diese Themen häufig nicht nur Wissen über einen solchen Detailbereich vermitteln, sondern vor allem die Kenntnis darüber, wie man sich solches Wissen zulegt und sich wissenschaftlich – und damit durchaus kritisch – damit beschäftigt. Eigenständiges Denken, etwas, das im pädagogischen Teil geradezu systematisch ausgetrieben wird (und nebenbei bemerkt auch in den Bachelor-Studiengängen) wird hier noch hoch geschrieben. Auch hier bin ich aber zuversichtlich, dass im Rahmen des Bolognaprozesses diese letzte vom Humboldt’schen Ideal beseelte Bastion geschleift wird.

Das alles stellt dem universitären Teil der Lehrerausbildung ein vernichtendes Zeugnis aus. Wie aber sieht es mit dem Praxissemester, das für Studenten, die sich nach 2001 immatrikuliert haben verpflichtend ist? Diese Reform wurde zu einem Gutteil aus Kostenersparnisgründen durchgeführt, da das Praxissemester unbezahlt ist und das (bezahlte) Referendariat um ein Jahr auf anderthalb Jahre verkürzt. Das spart dem Haushalt mehrere Millionen jährlich. Dieses niedere Motiv müssen wird jedoch in der Anerkennung beiseite schieben, denn diese Reform gehört zu den wohl sinnvollsten überhaupt. Das Praxissemester muss irgendwann vor Ablegen des ersten Staatsexamens absolviert werden; die meisten Studenten absolvieren es aber irgendwann zwischen dem 3. und dem 7. Semester. Dies ist auch sinnvoll; direkt vor dem Staatsexamen kann man es sich auch schenken. Die meisten Pläne für die Bologna-Reform sehen vor, das Praxissemester zwischen Bachelor- und Masterstudiengang einzuschieben, was zur Abwechslung einmal eine gute Idee wäre.

Im Praxissemester, das nebenbei bemerkt aus unerfindlichen Gründen nur drei Monate dauert (von September bis Dezember oder von September bis Oktober und Februar bis April), kann in zwei Formen absolviert werden: der Blockform oder der Modulform. In der Blockform verliert der Student ein Semester, weil er das Praxissemester en bloc von September bis Oktober absolviert. Diese wird allgemein empfohlen, weil man in der Materie bleibt, eine Klasse über längere Zeit begleiten kann und generell einen höheren Lerneffekt davon hat, was ich nur bestätigen kann. Die andere Variante ist die Modulform, in der der Student nur in den Semesterferien an der Schule ist und dadurch das reguläre Semester mitmachen kann. Beide Formen sind organisatorisch äußerst unausgegoren, was der größte Kritikpunkt an dieser sonst so guten Einrichtung ist.

In der Blockform verliert der Student ein Semester, das aber dennoch voll angerechnet wird (ich bin offiziell im neunten Semester, war aber nur acht an der Uni, was mir Nachteile für die Regelstudienzeit verschafft), in der Blockform hat er ein dreiviertel Jahr bösartigen Stress und kann nebenher praktisch nicht arbeiten, einmal davon abgesehen dass der Lerneffekt geringer ist. Generell existiert eine soziale Schieflage. Während der Einführungen ins Praxissemester wurde uns eingebläut, es sei unmöglich, nebenher zu arbeiten, und wir sollten dies keinesfalls auch nur versuchen. Wie Studenten, die auf Nebenverdienst angewiesen sind dies stemmen sollen ist den Verantwortlichen dabei egal.

Im Praxissemester selbst muss der Student 100 Stunden hospitieren (im Unterricht hinten sitzen und beobachten) und 30 Stunden selbst unterrichten. Dies ist ein moderates Kontingent und überraschend wirklichkeitsnah. Gut zu schaffen, nicht zu viel, nicht zu wenig. Einmal in der Woche gibt es außerdem einen Theorienachmittag am Seminar zur Lehrerausbildung. Da es davon nur vier im ganzen Land gibt, hat man je nach Schulstandort bisweilen bis zu drei Stunden Anfahrtsweg in Kauf zu nehmen. Das Praxissemester wird (derzeit) nicht benotet und man erhält eine schriftliche Beurteilung, die niemand anderes bekommt und die geheim gehalten werden darf. Auch hier gibt es aber bereits Pläne, für mehr Verbindlichkeit und Prüfungen während des Semesters zu sorgen; im Falle der Nachmittagstheorie ist das bereits der Fall.

Damit schließen wir den Komplex Lehrerausbildung an Universitäten ab. Mit dem Ablegen des ersten Staatsexamens, bei dem Pädagogik übrigens keine Rolle spielt – einzig die Fachkenntnisse der Hauptfächer werden hierfür geprüft – kann sich der angehende Lehrer für das Referendariat bewerben, wofür derzeit noch eine Stelle garantiert wird. Diese ist mit etwa 1000 Euro brutto im Monat nicht fürstlich, aber akzeptabel dotiert, sofern die Schule infrastrukturtechnisch halbwegs vernünftig ausgestattet ist (siehe letzter Beitrag). Da ich noch nicht im Referendariat bin, kann ich hier nur auf Schilderungen zurückgreifen. Ich werde daher in Zukunft nicht mehr so ausführlich sein.

Früher dauerte das Referendariat in BaWü zwei Jahre, die an zwei unterschiedlichen Schulen verbracht wurden. Das erste Jahr dient dabei dem Erlernen der Theorie und ersten Gehversuchen, im zweiten Jahr erhalten die Referendare bereits eigene Klassen zum unbeaufsichtigten Unterricht. Durch die Praxissemesterreform wurde die erste Phase um ein halbes Jahr verkürzt, die Schule wird nicht mehr gewechselt. Das hat den Vorteil einer größeren Kontinuität, jedoch kann man dadurch nicht mehr Anfängerfehler ausbügeln, die einem unter Umständen einen schlechten Ruf bei den Schülern eingebracht haben könnten – bekanntlich zählt der erste Eindruck, das ist an der Schule fast noch evidenter als im wirklichen Leben. Vorurteile auszuräumen ist äußerst schwierig.

Im Gegensatz zum Praxissemester steigt das Pensum deutlich: bis zu drei Nachmittage oder sogar ganze Tage in der Woche werden am Seminar beim Theorieunterricht verbracht, wo pädagogische und fachdidaktische Konzepte erlernt werden. Überflüssig zu erwähnen, dass hier der Praxisbezug deutlich höher ist als an den Universitäten. Außerdem muss mehr hospitiert und selbst unterrichtet werden.

Zu der Arbeitsbelastung durch die nominellen Stunden kommen die ausufernden Unterrichtsvorbereitungen, die mangels einschlägiger Erfahrungen und vorhandener Materialquellen sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Als Faustformel kann man für jede Schulstunde zwei Zeitstunden Vorbereitung nehmen; häufig jedoch wird es deutlich mehr. Zusätzlich zu den Theoriesitzungen am Seminar hat ein Referendar damit locker mehr als eine 40-Stunden-Woche.

Wenn dann die eigenen Klassen übernommen werden, rückt auch gleichzeitig die Zeit für das zweite Staatsexamen heran. Hierfür muss eine (wissenschaftlichen Ansprüchen genügende) pädagogische Arbeit verfasst werden, schriftliches Stundenmaterial abgebeben und, vor allem, drei Lehrproben bestanden werden. Dabei muss der Referendar eine Stunde vorbereiten, das Konzept zur Bewertung abgeben und sich dann nach Möglichkeit peinlich genau daran halten. In der Schule äußert sich dies für die Schüler in einer steigenden Nervosität des Referendars, der die Schüler ständig auf Disziplin einschwört, sie zu bestechen versucht und subtil darauf vorbereitet, denn einstudiert darf das Ganze ja auch nicht wirken. Mit einer echten Unterrichtsstunde hat diese Lehrprobe denn auch wenig zu tun, wie alle Beteiligten wissen. Der Referendar muss eine Bandbreite pädagogischer Methoden vorführen (ein echtes Kunststück in nicht ganz 45 Minuten) und dabei erraten, welcher Richtung der Prüfer anhängt, denn davon hängt die Note zu einem guten Teil ab. Manöver wie das Nachfragen, ob es bei einer angeblich in der letzten auf die folgende Stunde aufgegeben Recherche-Hausaufgabe Probleme gäbe (wobei die Hausaufgabe natürlich nicht existiert und die Schüler vorher gedrillt wurden, brav mit „Nein“ zu antworten) gehören dabei zum Ritual, das die Realitätsferne der Übung nur umso breiter zu unterstreichen weiß.

Ist es dem Referendar gelungen, all diese Prüfungen hinter sich zu bringen, erhält er die Note zum zweiten Staatsexamen. Obwohl diese Note deutlich mehr über seine Eignung zum Lehrer aussagen sollte als das Erste, wird häufig Letzteres zur Bewertung der Person herangezogen. Woran liegt das, eine schnoddrige Arroganz gegenüber der „weichen“ Pädagogik einmal beseite gelassen?

Wie so viele Noten hat auch die Note des zweiten Staatsexamens nur wenig Aussagekraft. Es ist ein offenes Geheimnis, dass das Kultusministerium Quoten entsprechend seines Lehrerbedarfs vorgibt. Wenn Lateinlehrer fehlen, werden Lateinreferendare sehr gute Noten erhalten, gibt es ein Überangebot an Deutsch-Referendaren, kann man die Note 1 mit der Lupe suchen. Diese Quoten sind außerdem tagesformmäßig bedingt; wenn also ein Prüfer an einem Vormittag viele gute Noten vergeben hat, muss er nachmittags noch ein paar schlechte vergeben – ob die Prüflinge vielleicht sogar besser sind als die am Vormittag hin oder her.

Ist es dem Referendar trotz all dieser Widrigkeiten gelungen, an einer Schule angestellt zu werden, muss er nur noch die Hürde zur Verbeamtung nehmen. Je nach Bundesland ist dies unterschiedlich schwierig, und die Länder unternehmen immer wieder Tricks, um die Verbeamtung zu vermeiden und die Lehrer im Angestelltenverhältnis zu belassen und deutlich schlechter zu bezahlen als ihre verbeamteten Kollegen. Absurde Gesundheitskritierien sind dabei nur ein Teil der Übung.

Ist der Lehrer dann aber Lehrer, ob verbeamtet oder nicht, ist seine Ausbildung zu Ende – doch fortgebildet wird sich immer. Einmal im Jahr gibt es den obligatorischen „pädagogischen Tag“, den Schüler vor allem als freien Tag wahrnehmen, der für die Lehrer jedoch viel Arbeit bedeutet. Dazu kommen eventuell weitere derartige Termine. Außerdem sind für Lehrer in BaWü zwei Fortbildungen jährlich verpflichtend. Welche Fortbildungen das sind ist dabei egal – so beispielsweise ist der Nutzen einer Fortbildung zu Smartboards, die sich keine öffentliche Schule je wird leisten können, zwar möglich, aber eher nutzneutral. Es hängt hier also vom persönlichen Einsatz ab, ob der Lehrer sinnvolle Fortbildungsangebote nutzt oder nicht.

Sonntag, 25. Oktober 2009

Ein Hoch auf den holländischen Journalismus



Danke an Chris für den Hinweis.

Koalitionsvertrag

Der Koalitionsvertrag zwischen schwarz und gelb ist draußen. Er enthält für denke ich niemanden von uns eine Überraschung und ist, um eine Kurzbilanz zu ziehen, eine Katastrophe für das Land. Man kann nur hoffen, dass möglichst viele von denen, die für schwarz-gelb gestimmt haben, ihren Irrtum baldig einsehen. Was mich wirklich überrascht, ist die harsche Reaktion in der SZ, die sich in der Vergangenheit eigentlich als neoliberales Sturmgeschütz geriert hat und nun voll kritisert. Hoffen wir mal, dass das anhält.

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Freitag, 23. Oktober 2009

Kabinettskriege

Nach langem Hichhack steht das Kabinett, das erst Samstag abend offiziell verkündet werden soll. 16 Posten umfasst es insgesamt, Grund genug für uns, uns das einmal anzusehen. Grundlage ist übrigens diese Stern-Übersicht, die überraschend kritisch geraten ist.

Kanzlerin: Angela Merkel (CDU)
Ich glaube kaum, dass man über Merkel noch viel sagen muss. Die Entblödung, den angeblichen Spitznamen "Mutti" zu verwenden (den ich für einen gigantischen PR-Hoax halte) sparen wir uns. Hat bisher nichts gemacht und wird dafür geliebt. Wird das auch weiterhin machen, trotz des ganzen Geredes vonwegen, dass sie jetzt führen müsse. Gar nix muss sie. Dafür hat sie andere.

Außenminister: Guido Westerwelle (FDP)
Hat zwar keine Kompetenzen auf dem Feld, aber die hätte er auch auf den 15 anderen nicht gehabt. Und Außenminister sein ist toll, da ist man für nichts verantwortlich, aber beliebt. Wird spannend zu sehen ob Merkel ihn genauso domestiziert kriegt wie Steinmeier.

Kanzleramtsminister: Roland Pofalla (CDU)
Der Mann ist eigentlich vor allem ein treuer Parteisoldat und Rückenstärker Merkels, die die Parteiseele selbst nicht streicheln kann. Und was im Kanzleramt passiert, erfährt man eh praktisch nie; da die Position machttechnisch aber sehr wichtig ist und Merkel Macht kann, wird Pofalla schon fähig sein.

Innenminister: Thomas de Mazière (CDU)
Dass Schäuble als Innenminister nicht so klug ist, weil man damit nur der FDP und der Opposition ständige Steilvorlagen zur Profilierung gibt und nichts erreicht sieht selbst ein Blinder. Den bisherigen Kanzleramtsminister und damit schon fast berufsmäßigen Leisestreter aufzustellen ist ein cleverer Zug. Wenn Guido sich an Fernreisen berauscht, dürften die Bürgerrechte bald schon wieder passé für den Großteil der FDP sein, so dass de Mazière eventuell durch die Hintertür erreicht, was Schäuble noch immer dementiert.

Finanzminister: Wolfgang Schäuble (CDU)
Ein Schlüsselministerium, das Merkel mit einem Schwergewicht besetzen muss. Guttenberg ging nicht, schon allein, weil er aus der CSU ist, aber auch, weil er dem Job nicht gewachsen wäre. Im Gegensatz zum Wirtschaftsministerium muss hier wirklich gearbeitet werden. Außerdem ist nicht gewiss, dass Schäuble die ganze Legislaturperiode hier sitzen wird. Wenn Oettinger stürzt kann er im Notfall in BaWü als Ministerpräsident einspringen, oder aus irgendwelchen vorgeschobenen Gründen doch noch EU-Kommisar werden, falls das notwendig sein sollte. Außerdem ist er prinzipiell merkeltreu, da er in seinem Alter keine eigenen Ambitionen mehr haben dürfte.

Verteidigungsminister: Karl Guttenberg (CSU)
Ich spar mir den pratentösen vollen Titel unsereres gelackten Barönchens. Das Verteidigungsministerium ist ein Posten, der mit dem rasant unpopulärer werdenden Afghanistankrieg etwas Glanz gebrauchen kann, und da kommt Guttenberg gerade recht, um mit einem charmanten Aristokratenlächeln das Bomben zu rechtfertigen und durch die Begeisterung der Presse für seine Person alle Kritik wegzugrinsen. Das könnte sich nur als Rohrkrepierer erweisen, wenn sich die Lage in Afghanistan dramatisch verschlechtert und Guttenberg scheitert. Ich halte das aber für unwahrscheinlich, da Guttenberg sich bisher den Ruf als Anti-Politiker gesichert hat und auch einfach von heute auf morgen zum Abzugsbefürworter werden kann. Merkel wird aufpassen müssen, dass sie da alles mitvollzieht.

Landwirtschaftsministerin: Ilse Aigner (CSU)
Hat den Job schon einen Teil der letzten Legislaturperiode gemacht ohne aufzufallen. Verbraucherschutz ist ihr unwichtig, von Landwirtschaft hat sie keine Ahnung, aber die CSU eine Frau auf einem Minsterposten - hurra, Schein gewahrt. Tür und Tor für alle Lobbygruppen sind geöffnet.

Verkehrsminister: Peter Ramsauer (CSU)
Viel schlechter kann es nach Tiefensee eigentlich kaum mehr kommen. Ramsauers Hauptaufgabe dürfte in der Privatisierung der Bahn bestehen. Ich muss zugeben, den Mann nicht zu kennen. Ich hätte nicht mal gewusst, ob er in CDU oder CSU ist, aus welchem Bundesland oder was er bisher gemacht hat. Für mich eine volle Überraschungstüte.

Forschungsministerin: Anette Schavan (CDU)
Nachdem sie sich bereits eine Legislaturperiode durchgemurkst hat, darf sie jetzt nochmal. Eigentlich stellen ihr alle ein vernichtendes Zeugnis aus, sie besitzt keine große Fachkompetenz und hat aus ihrer Zeit als Kultusministerin hier in BaWü bereits einen Ruf wie Donnerhall. Der einzige Grund, warum sie den Posten weiter bekleidet, dürfte in ihrer Nähe zu Merkel liegen - ein weiterer loyaler Verbündeter für alle Krisenzeiten. Vielleicht hofft sie auch immer noch darauf, Ministerpräsidentin hier zu werden. Da kann man nur drei Kreuze machen.

Arbeitsminister: Franz-Josef Jung (CDU)
Abgesehen davon, dass er eine loyale Kreatur Roland Kochs ist, gibt es eigentlich keinen Grund, diese Schlafmütze ins Parlament zu bringen. Als Verteidigungsminister hat er grandios versagt, und für das Arbeitsministerium hat er nicht die geringste Kompetenz. Die hatte Olaf Scholz auch nicht, gewiss. Aber da Koch merkeltreu ist, darf man von Jung hier auch keine eigene Linie erwarten. Das Arbeitsministerium wird also extrem unwichtig in diesem Kabinett werden.

Justizministerin: Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP)
Die einzige gute Nachricht in diesem Kabinett. Leutheusser-Schnarrenberger hat 1996 den Job hingeschmissen, aus Kritik am Großen Lauschangriff. Da sie nicht Oskar Lafontaine ist, wird ihr das als integer angerechnet und der FDP, die das Ding nachher halt ohne sie abgesegnet hat, nicht Wortbruch vorgeworfen. Es steht zu hoffen, dass sie den CDU-Konter mit der Besetzung de Mazières zu blocken weiß und tatsächlich etwas für die Bürgerrechte tut.

Familienministerin: Ursula von der Leyen (CDU)
Von der Laien hat sich bereits durch eine Legislaturperiode gebracht. Eigentlich wollte sie schon immer das Gesundheitsministerium (wahrscheinlich wegen der besseren Schmiergelder dort), aber das ging überraschend doch nicht. Also bleibt sie Familienministerin. Sie dürfte im neuen Kabinett einen schweren Stand haben, da ihre alten Verdienste bereits verblasst und von ihrem Wahlkampfgag "Kampf gegen Kinderpornos" deutlich überschattet wurde. Mal sehen, ob sie noch irgendetwas auskramt oder unauffällig die nächsten vier Jahre rumbringt.

Wirtschaftsminister: Rainer Brüderle (FDP)
Brüderle will schon so lange Wirtschaftsminister werden, wie andere von der Mutterbrust entwöhnt sind. Endlich konnte er sich den Wunsch erfüllen. Er gilt als Wirtschaftsexperte, aber dieses Etikett wird dieser Tage dermaßen freizügig vergeben, dass er sich darauf nichts einzubilden braucht. Auch auf das oft optionale oder gar additive "Mittelstandsexperte" brauchen wir nicht viel geben, da wir wissen, was der Mittelstand ist und was die FDP darunter versteht. Hier sind keine Überraschungen zu erwarten. Brüderle wird für einen Abbau von Arbeitnehmerrechten und Unternehmenssteuern eintreten und das Land weiter an die Wand fahren. Aber mit Vollgas, immerhin.

Entwicklungshilfeminister: Dirk Niebel (FDP)
Diese Berufung ist ein Witz auf Rädern. Binky der Clown wäre besser geeignet gewesen. Dirk Niebel ist der Scharfmacher der FDP, der Mann fürs Grobe, so was wie Schäuble für die CDU und Steinbrück für die SPD waren. Von Entwicklungshilfe hat er keine Ahnung, man kann ihn sich auch in der Rolle nicht vorstellen, was auch dazu führt, dass der Stern hier am Beißendsten Kritik äußert. Reine Quotenbesetzung von Westerwelle, um seiner Fronstau danke zu sagen.

Umweltminister: Norbert Röttgen (CDU)
Hier gilt das Gleiche wie bei Ramsauer: kenne ich nicht. Er wird als loyaler Parteisoldat Merkels beschrieben. Vermutlich wurde er berufen, damit der Ausstieg aus dem Atomausstieg möglichst geräuschlos vollzogen werden kann und Arbeit endlich wieder Vorfahrt vor Umweltpolitik hat. Ich erwarte nichts von ihm, aber vielleicht werden wir hier ja überrascht.

Gesundheitsminister: Philipp Rösler (FDP)
Das Beste zum Schluss. Diese Berufung ist eine echte Überraschung. Die meisten Leute kennen Rösler nicht. Ich habe immer wieder verwirrte Blicke geerntet, wenn ich ihn bei den Größen der FDP genannt habe. Kurze Nachhilfe: FDP-Shootingstar aus Niedersachsen, dort inzwischen Wirtschaftsminister unter Wulff. Extrem jung (36). Hat marktradikale Positionen und präsentiert sich ganz als der BWL-Schnösel, der er ist. Da das Gesundheitsministerium das Ministerium mit der höchsten Lobbyistendichte überhaupt ist und die FDP sich als Klientelpartei für ebendiese Lobbygruppen versteht, steht uns hier eine Katastrophe hinaus. 56% der Ärzte haben FDP gewählt, und es steht zu befürchten, dass die sich nun bedanken wird. Merkt euch den Kerl, der wird vermutlich in den nächsten vier Jahren die größten Änderungen zum Schlechten in euer aller Leben bringen.

Die Bilanz: Fünf Ministerien für die FDP, drei für die CSU, acht für die CDU. Da die SPD wegfällt, dürfte die CDU es schwieriger als bisher haben, ihre Positionen durchzubringen. Es wird interessant sein zu sehen, wer sich in den dortigen Flügelkämpfen wie positioniert. Die FDP wird ein marktradikales Programm fahren, als ob sie noch in der Wünsch-dir-was-Opposition wäre, und die CSU herumeiernd versuchen, wieder über die 50% in Bayern zu kommen, ohne das Ziel zu erreichen.
Ich prophezeie, dass nicht alle Minister hier die Periode überstehen werden. Hauptsächlicher Grund für Umbildungen werden aber weniger Skandale und Rücktritte in ihrem Zusammenhang sein, sondern machtpolitische Fragen, weil sich Gewichte in den Bundesländern verschieben. Besonders der CSU-Vorsitz und die Ministerpräsidentenämter von BaWü und Bayern sind da Kandidaten.

Mittwoch, 21. Oktober 2009

Mal so ne Idee

Da im Augenblick eine heiße Diskussion darüber läuft, wie viel die Menschenrechte von Kindern eigentlich wert sind (3 oder 4 Euro mehr im Monat, überspitzt gesagt) und ich mir wirklich nur noch an den Kopf fassen kann und fragen, wie man nur auf die Idee kommen kann, die Menschen- und Grundrechte ausgerechnet der Kinder mit so etwas Profanem wie Geld aufwiegen zu wollen - nun, da kam mir eine Idee.
Wie wäre es, wenn wir alle Geld in einen Topf werfen und dann einfach mal den Leute, die so argumentieren, anbieten, ihnen ihre Grund- und Menschenrechte abzukaufen? Es scheint sich ja lediglich um eine Geldsumme im Bereich des Hartz-IV-Kinderregelsatzes zu handeln, also etwas, das wir stemmen könnten, wenn nur ein Drittel meiner Leser einen Euro in den Topf wirft. Ich wäre gespannt, wie hoch Leute wie Professor Thießen ihre eigene Menschenwürde taxieren würden und ob sie dann immer noch so schnell bereit wären, ihre Durchsetzung von Euros abhängen zu lassen.

Links:
Heribert Prantl
Professor Thießen

Dienstag, 20. Oktober 2009

Stipendien braucht das Land?

NRW-"Innovationsminister" Pinkwart (FDP) fordert bis 2015 den Anteil der Stipendianten von derzeit rund 3% auf 10% zu erhöhen, indem die Bundesregierung mit bis 300 Euro dotierte Stipendien in großem Umfang schafft, rund 20.000 Neue jährlich auf einen Stand von etwa 125.000 insgesamt. Vorfahrt für Bildung also?
Weit gefehlt, aber das verwundert nicht, wenn man den Absender der Forderung anschaut. Von der FDP kann gar nichts anderes kommen als Klientelpolitik. Die Stipendien sollen einfach für die 10% besten Studenten vergeben werden - natürlich "einkommensunabhängig". Eine Begründung dafür gibt Pinkwart bezeichnenderweise nicht. Welche positiven Auswirkungen diese Reform haben soll, steht in den Sternen. Da sie, wenn ich ihn richtig verstehe, nur bereits Studierenden zugute kommen soll - wie sollte sonst festgestellt werden, ob jemand zu diesen 10% gehört? - werden sie die Studierquote nicht erhöhen. In Deutschland sind die Studiengebühren nicht so abartig, dass breite Bevölkerungsschichten auf Stipendien angewiesen wären, wie z.B. in den USA. Im Endeffekt würde hier Geld zum Fenster herausgeworfen werden, denn wie das jetztige Stipendiensystem auch schon würde es durch den Passus "einkommensunabhängig" auch diejenigen finanziell pushen, die das eigentlich gar nicht nötig haben. Und wenn Papi Millionär ist, wen interessiert es? Die FDP rückt trotzdem noch mal Kohle rüber, Geld, das wir wirklich nicht haben und das an anderer Stelle deutlich besser aufgehoben wäre. In einer allgemeinen Senkung der Studiengebühren zum Beispiel, oder gleich in ihrer Abschaffung.
Dazu kommt, dass dieses "die Besten" extrem aufstößt, das in der gesamten Diskussion um Stipendien immer mitschwingt. Wer stellt denn fest, wer die besten 10% sind? Anhand welcher Kriterien? Seminarnoten? Wer einmal eine Bildungseinrichtung besucht hat sollte eigentlich wissen, wie viel von solchen Noten zu halten ist. Ein Stipendienvorschlag, wie ihn die FDP macht, setzt eine wahre Testeritis voraus, wie sie für Bologna so typisch ist und eigentlich von jedem Kopf mit Sachverstand oder auch nur eigener Erfahrung in dem Bereich klar abgelehnt wird. Aber die FDP hat ja eine lange Tradition darin, Konzepte toll zu finden, die sich ein bisschen an der Realität reiben. Gegen das, was in vielen FDP-Zentralen ausgedacht wird, sind die Kommune-1-68er knallharte Pragmatiker.

Montag, 19. Oktober 2009

Aufruf des Kabaretts



Das ist echt richtig fies, und eine mehr als eindeutige Kampfansage. Ich hoffe echt, dass dieses Beispiel Schule machen wird. Ich bin begeistert über die Courage, die diese Leute gefunden haben. Hut ab.

Sonntag, 18. Oktober 2009

Müller für Mindestlohn

Der noch-und-bald-wieder-Ministerpräsident des Saarlandes, Müller, hat sich für einen Mindestlohn ausgesprochen. Um die 4,50 Euro soll er betragen und damit, so Müller, "definieren was sittenwidrig sei". Sittenwidrig, das ist unter anderem ein Mindestlohn von 4,50 Euro. Merken diese Leute eigentlich noch, von was sie eigentlich reden? Wahrscheinlich prophezeit uns Hans-Werner Sinn bald wieder den Untergang der Republik, wenn das wahrgemacht wird - aber fassen wir uns doch mal an den Kopf und denken ein bisschen nach.
4,50 Euro pro Stunde, das sind bei einem Normalarbeitsverhältnis 36 Euro am Tag, mach 180 Euro in der Woche, macht 760 Euro im Monat - grob. Und wohlgemerkt, wir reden von Brutto. 760 Euro! Das ist, Miete etc. abgezogen, effektiv weniger als Hartz-IV. Und dieser "Lohn" wird jetzt nicht gerade für die bequemeren Jobs gezahlt, wo man in Schreibtischsesseln vor dem Laptop vor dem Frühstück ein paar Milliarden durchbringt - das sind Knochenjobs wie Wachleute in der Schicht von 11 Uhr abends bis 5.30 Uhr früh, Kassiererin bei KiK, Straßenkehrer oder Praktikant bei der LINKE-Bundestagsfraktion.
Ernsthaft, diese Leute sind einfach nur noch abgehoben. Einen solchen Vorschlag auch nur zu machen ist sowas von Realitätsverlust, da müssen andere Leute wochenlang Killerspiele für spielen. Und das fällt nicht einmal jemand auf.

Mittwoch, 14. Oktober 2009

Pack den Rotstift ein, nimm dein kleines Guidolein...

Im Spiegel denken Sebastian Fischer und Christian Teevs über mögliche Kürzungen nach, die schwarz-gelb durchführen könnte, gewissermaßen um uns präventiv zu wappnen und die Entrüstung vorher schon mal teinzuentladen. Es lohnt sich, diese "Ideen" mal genauer anzuschauen, denn die Liste ist von beeindruckender geistlicher Schlichtheit und impliziert Interessantes.
1: Abschaffung der Rentengarantie
2: Ende der Pendlerpauschale
3: Einführung einer Pkw-Maut
4: Abschaffung der Steuerfreiheit für Sonn-, Feiertags- und Nachtzuschläge
5: Kürzung von Solarsubventionen
6: Abschaffung des Steuerprivilegs der Post
7: Erhöhung des Arbeitnehmeranteils bei gesetzlich Krankenversicherten
8: Erhöhung der Mehrwertsteuer
9: Entwicklungshilfe für China kappen
Was also sehen wir? Die Forderungen 1, 2, 3, 4, 6, 7 und 8 treffen einzig und allein die "kleinen Leute". Wenn die Post ihre Preise um 10 Cent erhöht macht das dem Hochverdiener nichts, gleiches gilt für eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um x Punkte. Das macht schwarz-gelb dann mit einer Senkung der Lohnsteuer und der Abschaffung der Erbschaftssteuer locker wieder wett, so dass diese in den letzten Jahren so fett gemästete Gruppe es auch weiter warm und kuschelig hat. Stattdessen werden alle diejenigen weiter belastet, die ihr gesamtes Einkommen verkonsumieren müssen, sofern sie überhaupt eines haben.
Die Forderungen 2 und 5 sind außerdem der radikale Schnitt in die Umweltpolitik. Das Ende der Pendlerpauschale - wieder eine Veranstaltung für Besserverdienende - soll durch eine Senkung der Ökosteuer finanziert werden. Diese ist bekanntlich für die Finanzierung der Rente da, die - welche Überraschung - vor allem die kleinen Leute brauchen und mit deren schwacher Finanzierungsbasis Forderung 1 begründet wurde. So kann man sich auch in einen Zirkelschluss setzen und bequem darin Karussel fahren, weil niemand es merkt. Die Abschaffung der Subventionen für regenerative Energiequellen ist notwendig, um die Energiekonzerne weiter zu mästen, denen man jetzt die verlängerten Atomlaufzeiten in den Rachen wirft. Das von Anfang an erstunken und erlogene Bild von der Umweltkanzlerin Merkel wird damit einfach still und heimlich entsorgt.
Forderung 9 ist neu, aber sie passt. China ist eh ein tolles Feindbild, die Einstellung der Entwicklungshilfe reine Symbolpolitik, aber davon versteht Herr Westerwelle ja eh nichts, von daher kann er auch damit im Außenministerium herumstümpern.
Ich finde diese Liste, die SpOn da präsentiert, eine totale Frechheit. Nicht wegen der offensichtlichen Schlagseite gegen die kleinen Leute und diejenigen, die nicht von sechsstelligen Jahresgehältern leben, sondern wegen der Beleidigung, die diese Liste intellektuell darstellt. Sie ist dermaßen dämlich, dass man glauben könnte, Spiegel-Redakteuere müssten ihr Hirn irgendwie an der Pforte des Verlagsgebäudes abgeben. Völlig ohne zu hinterfragen werden die dämlichsten Vorschläge aller Interessensgruppen, die schwarz-gelb finanzieren zusammengeschrieben. Auf die Idee, vielleicht auch die Wirtschaft oder die Reichen an der Rettung ihres eigenen Geldes, das die Schieflage, die jetzt Streichungen erforderlich macht, zu beteiligen, kommen sie nicht. Abschaffung der Steuerfreiheit von Gewinnen aus Unternehmensveräußerungen? Vielleicht eine höhere Erbschaftssteuer? Rückführung des Spitzensteuersatzes auf das Niveau der Kohl-Ära? Umweltpolitisch sinnvolle Besteuerung von Pkw? Nein, das würde alles das Stammklientel von schwarz-gelb treffen, das den Sumpf der Korruption erst geschaffen hat, in dem die ganze Bande schon so lange und tief steckt, dass man den Dreck gar nicht mehr sieht.

Frauenpolitik im beginnenden 21. Jahrhundert

Ich will mich aus gegebenem Anlass einmal wieder mit der Frauenpolitik beschäftigen, die ich nicht mit einer der vielen Neusprech-Vokabeln wie Gender Mainstreaming, Gleichstellungs- oder Gleichberechtigungspolitik bezeichnen will, weil sie meines Erachtens mit allem davon wenig zu tun hat. Ich werde später noch dazu kommen, warum; den Einstieg soll ein Bonmot machen das erklärt, weswegen ich diesen Artikel überhaupt schreibe.

Heute saß ich, wie so häufig, unbezahlt bei meinem Arbeitgeber, bis ich anfangen „durfte“ zu arbeiten (einer der Gründe weswegen ich wohl nicht mehr lange dort arbeiten werde, aber dazu in einem eigenen Beitrag mehr wenn es soweit ist). Anderen ging es genauso, und mit einem Abiturienten und einer Philosophiestudentin entbrannte eine Diskussion über Gender Mainstreaming, Gleichberechtigungs- und Gleichstellungs-, kurz: Frauenpolitik. Wer dieses Blog schon länger liest weiß, welche Meinung ich dazu vertrete, und es sei dazu gesagt, dass sie eine konträre vertrat.

Nun helfen solche Diskussionen oft, bereits im Unterbewusstsein gewälzte Gedanken zu griffigen Phrasen zu bringen. Vor knapp einer Woche spukte mir bereits der Gedanke im Kopf herum, etwas zu Simone de Beauvoirs Ideen zu schreiben, die ich für die falsche Fragestellung halte (auch dazu später mehr), aber für einen Artikel schien mir das zu wenig. Heute aber konnte ich meine unterbewussten Ideen zu einem sinnigen Ganzen zusammenbauen, das ich mit euch teilen will.

Beginnen wir mit einer kurzen Bestandsaufnahme. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Gesellschaft so patriarchalisch, wie sie es seit der Vor-Bismarck-Zeit nicht mehr gewesen war, obgleich diese „Ordnung“ bereits damals etwas Künstliches hatte. Frauen waren durch diverse Gesetze tatsächlich und, vor allem, durch die herrschenden Konventionen im täglichen Leben benachteiligt. Unter anderem war es ihnen nicht erlaubt, ohne Zustimmung des Mannes ein Konto zu führen. Dies alles änderte sich ab den 1960er Jahren, als selbst eine Adenauer-CDU sich nicht mehr mit allem Mief den sie an sich hatte gegen den Zeitgeist stellen konnte. Der Druck von FDP wie SPD (vor allem aber letzterer, die bereits im Reich die Idee der Gleichberechtigung der Frau vertreten hatte – von Männern, wohlgemerkt, was oft unterschlagen wird) tat sein Übriges, spätestens seit der sozialliberalen Koalition. Die gesetzlichen Schranken fielen, und das Gesellschaftsklima wurde in den frühen 1970er Jahren so offen wie seither nie wieder. In genau diese Zeit fällt das Wachsen der feministischen Bewegung die, wie immer mit einiger Verspätung, aus den USA importiert wurde. Hierzulande wurde sie unangefochten von Alice Schwarzer dominiert, die sich von ihren radikalen Vorbildern in den USA wie Valerie Solanas (Attentäterin Andy Warhols und Verfasserin des Traktrats „Zur Vernichtung der Männer“) inspirieren ließ und die feministischen Forderungen mit der Stern-Aktion „Wir haben abgetrieben“ in die Schlagzeilen brachte, die sich zwar im Nachhinein als gefälscht herausstellte, da viele der Frauen inklusive Schwarzers selbst gar nicht abgetrieben hatten, aber mit dem Abtreibungsparagraphen ein publikumswirksames Schlachtfeld schufen. Die CDU konnte am Ende noch durchsetzen, dass ein verpflichtendes Beratungsgespräch mit dem Versuch, die Frau von der Entscheidung abzubringen, vor eine Abtreibung gesetzt wurde, aber die Initiative blieb ein großer Erfolg der Frauenbewegung. Die letzten Schranken fielen unter ihren wuchtigen Schlägen und dem nur noch schwächlichen Widerstand der letzten Reaktionäre. Der Zeitgeist hatte gesiegt.

Nur ist der Zeitgeist ein windiges Ding, denn er weht schnell weiter. Die Feministinnen wurden bald von ihm selbst überholt. Ihre radikale Rhetorik, die in die 1970er Jahre gepasst hatte, in denen Mao, Marx und Che gelesen und diskutiert wurden, entfernte sich immer mehr von der Wirklichkeit, und die Kritik wurde immer ritueller. Schwarzer und die EMMA wurden Teil des Systems, das sie früher bekämpft hatten, was sich beispielsweise in der Verleihung des Bundestverdienstkreuzes 1997 und, noch viel frappanter, in der Teilnahme an einer BILD-Werbekampagne 2006 zeigt, für die Schwarzer aus den eigenen Reihen viel Kritik einstecken musste, die sie rüde wegbürstete. Auch die Erstürmung der EMMA-Zentrale in den 1990er Jahren durch Frauen (!) als Reaktion auf deren aggressive, männerfeindliche Berichterstattung zeigte, dass Schwarzers Bewegung ihren Zenit überschritten hatte. Versuche, die Lücke auszufüllen, gab es seither genug, doch waren diese nicht erfolgreich. Thea Dorn und andere, die einen „neuen Feminismus“ vertreten wollten, wirkten wie Neoliberale Epigonen und konnten nie Breitenwirkung erzielen, auch, weil sie die Schwarzer-Rezepte letztlich nur ein wenig an die neoliberale Ideologie anpassten.

Genau da aber liegt der Hase im Pfeffer, wie wir noch sehen werden. Bevor ich wirklich starten will, müssen wir noch einen kurzen Simone-de-Beauvoir-Crashkurs hinter uns bringen, denn sie ist die eigentliche Erfinderin des Gender Mainstreaming, das derzeit im akademischen Leben vor allem, aber auch im politischen Bereich großen Einfluss hat. Sehr stark heruntergebrochen hat Beauvoir die Idee, dass es zwei Geschlechter gibt. Ein biologisches (sex) und ein soziales (gender). Das erstere ist offensichtlich durch die Geburt festgelegt, das zweitere allerdings werde einzig durch die Erziehung implementiert. Es wäre also, so der Schluss, möglich, einen Jungen als Mädchen und ein Mädchen als Jungen aufzuziehen, vorausgesetzt natürlich, so etwas wie eine Jungen-Erziehung gebe es überhaupt. Das biologische Geschlecht habe demnach nichts mit dem Sozialen zu tun; ein Mann könne durchaus eine soziale Frau sein und umgekehrt.

Ich habe anfangs das Postulat aufgestellt, dass de Beauvoirs Ideen meiner Meinung nach die falsche Fragestellung enthalten. Um diese Theorie zu beweisen, wurden sehr krude und bisweilen grausame Versuche angestellt, von denen der der kanadischen Zwillinge nur der bekannteste ist. Dieser handelt davon, dass einem von zwei männlichen Zwillingen bei der Geburt der Penis so verletzt wurde, dass man ihn amputieren musste. Ein Pionier des Gender Mainstreaming überredete die der Idee aufgeschlossenen Eltern, den Jungen vollständig als Mädchen zu erziehen. Dieser Versuch scheiterte noch vor der Pubertät grotesk, als der Junge trotz aller Mädchenerziehung mit Pink und Tanzen aggressiv männliche Merkmale zu tragen und zur Schau zur stellen begann. Auch Wiederholungen des Versuchs endeten ähnlich und oftmals tragisch. Das allein widerlegt die These natürlich nicht, schließlich wächst das Kind ja in einer Umwelt auf, die nicht „gegendermainstreamt“ ist. Ich denke aber die Fragestellung, ob die Theorie richtig ist oder nicht – dass also das soziale Geschlecht nur konstruiert sei – führt letztlich nicht weiter. Viel wichtiger ist die Fragestellung: Wollen wir, dass das so ist? Und hier scheint die Antwort recht eindeutig nein zu sein. Trotz großer medialer Unterstützung und großzügiger Förderung (Professurstellen für Gender Mainstreaming und zahllose Frauenbeauftragte sprechen eine deutliche Sprache) hat sich die Idee bislang nicht durchgesetzt, wird als fremd und unnatürlich empfunden und ist eher rückläufig, als dass sie neue Anhänger gewinnen würde. Nur die Wenigsten scheinen überhaupt von Weiblichkeit oder Männlichkeit Abstand nehmen zu wollen. Wohlgemerkt: damit sind nicht Aufgabenverteilungen gemeint. Dem Gender Mainstreaming geht es nicht, wie früher der Emanzipationsbewegung, um die rechtliche Gleichstellung der Frau, sondern um die Aufhebung aller außer den biologischen Geschlechtsunterschieden. Ich gehe davon aus, dass dies den Wünschen einer deutlichen Bevölkerungsmehrheit (deutlich über 90%) diametral widerspricht.

Das ist auch den Apologeten des Gender Mainstreaming bewusst. Wie meine Gesprächspartnerin erklärten sie deshalb, ein „Umdenken“ müsse stattfinden und, vor allem, aktiv gefördert werden. Zu diesem Zweck sei es beispielsweise notwendig, durch eine gezielte Frauenförderungspolitik die Menschen daran zu gewöhnen, dass Frauen sich in Führungspositionen befinden. Meine Gesprächspartnerin sah eine Periode von von heute an gesehen deutlich über 40 Jahren exzessiver Frauenpolitik als notwendig an, um dieses Umdenken zu erreichen. Ich bin der Meinung, dass dies in höchstem Maße verwerflich ist. Und damit sind wir endgültig bei der Frauenpolitik.

Es kann kein Zweifel bestehen, dass die rechtliche Gleichberechtigung längst erreicht ist. Dies wird auch von der Frauenbewegung nicht angezweifelt, nicht einmal von ideologischen verbohrten Altlasten wie Alice Schwarzer. Stattdessen erklärt die Frauenbewegung, dass die „faktische Gleichberechtigung“ nicht erreicht sei. Dazu gehört die Legende von einer gläsernen Decke, die es Frauen nicht erlaube, in Führungspositionen aufzusteigen, weil dort ja nur Männer sitzen, die unter sich bleiben wollen und Frauen deswegen nicht hochkommen lassen wollen. Im gleichen Zusammenhang steht die Behauptung, dass Frauen bei gleicher Tätigkeit um ein Drittel schlechter bezahlt werden.

Das letzte Argument ist besonders lächerlich. Wenn das tatsächlich so wäre würden doch in einer Marktwirtschaft unter starkem Konkurrenzdruck, wie wir sie haben, nur noch Frauen eingestellt, weil sie das Gleiche leisten und ein Drittel weniger kosten. Das passiert aber nicht, nicht einmal in Betrieben, die von Frauen geleitet werden, was auch das Gegenargument widerlegt, dass wieder eine böse weltweite Männerverschwörung am Werk ist. Tatsächlich haben Studien herausgefunden, dass Männer Frauen eher in Führungspositionen aufrücken lassen als Frauen Frauen. Das aber nur am Rande. Es ist tatsächlich so, dass sich ganz einfach weniger Frauen für Führungsaufgaben bewerben als Männer. Dies wird auch von der Frauenbewegung gesehen und mit dem Verweis auf die faktisch nicht erreichte Gleichberechtigung, gewissermaßen eine Denkblockade, die sich selbst als minderwertig und deswegen nicht geeignet ansieht. Frauen bewerben sich gewissermaßen aus einem inneren Minderwertigkeitskomplex nicht.

Auch diese Argumentation halte ich für nicht schlüssig. Ich bin bisher keiner Frau begegnet, die von sich sagt, dass sie als Frau sich nicht für geeignet hält und dabei den Eindruck erweckt hat, eigentlich einen solchen Job zu wollen. Hier stoßen wir auf das Kernproblem, das ich ausgemacht zu haben glaube. Die bisher aufgezeigte Argumentationslinie widerlegt sich teilweise selbst, das mag dem einen oder anderen Leser aufgefallen sein. Die jeweiligen Gegenargumente der Frauenbewegung ergeben kein schlüssiges Ganzes, sondern stehen miteinander im Widerspruch. Fakt aber ist, dass es deutlich weniger Frauen in Führungspositionen gibt, wirklich deutlich weniger. Eine auf 10 oder 20 ist keine Seltenheit. Nur, woran liegt das? Dass mich die Erklärungen der Frauenbewegung nicht überzeugen, die, nebenbei bemerkt, auch ein deutliches Interesse an der Durchsetzung ihrer Argumente trotz faktischer Unhaltbarkeit hat, weil damit diverse sehr gut dotierte, staatliche und damit sichere Stellen einhergehen, die ihre Wortführerinnen einnehmen können, sollte klar geworden sein. Doch was ist der Grund? In ihrem Buch „Das dämliche Geschlecht“ argumentiert Barbara Bierach, dass Frauen an ihrer Lage komplett selbst schuld wären. Nur 3,4% in Vorstandsetagen liegen ihrer Meinung nach daran, dass sich Frauen dumm verhalten und fauler sind als Männer. Sie nützten die Chancen nicht, die ihnen längst gegeben sind. Sie unterstützt außerdem ebenfalls die Behauptung, dass Frauen andere Frauen am Aufstieg hindern würden.

Doch auch diese „selbst schuld“-Argumentation ist nicht überzeugend. Ich halte das Problem für tiefer liegend. Um das zu erklären, möchte ich noch einmal kurz ausholen und einen Ausflug in die Geschichte unternehmen.

Oft hört man aus Kreisen der Frauenbewegung, dass die Männer über 2000 Jahre die Frauen unterdrückt hätten. Praktisch immer ist der Unterton dabei „und jetzt sind wir mal dran“. Dieser Unterton durchzieht die gesamte Frauenpolitik, was auch der Grund ist, warum ich es ablehne, die Begriffe Gleichstellung oder Gleichberechtigung zu benutzen, denn diese Politik zielt offenkundig auf eine Bevorteilung von Frauen, was sie – wie meine Gesprächspartnerin mit ihren mindestens 40 Jahren auch – offen zugibt. Das aber hat, selbst wenn die 2000 Jahre berechtigt wären, keine Legitimation. Man kann ein Unrecht nicht dadurch beseitigen, dass man Neues schafft. Das geht niemals und ist weder ethisch noch moralisch vertretbar. Dazu kommt, dass das Argument mit den 2000 Jahren nicht wahr ist.

An dieser Stelle wechsle ich meine Fächer, werde vom Politologen zum Historiker. Denn in dem überwältigenden Teil der Menschheitsgeschichte waren die Menschen einfach nur arm. Den mittelalterlichen Bauern, den Industriearbeiter des 19. Jahrhunderts interessiert die Frauenbewegung nicht. In einer so prekären Lage müssen alle zusammenarbeiten, nach ihren besten Kräften. Die schwächeren, von den zahlreichen Geburten noch zusätzlich geschwächten Frauen übernahmen dabei oftmals die Hausarbeit, der Mann die schwere Feldbarbeit. Entscheidungen fielen ihm ebenfalls zu, aber wer die Realität eines Haushalts kennt weiß, wie wenig weit her es mit solchen Entscheidungen oftmals ist. Obwohl Männer auch heute noch dank eines höheren Erwerbsanteils deutlich mehr verdienen als Frauen und oftmals Allein- oder Hauptverdiener sind, gibt es siebenmal (!) so viel Verkaufsfläche für Frauen wie für Männer, und geben Frauen auch mehr aus. Anzunehmen, dass dies früher anders war, wäre grenzenlos naiv. Keine Bevölkerungsgruppe lebt 2000 Jahre lang in unerträglicher Unterdrückung. Es ist schlicht die Überheblichkeit der ersten Frauenbewegung, die das für sich reklamierte.

Diese entstand im 19. Jahrhundert und war von Anfang an eine reine Oberschichtenveranstaltung. Die Frauen, die für das Recht stritten, Universitäten und höher Schulen besuchen oder Eintritt ins Schwimmbad zu erhalten waren alle gutsituiert und finanziell mehr oder minder unabhängig. Viele von ihnen hatten die damals üblichen Dienstmädchen in ihren Diensten, was niemand von ihnen als Problem auffasste – eben weil die Frauenbewegung eine reine Oberschichtenveranstaltung war. Es brauchte die Entstehung einer bürgerlichen Mittelschicht, um auf solche Ideen erst zu kommen, denn wer um sein Überleben kämpft, diskutiert darüber nicht. Man kann die Entstehung der Frauenbewegung also durchaus als Beleg großen gesellschaftlichen Fortschritts in jener Zeit sehen, wie auch die Entstehung der Feministenbewegung in Deutschland nicht zufällig in die 1970er Jahre fällt, als erstmals breite Bevölkerungsschichten am Wohlstand teilhatten. Eine Oberschichtenveranstaltung ist der Feminismus trotzdem immer gewesen – und auch geblieben.

Und genau das ist in meinen Augen der Grund für die Krise, in der die Bewegung derzeit steckt, der Grund für die „faktisch“ nicht erreichte Gleichberechtigung, die nach den Buchstaben des Gesetzes längst besteht und angesichts der gewaltigen Förderanstrengungen eigentlich längst erreicht sein müsste. Autorinnen wie Thea Dorn oder eben die zitierte Barbara Bierach propagieren ein Idealbild, das einer objektiven Idealität vollkommen entbehrt. Sie konzentrieren das ganze Lebensglück auf das Erreichen einer „Karriere“, ein Ziel, das dabei zum reinen Selbstzweck vorkommt. Ich erinnere mich noch an unsere Abi-Zeitung, als sich bei „Zukunftsplänen“ bei deutlich über der Hälfte der Frauen die Trias „Studieren, Karriere, Familie“ fand – ein Zeugnis des durchschlagenden Erfolgs der Frauenbewegung in dieser Bevölkerungsschicht, könnte man meinen. Und wie bereits anfangs festgestellt ist es der Erfolg, der den Blick für die Probleme versperrt.

Denn die Karriere ist zum einen für breite Bevölkerungsschichten überhaupt keine Perspektive. Kassierinnen bei Aldi, Bandarbeiter bei Opel, Reinigungskräfte bei Was-weiß-wem, Arbeitslose – für sie alle ist die Karriere, die die Frauenbewegung propagiert (ausnahmslos Akademikerinnen im Übrigen) überhaupt nichts, was mit ihrem Lebensbild in Einklang zu bringen wäre. Für die Männer übrigens auch nicht. Die Unterstellung, dass jeder nach einer Karriere in der freien Wirtschaft als alleiniges Rezept zum Glück streben und dieses auch erreichen könnte ist irrig und vergiftet die gesame Bewegung. Es ist das hässliche Kind der Beziehung, die die Frauenbewegung mit dem Neoliberalismus eingegangen ist und die in Barbara Bierach pars pro toto ihren Niederschlag findet. Viele Menschen – nicht nur Frauen, sondern auch Männer – trachten überhaupt nicht nach einer Karriere. Sie wollen andere Wege zum Glück gehen. Die Bemühungen der Frauenbewegung sind ihnen dabei fremd, entsprechen nicht ihrer Lebenswirklichkeit. Der Schleier über dieser Lebenslüge der Frauenbewegung wurde 2006 kurz weggerissen, als Eva Herman mit ihrem „Eva-Prinzip“ an die Öffentlichkeit ging. Bevor sie den Kardinalsfehler des Nazi-Vergleichs beging und damit vollständig aus der Debatte verdrängt wurde, erhielt sie gewaltige Zustimmung gerade von den Frauen und wurde von der Frauenbewegung in einer Aggressivität angegangen, die zuletzt Esther Vilar erfahren musste. Herman hatte einen wunden Punkt getroffen, indem sie sich gegen das Ziel einer Karriere aussprach. Die Aggressivität der Diskussion stand in keinem Verhältnis zu den Thesen, denn Herman erklärte ihre Variante nicht einmal für die alleinseligmachende, wie dies die Frauenbewegung tut, sondern forderte Wahlfreiheit – was die Frauenbewegung aber nicht zugestehen wollte.

Damit sind wir am Ende angelangt: Die Frauenbewegung, so der Schluss, vertritt eine Ideologie, die an der Lebensrealität der meisten Menschen vollkommen vorbeigeht. Ich widerspreche der Feststellung der Frauenbewegung, dass alte Klischees und Denkmuster noch nicht überwunden sind, überhaupt nicht. Die Frage ist aber, was man dagegen tun kann. Die Frau, die heute Abitur macht, studiert und danach in die Wirtschaft geht muss nicht mehr gefördert werden. Wenn sie nicht in der Lage ist, ihren Weg zum Glück zu finden, dann ist sie, wie von Barbara Bierach schon festgestellt, tatsächlich selbst schuld. Unterhalb dieser Schwelle, die ich als Oberschichtenveranstaltung bezeichnet habe, stellt sich diese Frage gar nicht. Weder Mann noch Frau brauchen hier eine spezielle Geschlechterförderung auf dem Weg an die Spitze. Hier ist die soziale Fragestellung eine völlig andere, da die materiellen Grundlagen überhaupt nicht gegeben sind. Diese müssen erst geschaffen werden; vorher wird hier kein von oben oktroyiertes Umdenken stattfinden. Alle Quotenregeln dieser Welt werden dabei nichts helfen, weder den Frauen noch den Schwarzen oder sonstwem. Quotenregeln widersprechen sich selbst. Allein ihre Existenz zeigt, dass die Gesellschaft offensichtlich eine andere ist. Wer meiner Argumentation so weit gefolgt ist weiß außerdem dass sie ebenfalls am Kern vorbeigeht. Diese Erkenntnis hat die Frauenbewegung jedoch nicht, dafür ist ihr Bündnis mit den neoliberalen Ideen zu eng, ist sie sich ihrer eigenen sozialen Zusammensetzung viel zu wenig bewusst. Stattdessen wiederholt sie sich in immer gleichen Phrasen und alteingesessenen, der Wirklichkeit entrückten Mustern. Die Ideologie der Frauenbewegung hat längst totalitäre Züge angenommen. Sie lässt keine Kritik mehr zu und ist blind für die Wirklichkeit, die von dem Bild abweicht, das sie selbst gezeichnet hat. Nur so ist Schwarzers beständige aggressive Rhetorik gegen Männer zu erklären, nur so Thea Dorns und Barbara Bierachs Karrierefixiertheit, nur so die heftigen Reaktionen auf Eva Hermans Versuch, das Meingungskartell der Frauenbewegung zu brechen. Sie befinden sich auf einem starren, fixen Pfad, den sie nicht mehr zu verlassen in der Lage sind. Dabei vertreten sie die Mehrheit der Frauen überhaupt nicht. Das haben sie noch nie, aber früher hatten sie eine gesellschaftsverändernde Idee, die wirkungsmächtig zum Durchbruch kam. Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist, sagt Hugo. Die Frauenbewegung ist der Beweis, dass nichts so tot und leer ist wie eine Idee, die von der Zeit überholt wurde. Sie reiht sich ein mit dem Patriarchat der Adenauer-Zeit und vereint sich so mit ihrem alten Erzfeind. Sobald eine neue Generation von Frauenrechtlerinnen neue Ziele formuliert und den Zeigeist damit trifft, wir die derzeitge Riege dorthin verschwinden, wo auch die Marx’schen Lesezirkel der 1970er und die Ideen Carl Schmitts gelandet sind: auf dem Müllhaufen der Geschichte.