Montag, 27. Mai 2019

Impressionen aus der Europa-Wahl

Die Europawahl ist natürlich keine Deutschland-Wahl. Das gleich vorweg. Aber die Implikationen der Wahl für Europa als Ganzes müssen noch einige Tage warten; ich will heute erst einmal eine Nabelschau betreiben und sehen, was für Trends hier offenkundig wurden, die vor allem für die Innenpolitik relevant sind. Ich hatte eigentlich nicht gerade vor, die EU und das EP dadurch zu entwerten, ihre Wahl direkt auf Deutschland zu beziehen, als wäre ich in der CSU und würde das Bundestagsergebnis anschauen. Aber ich hatte auch vor Sonntag abend nicht erwartet, dass es da viel Nennenswertes zu sagen geben würde. Das war, gelinde gesagt, ein Irrtum. Denn wenn die Momentaufnahme der gestrigen Wahl nicht eine Ausnahmeerscheinung war, dann ist die Lageänderung gravierend.

Ich will im Folgenden mit einigen Umfrageergebnissen und Stastiken arbeiten. Da diese Zahlen gerade noch permanenter Änderung unterworfen sind, bitte ich zu entschuldigen, wenn sie dem Leser bereits nicht mehr korrekt erscheinen - das liegt in der Natur der Sache. An den Trends selbst ändert das aber nur wenig.

 Die AfD lebt von einem Thema, und einem allein Die Wahl hat wieder einmal gezeigt, was ich schon seit längerem bemängele: wenn man der AfD nicht den Gefallen tut, ständig über Zuwanderung zu reden, dann hat sich auch ihr unaufhaltsamer Siegeszug. Dass sie gerade so stark im Bundestag sitzt, ist unter anderem Ausdruck eines breiten Medienversagens - zumindest jener Medien, die dies nun wortreich beklagen, denn sie haben mit ihrer Ein-Themen-Fixierung (wir erinnern uns) sicherlich ein oder zwei Prozentpünktchen zu verantworten. Gefragt, welche Themen für die Wahlentscheidung eine "große Rolle" spielen, antworten AfD-Anhänger zu 69% "Zuwanderung", gefolgt von "sozialer Sicherheit" - was man in dem Kontext getrost als Furcht vor Verteilungsverlusten durch mehr Einwanderer verstehen darf. Alle anderen Themen werden nur zu 20% oder weniger genannt. Das Thema hat gegenüber 2014 auch um fast 100% zugelegt, von 13%, die es als "größte Rolle für ihre Wahlentscheidung" nannten (mit Mehrfachnennung) auf 25%. Umso verheerender ist für die AfD, dass ihr auf dem Feld keine guten Noten ausgestellt werden. Nur 9% aller Wähler bescheinigen ihr "am ehesten gute Flüchtlings- oder Einwanderungspolitik", das sind nicht einmal alle ihrer Wähler. Spannend ist übrigens, dass die Strategie der FDP, sich als eine "AfD light" zu präsentieren und zu versuchen, die Leute anzuziehen, die früher CDU gewählt hätten weil man die AfD als unfein begreift, teilweise aufgeht. 34% aller FDP-Wähler betrachteten Zuwanderung als ein für ihre Wahlentscheidung wichtiges Thema. Alle anderen Parteien lagen hier zwischen 16% (CDU) und 11% (LINKE). Man muss konstatieren, dass besonders die bürgerliche Presse in einer einzigen Blase gelebt hat. In den Frankfurter Bürotürmen mag Zuwanderung als das zentrale Thema erschienen sein, das die Republik umtreibt - aber im Gegenzug vergaß man beim Fabulieren über den "Kinderkreuzzug" Thunbergs einmal zu schauen, was die Menschen im Land wirklich bewegt. (Und ja, das ist eine bewusste Parallele zu den ganzen Leitartiklern der Trump- und AfD-Ära.) Die AfD offenbart in all diesen Umfragen auch ein hartes ceiling. Nicht nur trauen ihr die Wähler keine Problemlösungskompetenz zu; auch die Arbeit Meuthens als Vorsitzendem bewerten nur 9% der Wähler als gut - also weniger, als die AfD selbst gewählt haben. All diese Zahlen deuten daraufhin, dass das Ergebnis von 2017 eher einen Höchststand darstellt als ein Sprungbrett zu größeren Weihen.

Umwelt war das Megathema Überraschend sind es die FDP-Wähler, die wenig Interesse am Klima haben: 19% sehen als ein "wichtiges" Thema. Selbst die Wähler der klimawandelleugnenden AfD nannten das Thema zu 20% als eines, das für "wichtig für die Wahlentscheiung" war (ob sie wegen oder trotz dieser Bedeutung AfD wählten, bleibt unklar). Bei den Wählern der Grünen waren es, wenig überraschend, 88%. Die Wähler der anderen drei Parteien sind alle eng beeinander bei knapp unter 50%. 48% nannten "Klima und Umwelt" als das Thema mit der "größten Rolle" (wobei Mehrfachnennungen zugelassen gewesen zu sein scheinen, was die Frage etwas merkwürdig macht), eine Steigerung von über 100% gegenüber 2014, als die gleiche Antwort von nur 20% gewählt wurde. Greta Thunberg und die #FridaysForFuture scheinen einen deutlich größeren Einfluss gehabt zu haben, als ich es in meiner zynischen Grundhaltung für möglich erachtet hätte. Das Thema deklassierte damit den sonstigen Spitzenreiter "soziale Sicherheit" (-5% auf 43%) und "Friedenssicherung" (-7% auf 35%).  

Der Graben zwischen den Parteien verläuft entlang der Demographie Eines der auffälligsten Merkmale der Wahl dürfte sein, dass eine geradezu tektonische Verschiebung der Wähler entlang der Generationsgrenzen stattgefunden hat. Die CDU hat mehr als die Hälfte ihrer Wähler im Segment der 18-24jährigen verloren, ebenso die SPD. Die Grünen haben dagegen um deutlich mehr als das doppelte zugelegt. Nur 13% in dieser Altersgruppe wählen CDU, 11% die SPD. Erst ab der Altersschwelle von 60 Jahren (!) dreht sich dieser Trend um. Die einzige andere Partei, die bei den Jungwählern zulegen konnte, ist die FDP. Auch hierin dürfte ein Erfolg Lindners liegen, der zuletzt mit hipperem Auftreten und dem Betonen der Bedeutung von Digitalisierung, Innovation und Bildung auf Zukunftsthemen setzte. Die rückwärtsgewandten Parteien von CDU, SPD, LINKE und AfD verloren dagegen in diesem Alterssegment alle. Bei den Erstwählern ist der Trend am dramatischsten, aber er zieht sich bis fast ins Rentenalter. Wenn diese Entwicklung sich fortschreibt - was bei weitem nicht garantiert ist - haben die ehemaligen Volksparteien ein noch größeres Problem, als dies aktuell der Fall zu sein scheint.  

Die Grünen sind die Gewinner der Wahl (und des wahrscheinlichen Niedergangs der alten Mitte) Wer herausfinden möchte, warum die Grünen so große Profiteure der Wahl waren, muss sich nur ansehen, welche Themen die Wähler im Schnitt als "wichtig für ihre Wahlentscheidung" nannten (s.o.). Dieses Bild ist jedoch nur halb komplett. Denn nicht nur betrachten atemberaubende 48% der Wähler Klimaschutz als entscheidendes Thema; auf die Frage, wer "am ehesten eine gute Klima- und Umweltpolitik" betreibe, liegen die Grünen mit 56% vorn (wohlgemerkt: aller Befragten!), gefolgt von der CDU/CSU mit 14% (!) und der SPD mit 5% (!!). Alle anderen Parteien tauchen effektiv überhaupt nicht auf. Ob zurecht oder zu Unrecht, die Grünen werden als DIE Partei für Umweltfragen thematisiert, und, das ist entscheidend, werden selbst von vielen, die sie nicht wählen, als kompetent auf dem Gebiet geschätzt - ein merklicher Unterschied zur AfD, der konstruktiv überhaupt nichts zugetraut wird. Auf der anderen Seite sieht es um die Kompetenzen der Grünen eher mau aus: nur 12% trauen ihnen gute Flüchtlings- und Einwanderungspolitik zu (hier führt die Union mit 28% deutlich, aber insgesamt wird das Thema sehr negativ gesehen), und ebenso 12% sehen die Weiterentwicklung der Union in guten Händen. Die große Gefahr für die Grünen ist daher dieselbe wie bei der AfD: beherrscht ihr Leib- und Magenthema nicht die Schlagzeilen, so kommen sie in stressiges Fahrwasser. Schützenhilfe bekommen die Grünen ironischerweise von den hyperventilierenden bürgerlichen Leitmedien wie der FAZ oder der Springerpresse ("grün ist das neue rot"), die alles dafür tun, dass die Unter-60-jährigen die Grünen als "ihre" Partei begreifen. Denn das Gegenstück der oben genannten Gefahr ist für die Grünen tatsächlich die Chance, den Mantel der Anti-AfD-Partei und der Partei der Zukunft zu ergreifen, den die SPD geradezu kriminell vernachlässigt hat. Ob sie diese Chance in einer linksgerichteten Koalition oder in einer bürgerlichen Koalition nutzen will, ist die entscheidende Richtungsfrage für 2021. Für beides gibt es gute Argumente und Proponenten. Fakt ist, dass "Kanzlerkandidat Robert Habeck" kein dummer Scherz mehr ist. Aktuell gibt es wenig Grund anzunehmen, dass man Olaf Scholz die Bühne für das Duell gegen Krampp-Karrenbauer geben sollte. Hält sich der aktuelle Stand, könnten die Grünen die Führerschaft im linken Lager beanspruchen, wenn sie sie denn wollen.  

Die SPD ist in einer Todesspirale Noch 2014 sagten 52% der Befragten, "die SPD setzt in der Bundesregierung erfolgreich sozialdemokratische Positionen durch". 2019 beträgt dieser Wert noch 34%. Noch dramatischer sieht es bei "Kompetenzen" der SPD zu, die Wähler ihr zutrauen. Nur 29% nennen "Soziale Gerechtigkeit" als Kernkompetenz. Das ist etwas, was vor kurzem noch deutlich mehr Wähler der Partei zugestanden hätten, selbst wenn sie sie nicht wählten - analog zum Klimaschutz bei den Grünen. Und dann ist da das Profil. 62% aller Wähler stimmen der Aussage zu: "Man weiß nicht, wofür die Partei eigentlich steht." Nur noch 25% - gegenüber 50% im Jahr 1999 - erklären, die SPD würde "Deutschlands Interessen" vertreten. Auch das Personal ist problematisch. Nur 27% geben Zufriedenheit mit der Arbeit von Andrea Nahles an (was auch immer das heißt; die gleichen 27% hätten wohl Probleme, selbige Arbeit zu benennen). 46% schätzen Scholz; nur der hat da den üblichen Kassenwart-Bonus. Wir Deutschen lieben die kaltschnäuzigen Finanzminister, aber nicht als Kanzlerkandidaten oder Parteichefs. Das hat auch Peer Steinbrück bemerkt. Wie die SPD da aktuell noch herauskommen soll, ist völlig unklar. Sie hat nun schon mehrere Gelegenheiten zur Profilierung - irgendeiner Profilierung - ausgeschlagen. Ob 2013 mit Steinbrück als Bekenntnis zur Agenda2010 oder 2017 mit Martin Schulz als Bekentnnis zur EU, stets entschied man sich für den mäandernden Mittelweg. Und der bringt bekanntlich in Zeiten großer Not den Tod. Meinem Gefühl nach ist das Fenster dafür aber zu. Die desaströsen Zahlen und der Großtrend deuten klar in diese Richtung.  

Die CDU hat sich mächtig verkalkuliert Ähnlich wie bei SPD sehen die Wähler einen deutlichen Profilverlust bei der Partei. 47% stimmen der Aussage zu: "Man weiß nicht, wofür die Partei eigentlich steht." Das ist, wie die Sozialdemokratie zeigt, problematisch. AKK kann nur 42% Zustimmung zu ihrer politischen Arbeit auf sich verbuchen. Demgegenüber bleibt Merkel ungebrochen populär; 60% zeigen sich zufrieden. Das ganze Ausmaß der Misere von CDU und SPD zeigt sich bei der Zufriedenheit mit der Bundesregierung als Ganzem: hielten sich Zustimmung und Ablehnung zwischen 2013 und 2017 die Waage, fällt diese seit 2017 stetig. Fast 20% beträgt die klaffende Lücke mittlerweile. Aber die "fundamentals" der CDU bleiben, im merklichen Gegensatz zur SPD, noch stark. Je 47% aller Wähler sehen sie bei der "Vertretung deutscher Interessen in der EU" (hier zahlte sich das Griechen-Bashing aus) und bei "Wirtschaft" als kompetent. 37% trauen ihr die Weiterentwicklung der EU zu. Zudem hat die CDU bei der Frage, welche Partei "die deutschen Interessen" am besten vertrete, seit 1999 zugelegt und sich sogar gegenüber 2017 minimal verbessert. Das sind ordentliche Zahlen, und wenn die CDU aufhört, mit beiden Beinen ins Fettnäpfchen zu springen, kann sie diese für ein Comeback nutzen.  

Die Deutschen lieben die EU, zumindest in der Theorie Selbst in der AfD sagen "nur" 56% der Wähler, Deutschland habe "durch die EU mehr Nachteile als Vorteile". In den anderen Parteien beträgt dieser Wert nur bei der LINKEn überhaupt zwei Dezimalstellen (13%), alle anderen sind einstellig. Das spricht, trotz aller dramatisierenden Griechenland-Rhetorik, doch vor ein überraschend pragmatisches Grundverständnis, denn diese Aussage kann man wahrlich nur in Zweifel ziehen, wenn man vor der Exportorientierung des Landes willentlich die Augen verschließt. Auch wenn man die Frage auf die persönliche Ebene schiebt, ändert sich das Bild nicht gravierend. Kann man bei "Deutschland" noch von einem Verständnis für das Große Ganze ausgehen (wenn man denn will), so ist die andere Frage, ob man "mehr persönliche Vor- als Nachteile" durch die EU habe, von 68% mit ja und nur von 17% mit nein beantwortet worden (der Rest meint, es halte sich die Waage). Damit ist Deutschland EU-weit eher die Ausnahme, so viel dürfte sicher sein. Dazu passt auch, dass die Deutschen zu 81% der Meinung sind, die EU sollte "stärker gemeinsam handeln" (2014: 70%). Natürlich sind diese Umfragen, wie wir jüngst festgestellt haben, sehr mit Vorsicht zu genießen. Sobald es nämlich konkret wird (Stichwort Europäischer Finanzminister oder Auslandseinsätze) sinken diese Zahlen rapide ab. Aber: als grundsätzliches Stimmungsbild sind sie nicht zu verachten. Anders als in vielen anderen EU-Ländern genießt das Konzept der EU hierzulande ungebrochene Popularität, was es deutschen Europapolitikern auch weiterhin ermöglicht, mit ordentlichem Vertrauensvorschuss ohne allzuviel innenpolitischen Gegenwind Politik in Brüssel zu machen.

 Fazit Diese Zahlen sind allesamt wegen der Weichheit der Kategorien nur eingeschränkt belastbar. Sie sind ein grobes Stimmungsbild und sollten nicht überinterpretiert werden. Auf der anderen Seite sollte aber deutlich sein, dass sich etwas im Fluss befindet. Die Situation ändert sich deutlich.

Freitag, 24. Mai 2019

Fragen, die man besser ignoriert

Es gibt nur wenig, was so viele schlechte Analysen, Schlagzeilen und Vorhersagen provoziert wie missverstandene Umfrageergebnisse. 2016 war da ja ein Musterbeispiel, aber die aktuellen Wahlen in Australien zeigen dasselbe in Grün: nur weil ein Ergebnis wahrscheinlicher ist als das andere, ist es nicht garantiert. Aber Probleme, Wahrscheinlichkeiten richtig zu verstehen, sind nichts Neues. Davon können die Mathelehrer der Republik ein ähnliches Lied singen wie von mangelnden Prozentrechen-Fähigkeiten. Wesentlich problematischer bei Umfragen sind Fragen, mit denen zwar gerne Politik gemacht wird, die aber für die eine Analyse völlig wertlos sind. Anthony J. Wells vom YouGov-Institut hat in seinem Artikel "Questions that should be ignored" einige dieser Fragen aufgelistet und erklärt, warum sie ignoriert werden sollten. Ich halte den Artikel für so wichtig, dass ich ihn hier mit freundlicher Genehmigung des Autors übersetze.

Mittwoch, 22. Mai 2019

Bezos veranstallt dank NAFTA einen Kinderkreuzzug mit Bernie Sanders und Bernd Ulrich - Vermischtes

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Kinderkreuzzug damals und heute
Zu Greta Thunberg, der sechzehnjährigen Klimaaktivisten aus Schweden, fällt mir nichts ein. So dachte ich – bis jüngst ein Bekannter das Wort vom „Kinderkreuzzug“ in die Runde warf. Greta, so sollte das wohl heißen, führe einen Kreuzzug zur Rettung des Klimas, ähnlich fanatisch wie jene Kinder, die sich im Jahr 1212 zu Tausenden aus Deutschland und Frankreich aufgemacht hatten zur Befreiung Jerusalems von den Muslimen – eines der merkwürdigsten Ereignisse des europäischen Mittelalters. [...] Greta lässt das nicht durchgehen. Sie antwortet auf Politikversagen mit Hypermoralisierung, die etwas Gnadenloses hat. Hypermoralisierung tendiert zu Vereinfachung und unfairer Schuldzuweisung: „Es gibt doch nur ein paar hundert Firmen, die für den gesamten CO2-Ausstoß stehen“, sagt Greta. Ein „paar wenige reiche Männer“ hätten Tausende Milliarden damit verdient, dass sie den ganzen Planeten zerstören. Greta irritiert, fasziniert, und stößt zugleich ab. „Ich will, dass ihr in Panik geratet.“ [...] Kein Politiker traut sich heute noch, etwas gegen Greta und ihre Freunde zu sagen. Der letzte, der das versucht hat, war FDP-Chef Christian Lindner. Es ist ihm nicht gut bekommen. Jetzt heißt die Devise: Durch lautes Zustimmen sich wegducken. (Rainer Hank, FAZ)
Thunberg scheint in der Demographie der konservativen alten weißen Männer schon irgendwas auszulösen, das sämtliche Sicherungen durchbrennen lässt. Da haben wir die gleichen Leute, die den Progressiven "Hysterie" angesichts dramatischer, wissenschaftlich belegter Langzeitprobleme vorwerfen und die permanent den hypermoralischen Zeigefinger schwingen, von einem "Kinderkreuzzug" fabulieren, weil Teenager gelegentlich auf eine Demo gehen. Ich meine, geht's noch? Etwas "Gnadenloses" habe Thunbergs Kritik. Wie unsicher muss man sich fühlen, dass eine 16jährige Medienikone-für-fünfzehn-Minuten einen derart ins Mark trifft, dass alle Maßstäbe verloren gehen? "Niemand" wagt es etwas, gegen "Greta und ihre Freunde" zu sagen (außer dem tapferen Rainer Hank in einem kleinen Dorf in Aremorica natürlich). Christian Lindner ist es "nicht gut bekommen", heißt es düster. Inwiefern? Vermutlich erntete er Widerspruch, was als Spitzenpolitiker für Aussagen, die dazu designt sind, Widerspruch zu provozieren, natürlich auch unerträglich ist. Safe Spaces für die FDP! Die Devise sei lautes Zustimmen durch Wegducken, erfahre ich von Hank, wobei das tapfere FAZ-Widerstandsnest vermutlich wieder ausgenommen ist. Sollte es nicht gerade die Kerntugend von Konservativen sein, eben nicht zu Hypermoralisieren, nicht zur Hysterie zu neigen, die verbale Aufrüstung eben nicht zu betreiben und stattdessen, ich zitiere mal die ganzen Wahlplakate, "mit Vernunft" an die Sache heranzugehen? Stattdessen spiegelt man einfach das, was man angeblich so schrecklich findet. In seiner nächsten Kolumne wird Hank wahrscheinlich wieder ohne jede Ironie Safe Spaces kritisieren.

2) Killing the Pax Americana
But Trump’s critics, while vastly more accurate than he is, also, I think, get a few things wrong, or at least overstate some risks while understating others. On one side, the short-run costs of trade war tend to be overstated. On the other, the long-term consequences of what’s happening are bigger than most people seem to realize. In the short run, a tariff is a tax. Period. The macroeconomic consequences of a tariff should therefore be seen as comparable to the macroeconomic consequences of any tax increase. [...] For trade policy isn’t just about economics. It’s also about democracy and peace. [...] But wait, you say: China is neither an ally nor a democracy, and it is in many ways a bad actor in world trade. Isn’t there a reasonable case for confronting China over its economic practices? Yes, there is — or there would be if the tariffs on Chinese products were an isolated story, or better yet if Trump were assembling an alliance of nations to confront objectionable Chinese policies. But in fact Trump has been waging trade war against almost everyone, although at lower intensity. When you’re imposing tariffs on imports of Canadian steel, on the ludicrous pretense that they endanger national security, and are threatening to do the same to German autos, you’re not building a strategic coalition to deal with a misbehaving China. (Paul Krugman, New York Times)
Ich finde es beachtlich, dass so viele moderate liberals solche Feststellungen schreiben, als sei die Zerstörung des "pax Americana" ein nefariös-geheimes Ziel Trumps und seiner Spießgesellen, oder gar ein unintendiertes Seitenprodukt von Amateuren. Dabei sagen diese Leute doch ganz offen, dass das ihr Ziel ist. Ich habe einen Bekannte, der fanatischer Trump-Unterstützer ist, auf Twitter angeschrieben und um Stellungnahme zum Artikel gebeten:
Der Trade-War ist meinem Bauchgefühl nach auch die einzige aktuelle Trump-Politik, die relevanten Cross-Over-Appeal hat und genuin mehrheitsfähig ist. Ich halte seine Feindschaft gegenüber dem Freihandel schon für 2016 für ein untererklärtes Phänomen. Für die Democrats ist das Thema auch ziemlich lose-lose. Die Partei war seit spätestens Bill Clinton im Konsens für Abkommen wie NAFTA, und dass durch den Druck von links so moderate Kandidatinnen wie Kamala Harris sich nun zu offenkundig gelogenen Aussagen versteigern, sie hätten damals gegen NAFTA gestimmt, macht das nicht besser. Jeder Mainstream-Democrat, der gegen Trump antritt, wird deswegen bei dem Thema immer die moderierende Defensive spielen, eine Position, aus der heraus absolut nichts zu gewinnen ist. Und Bernie Sanders, der glaubhaft ein Gegner des neoliberalen Freihandelregimes ist, wäre in der blöden Situation, Trump bei einem zentralen Wahlkampfthema einfach zuzustimmen - auch eine beknackte Position.

3) Jeff Bezos Has Plans to Extract the Moon’s Water
Bezos, in addition to leading Amazon and owning The Washington Post, runs a spaceflight company called Blue Origin. Blue Origin has been working on something for the past three years, and on Thursday, Bezos unveiled it: a giant spacecraft designed to touch down gently on the lunar surface, plus a small rover with droopy camera eyes, like WALL-E. “This is an incredible vehicle,” Bezos said, beaming. “And it’s going to the moon.” [...] That now includes Blue Origin, which leads the pack in spaceflight experience. Bezos spoke effusively about the new policy and Pence’s vision. He invited Mark Sirangelo, a space professional whom NASA hired to guide the new effort—to be, essentially, Trump’s moon czar—to the event. Bezos declared, “It’s time to go back to the moon, this time to stay.” Here I am, Bezos seemed to plead; use me. [...] In the vision he laid out, Bezos went beyond the moon. Earth’s resources, he warned, are finite. Someday they will be depleted, and humankind will be forced to look for other homes. “Space is the only way to go,” he said. But he eschewed popular destinations such as Mars, which his colleague in the space biz, Elon Musk, dreams of tearing up like an old carpet to construct a new, Earth-like environment.Bezos offered an argument made famous by Goldilocks. Other planets, he said, are too small. They’re too far. They don’t have enough gravity. Instead, human beings should build habitats in orbit around Earth, perpetually rotating to produce artificial gravity, a concept popularized in the 1970s by the American physicist Gerard O’Neill. These manufactured worlds, Bezos said, could each house 1 million people or more. Some habitats would be cities, others national parks. Some might even re-create famous places on Earth. All, according to the animations Bezos shared, would be idyllic, with perfect weather all year round. "People are going to want to live here,” he said. And what happens to Earth in this Interstellar-esque future? The planet would be zoned for residential and light industrial use. The heavy, pollution-causing stuff would exist in one of those off-world habitats. (Marina Koren, The Atlantic)
Ich gebe es zu: ich bin ein totaler Fanboy von allen Weltraumprojekten. Wenn man mich fragt, können ESA, NASA und Co gerne zusätzliche Milliarden kriegen. Raumstationen, Menschen auf dem Mars, neue Mondmissionen, Satelliten, Forscherdrohnen, alles her damit. New Frontier, und alles was dazugehört. Insofern bin ich natürlich den Projekten von Bezos und Musk auch nicht gerade abgeneigt. Ich sehe es allerdings mit tiefer Sorge, dass so viel in diesem Bereich gerade von megalomanischen Narzissten wie Musk und Bezos getragen wird. Wenn wir tatsächlich zu Lebzeiten noch eine Kolonie auf dem Mars erleben sollten, muss diese wahrlich nicht nach dem Ebenbild dieser Größenwahnsinnigen entstanden sein. Eine Bezos-Raumstation oder eine Musk-Marskolonie? Mir schaudert bei dem Gedanken. Es ist wahrlich nicht so, als wäre die Science Fiction arm an dystopischen Szenarien dafür. Diese Kolonien wären alles, aber demokratisch wären sie sicher nicht.

Most of the party’s presidential candidates took the claims of the ascendant left at face value when they undertook their campaigns. Candidates like Harris, Booker, O’Rourke, and Elizabeth Warren designed their platforms as if they had to compete ideologically with Sanders. Several of them have already advocated Medicare for All or the Green New Deal, which could expose them to withering attacks from Trump if they win the nomination. Harris told an interviewer that, yes, she would do away with private health insurance. Julián Castro endorsed cash-payment reparations. Warren and Kirsten Gillibrand called for abolishing ICE, before backing off and saying they only wanted to reform it. None of these plans stands a chance to pass Congress under the next president, even in the best-case scenario. All of them poll badly. (Medicare for All sounds popular until you tell people it means eliminating private insurance, at which point it grows unpopular.) The candidates seem to have overestimated how much left-wing policy voters actually demand. Democratic voters might be dissuaded from nominating their former vice-president if they hear more about his long record or if he repeats the undisciplined campaigning that led to defeats in both of his previous presidential campaigns. But it is already clear enough that he is supplying something much closer to what the party’s electorate wants than either the political media or the other candidates had assumed. A Democratic Party in which Biden is running away with a nomination simply cannot be the one that most people thought existed. Some of Harris’s advisers, the Times recently reported, are urging her to stop mollifying activists and embrace her prosecutorial past. It might slowly be dawning on the left that its giddy predictions of ascendancy have not yet materialized. Corey Robin, a left-wing writer who has previously heralded the left’s impending takeover of the Democratic Party, recently conceded he may have miscalculated. “We have nothing like the organizational infrastructure, the party organization, the intellectual and ideological coherence, or political leadership we need,” he wrote. “I don’t see anything on the horizon like the cadre of ideologues and activists that made the New Deal or Reagan Revolution.” (Jonathan Chait, New York Magazine)
Wie ich in meinem Artikel zu Kevin Kühnert geschrieben habe ist es gefährlich, die Verschiebung des Overton-Fensters überzuinterpretieren. Ja, plötzlich redet alle Welt über Medicare for All und den Green New Deal. Ja, im Abstrakten finden viele Leute die Ideen gut. Aber im luftleeren Raum klingen sehr viele Ideen gut. Sobald es konkreter wird, schmilzen diese Umfragewerte immer gleich zusammen. Und dann zeigt sich, dass die gefühlten Mehrheiten halt doch nur große Minderheiten sind. Ist ja nicht so, als wäre es Trump anders ergangen. Die Punkte, die Chait im Artikel von Robin zitiert, sind dabei die zentralen, und ich habe das in meinem eigenen Artikel ja auch herausgearbeitet: ein Politikwandel kommt nicht in einem Wahlkampf, er kommt von unten, durch Organisationen und Aktivisten. Es braucht einen Kongress, der nicht nur mehrheitlich blau ist, sondern in dem diese Abgeordneten auch hinter der Idee stehen. Das war ja eine Erkenntnis, die Obama zurecht hatte - und deswegen schuf er Gesetzeswerke wie den ACA und einen Stimulus, die zwar hinter dem Wünschenswerten, ja Sinnvollen, deutlich zurückblieben, die aber im Kongress Mehrheiten haben. Alles, was Bernie Sanders da bietet, ist die diffuse Idee, dass sein Sieg eine Graswurzelbewegung auslöst, die den Kongress auf Linie zwingt. Was es braucht sind mehr Initiativen wie Brand New Congress (eine Organisation, die linke und diverse Kandidat*innen gegen etablierte moderate Democrats aufstellte; das erfolgreichste "Produkt" der Gruppe ist Alexandria Ocasio-Cortez), die dafür den Boden bereiten. Die Energie eines erfolgreichen Change-Wahlkampfs trägt nicht sonderlich weit, das sollte spätestens seit Obama ebenfalls klar sein. Der konnte kaum einen Monat Amtszeit damit tragen. Warum es Sanders, Harris, O'Rourke oder Buttigieg (als pars pro toto) da anders ergehen sollte ist völlig unklar. Bohren harter Bretter mit Leidenschaft und Augenmaß, and all that.

If, somehow, Democrats win a Senate majority and defeat President Trump, they’ll have to make fundamental changes to the rules of the chamber — like ending the filibuster — if they want their agenda to move forward. And if they can’t win a majority, Mitch McConnell may cripple a Democratic presidency from the start, blocking judicial and executive branch nominations in an even more extreme replay of his blockade of President Barack Obama’s final Supreme Court nominee, Merrick Garland. Without the Senate in hand, Democrats could win the immediate fight against Donald Trump in 2020 but lose the larger battle against the Republican Party that supported and enabled him. The second problem is a set of long-term trends that will benefit the Republican Party as long as it maintains its hold on the least populated states and will burden the Democratic Party as long as it represents most of the densest, most diverse and fastest-growing major metropolitan areas in the country. [...] As it stands now, the Senate is highly undemocratic and strikingly unrepresentative, with an affluent membership composed mostly of white men, who are about 30 percent of the population but hold 71 of the seats. Under current demographic trends this will get worse, as whites become a plurality of all Americans but remain a majority in most states. (Jamelle Bouie, New York Times)
Passend zu Fundstück 4) sehen wir das ganze progressive Drama. Denn die Chancen, dass die Democrats selbst mit einem Sieg gegen Trump 2020 irgendwelche signifikanten Umsetzungschancen hätten, ist dank der Struktur des Senats denkbar gering. Das Oberhaus der Republik gibt konservativen Flächenstaaten einen völlig unproportionalen Einfluss, das ist in seiner ganzen Struktur so angelegt, und das hilft aktuell eben vor allem den Republicans. Und die meisten Democrats haben keine große Lust, die Struktur tiefgreifend zu verändern, einmal abgesehen davon, dass die Mehrheiten dafür eh fehlen. Letztlich ist wegen dieser strukturellen Defizite die beste Chance der Democrats, auf Verteidigung zu spielen. Viel mehr ist realistisch im Augenblick nicht drin. Und dafür sind dann eben Kandidaten wie Hillary Clinton besser geeignet als Bernie Sanders (was ein großer Teil meines Arguments für sie 2016 war). Das ist mehr als bedauerlich. Aber es ist eben, was es ist.

6) Democrats Are Ignoring Their Party’s Strongest Issue for 2020
Last year, Gallup found that 62 percent of Americans believe the government is “doing too little” to protect the environment — the highest that figure has been in more than a decade. Meanwhile, some 57 percent of voters told the pollster that environmental protection should take priority over economic growth. Thus it’s not terribly surprising that, as of March of this year, 59 percent of voters told Gallup that Trump was doing a “poor job of protecting the nation’s environment.” [...] But health care isn’t the Democratic Party’s strongest issue. Last month, Morning Consult found that 45 percent of voters trust congressional Democrats more than congressional Republicans on health-care issues, while 35 percent said the opposite; on the environment, those figures were 50 percent and 27 percent, respectively. [...] In 2020, Democrats should offer voters a chance to breathe easy — by making Republicans choke on the noxious compromises they’ve made with corporate power. (Erik Levitz, New York Magazine)
Wie ich solche Artikel liebe. Auch das passt zu Fundstück 4. "Thema X das ich total wichtig finde ist das Gewinnerthema für meine Partei, und ich habe hier eine selektiv gewählte Umfrage". Um Umweltschutz als das "stärkste Thema" für 2020 zu sehen, muss man schon sehr optimistisch sein. Ich wünschte, es wäre so! Aber sollte nicht ein Wunder geschehen, ist es das eben leider nicht. Es gibt eine ganze Reihe von Themen, die den Wählern wesentlich wichtiger sind und die politisch leichter kommunzierbar sind. Nancy Pelosi und ihre Spießgesellen wissen eben schon so ein bisschen was sie tun, auch wenn das das progressive Herz erzürnt.

7) Will climate change destroy democracy?
There’s an oddly apolitical character to most of our talk about environmental threats. Environmental activists, climate scientists, and their journalistic popularizers blast the bad news as loudly and hyperbolically as possible, hoping to wake people up to the multitude of dangers confronting us on every side. Meanwhile, policy intellectuals propose myriad ideas for mitigating this or that part of the problem while largely ignoring the challenge of how to get any one of them, let alone all of them, enacted. [...] It was in part reflection on this problem that inspired Plato to reject democracy as a form of government and instead propose the rule of philosopher-kings — wise leaders who would deliberate and act with the common good in mind at all times. That, for Plato, would be the only way to solve the problem of politics. Whenever environmentally minded activists and pundits express panic and dismay at the inability of the nations of the world to change course to avert disaster, they tacitly acknowledge that Plato had a point: if only they — the environmentally responsible who place the good of the planet above other, narrower considerations — were given overriding political power, the world, and human civilization, might have a chance. [...] In a world forced to break its addiction to economic growth and the extravagant hopes wrapped up with it, democracy itself may soon need to be added to the list of endangered species. (Damon Linker, The Week)
Ich habe überhaupt keinen Zweifel, dass wir diese Dynamik in Zukunft sehen werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwelche signifikanten Maßnahmen ergriffen werden, bevor es zur Katastrophe kommt, sind verschwindend gering. Und wie immer während Katastrophen werden dann urplötzlich radikale und radikalste Maßnahmen nicht nur als möglich, sondern angebracht und einzig möglich erscheinen. Und dass sich das mit Demokratie nicht verträgt, ist klar. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter. Es werden die Konservativen, die das machen. Die gleiche Bande, die aktuell jede mögliche Maßnahme blockiert, wird nach der Katastrophe mit dem Argument, dass alle bisherigen Maßnahmen nichts gebracht haben, genau in diesen radikalen Werkzeugkasten greifen und die Demokratie und Freiheit beiseite schieben, um deretwillen sie gerade so besorgt alles blockieren. Aber hey, immerhin darf man weiterhin mit dem SUV mit 180 über die Autobahn.

8) Hefte raus, Spardiktat!
Diese Haltung - sparen über alles - sickert durch die Administrationen. Seit 2003 klafft durchgehend eine inzwischen riesige Investitionslücke der Kommunen bei der Infrastruktur. "Staatliche Nettoanlageinvestitionen" lautet der Fachbegriff: Was man für Infrastruktur ausgibt minus Wertverzehr etwa durch Abnutzung. In Deutschland gibt es einen Maßstab für Zeiten der Investitionsnotwendigkeit: die Wiedervereinigung. Nach der Deutschen Einheit investierten Kommunen in fünf Jahren fast 50 Milliarden Euro netto in Infrastruktur. Seit 2003 jedoch beträgt der Wert minus (!) 70 Milliarden. Der Verfall ist schneller als die Investitionen. 2018 erreichte der Mangel laut KfW-Befragung eine Rekordhöhe von 160 Milliarden Euro. Die fehlen in staatlichen Infrastrukturen im weitesten Sinn: Gebäude wie Schulen, Verkehrswege, alle möglichen Netze. Die Digitalisierung ist insbesondere auch eine Bildungsfrage, und Bildung braucht staatliches Geld, aber: Schwarze Null, also Schule offline, Lehrermangel, digitale Bildungswüste. Letztes Jahr haben staatliche Kassen übrigens fast 54 Milliarden Euro Überschuss verzeichnet, gut 20 Milliarden davon entfielen auf die für Bildung zuständigen Länder. Aus diesem Missverhältnis speisen sich auch viele andere Probleme. Seit dem Jahr 2000 sind rund anderthalb Millionen Sozialwohnungen verschwunden. Das liegt an der Fehleinschätzung des Bedarfs, den geringeren Investitionen und daran, dass viele Länder ihre Wohnungsbaugesellschaften verscherbelt haben, um, hurra, auf die schwarze Null hinzuarbeiten. Berlin hat unter Wowereit und Sarrazin auf diese Weise für seine größte Wohnungsbaugesellschaft einen sagenhaften Preis erzielen können, der - bitte am bereitgelegten Beißholz festhalten - bei einem Fünfzehntel des heutigen Werts lag. (Sascha Lobo, SpiegelOnline)
Selbst die Bertelsmannstiftung, die des ungebremsten Schuldenmachens eher unverdächtig sein dürfte, kommt in einer aktuellen Studie zu dem Ergebnis, dass eine deutlich höhere Investitionsquote in Deutschland sowohl möglich als auch nötig wäre. Noch absurder ist, dass diese höhere Investitonsquote wegen der akuten Unterauslastung der deutschen Wirtschaft sogar aufkommensneutral möglich wäre und die Schuldenbremse unangetastet ließe! Unsere aktuelle Unter-Investierung ist geradezu kriminelle Vernachlässigung.

9) GOP Extremism Was Powerful Before Trump, and It Will Outlive Him
Yes, there were more moderate strains in the GOP pre-Trump that have largely been silenced since his election. But it’s important to remember that such sensible-sounding themes (like the inclusiveness urged upon the party in the famously rejected 2013 “autopsy report”) were mostly tactical cosmetics designed to give a lighter touch to a political machine devoted to radical policy goals: the demolition of the New Deal and Great Society programs; the re-criminalization of abortion; the reversal of progress toward treating LGBTQ people as equals; stuffing as much money into a bloated Pentagon as possible; all but outlawing unions and collective bargaining; and restricting the franchise. Mitt Romney, one of the GOP’s most respectable figures, advocated immigration policies arguably to the right of Trump’s in his pursuit of the 2012 presidential nomination. He also endorsed the Ryan budgets (reflecting the party’s hard-core commitment to “entitlement reform” and an end to decades of anti-poverty measures), and supported the cut, cap, balance pledge to permanently shrink the size of the federal government. And most famously, he embraced one of the foundational myths of conservative extremism in his remarks that the votes of “47 percent” of Americans had been corruptly bought by welfare-state benefits, thus implicitly making those votes illegitimate. For the ninth consecutive time, the GOP platform on which Romney ran in 2012 called not just for the reversal of reproductive rights in Roe v. Wade but the constitutional enshrinement of fetal (even embryonic) rights in a Human Life Amendment that would ban states from allowing abortions from the moment of conception. All that was mainstream Republican policy pre-Trump. In the ever-more-militant conservative wing of the party, the big fashion in the early years of this decade was to call oneself a “constitutional conservative.” (Erik Levitz, New York Magazine)
Die aktuelle inner-demokratische Debatte dreht sich um genau diese Frage: Ist Trump eine Ausnahmeerscheinung (aberration) einer ansonsten grundsätzlich rationalen GOP, oder ist er nur Symptom einer zutiefst kaputten Partei? Die meisten Kandidaten argumentieren eher in die zweite Richtung, aber Joe Biden (und in geringerem Maß Beto O'Rourke und Amy Klobuchar) vertreten Obamas alte Position, dass die Partei selbst mit einem guten Gesprächsangebot durchaus für überparteiliche Kompromisse zu haben wäre. Meine Position zu dieser Frage dürfte hinreichend bekannt sein. Ich halte sie sogar für soweit für erledigt, dass das eigentlich eine Phantomdebatte ist. Joe Biden kann nicht ernsthaft so naiv sein zu glauben, dass er mit Mitch McConnell einen Kompromiss zur Reform von Obamacare schließen könnte. Der Mann hat acht Jahre lang gesehen, was für ein Mensch das ist. Die Annahme ist daher auch, dass es sich um eine reine wahltaktische Debatte handelt. Biden et al gehen davon aus, dass die Wahl in der ominösen Mitte gewonnen wird, wo eine kleine Gruppe von Menschen noch keinen Entschluss gefasst hat (während die Republicans und die meisten Democrats die Wahl auf Grundlage der höheren Mobilisierung ihrer eigenen Basis gewinnen wollen - eine Entscheidung zwischen breiter, aber flacher und enger, aber tiefer Unterstützung). Ich halte das für falsch, aber who knows? Diese beiden alternativen Narrative stehen gerade (unter anderem) in den primaries zur Wahl.

10) Democrats: Trump’s GOP Is a Threat to Democracy — So We Better Play Nice
Pelosi and Biden’s positions are a bit less absurd than they sound. But they also could not be more antithetical to the consensus view among liberal intellectuals, blue-state back-benchers, and progressive 2020 candidates — which holds that solving our democracy’s present crisis requires waging total war on the Republican president and his party. For this reason, the most divisive question in the Democratic Party today may be, “Do desperate times call for milquetoast measures?” [...] The logic of Pelosi’s position is straightforward: The fact that Donald Trump is a lawless, would-be autocrat makes it absolutely imperative to remove him from office. And since there is an approximately zero percent chance that two thirds of the GOP-controlled Senate will ever vote to evict Trump from the White House, the only viable means of ending his presidency is to defeat him at the ballot box next year. [...] And if the Democratic leadership is too afraid of swing voters to impeach a lawless president — or to cease vouching for the pre-Trump Republican Party’s fundamental decency — how will it ever create a political climate in which Jon Tester feels comfortable violating Senate norms for the sake of mitigating the overrepresentation of his own tiny state? Tip-toeing around swing voters’ pet peeves may be a sound strategy for winning a single election. But to cure what ails our polity and planet, we’ll need to walk a bolder path. (Erik Levitz, New York Magazine)
Es gibt kaum etwas unter Linken, was so sehr für Wut und Erregung sorgt wie Nany Pelosis Weigerung, ein Impeachment-Verfahren zu eröffnen. Ich habe einige Anhänger der DSA (Democratic Socialists of America) in der Timeline, und für die sind Schumer und Pelosi größere Hassfiguren als Mitch McConnell. Es ist daher gut, von Levitz eine Erklärung zu lesen, welcher Strategie sie folgen. Ob man diese Strategie nun für die richtige hält oder nicht ist eine völlig andere Frage, aber diverse Linke tun so, als ob Pelosi und Schumer einfach nur doof wären, oder Verräter - und beides trifft nicht zu. Ich bin hin- und hergerissen, welche Strategie besser ist. Was meint ihr? Ab in die Kommentare! :)

11) Tweet von Bernd Ulrich
Ulrich spricht etwas an, das mir sehr am Herzen liegt. Ich habe überhaupt kein Problem damit, wenn Artikel eine klare Meinung vertreten. Ich finde Rainer Hanks Geschwätz aus 1) furchtbar, aber es ist klar als seine Meinung gekennzeichnet. Wie Ulrich hier schreibt ist es deutlich problematischer, wenn scheinbare Selbstverständlichkeiten gar nicht mehr als Meinung, sondern als objektives Fakt gestellt werden. Für bekennende Linke war das in den Nuller-Jahren besonders schlimm, als es nicht mehr als Meinung, sondern Fakt galt, dass der Sozialstaat beschnitten zu werden habe, und für bekennende Rechte (im Sinne einer demokratischen Rechten) war es in der Flüchtlingskrise so enervierend, als die "Wir schaffen das"-Linie plötzlich zur allgemein anerkannten Logik wurde, nur um dann danach wieder der "Sorgen und Nöte der Menschen ernstnehmen"-Rhetorik zu weichen. Es gibt da einen sehr unschönen und ungesunden Herdentrieb, den die Medien wirklich vermeiden zu lernen sollten. Und da hilft eben ein Bekenntnis zur Haltung, statt sich hinter dem "Selbstverständlichen" zu verstecken.

Montag, 20. Mai 2019

Kevin Kühnert, Fensterbauer

Es gibt in der politischen Debatte eines jeden Landes einen bestimmten Bereich, der tabu ist. In Deutschland zum Beispiel ist es tabu, das Existenzrecht Israels zu kritisieren. Oder die rechtliche Gleichberechtigung von Mann und Frau. Allein das Diskutieren dieser Themen stellt den jeweiligen Diskutanten außerhalb des gesellschaftlichen Konsens', markiert ihn oder sie als "extrem" (egal, welche Richtungsangabe noch vor das Adjektiv kommt), als in feiner Gesellschaft effektiv nicht satisfaktionsfähig. Dieser Tabu-Bereich wird durch einen permenanten Diskussionsprozess in der Gesellschaft, durch Provokation und Zurückrudern, durch Austesten von Grenzen und ostentative Ablehnung permanent definiert, geschärft, verwässert und gestestet. Alles, was innerhalb dieses Tabu-Grenzbereichs liegt, nennt man das Overton-Fenster.

Das Overton-Fenster umfasst alle Positionen, die im öffentlichen Bereich als akzeptabel gelten. Der Green New Deal etwa wird von CDU und FDP erbittert abgelehnt, aber sie akzeptieren ihn als legitime politische Forderung. Umgekehrt gilt die Kopfpauschale jedem Progressiven als Todesstoß für die Sozialversicherungen, ist aber eine Position, die im akzeptablen Meinungsrahmen liegt. Beide Positionen liegen innerhalb des Overton-Fensters. Der namensgebende Politikwissenschaftler, Joseph P. Overton, definierte mehrere Stufen, innerhalb deren ein Diskussionsgegenstand liegen könne:
  • undenkbar
  • radikal
  • akzeptabel
  • sinnvoll
  • aktuell
  • Staatspolitik
Ich möchte kurz einige Beispiele bringen, um klar zu machen, wo diese Grenzen verlaufen.

Undenkbar wäre die Einrichtung von Arbeitslagern für Nicht-Deutsche, wie sie jüngst von der AfD Marburg gefordert wurden. Eine solche Position stellt jemanden so weit außerhalb des Mainstreams, dass sich niemand ernsthaft mit der Forderung beschäftigt. Sie wird rundheraus abgeschmettert; der jeweils Fordernde wird als nicht zur pluralistisch-demokratischen Gemeinschaft gehörig gebrandmarkt. Der Verfassungsschutz sollte zumindest mal einen Blick riskieren.

Radikal wäre die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen von 1000 Euro pro Monat und ersatzlose Streichung der anderen Sozialleistungen. Es ist eine Position, die an den Rändern fast aller Parteien (vor allem LINKE, Grüne und FDP) diskutiert wird, die aber bislang keine nennenswerte politische Unterstützung hat.

Akzeptabel ist eine Forderung, die zwar keine Mehrheit findet, aber eine akzeptierte Minderheitenposition innerhalb einer Strömung darstellt. Die eingangs erwähnte Kopfpauschale oder der Green New Deal fallen darunter. Beide sind in ihren jeweiligen Parteien zwar verbreitet, und jedes Parteimitglied könnte damit leben, wenn sie ins Wahlprogramm kämen, aber niemand rechnet aktuell ernsthaft mit der Umsetzung und die Mehrheit setzt sich für das Ziel nicht ein.

Sinnvoll sind jene Maßnahmen, von denen man zwar der Überzeugung ist, dass es schon gut wäre, wenn man es tun würde, aber was noch große Hindernisse zu überwinden hat. Darunter fallen viele Maßnahmen des Klimaschutzes wie etwa eine CO2-Steuer. Grundsätzlich findet sie viele Anhänger, aber unhinterfragter Konsens und Priorität ist sie nicht.

Aktuell sind Themen wie die Homoehe, die breiten Rückhalt genießen und, anders als sinnvolle Themen, mit Macht auf die Agenda drücken. Diese Themen werden üblicherweise spätestens dann umgesetzt, wenn die mit ihnen identifizierte Partei an die Macht kommt und eine gute Gelegenheit sieht.

Staatspolitik sind solche aktuellen Themen, die umgesetzt wurden und zum Mainstream wurden. Die Westbindung und NATO-Integration etwa wurde unter Adenauer rapide von einer sinnvollen zur aktuellen Maßnahme und dann durch das Bad Godesberger Programm zur Staatspolitik.

Was hat das nun alles mit Kevin Kühnert zu tun? Der Vorsitzende der Jungsozialisten ist ein begnadeter Beweger des Overton-Fensters, ein politischer Fensterbauer ersten Ranges. Ob er auch noch über andere Fähigkeiten verfügt, bleibt abzuwarten, aber seine öffentlichen Auftritte polarisieren ungemein, er hat eine ungewöhnlich große Präsenz in den sozialen und traditionellen Medien und schafft es regelmäßig, in die Schlagzeilen vorzudringen und die Medien zur Beschäftigung mit seinen Thesen zu beschäftigen. Einige Beispiele:

Thorsten Riecke schreibt im des Sozialismus eher unverdächtigen Handelsblatt:
Enteignung=Sozialismus=DDR=Weltuntergang – ist das wirklich alles, was der politischen Elite in Berlin zu den Provokationen eines Juso-Chefs einfällt? Dass viele mit einer ordoliberalen Keule auf Kühnert eindreschen, zeigt vor allem, dass es ihnen mehr um Angstmache als um die Ursachen der seit Langem schwelenden Vertrauenskrise des Kapitalismus geht. Wer angesichts der Wohnungsnot in den Großstädten ein Volksbegehren für die Enteignung von Immobilienkonzernen unterstützt, wird als „Eigentumsfeind“ verteufelt. Wer Großstadtbewohnern die Option geben will, ihr Auto abzuschaffen, führt angeblich einen „Kulturkampf“ gegen des Deutschen liebstes Kind. Wer als Schüler freitags gegen den Klimawandel protestiert, wird als unwissender Amateur verniedlicht, der „die globalen Zusammenhänge“ nicht durchblickt. Angesichts dieser Reflexe darf sich niemand wundern, wenn junge Menschen heute lieber auf die Straße gehen als in die Parteien.
Und Florian Gathmann sekundiert im Spiegel:
Ob es dabei helfen würde, BMW zu kollektivieren, Immobilienbesitz zu regulieren und Arbeit maximal zu individualisieren? Man könnte jedenfalls die Gelegenheit nutzen, darüber zu diskutieren, anstatt alles sofort mit Totschlagsargumenten abzubürsten. Was haben denn CDU, CSU und FDP an eigenen Vorschlägen zu bieten, um diese Probleme anzugehen? Wenig bis nichts. Ähnlich ist es übrigens in der Klimaschutz-Debatte. Nahezu alles, was von den Grünen an Vorschlägen kommt, wird als zu radikal abgetan.
Und DIW-Chef Marcel Fratzscher sagt:
Unsere Marktwirtschaft wird missbraucht. Wer Kevin Kühnert vorwirft, er verlasse den demokratischen Diskurs, steht selbst schon halb draußen.
Uff. Natürlich, wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft, deswegen finde ich zu den meisten Themen irgendwelche Artikel auch in Mainstreammedien, die meine Meinung stützen. Das ist kein Beweis für irgendwas.

Und doch.

Neben all dem üblichen Gegenwind, den Forderungen von Juso-Vorsitzenden so auszulösen pflegen, zeigen solche Reaktionen doch, dass Kühnert einen Nerv getroffen hat. Nicht mit der spezifischen Thematik von der Enteignung von BMW; das war eh nur eine billige "Gotcha!"-Falle der Zeit-Journalisten, noch mit der Enteignung der Deutsche Wohnen. Die gesellschaftliche Unterstützung für solcherlei Maßnahmen dürfte sich in einem niedrigen Prozentbereich bewegen, und Kühnerts selbstironisch-lockere Art beim Vorbringen dieser Argumente zeigt, dass es ihm auf das Thema selbst gar nicht ankommt. Kühnert trollt. Das Bemerkenswerte ist nicht, dass über Enteignungen von BMW diskutiert wird; das bemerkenswerte ist, dass Kühnert die Diskussion in den Bereich von "klar, BMW enteignen ist extrem, aber..." bewegt.

Kevin Kühnert, Fensterbauer.

Das Verschieben des Overton-Fensters ist natürlich kein Wert an sich. Ob Bernie Sanders oder Jeremy Corbyn, Donald Trump oder Victor Orban - Politiker, die von den Rändern ihres jeweiligen Spektrums her operieren, haben die Tendenz, das Overton-Fenster zu verschieben. In der Realität ist dieser Effekt oft genug auch zweischneidig und entspricht gar einer Öffnung: so ist es den Rechtspopulisten gelungen, das Overton-Fenster in den letzten Jahren bei vielen Themen dramatisch nach rechts zu verschieben. Gleichzeitig aber hat der unweigerliche Backlash ihre progressiven Gegenspieler auf anderen Gebieten beflügelt, so dass sich in diesen das Overton-Fenster nach links verschob. Und bei solch komplexen Gemengelagen sind "links" und "rechts" ohnehin bestenfalls Krücken.

All diese tollen Verschiebungen nützen aber nichts, wenn man sie nicht zu nutzen in der Lage ist. Und hier kommt ein häufiges Missverständnis ins Spiel, das man aktuell auch bei den amerikanischen Vorwahlen wieder sehen kann. Dass Kandidaten wie Bernie Sanders eine radikale Forderung wie "Medicare for all" in den akzeptablen Bereich verschieben oder dass andere den "Green New Deal" dorthin bringen erreicht erst einmal nichts. Donald Trump kann davon ein Lied singen: zwar wurde der Bau einer Mauer entlang einer Dreitausendkilometergrenze mit einem Schlag von einer radikalen zu einer sinnvollen Lösung geadelt, aber das allein bringt keine Mauer.

Man sollte stattdessen nicht so sehr darauf schauen, ob die nationalen Parteien das durch die Fensterbauer plötzlich diskutabel gewordene Thema direkt umsetzen. Das ist zwar der feuchte Traum eines jeden Aktivisten, aber es ist eine naive Illusion, die noch fast jedes Mal zusammengebrochen ist, und die Male, wo sie umgesetzt wurde, sind nicht gerade als Sternstunden der Menschheit bekannt. Nein, die eigentliche Wirkung entfaltet sich auf tieferen Ebenen. Wir müssen uns dazu nur die Institution ansehen, deren Vorsitzender Kühnert ist.

Die Jusos hatten ihre brisanteste und radikalste Phase in den 1960er und 1970er Jahren, als sie im Gefolge der 68er-Revolution das Overton-Fenster massiv verschoben. Sie brachten zwar ihre Parteiführung - damals das Triumvirat um Brandt, Wehner und Schmidt - dazu, einige Positionen aufzugreifen, aber das geschah in einer Form, die mit den Forderungen der Jusos wenig gemein hatte. "Mehr Demokratie wagen" ist eben nicht ganz "Diktatur des Proletariats". Die damalige SPD war wesentlich cleverer als ihre heutigen Nachfolger. Anstatt markigem Geschwätz à la Olaf Scholz schickte man damals Helmut Schmidt als Vertreter der Parteispitze auf den Juso-Kongress, wo er einen kompletten Tag lang mit der SPD-Jugend diskutierte.

Schmidt hasste jede Minute davon, was jeden, der etwas über ihn weiß, nicht überraschen dürfte. Warum also sandte man den gegenüber den Jusos wesentlich aufgeschlosseneren Brandt? Im Gegensatz zu dem heutigen Gurkenverein war der SPD damals klar, dass die Jusos ein Asset waren, weil die Verschiebung des Overton-Fensters im Interesse der Partei lag. Sie zwang die FDP, progressive Reformen wie das Betriebsverfassungsgesetz oder die Reform der Sozialversicherungen mitzumachen. Schmidt markierte deutlich die Grenzen dieses Prozesses und signalisierte für die Außenwelt die roten Linien der SPD. Es sandte eine mächtige Botschaft, dass man die Lage unter Kontrolle hatte und die Jusos zwar als Jungbrunnen nutzen wollte, aber eben nicht als Bilderstürmer.

Die Partei war damit sehr erfolgreich. Und gleichzeitig taten die Jusos etwas sehr Kluges, das den meisten dieser Fensterbauer leider abgeht: sie entschlossen sich zum berühmten "Marsch durch die Institutionen". Die Akteure dieses Jugendprotests setzten ihre Forderungen nicht sofort um und erhielten nicht sofort irgendwelche mächtigen Positionen. Aber anderthalb Jahrzehnte später saßen die "Enkel" Willy Brandts an den Schaltzentralen der wichtigsten Bundesländer (und des Saarlands, zugegeben) und machten sich daran, den Mief der Kohl-Ära zu beseitigen und eine neue Phase progressiver Politik einzuläuten.

Ob Kevin Kühnert nur ein Strohfeuer entfacht hat und sich damit in eine lange Reihe kurzfristig auffallender, aber letztlich bedeutungsloser Radikalinskis einreihen wird, oder ob er es schafft, eine neue Generation von Aktivisten zum Marsch durch die SPD-Institutionen zu verpflichten und dem Hashtag #SPDErneuern den Status als Lachnummer abzunehmen, bleibt abzuwarten. Die amerikanischen Progressiven sind uns da, wie so häufig, weit voraus. Und leider auch die Rechtspopulisten, denn anders als die Fensterbauer von links können sie sich immer auf die ungeteilte Unterstützung der Konservativen verlassen, während sich ein Olaf Scholz dümmlich grinsend in der Rolle als Westentaschen-Helmut-Schmidt gefällt.

Freitag, 17. Mai 2019

Wohnst du noch oder wählst du schon?

Man muss es den Philosophen in der Ikea-Marketing-Abteilung lassen: Mit ihrem Werbespruch "Wohnst du noch oder lebst du schon?" haben sie eine kategorische Unterscheidung geschaffen, die nicht nur für den Einkauf von Pressspanmöbeln im weltweit größten Einrichtungshaus von Relevanz ist. Nicht nur kann man damit sehr gut die Adoleszenzphase analysieren; der Spruch hilft uns, zumindest in der leicht abgewandelten Form aus dem Titel, auch beim Verständnis der Kommunal- und Regionalwahlen. Was meine ich damit?

Zur Illustration eine kurze Geschichte. Jüngst sprach ich mit einem Vater, der sich über das aus seiner Sicht mangelnde Engagement des zwar volljährigen, aber adoleszenten 19jährigen Sohnemanns ärgerte, der wenig Motivation zeigte, das Haus in Ordnung zu halten oder bei der Gartenarbeit und ähnlichem auszuhelfen. "Als ob er nicht auch da wohnen würde!" echauffierte sich der Vater in einem Satz, der in der Republik täglich sicherlich im höheren sechsstelligen Bereich ärgerlich hervorgestoßen wird. Ich entgegnete ihm, dass meine Eltern in dem Alter das exakt gleiche Problem mit mir hatten, und dass - entgegen seines Protests - er ähnliche Anwürfe von seinen Eltern wohl auch gehört hatte. Das Problem, sagte ich, sei, dass er in seinem Haus lebe, während der Sohn dort nur wohne.

Der zentrale Unterschied ist der, dass wer an einem Ort lebt diesen anders wahrnimmt als jemand, der dort nur wohnt. Als ich etwa für die Dauer meines Studiums nach Tübingen gezogen bin, habe ich da gewohnt, aber ich habe dort nicht gelebt. Mein eigentlicher Anker blieb weiterhin das Remstal, in das ich seither auch zurückgekehrt bin. Aber selbst nach dieser Rückkehr war es noch mehr wohnen als leben, denn wer wusste schon im Referendariat, wo man bleiben würde? Und selbst nach der Annahme des Jobs und der größeren Mietwohnung blieb es weiterhin noch ein größerer Wohnen- als Leben-Anteil. Erst durch die mehr oder minder bewusste Entscheidung, dauerhaft in dem Ort zu leben an dem ich gerade bin, wandelte sich das.

Für solche Menschen, die nur temporäre Jobs haben und öfter sowohl ihre Position in Unternehmen und Organisationen als auch den Wohnort wechseln, kann dieser Umschwung unter Umständen sehr lange ausbleiben. Das verbreitete Gefühl von Entwurzelung, das in der Diskussion zur Globalisierung so oft bemüht wird, kommt auch daher. Die stetig wachsenden Probleme von Vereinen, freiwilligen Feuerwehren, Jugendorganisationen, Kirchen und so weiter, Nachwuchs zu finden und der Überalterung entgegenzuwirken, haben auch in diesem Phänomen ihren Ursprung. Denn nur, wer an einem Ort lebt, engagiert sich auch in und an diesem. Alle anderen wohnen da nur.

Und damit schlagen wir den Bogen vom gesellschaftlichen in den politischen Bereich. Am 26. Mai sind ja neben den Europawahlen zumindest in Baden-Württemberg auch die Kommunal- und Regionalwahlen. Bürger sind aufgerufen, ihre bis zu 32 Stimmen im Gemeinderat, 8 Stimmen im Ortschaftsrat, 8 Stimmen im Kreisrat und ihre eine Stimme in der Regionalversammlung abzugeben, üblicherweise ohne auch nur oberflächliche Kenntnis sowohl der entsprechenden Gremien als auch der Kandidaten.

Auf meinen Stimmzetteln zur Gemeinderatswahl tummelten sich rund 100 Kandidaten. Zusammen mit denen für die anderen genannten Gremien kommen wir auf eine Auswahl von locker 130 Leuten. Dazu kommen noch die gerade einmal 40 (!) unterschiedlichen Parteien für die Europawahl, aber die lassen wir an der Stelle beiseite. Mir geht es nur um die Kommunal- und Regionalwahl. Mein ganzes bisheriges Leben waren mir diese Wahlen ziemlich egal, ich habe nach Bauchgefühl und Parteiaffinität abgestimmt. Nun, da mein Standort in meiner Kommune sich nicht zuletzt durch Immobilienerwerb deutlich von "wohnen" nach "leben" verschoben hat, interessiere ich mich deutlich mehr für Zufahrtsstraßen zum Neubaugebiet als vorher, denn selbiges Neubaugebiet liegt keine 50m vom Haus entfernt.

Und da fangen die Probleme an. Denn in irgendeiner Art und Weise herauszufinden, was die Kandidaten und Parteien überhaupt erreichen wollen, gestaltet sich als deutlich schwieriger, als es sein sollte:

- Zum Ortschaftsrat habe ich einen Flyer der örtlichen SPD. Alle anderen Parteien und Kandidaten haben weder Plakate noch Flyer noch sonst was. Der SPD-Flyer informiert mich darüber, dass ich einer tollen Stadt wohne, die Fachwerkhäuser hat ("besonderer Charakter") und dass dieser erhalten werden soll. Damit bin ich effektiv so schlau wie vorher, außer dass ich nun weiß, dass die SPD Bittenfeld Fachwerkhäuser schätzt.

- Zum Gemeinderat habe ich Flyer von SPD und CDU erhalten. In beiden stehen praktisch die gleichen Punkte. Lebenswert wollen sie die Gemeinde halten, gute Verkehrswege mögen auch alle und Bildung ist wichtig. Ich habe ein Interesse am Bestehen und Ausbau des Ganztagsangebots sowohl der Kitas als auch des Horts. Welche der beiden Parteien wähle ich dafür? Keine Ahnung. Welche Partei wäre eher dabei, den Verkehr durch bessere ÖPVN-Anbindung und andere Maßnahmen zu entzerren? Beats me. Vielleicht die Grünen? Deren Spitzenkandidat, so lese ich aus dem Wahlzettel, ist wohl Medienwissenschaftler. Das hilft mir nur bedingt.

- Kreistag und Regionalversammlung muss ich auf Wikipedia nachlesen um auch nur festzustellen, was die tun. Was die Parteien in diesen Gremien schwerpunktmäßig machen, bleibt völlig unklar.

Und ich bin eine politisch überdurchschnittlich interessierte Position mit echten Interessen am Ort, die massive Probleme hat, auch nur rudimentäre Positionsbestimmungen bei diesen Fragen zu finden. Wie viel schlimmer muss es da vielen anderen ergehen?

Abschließend will ich auf die letzte Absurdität bei dem ganzen Drama eingehen. Ich bin ja Politiklehrer, das heißt, dass die Wahlen im Unterricht gerade natürlich Thema sind. Seit 2014 können in Baden-Württemberg auch 16jährige an den Kommunalwahlen teilnehmen, nicht aber an den Regionalwahlen oder an denen zum europäischen Parlament (oder Landtag oder Bundestag). Und ich verstehe ja die Idee, Jugendliche zu mehr demokratischer Beteiligung zu bringen.

Aber die oben aufgelisteten Gründe erklären ein Phänomen, das ich im Unterricht ebenso wie in privaten Gesprächen Jahr ums Jahr aufs Neue erlebe und das ja auch medial bei jeder Wahl diskutiert wird: Das Interesse nimmt rapide ab, je regionaler die Wahlen werden - gerade bei Jugendlichen. Während die Bundestagswahlen erhitzt diskutiert werden, sind die Landtagswahlen bereits deutlich weniger präsent. Die Europawahl interessiert deutlich mehr als die Gemeinderatswahl, und praktisch keiner redet von Kreistag und Regionalversammlung.

Und genau diese Wahlen, zu denen die meisten Leute ein bestenfalls distanziertes Verhältnis haben - aus völlig nachvollziehbaren Gründen! - und die mit Abstand am kompliziertesten sind (hohe zweistellige Zahl völlig unbekannter Kandidaten, kumulieren, panaschieren, 32 Stimmen!), genau das sind die, die für 16jährige zugelassen werden. Diese 16jährigen interessieren sich noch weniger für Kommunalpolitik als die meisten anderen, aber sehr für Europa- und Bundespolitik. Soll es also um Demokratieförderung gehen, ist das völlig absurd.

Natürlich gibt es Ausnahmen. Baden-Württemberg beispielsweise hat sehr gute Erfahrungen mit den Jugendgemeinderäten gemacht. Diese sind kommunale Gremien extra für Jugendliche, die ein Mitspracherecht bei Entscheidungen haben, die sie betreffen (klassisch etwa die Einrichtung einer Skatehalfpipe und Ähnliches). Aber die "reguläre" Kommunalpolitik interessiert sie nicht. Sie wohnen nur, also wählen sie auch nicht. Das erklärt auch die über Jahrzehnte konstant niedrige Wahlbeteiligung bei diesen Wahlen. Und das ist eigentlich auch kein Hexenwerk.

Donnerstag, 9. Mai 2019

Joe Biden gewinnt die Arbeiterklasse in Hamburg durch Sozialisierung der Deutschen Wohnen am Laptop - Vermischtes 09.05.2019

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Democracy or dictatorship: which works better?
When I arrived in the United States, coming from the worker-management world of Titoist Yugoslavia, I was somewhat surprised how Americans took the strongly hierarchical, quasi dictatorial relations in the business world as fully “normal”. I was half expecting that workers would have a say in the choice of their “managers” (actually, for a long time, I could not even figure out who exactly is a “manager”) but of course they did not. The promotions were made by cooption or even direct appointment of lower echelons by the higher echelons. And of course, the management was selected by the owners themselves. So the system was entirely top-down: the top selected the down it liked to have. It was remarkably similar to the political system from which I came. There too the Central Committee coopted its new members; these selected their replacements and so forth down to the lowest level of Communist Party cell. Formally speaking, American companies were organized like the Communist Party. In both cases, to paraphrase Bertold Brecht, the leadership selected their employees, or their citizens. In one case the dictatorship was in the social sphere, in another in the work sphere. Democracy that in the US existed in the social sphere (with lower levels electing their own political “managers”) was replicated in the Titoist Yugoslavia in the workplace with workers electing their own workers councils and those electing directors (except in enterprises that were seen of special importance where the top-down system of Communist Party appointment held). So there were two societies with key spheres of human activity (work and social) organized according to the exactly opposite principles. One of them won, another lost. The one that lost, lost because organizing the work sphere according to democratic principles is not efficient. [...] This is where more technocratic political capitalism of the Chinese or Singaporean variety comes to mind. What it tells you is that essentially the same efficient and dictatorial way in which the production of cell phones is organized ought to be extended to the political sphere. It argues that the two spheres are essentially the same. In both efficiency is reached by clear goal-directed activities which are technical in nature and which should not be subject to the constant approval by workers or citizens. If these societies continue to consistently outperform societies where the social sphere is organized in a democratic fashion, there is, I think, little doubt that their appeal will be such that, in a hundred years, it may seem to those who are around so very quaint that people thought that in a complex society decisions should taken by democratic vote. The same as it seems to us today so very quaint to believe that people once thought that a decision about what a company should produce was supposed to be made by the majority vote of shop-floor workers. (Branko Milanovich, Global Inequality)
Ich finde diesen Artikel unheimlich düster. Ich stimme ihm zwar nicht zu, in keiner der zentralen Prämissen (dazu gleich mehr). Aber: wenn Milanovich recht hätte, und autokratische Systeme tatsächlich erfolgreicher wären, dann ist die Demokratie Toast. In dem Moment, in dem China mit seinem System tatsächlich einen höheren Lebensstandard konsistent erreicht als der Westen ist die liberale Demokratie ein Auslaufmodell. Wir würden sie vielleicht noch eine Weile behalten, aber sie wäre in einem ständigen Abwehrkampf. Und neue Aspiranten würden sicherlich nicht mehr hinzukommen. Aber: Bisher habe ich noch keinen effizienten Diktator, noch eine effiziente Autokratie, noch eine effiziente Technokratie gesehen. Das heißt nicht, dass es nicht noch kommen könnte. Aber genauso wie beim Sozialismus (und beim reinen Kapitalismus!) finden die Verteidiger solcher Systeme immer einen Grund, warum es dieses Mal nicht geklappt hat, warum die bestehenden Umsetzungen nicht die "richtige" Version sind und warum es nächstes Mal, ganz bestimmt, funktionieren wird. Das ist das eine. Das andere ist, dass ich die Prämisse, Mitsprache sei weniger effizient als autoritäre Kontrolle, mehr als dubios. Titos Wirtschaftssystem war nicht ineffizient, weil die Arbeiter Mitspracherechte im Betrieb hatten. Das Land war eine sozialistische Diktatur, und jegliche betriebliche Mitbestimmungsrechte waren im Zweifel immer den Diktaten der Partei und ihrer Vertreter unterworfen, die zudem ja die "Demokratie" dieser Betriebe hinreichend kontrollierten. Jugoslawien taugt hier sicherlich nicht als Fallbeispiel, genausowenig wie Jelzins Russland als Aushängeschild des Kapitalismus taugt.

 2) Der Markt reguliert einen großen Scheiß.
Unternehmerverbände und irgendwelche Vereine der Wohnungsbesitzer beschreien jetzt den Untergang der Welt angesichts des Volksbegehrens in Berlin. Sie sollten sich schämen, dass sie für einen hardcore- Abzockeverein wie die Deutsche Wohnen überhaupt ihre Stimme erheben. Dieser Laden hat seine Mieter/Kunden behandelt wie lästige Fliegen und sich dafür auch noch fürstlich bezahlen lassen. Jetzt laufen ihre Manager mit Entschuldigungsfloskeln und Verbesserungsphrasen durch die Welt, weil ihnen der Arsch auf Grundeis geht. Und zwar zu Recht. Denn es reicht jetzt wirklich. Unternehmen wie die Deutsche Wohnen sind Geschwüre der sozialen Marktwirtschaft und eine Schande für jeden ordentlichen Kapitalisten, der nicht durch Ausbeutung, sondern durch Leistung sein Geld verdient. [...] Und da wir gerade dabei sind – kommen wir noch zum Umweltschutz und dem selbstregulierenden Markt. Ha. Haha. Hahahaha. Und zur deutschen Automobilindustrie, die ihre Milliardengewinne der letzten Jahre selbstlos in die Entwicklung alternativer Antriebstechniken investiert hat und deshalb weltweit führend – ja, worin eigentlich ist? Deren völlig verschnarchte oder gar kriminelle Chefs haben ihre Millionengehälter wahrlich verdient, das ist ja nur gerecht. Warum soll man da was ändern? Läuft ja auch so nicht. Oder denken wir an die Engel in der Agrarindustrie und ihre unzähligen Umwelt- und Tierschutzinitiativen… Oder den Lebensmittelhandel, der Vorreiter im Kampf gegen die Fettleibigkeit sein will und deshalb rigoros schädliche Lebensmittel (Antagonismus?) radikal nicht kennzeichnen will. So wie die Hersteller von diesem Zucker-Fett-Dreck natürlich auch nicht. Staatlicher Dirigismus bisheriger Machart ist sicher auch nicht die Antwort. Russlands soziale Schieflage ist in Europa unerreicht, Putin schmeißt seinen Müll ins Meer oder in besetzte Länder und China hat erst angefangen, über Umweltschutz nachzudenken, als die Nomenklatura in ihrer eigenen Hauptstadt erstickt ist. Aber darüber nachzudenken, wie man es besser und anders machen kann, ist nicht nur Pflicht der Jugend. Im Gegenteil. An den Schalthebeln der Macht sitzen Babyboomer wie ich. Es ist unsere Pflicht, es anders zu machen und neues Denken nicht nur zuzulassen. Sondern vielleicht auch mal seine eigenen Reflexe zu überdenken oder – verwegen – gar mal selbst etwas Neues zu denken?! (Frank Stauss)
Stauss hat vollkommen Recht. Die Enteignung der Deutschen Wohnen mag nicht die beste Antwort auf die Wohnungsnot sein. Mietpreiskontrollen mögen nicht die beste Antwort sein. Aber es sind Antworten. Floskeln darüber abzusondern, dass das sich schon irgendwie alleine löste, wenn man die Sache einfach laufen lässt, sind Bullshit. Dem Wohnungsmarkt würde übrigens weniger Regulierung durchaus helfen, das habe ich schon vor Jahren geschrieben. Umgekehrt sollte inzwischen wirklich jedem klar geworden sein, dass Verbesserungen für die Gesundheit nur gegen, nicht mit der Lebensmittelindustrie möglich sein werden. Sich da auf Selbstverpflichtungen oder komplexe Kalorienangaben zu verlassen heißt einfach nur, nichts zu machen. Genauso bei Klima und Umweltschutz: Veränderungen sind mit der deutschen Autoindustrie nicht zu machen. Die investieren lieber hunderte von Millionen ins Lobbying zur Verhinderung von Veränderungen. Zu identifizieren, welche Bereiche eher Förderung brauchen, welche man nur von regulatorischen Fesseln befreien muss und welche man in solche legen muss, das ist die Herausforderung der Politik. Stattdessen hört man beständig nur ideologisch eingefärbte Floskeln von "Vernunft", "Freiheit" und "Markt", die mit keinem dieser drei Konzepte etwas zu tun haben. Leute wie Kevin Kühnert sind schon alleine deswegen wertvoll, weil sie die Komfortzone aufreißen. Zumindest war das immer das Argument, warum man dringend die Sorgen und Nöte der AfD-Anhänger ernst nehmen und sie nicht kritisieren darf. Das gilt natürlich nicht für Linke; hier ist der polemisierteste, krasseste Vorwurf gerade billig genug.

 3) 1968, die Linke und die „Arbei­ter­klasse“
Auch wenn sich im Rück­blick ein etwas spöt­ti­scher Ton kaum vermeiden lässt, muss man immerhin fest­halten: Die 68er meinten es sehr ernst mit der „Arbei­ter­klasse“. Das gilt vor allem für jene Akti­visten, die nach 1968, als die Studenten- und Protest­be­we­gung geschei­tert war – und z.B. in Frank­reich trotz Massen­streiks im Mai im Juli dann de Gaulle wieder­ge­wählt wurde –, sich daran­machten, die Reste der Bewe­gung in Partei­struk­turen zu orga­ni­sieren. In Italien, Frank­reich, Deutsch­land und anderswo entstanden neue, häufig maois­ti­sche Kleinst­par­teien, die sich als Avantgarde-Organisationen verstanden und deren Ziel es war, „die Arbei­ter­klasse“ zu orga­ni­sieren. Nicht wenige ehema­lige Studenten schmissen ihre Studi­en­pläne und Karrie­re­mög­lich­keiten hin und gingen in die Fabriken, um Seite an Seite mit den Arbei­tern bei Ford oder Opel, bei Fiat oder in der chemi­schen Indus­trie zu „malo­chen“. Viele andere standen jeden Morgen in aller Frühe vor den Fabrik­toren und verteilten die „Rote Fahne“, den „Roten Morgen“ und ähnliche Zeitungen der extremen Linken. Allein, es half nichts. Obwohl ein guter Teil jener, die von der Aufbruch­stim­mung um „68“ bewegt worden waren, sich dafür entschieden haben, „im Dienste der Arbei­ter­klasse“ ein von fieber­haftem Akti­vismus getrie­benes Leben als leni­nis­ti­sche „Kader“ zu führen, inter­es­sierten sich die Arbeiter kaum für deren schwung­volle Reden über die „objek­tiven Inter­essen der Werk­tä­tigen“. Die wirk­li­chen Inter­essen der Arbeiter zielten auf Lohn­er­hö­hungen, Reformen und den sozialen Aufstieg ihrer Kinder, nicht auf die Revo­lu­tion. Auf sich selbst zurück­ge­worfen, versanken viele dieser „K-Gruppen“ in sektie­re­ri­schen Posi­ti­ons­kämpfen und lösten sich oft schon Ende der 1970er Jahre wieder auf, spätes­tens aber mit dem Jahr 1989, als in Berlin die Mauer fiel. Warum fand die Neue Linke keinen stabilen, länger­dau­ernden Kontakt zur „Arbei­ter­klasse“, um die das ganze neo-marxistische Denken doch kreiste? Und warum fanden die 68er gerade in Deutsch­land kein Echo bei den „prole­ta­ri­schen Massen“, mit denen sie am Fließ­band standen? Dazu lassen sich m.E. fünf – alle­samt bekannte – Faktoren nennen, die nichts mit einem wie auch immer gear­teten „mora­li­schen“ Versagen der Linken zu tun haben, alles aber mit dem Druck wirk­li­cher Verän­de­rungen. (Philip Sarasin, Geschichte der Gegenwart)
Der Artikel ist in seiner (langen) Gänze zu empfehlen. Ich finde den Gedanken spannend, dass in den 1970ern der Kontakt zur Arbeiterklasse (diesem ständig scheuen, unfassbaren Wesen) ernsthaft gesucht und nicht gefunden wurde. Und das war eine Zeit, die gegenüber linken Ideen ein wenig aufgeschlossener war als die heutige. Linke beschweren sich gerne darüber, dass die Arbeiterklasse "gegen ihre Interessen" wählt, wenn sie etwa ihr Kreuz bei CDU oder AfD macht. Trotzdem erreichen diese Parteien immer ordentliche Stimmenanteile in dieser Schicht, wie auch die Republicans in den USA. Das kann man natürlich à la NachDenkSeiten einfach nur auf die Meinungsmache schieben und verkünden, dass wenn alle Leute so schlau und aufgeklärt wären wie man selbst, sie auch die gleiche Meinung hätten wie man selbst. Sonderlich hilfreich ist das nicht; inzwischen sollte es hinreichend Belege dafür geben, dass dem nicht so ist. Generell ist dieses "gegen die eigenen Interessen wählen" so eine Sache. Ökonomisch - sicher, Arbeiter würden mindestens kurzfristig von der Wahl der LINKEn mehr profitieren als von der CDU. Man kann zwar das langfristige Argument machen - dass die Politiken der LINKEn schädlich sind und zum Verlust der Arbeitsplätze führen - und das ist sicher auch eine interessante Debatte, aber nicht der ausschlaggebende Punkt. Ich wähle ja auch gegen meine Interessen. Würde ich nur nach Geldbeutel abstimmen, wäre mein Kreuz wahrscheinlich bei der CDU besser aufgehoben. Dann könnte ich mit dem Diesel nach Stuttgart, genösse die Förderung eines soliden Mittelschichtensozialstaats, hätte weniger Steuern und Sozialabgaben und so weiter. Aber die Wahl findet halt auch nach anderen Kritierien statt. Unter anderem der Frage, in welcher Gesellschaft man leben möchte. Und in den 1970er Jahren war die Idee, nach Feierabend in sozialistischen Seminaren den Klassenkampf durchzudeklinieren (unter den gleichen Schwätzern, die einen am Band nerven) nicht ganz so attaktiv, auch wenn die "objektiven Interessen" vielleicht grundsätzlich schon Förderung verdient hätten. All politics is identity politics. Wenn die Linke erfolgreich war, hat sie es geschafft, die verschiedenen Identitäten unter einen Hut zu bekommen, ebenso wie es die Konservativen auch schaffen. Der Bindekitt von letzteren war schon immer der Kampf entlang von ethnischen und soziokulturellen Trennlinien (gegen "die anderen" und die "linken Gutmenschen"). Früher verstand die Linke, welche Bedeutung das Konzept des Klassenkampfs dafür hatte. Ohne eine Outgroup gibt es auch keine Ingroup. Diese Lektion ist bei der SPD völlig verloren gegangen, und dementsprechend gibt es auch wenig Auswege.

4) In Hamburg durchgefallen
Die Interviewer Jochen Bittner und Tina Hildebrandt brachten den Namen BMW in einer Nachfrage ins Spiel, nachdem sie Kühnert gleich zu Anfang souffliert hatten, dass er ja wohl die „Vergesellschaftung von Produktionsmitteln“ fordern müsse, wenn er den Sozialismus wolle. Das sei nämlich „die klassische Definition“. Wo sie die Definition nachgeschlagen hatten, sagten die beiden Journalisten nicht. Sie gingen das Interview wie eine Abiturprüfung an, mit dem Habitus von Routiniers, deren Überlegenheit und Abgeklärtheit kein Einfall des Prüflings würde erschüttern können. [...] Bei so viel demonstrativer theoretischer Standhaftigkeit mussten die Fragesteller Kühnert auf das Glatteis der Praxis locken. Also legten sie ihm Beispiele: vor „Dürfte es im Sozialismus BMW geben, die Deutsche Bank, Siemens?“ Wie die Resonanz auf das Interview zeigte, hatten die Interviewer die Stimmung großer Teile der berufsmäßigen Öffentlichkeit ganz richtig eingeschätzt. Ihre Frage mit den Beispielen enthüllt, was man in ihrem Milieu nicht in Frage stellen darf. In den Zeitungen findet man täglich neue Belege dafür, dass die Automobilindustrie ein gestörtes Verhältnis zu den Rechtspflichten hat, in denen das Gemeinwohl Gestalt annimmt. Gleichzeitig kündigt sich eine Revolution des Produkts an, die den gesamten Verkehr umkrempeln wird. In dieser Lage liegt es nahe, über die Verstaatlichung dieses Produktionszweigs nachzudenken, wenn man überhaupt über Verstaatlichung nachdenken will. Doch in den Augen von Hildebrandt und Bittner ist ein Autokonzern offenbar der abwegigste Kandidat – das Beispiel, mit dem sie Kühnerts Sozialismus ad absurdum führen wollen. [...] Wie ist das zu erklären? Wir bekommen hier die unheimliche Macht zu fassen, die das Kraftfahrzeug als Symbol des Individualismus ausübt. Wie der Pendler zum Freiheitshelden stilisiert wird, der täglich mit stundenlangem Stillstand sein Opfer für das Ideal der Mobilität bringt, so soll die Freiheit der Wirtschaft darin manifest werden, dass Einzelne und nicht alle am Geschäft mit den Autos verdienen. [...] Das Urheberrecht als Prototyp des Privateigentums: Kein Wunder, dass diese Doktrin von Textarbeitern verbreitet wird. In den Fächern Sozialkunde und Politik wird die Phantasietätigkeit nach dem Lehrplan des Hamburger Pressehauses freilich nicht belohnt. „Hat es eine sozialistische Ordnung, wie sie Ihnen vorschwebt, schon jemals gegeben?“ Gibt’s gar nicht, hat der Kevin sich selbst ausgedacht, frech und frei erfunden wie der Wagen ohne Pferde oder ohne Fahrer. (Patrick Bahnert, FAZ)
Patrick Bahnerts Punkt über die Bedeutung der KfZ-identity-politics für den deutschen Mainstream verdient Betonung. Ich habe auch darüber bereits vor Jahren geschrieben, aber die Automobilindustrie hat ein Zukunftsfähigkeitsproblem. Und der deutsche Mainstream kettet sich an sie. Aber ebenfalls nicht unwichtig scheint mir der Hinweis auf den selbstgefällligen Gestus der Interviewer. Ihnen geht es um selbstreferenzielle Bestätigung. Man wollte einen "Gotcha!"-Moment schaffen, in dem man demonstriert, wie doof Kühnert und wie unsagbar clever man selbst ist. Das ist ein Journalismus, der - in einer interessanten Parallele zum Auto - zunehmend nur noch durch Lobby-Druck in Brüssel überlebensfähig ist.

5) Should You Allow Laptops in Class? Here’s What the Latest Study Adds to That Debate The paper, “How Much Mightier Is the Pen Than the Keyboard for Note-Taking? A Replication and Extension of Mueller and Oppenheimer (2014),” was published this week in Educational Psychology Review. As the title suggests, the authors tried to replicate a well-known study that found that students who took notes by hand fared better on conceptual test questions than did those who typed notes on a laptop. Students who took notes on a laptop wrote more, and were more likely to write what a lecturer said verbatim, according to the original study. Perhaps, the authors of that study wrote, students taking notes on laptops did so “indiscriminately or by mindlessly transcribing content,” did not form a deep understanding of the material, and therefore did worse on the items that demanded such understanding. The original study was cited among several that led one professor to ban laptops in her classroom in a widely read and much-debated New York Times article. The new paper, in contrast, couldn’t completely replicate those findings. Instead, it found that students who took notes by hand fared a bit better on factual test questions, but not on conceptual ones. While both papers find some advantage for students who take notes by hand, the new study at least complicates the 2014 paper’s theory about why handwritten notes appeared to improve conceptual understanding in particular. So where does that leave us in the laptops-in-the-classroom debate? [...] If the advantage of handwritten notes comes primarily from encoding, Dunlosky explained, then writing by hand probably won’t benefit students taking a final at the end of a semester in the way it benefits those being tested 30 minutes after a lecture. [...] Context, Dunlosky and Oppenheimer agreed, matters. Students might benefit from typing their notes when a professor talks very quickly, Dunlosky said. They might have better results taking notes by hand in a course that uses a lot of figures or illustrations. (Beckie Supiano, Chronicle of Higher Eduction) Die Studie findet heraus, was eigentlich absoluter common sense sein sollte, es aber in Bildungsdebatten irgendwie selten ist: es hängt von Kontext und Zielen ab. Auch darüber habe ich schon an anderer Stelle geschrieben. Die Bewertung von Methoden und Lernzielen hängt an dem, was man erreichen will. Jedes Mittel, das man wählt, hat Vorteile und Nachteile. Manche Mittel haben deutlich mehr Nachteile als Vorteile, weswegen man sie nicht oder nicht mehr verwendet. Andere Mittel haben bestimmte Ziele sehr gut erreicht, aber unsere Ziele haben sich mittlerweile geändert. Frontalunterricht mit brutaler Disziplin war sehr gut, um Schüler zum auswändig Lernen vieler Inhalte zu bringen. Zum Verständnis oder gar eigenen Denken eignet er sich nicht sonderlich. Dasselbe gilt auch für alle digitalen Lernmittel. Handys, Tablets und Co sind für manche Lernziele hervorragend geeignet. Für andere dagegen gar nicht.

6) Tweet
Ja, es ist nur ein kleiner Verband der AfD und nicht die Bundespartei oder so was. Trotzdem sollte man sich klar machen, dass wir hier eine Partei haben, die zumindest signfikaten Teile hat, die die Errichtung von Konzentrationslagern fordern. Ob wir es mit Autoanzündern und Steineschmeißern im Schwarzen Block, Fallenstellern im Hambacher Forst oder eben Nazis in der AfD zu tun haben, es ist von größter Wichtigkeit, dass die Parteien und Organisationen im Umfeld zur emphatischen Distanzierung gezwungen werden. Die Grenzen müssen deutlich markiert werden. Dass die AfD nicht vom Verfassungsschutz überwacht wird, obwohl permanent solcher Mist aus ihrem gärigen Unterboden kommt, ist ein Skandal.

 7) KSK gedenkt der Wehrmacht
SoldatInnen der Bundeswehr-Eliteeinheit Kommando Spezialkräfte (KSK) haben in Tunesien den Soldaten des Afrikakorps der Wehrmacht gedacht. Der taz liegt ein Auszug aus dem Gästebuch des Soldatenfriedhofs Bordj Cedria bei Tunis vor. Darin haben sich am 15. April 2018 „15 deutsche Soldaten“ aus „88630 Pfullendorf“ eingetragen. Dazu schrieben sie: „In Gedenken an unsere Gefallenen des Afrika Korps“. In der Antwort auf eine Anfrage des Bundestagsabgeordneten Tobias Pflüger (Linke) bestätigt das Verteidigungsministerium, dass an besagtem Tag „ein Besuch von 15 Soldatinnen und Soldaten des Soldatenfriedhofs Bordj Cedria in Tunesien am 15. April 2018 stattfand“. Welcher Einheit die SoldatInnen angehören, will das Ministerium nicht öffentlich bekanntgeben. Die Antwort auf eine entsprechende Frage des Abgeordneten Pflüger stufte es als Verschlusssache ein. [...] Nach mehreren rechtsextremen Vorfällen im KSK hat der Militärische Abschirmdienst die Spezialeinheit besonders im Blick. Unter anderem lief auf einer Feier der Einheit rechtsextreme Musik. Ein Soldat zeigte dort den Hitlergruß. (Tobias Schulze/Christina Schmidt, taz)
Wieder ein Einzelfall. Wie die vielen, vielen, vielen anderen Einzelfälle auch, die beständig in der Bundeswehr bekannt werden, ist es natürlich auch diesesmal kein Hinweis auf ein systemisches Problem. Es ist aber genau das. Denn dass die Wehrmacht keine Traditionsfähigkeit für die Bundeswehr hat, scheint sich in der Bundeswehr immer noch nicht allzuweit herumgesprochen zu haben. Nach der furchtbaren Reaktion auf von der Leyens letzten Versuch, diesem Problem Herr zu werden, macht es allerdings sehr unwahrscheinlich, dass in die Richtung künftig etwas kommen wird. Es ist daher nicht zu erwarten, dass die Biotope von Rechtsextremisten in der Bundeswehr allzubald ausgetrocknet werden.

8) IWF-Chefin befeuert deutschen Streit über CO2-Steuer
Eine CO2-Steuer würde fossile Brennstoffe wie Benzin und Heizöl teurer machen und den Umstieg auf alternative Energieformen befördern. Allerdings könnte eine solche Abgabe bestimmte Personengruppen wie Berufspendler im ländlichen Raum finanziell stark belasten. Die Union ist daher auf Distanz zu den Plänen gegangen. Kramp-Karrenbauer sagte am Samstag in Halle (Saale), sie sei davon überzeugt, dass es intelligentere Methoden für mehr Klimaschutz gebe, als neue Steuern zu erheben. Hinter einer CO2-Steuer verberge sich nichts anderes als eine stärkere Belastung für Benzin, Diesel, Heizöl und Gas. „Deswegen ist die Frage, ob wir, weil wir zu faul sind zum Nachdenken, ob es bessere Methoden gibt, einfach mal insbesondere kleine Leute über Gebühr belasten.“ Aus der Opposition kommt ebenfalls Kritik: „Jeder Autofahrer zahlt bereits Mineralölsteuer plus Ökosteuer, dazu eine Kfz-Steuer, die am CO2-Ausstoß gemessen wird, diese wurde vor Kurzem entgegen allen Versprechen der großen Koalition erhöht“, sagte Oliver Luksic, der verkehrspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, im WELT-Gespräch. Dazu kämen Mehrwertsteuer, Versicherungsteuer sowie bald eine Pkw-Maut. „Der Erfindungsreichtum kennt scheinbar keine Grenzen.“ Allein auf nationaler Ebene wiederholt Steuern für Autofahrer zu erhöhen sei Etikettenschwindel. „Die einzige Lenkungswirkung ist, dass Mobilität zum Luxusgut wird und viele Bürger es sich nicht mehr leisten können, zur Arbeit zu fahren“, fürchtet Luksic. (Daniel Eckert, Die Welt)
Eine CO2-Steuer belastet "Benzin, Diesel Heizöl und Gas"? Ach was. Als nächstes erzählt AKK, dass die Mehrwertsteuer nur eine verdeckte Belastung auf die Schaffung von Mehrwert ist. Sachen gibt's. Beeindruckend ist aber vor allem das Sackgassendenken, das Äußerungen wie die von Luksic kennzeichnet. Mobilität werde zum Luxusgut, wenn man Benzin besteuert. Sicher, wenn der Privast-PkW mit Verbrennungsmotor die einzige Möglichkeit ist, Mobilität zu denken, dann ja. Das ist aber die babylonische Gefangenschaft der Deutschen zu ihrem Auto. Die ganze Idee hinter der CO2-Steuer ist ja, die fossilen Brennstoffe zu verteuern und damit unattraktiv zu machen und damit das Nachdenken über neue Mobilitätskonzepte anzuregen. Wir können gerne diskutieren, ob eine CO2-Steuer den besten Weg darstellt, das zu tun und diese selbstgesteckten Ziele erreichen kann (ich habe keine Ahnung). Aber das erklärte Ziel der CO2-Steuer zu nennen, als sei es ein Argument gegen sie, zeugt von einem völligen Sackgassendenken. Wo sind denn die alternativen Ideen über Mobilitätskonzepte, von denen CDU und FDP hier reden? Auf den Wahlplakaten der FDP steht groß "Ideen statt Verbote". Finde ich klasse. Wo sind die Ideen? Völlige Fehlanzeige. Es sind Nebelkerzen und Verschleppungsmechanismen, nicht mehr. Angesichts der immer dramatischer werdenden Lage um den Klimawandel ist das nichts, das wir uns leisten können.

9) Besessen von der falschen Null
Eigentlich war damals längst klar, dass Geld allein nicht "das entscheidende Element der Vorsorge für die Zukunft" sein konnte. Wie weite Teile seiner Generation verschloss Wolfgang Schäuble fest die Augen vor der anderen, ungleich größeren Herausforderung. Wie ein Student, der lieber die Wohnung putzt, statt für die entscheidende Prüfung zu lernen. In Schäubles Rede kam der Begriff "nachhaltiges Wachstum" gleich mehrfach vor. Er meinte damit aber etwas anderes als das, was man heute gemeinhin unter diesem Begriff versteht. Tatsächlich leben wir immer noch auf Pump. Nur steht in diesem Fall fest, dass der Kredit platzen wird. In einigen Jahrzehnten, wenn alle heutigen Spitzenpolitiker tot sind, wird man über Schäubles schwarze Null bittere Witze machen. Man wird sich fragen, warum damals, um das Jahr 2020, niemand ernsthaft die grüne Null angestrebt hat: eine wirklich ausgeglichene CO2-Bilanz. [...] Das - aus meiner Sicht überwindbare - Kernproblem ist, dass die alte politische Logik nicht mehr funktioniert in dieser Lage: Beim Thema Klimawandel ist Wettbewerbsfähigkeit die falsche Kategorie. Globale Probleme lassen sich nicht allein mit Wettbewerb lösen, sondern mit globaler Solidarität und Kooperation. [...] Die schlimmsten Übeltäter in Sachen CO2 sind, in dieser Reihenfolge, Kohleverstromung und die Verbrennung von Öl in allen Formen. Es ist daher müßig, sich ständig mit dem eigenen schlechten Gewissen angesichts des persönlichen CO2-Fußabdrucks zu beschäftigen: Solange die Energieversorgung als solche global nicht viel schneller auf erneuerbare Energien umgestellt wird - und das ginge! -, können wir Europäer vegan essen und auf Flugreisen verzichten, so viel wir wollen - es wird global kaum etwas ändern. Es müssen politische Lösungen her, keine individuellen.(Christian Stöcker, SpOn)
Wenig überraschend stimme ich Stöcker vollkommen zu. Wir brauchen ein wesentlich aggressiveres Framing bezüglich der Maßnahmen gegen den Klimawandel. Die Vorstellung, dass mit einigen homöopatischen Maßnahmen (da kennen sich die Grünen ja aus) dem Ganzen noch Herr geworden werden könnte, ist völlig absurd. Was meine ich mit aggressiverem Framing? Letztlich eine Orientierung an dem beständigen Alarmismus, der in Deutschland ebenso hysterisch wie hypermoralisierend mit dem erhobenen Zeigefinger über Staatsschulden oder moderate arbeitnehmerfreundliche Reformen gepflegt wird. Hier wird ständig in drastischsten Tönen der Untergang der Republik beschworen. Ein Zusammenhang zwischen der Größe des Gegenstands und der öffentlichen Erregung und Hysterie besteht nicht. Bürgerliche Liberale und Konservative kennen nur völlige Hysterie oder nichts. Aber das werfen sie ziemlich effektiv den handzahmen Klimaschützern vor. Es gibt wenig zu verlieren, einmal wirklich in diese Kerbe zu hauen.

 10) Is Biden Really the Most ‘Electable’ Democrat?
This would settle the question of Biden’s electability if the election were held today. But if he wins the nomination, he will face a scorched-earth effort against his campaign. And from Clinton’s experience, we know that his personal appeal may not survive the onslaught. Clinton’s unpopularity at the end of her campaign was a complete reversal from her standing at the start, when she, like Biden, was widely admired by the public. Large majorities held Clinton in high esteem while she was secretary of state — in 2012, 65 percent of Americans said they had a favorable view of her. She was so popular that at the nadir of Obama’s popularity, his aides considered replacing Biden with Clinton on the 2012 ticket. Clinton could even tout a connection with blue-collar whites, who powered her 2008 run for the Democratic nomination. This, of course, did not last. By November 2016, Clinton was the most unpopular nominee in history, next to Trump. But Trump, at least, was an outsider to American politics. And he used his disruptive presence to draw a clear contrast to Clinton, taking her experience and making it a burden. [...] There’s another possibility — that those blue-collar voters are gone. That their shift away from the Democratic Party, which began long before 2016, is permanent. And that Biden’s personal appeal isn’t enough to reverse it. Remember, if he wins the nomination, Biden will represent a coalition defined by its racial diversity and gender egalitarianism. If the backlash to those forces is driving the Trump movement, then the candidate who stands for them will face the same reactionary fury, regardless of how well he plays blue-collar identity politics. (Jamelle Bouie, New York Times)
Die Argumentation Bouies ist viel zu wenig beachtet. Ich habe auch schon immer wieder darauf hingewiesen, dass die ganzen Umfragewerte für die Präsidentschaft irrelevant sind, solange der Wahlkampf nicht begonnen hat. Hillary Clintons Umfragewerte vor Wahlkampf waren gigantisch. Bernie Sanders' Werte während der primaries waren immer sehr hoch, genau weil die Republicans ihn absichtlich nicht attackierten. Derselbe Effekt ist jetzt wieder zu beobachten. Die Parteien attackieren ihren jeweiligen Traumgegner nicht, um alle Munition für den eigentlichen Wahlkampf übrig zu halten und ihren Gegnern Probleme in den primaries zu machen. Die gleiche Strategie fuhren die Democrats 2015/16 auch: sie attackierten Trump wesentlich weniger als die anderen, um das Feld zu radikalisieren. Diese Strategie ging bekanntlich fehl. 2012 funktionierte sie hervorragend. Anzunehmen, dass Biden seine aktuellen Werte auch nur annähernd halten könnte, wäre völlig naiv. Er wäre für Trump der Traumgegner, weil er eine Neuauflage von 2020 wäre. Das heißt nicht, dass das auch einen automatischen Trump-Sieg bedeutete. Aber man muss sich eben klar machen, auf welche Strategie man eigentlich setzt. Das Argument, dass Biden ein guter Kandidat ist, weil er viel Erfahrung mitbringt, weil er zentrale Wähergruppen mobilisieren kann oder weil er den größten Cross-Over-Appeal hat sind alle ok (auch wenn ich widersprechen würde). Aber zu sagen, er ist beliebter als alle anderen und deswegen hat er die besten Chancen ist völlig beknackt.

11) What Biden and Trump Have In Common
The primary goal, the pundit herd argues, is to deny Trump a second term. The strongest argument in favor of Biden is potentially a winning one: His natural constituency is the same one that handed Trump the presidency. Biden spent the first days of his campaign in the Rust Belt, courting unions and white working-class voters. Trump, judging from his frenzied tweets, appears to believe he’s vulnerable. Additionally, Biden is reportedly shoring up his support from black politicians and voters. It would hardly be surprising if Biden ultimately wins most black primary voters, even with full knowledge of his record and even if he doubles down on appealing to white identity. Black voters, by necessity, are adept at voting for white men who practice white identity politics while signaling that they’ll protect black interests. (See the elections of Bill Clinton.) Biden’s store of trust and goodwill among the white working-class helped create the credibility Barack Obama needed. A President Biden could, if he chooses, use that capital to advance black interests. Only Nixon could go to China. Only Trump and the GOP could pass criminal-justice reform. Only Biden could, perhaps, restore the Voting Rights Act. This analysis may be the right one, but it’s also the saddest one. Trump’s politics are organized around the resentments of a provincial class of white voters. A growing mass of progressives wants to remove this constituency from the center of politics. No more negotiating around their interests and neuroses, no more having to rely on them to apologetically advance justice for others. Perhaps that day will come, but Trump is ultimately the bearer of the hard fact that the country is still in their hands. Biden as the Democratic nominee, and the president, is, in effect, a capitulation, a negotiation with Trump’s constituency and its interests. Pundits may be right that this is the surest way to defeat Trump. But what that says about America should bring no joy to anyone interested in a different future for the country. (Joshua Alvarez, Washington Monthly)
Ich denke die Analyse Alvarez' trifft ziemlich genau, wo mein Problem mit Biden liegt. Aber wie ich bereits in Fundstück 10) habe anklingen lassen sagt das nur etwas über meine Präferenzen, nicht über Bidens Chancen aus. Wir sind aber letztlich darauf angewiesen, anhand solcher Bauchgefühle und Präferenzen zu entscheiden und zu urteilen. Denn es gibt zwar ungefähr eine Bazillion von Artikeln, die diesem oder jenem Kandidaten die besten Chancen aus diesem oder jenem Grund zuzusprechen, aber es ist zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht absehbar, welches dieser Narrative- und nichts anderes sind die "Analysen" aktuell - am Ende sich bewahrheiten wird. Aber das ist grundsätzlich ja auch in Ordnung. Wählbarkeit und Umsetzungschancen sind Kategorien bei der Kandidatenauswahl, ja, aber Übereinstimmung mit den eigenen Wünschen und Identitäten spielt offenkundig auch eine entscheidende Rolle. Andernfalls hätte Trump auch nicht Präsident werden können - oder irgendjemand anderes.