Mittwoch, 23. Januar 2019

Romney bezieht mit Döpfner eine islamische Kommunalwohnung der Antifa - Vermischtes 23.01.2019

Die Serie "Vermischtes" stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Mitt Romney supports the status quo. But for everyone else, it's infuriating
Thirty years ago, conservatives looked at Detroit or Newark and many other places and were horrified by what they saw. Conventional families had all but disappeared in poor neighborhoods. The majority of children were born out of wedlock. Single mothers were the rule. Crime and drugs and disorder became universal. What caused this nightmare? Liberals didn’t even want to acknowledge the question. They were benefiting from the disaster, in the form of reliable votes. Conservatives, though, had a ready explanation for inner-city dysfunction and it made sense: big government … There was truth in this. But it wasn’t the whole story. How do we know? Because virtually the same thing has happened decades later to an entirely different population. In many ways, rural America now looks a lot like Detroit. … Here’s a big part of the answer: male wages declined. Manufacturing, a male-dominated industry, all but disappeared over the course of a generation. All that remained in many places were the schools and the hospitals, both traditional employers of women. In many places, women suddenly made more than men. Now, before you applaud this as a victory for feminism, consider the effects. Study after study has shown that when men make less than women, women generally don’t want to marry them. Maybe they should want to marry them, but they don’t. Over big populations, this causes a drop in marriage, a spike in out-of-wedlock births, and all the familiar disasters that inevitably follow — more drug and alcohol abuse, higher incarceration rates, fewer families formed in the next generation. (Tucker Carlson, FOX News)
Diese Rede von Tucker Carlson wurde in letzter Zeit viel debattiert. Für mein Gefühl ist es dieses periodische Auftauchen des Populismus-Aspekts von Trump. Es ist diese Botschaft, die ihm die berühmten Arbeiterstimmen im Mittleren Westen (mit) eingebracht hat. Gegen Freihandelsabkommen, irgendwie für bessere Arbeitsplätze, Erhalt oder Wiederherstellung der alten Facharbeiterherrlichkeit. Diese ganze Botschaft beißt sich nur mit der tief in der DNA der Partei verwurzelten Interessenvertretung der oberen 0,1%, weswegen diese Anwandlungen (bisher) immer nur Episode blieben. Das gilt übrigens für die Democrats ebenso; auch die entdecken gelegentlich ihre populistische Ader (prominent etwa im Wahlkampf 2012 oder jetzt gerade wieder), aber sie halten die Botschaft nicht wirklich durch. Ich bin auch nicht überzeugt davon, dass das bei den Republicans jetzt großartig anders sein wird. Nicht nur sind die meisten Abgeordneten an dieser Art des ökonomischen Populismus kaum interessiert, so dass er nur ein von außen eingespieltes, fremdes Element bleibt. Trump ist auch schlicht keine besonders gute Figur für diese Art von Populismus. Er hat ihn zwar gelegentlich raus (und macht dabei eine gute Figur), aber er hat nicht die Disziplin, um ihn zum Kern zu machen (wie etwa Bernie Sanders das tut). Selbst diejenigen, die das von außen eingeben - wie Tucker Carlson - haben andere Motive. Und das ist das für mich herausstechendste an dem obigen Zitat. Die direkte Verknüpfung dieses ökonomischen Populismus mit rechten identity politics ist das, was seine Chancen nimmt. Für Carlson ist, nicht zu Unrecht, diese Art von Ökonomie direkt mit Männlichkeitsvorstellungen verbunden. Es geht nicht (nur) darum, dass wieder gut bezahlte, sichere Jobs in der Verarbeitung entstehen. Es geht darum, dass der "a man provides for his family"-Lebensstil wieder entsteht. Deswegen sind diese Vorstellungen auch mit dem verarbeitenden Sektor verbunden: Hier arbeiten echte Männer, die man sich etwas verdreckt im Overall vorstellen muss. Ehrliche Arbeit für ehrlichen Lohn. Und die kommen dann nach Hause, wo Ehefrau und Kinder warten. Dieser ökonomische Populismus ist zutiefst mit traditionellen Gendervorstellungen verknüpft. Und das spielt auch eine Rolle dafür, dass diese Art von Populismus heimatlos ist. Denn dasselbe Problem hat ja Bernie Sanders auch. In der GOP ist diese Politik vor allem deswegen heimatlos, weil sie gegen die Interessen aller mächtigen Player in der Partei läuft. Niemals wird es eine Kongressmehrheit für diesen Kram geben; es ist ja kein Zufall, dass Trump nicht einmal versucht hat, seinen Wahlkampfschlager vom großen Infrastrukturprogramm einzubringen. Aber bei den Democrats läuft diese Idee völlig gegen die mittlerweile vorherrschenden neulinken Strömungen. Die Sprache dieses ökonomischen Populismus hat historisch die Schwarzen, Frauen und Latinos immer ausgeschlossen. Das mag zwar für ihre heutigen Proponenten nicht mehr gelten, erklärt aber, warum er für sie deutlich weniger attraktiv ist  - und die Wand, gegen die Bernie 2016 gelaufen ist, wie auch die demographischen Linien, die die Unterstüzer von Hillary und Bernie trennten, sowohl hinsichtlich Ethnie und Geschlecht als auch Alter. Deswegen denke ich, dass diese Art des ökonomischen Populismus zwar für ein großes Segment der US-Bevölkerung attraktiv bleibt, das über beide Parteien verteilt ist und völlig konträr zu den aktuellen ideologischen Trennlinien läuft - und dass gerade diese politische Heimatlosigkeit ihn dazu verdammt, ein Außenseiterdasein zu spielen. Zumindest, bis einem Kandidaten die Synthese gelingt. Und ich denke, der erste, der das schafft, hat eine neue Mehrheit in der amerikanischen Politik.

2) The five key constituencies of the 2020 Democratic primary
Over the long course of the Republican presidential nomination process in 2015 and 2016, we frequently featured a diagram called “The Republicans’ Five-Ring Circus.” The chart was based on the idea that the GOP essentially consisted of five different constituencies: the establishment wing, the moderate wing, the tea party, libertarians and Christian conservatives. Each presidential candidate’s goal was to dominate his or her constituency or “lane” (for example, Rand Paul would have been looking to win libertarians, or Jeb Bush to win establishment voters), and then unify with the other constituencies to claim the Republican nomination. Except it didn’t exactly work out that way. Donald Trump, a candidate who didn’t fit neatly into any of the lanes, won instead. In retrospect, President Trump had a fair amount in common with the tea party movement — we sometimes placed him there in the chart, and sometimes put him outside of the five circles entirely. But he was really running as more of a mix of a tea party populist on issues such as immigration1 and a Northeastern moderate on economic policy. (In Pennsylvania, for instance, Trump did just as well with self-described moderate voters as with conservatives.) Problematically, our five-ring circus chart didn’t even consider the possibility of candidate who overlapped between the moderate wing and the tea party wings of the GOP. Trump also won over a significant number of evangelical voters, even though he had not exactly abided by a “family values” lifestyle, nor did he make a particular priority of issues such as abortion. So for the 2020 Democratic nomination, we’ve resolved to entertain multiple hypotheses about the contest simultaneously. Perhaps the party will decide, and so we should be looking at how much support each candidate has from party elites. Perhaps the candidate most dissimilar to Trump will win, and so we should be evaluating the candidates based on that criteria. Perhaps the primary is just so hard to forecast that you might as well look at the polling, crude as it might be. (It has more predictive power than you might think.) (Nate Silver, 538)
Dieser Artikel ist letztlich eine direkte Fortsetzung meiner Gedanken zu Fundstück 1). 538 stellt hier ein interessantes Modell vor, das im Auge zu behalten sich lohnt, um die demokratischen primaries zu analysieren. Mit dem offiziellen Start der Wahlsaison wird die Berichterstattung zu diesen Themen hier auf DD sicherlich wieder an Prominenz gewinnen, das nur gleich als Ankündigung/Warnung. ;) Trump als Kandidaten kennen wir mittlerweile und können wir einschätzen. Wer ihn 2020 herausfordern wird, wird allerdings viel davon bestimmen, welche Themen den Wahlkampf dominieren. Es ist noch zu früh für irgendwelche Vorhersagen. Was wir aktuell sehen sind erste Versuche der Kandidaten, diese Themen zu bestimmen. Ob sie damit erfolgreich sind, bestimmt zu einem großen Teil, ob sie eine Chance haben (abgesehen von ihrer Kandidatenpersönlichkeit). Bis dahin sei die obige Matrix empfohlen, um die Kandidaten einzuordnen versuchen.

3) Als Kulturgut nicht ernstgenommen
Das liegt nicht daran, dass es in der Szene keinen Widerstand gäbe. Den gibt es. Es liegt eher daran, dass die gesellschaftlichen Mechanismen, die in einem solchen Fall für Aufmerksamkeit und eine öffentliche Diskussion sorgen würden, nicht zu greifen scheinen. In vielen Punkten ist die Gamerszene nicht sehr reif. Sie verlässt sich auf eine Art gesellschaftlichen Welpenschutz, unter dem aber inzwischen nicht mehr jugendlicher Leichtsinn toleriert wird, sondern so ziemlich alles, von sinnloser Splatter-Gewalt bis zu offenem Hass. Wenn die Menschen hinter den Spielen stärker in den Vordergrund träten, würde sich das natürlich nicht sofort ändern. Aber es wäre ein wichtiger Schritt, Spiele als Kulturgut ernster zu nehmen und es würde auch den Entwicklern helfen, ihre gesellschaftliche Rolle ernster zu nehmen: Sie sollten an Debatten teilnehmen und sie sollten in den Medien präsenter werden, um, wie andere Künstler auch, ihre Werke zu diskutieren. Sie sollten den Entwicklerstudios ein Gesicht geben und für ihre Spiele einstehen und sich nicht hinter einem Firmenlogo verstecken. Wenn ein Chefentwickler oder ein Team dafür bekannt ist, ein Spiel entwickelt zu haben, werden sie Sexismus und Fremdenhass auf ihrer Plattform mit Sicherheit anders begegnen, als wenn diese scheinbar nur von einem anonymen Unternehmen betrieben wird. Und es würde den Spieleentwicklern erlauben, anderen Künstlern wie Filmemachern und Schriftstellern auf Augenhöhe zu begegnen. Es wäre ein wichtiger Schritt für das Medium auf dem Weg zum Erwachsenwerden. (Nicolas Freund, SZ)
Die obigen Punkte sind sicherlich richtig. So viel die Gamer-Community sich auch darüber beschwert, nicht wirklich ernstgenommen werden, so sehr muss man auch sagen, dass sie nicht gerade ihren Teil dafür erbringen. Sowohl Programmierer als auch Spieler ziehen sich oft aus jeglicher Kritik heraus, indem sie sich auf die "es ist nur ein Spiel"-Linie zurückziehen, aber gleichzeitig beschweren sie sich dann, wenn ihr geliebtes Medium als bedeutungslos und kindisch abgetan wird. Wenn man gerne Kunst sein will und als Kunst anerkannt werden, dann muss man auch die Kritik aushalten. Der andere Punkt aus obigem Artikel ist die Identität der Spielemacher. Ich finde die Forderung nach höherer Sichtbarkeit der Verantwortlichen zwar nachvollziehbar, aber gleichzeitig schwierig umsetzbar. Für die Games sind hunderte von Leuten verantwortlich. Wer ist da die entscheidende Figur? Bei Filmen gibt es ja bereits diese wenig hilfreiche Konzentration auf den Regisseur. Aber wer soll eine solch hervorgehobene Rolle bei Spielen übernehmen? Mein Gefühl ist, dass hier keine so klare künsterlische Entscheidungsfigur wie der Regisseur existiert. Um mir gleich selbst zu widersprechen könnte das natürlich ein Henne-Ei-Problem sein. Es gibt ja eine ganze Reihe von Filmproduktionen, die nach Schema F einfach nur ein wenig Geld in die Kassen spülen sollen und künstlerisch irrelevant sind, während andere - gerade von prominenten Regisseuren - von Anfang an mit einer gewissen künstlerischen Intention gemacht werden. Es kann also durchaus sein, dass die grausige Storykultur der Spielebranche ins Wanken gebracht werden könnte, wenn ein prominenter Creative Director das Projekt leitet und entsprechend ein Budget bekommt. In den aktuellen Branchenstrukturen scheint das aber nicht wirklich möglich.

4) Interview mit Matthias Döpfner
Frage: Sind Sie in den Sozialen Medien unterwegs? Döpfner: Nein, das kostet zu viel Zeit, produziert zu viel negative Energie und zu wenig Erkenntnis. Frage: Da widersprechen Sie vielen Journalismus-Strategen, die sagen, dass man als Medienmanager drin sein müsse. Döpfner: Journalisten müssen natürlich Soziale Medien als Informationsquelle und Rechercheinstrument benutzen. Aber die eigene Präsenz von Journalisten in sozialen Medien erscheint mir zunehmend problematisch. Die Idee, dass der Vertreter einer Medienmarke rein privat twittern oder auf Facebook posten kann, ist absurd. Kein Mensch kann das unterscheiden. Ein Chefredakteur oder Redakteur ist dort keine private Person. Deshalb wird viel zu schnell geschrieben, was am Ende der Marke abträglich ist. Am Ende dienen diese Aktivitäten allenfalls der Person, sehr selten dem von ihr vertretenen Medium. Ich empfehle allergrößte Zurückhaltung, wenn nicht gar vollkommene Enthaltsamkeit. Außerdem haben Journalisten doch eine gute Plattform, um sich auszudrücken. Ihr Medium. Warum sollten sie Ihr wertvollstes Gut – ihre Erkenntnisse und Gedanken, ihre Inhalte – verschenken, um Twitter zu Exklusivnachrichten oder Kurzkommentaren zu verhelfen? Frage: Die Leidenschaftlichkeit verführt manchmal zu diesem schnellen Schreiben ... Döpfner: Verkürzung, Emotionalisierung kann dann, hektisch zwischendurch geschrieben und gesendet, komplexe Sachverhalte verzerren. Frage: Da müssen wir Sie dann als Springer-Chef fragen: Gerade die „Bild“-Zeitung hat die Verkürzung zu ihrem Markenzeichen erhoben. „Wir sind Papst“ oder „Der Mond ist jetzt ein Ami“ ... Döpfner: Solche Überschriften sind eine Kunstform. Daran wird oft Stunden hart gearbeitet. Wer etwas zu sagen hat, braucht keine langen Sätze. Das ist das Stilmittel des von mir so bewunderten Boulevard-Journalismus. Ich finde es geschickter, wenn Journalisten ihre Kreativität für die kürzeste, originellste und treffendste Schlagzeile für ihre eigenen Plattformen nutzen und nicht mit ihren Tweets als Gratis-Dienstleister die Reichweite der Sozialen Medien steigern. (Welt)
Einmal abgesehen von der echt langweilig-konventionellen Medienkritik, die Döpfner hier abzieht und die von einem gewissen Unverständnis der Sozialen Medien zeugt, finde ich vor allem seine Ablehnung der "Journalisten als Marke" spannend. Denn er hat ja durchaus handfeste Gründe jenseits der Journalismus-Ethik, warum er das ablehnt. Konkret: Journalisten, die ihre eigene Marke sind (wie es in den USA schon lange Usus ist, man denke nur an Ezra Klein, Jamelle Bouie und andere), sind im Wesentlichen unabhängig von der Zeitung, für die gerade arbeiten. Ihre Artikel erscheinen gerade bei Medium XY, aber sie können genausogut woanders arbeiten - und dann hat diese Zeitung ihre Artikel. Döpfner will, dass die Journalisten hinter der Marke verschwinden. Jeder BILD-Journalist ist austauschbar. Das ist besser für die Marke, keine Frage, und für den Gewinn sowieso, weil man die Leute dann schlechter bezahlen kann. Aber das ist Herausgeber-Interesse, nicht Journalisteninteresse, und man tut gut daran, diese beiden Dimensionen zu trennen.

 5) Rechte bedrohen erneut Frankfurter Anwältin
Seitdem ist Seda Başay-Yıldız, 42, nicht mehr nur ein Organ der Rechtspflege, sondern ein Anschlagsziel. Und der Staat, der sie schützen soll, offensichtlich hilflos. Das erste Fax kam im August. Der Absender drohte Başay-Yıldız, ihre kleine Tochter zu "schlachten". Er nannte den Namen der Zweijährigen und auch die Wohnadresse der Familie. Der Brief war mit NSU 2.0 unterzeichnet. Bei der Suche nach dem Urheber stieß die Polizei auf fünf Frankfurter Polizisten, die sich in einem Chat Hakenkreuze und Hitlerbilder schickten. Die Ermittler fanden heraus, dass in der Polizeiwache - ohne nachvollziehbaren Grund - die Daten von Seda Başay-Yıldız abgefragt worden waren. Nun ist wieder ein Fax bei Başay-Yıldız angekommen - obwohl die Polizisten aus der Frankfurter Wache vom Dienst suspendiert sind. Und dieser Brief stützt sich wieder auf interne Daten aus dem Polizeicomputer. Er nennt den Namen von Başay-Yıldız' Vater, ihrer Mutter, ihres Mannes, ihrer Tochter - aller Menschen, die unter ihrer Adresse gemeldet sind. "So etwas kann man nicht über die sozialen Netzwerke herausfinden", sagt Başay-Yıldız. "Und mein Vater ist 79, der ist nicht auf Facebook oder sonstwo aktiv." Alles deutet abermals darauf hin, dass der Täter Zugang zu Polizeidaten hat. Sein Brief bezieht sich klar auf die Suspendierung der Frankfurter Polizisten. "Dir hirntoten Scheißdöner ist offensichtlich nicht bewusst, was du unseren Polizeikollegen angetan hast! Allerdings kommt es jetzt richtig dicke für dich, du Türkensau! Deiner Scheiß (Name der Tochter) reißen wir den Kopf ab ... und der Rest eurer Dönercrew wird ebenfalls kompetent betreut werden." Wieder steht am Ende: NSU 2.0. (Anette Ramelsberger, Süddeutsche Zeitung)
Ich habe letzthin sehr viel Gegenwind für die Aussage bekommen, dass Rechtsextremismus ein besonders großes Problem bei Polizei und Bundeswehr ist. Hier haben wir wieder einmal ein Beispiel dafür, warum das nicht so ist. Es ist auch schlicht offenkundig. Logisch haben diese Berufsgruppen eine besondere Anziehungskraft auf Leute, die an Ordnung, Macht und Durchsetzung mit Gewalt glauben. Genauso wie Journalismus und Bildung eher Leute anziehen, die daran glauben, dass man die Gesellschaft verändern kann. Deswegen ist es auch notwendig, dass diesen Strömungen besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Wenn rechtsextreme Gewalt und Drohungen direkt von der Polizei ausgehen und die Täter offensichtlich Rückgriff auf den Polizeicomputer nehmen, dann ist das ein essenzielles Problem, genauso wie wenn ein Linksextremist Politik an der Schule unterrichtet (wie ja auch in Hessen schon Thema gewesen). Warum muss man das überhaupt kontrovers diskutieren? Diese Leute sitzen an einer ungeheuer sensiblen Schaltstelle, an der absolute Zweifel- und Tadellosigkeit Bedingung der Berufsausübung sein muss. Das sollte eigentlich selbstverständlich sein. Siehe auch Fundstück 10)

6) Want to Cultivate a Liberal European Islam? Look to Bosnia.
Today, the history and practice of Bosnian Islam yield a number of noteworthy lessons for those seeking to cultivate a liberal Islam in Europe. One is that an institutionalized, centralized form of Islam can be highly successful, as seen in the case of the Islamic Community. [...] The Islamic Community cites the “requirements of time” (in the words of Bosnia’s top Islamic legal scholar) as one of the principles animating its religious interpretations: Islamic thought can and should offer Muslims answers on how to practice Islam here and now. The result is that “the institutions are given an element of flexibility, while maintaining Islam’s timelessness.” The same institution today asserts its credibility to “serve as a constructive partner for other Muslim communities and EU institutions.” [...] Second, forced secularization—including bans on wearing face veils—can be counterproductive. As the testimonies of Muslim women from Yugoslavia revealed, such restrictions can produce deeply negative consequences, including insults and attacks against veiled women. Instead, Muslims’ own questioning of the religious foundations of the face veil can yield progressive interpretations that feel authentic because they’re coming from within the community. [...] Finally, Islamic modernism, born in the 19th century as an effort to reinterpret Islam with a liberal spirit, is not as ineffective as some pessimistic commentators on Islam believe. In today’s Bosnia, Islam is internally diverse: Many Muslims see it as part of their cultural heritage, while others emphasize the importance of daily religious rituals. (Riada Asimovic Akyol, The Atlantic)
Ich bin kein Experte für Bosnien, deswegen nehme ich diese Beschreibung für bare Münze. Falls jemand abweichende Informationen hat, gerne in die Kommentare. Ich finde allerdings die Lektionen, die in dem Artikel genannt werden, auch unabhängig von der Landesfolklore interessant, vor allem was den zeitlichen Aspekt und die Frage der Mitarbeit der Muslime selbst betrifft.
Zeitlich gesehen zeigt das bosnische Beispiel, dass eine erfolgreiche Integration nur über einen Zeitraum von Jahrzehnten gemessen werden kann. Das ist eigentlich, wenn man sich Migrationsgeschichte ansieht, eine Selbstverständlichkeit. Gerade im Einwanderungsland USA kann man sehr gut sehen, wie lange es immer gedauert hat, bis die jeweils letzte Einwanderergeneration integriert war, und häufig brauchte es dazu eine neue, von der sie sich abgrenzen konnten.
Personell gesehen zeigt Bosnien aber auch, dass Integration überhaupt nur möglich ist, wenn die kulturellen Führungsfiguren der jeweiligen Community das wollen. Die islamischen Führungspersonen erklärten die Loyalität und Integration in den Staat für akzeptabel und mit der Religion vereinbar. Das fehlt uns in Europa, unter anderem auch, weil es solche Führungsfiguren nicht gibt. Die bisherigen Versuche, einen Euro-Islam zu etablieren, etwa über den Zentralrat der Muslime oder ähnliche Maßnahmen, waren ja eher halbherzig und wenig erfolgreich.

On January 4, the day after Rep. Rashida Tlaib (D-MI) referred to President Donald Trump by saying “Impeach the motherfucker” during a reception with supporters, cable news outlets (CNN, Fox News, and MSNBC) spent over two and a half hours discussing the topic. In comparison, in the roughly 24 hours following the publication of Rep. Steve King's (R-IA) comments in The New York Times that showed him embracing white supremacy, cable news devoted just under 30 minutes of coverage to the congressman’s racism. The discrepancy was the most glaring on Fox News, which devoted 52 minutes of coverage to Tlaib’s cursing and just 42 seconds to King’s comments about white supremacy. That’s over 74 times more coverage of Tlaib. Fox’s sole segment about King was framed as “Republican Congressman Steve King is fighting back against a New York Times article.” CNN’s and MSNBC’s coverage was also skewed, though not nearly as much. CNN covered Tlaib’s comments for nearly an hour and five minutes while covering King’s comments for just about 15 minutes. MSNBC covered Tlaib cursing for the least amount of time, nearly 38 minutes, and covered King’s embrace of white supremacy for just over 14 minutes. It isn't just the amount of coverage that shows a clear difference in how these stories were covered. The day after Tlaib cursed, congressional Democrats appearing on cable news were consistently asked for their response to her comment. While some Republicans have issued condemnations of King, cable news doesn’t have the same urgency in asking elected Republicans to respond to King’s comments. The imbalance in coverage between these stories raises serious questions about just what stories cable news considers newsworthy and whether there’s a double standard in coverage of Democrats versus Republicans. (Lis Power/Rob Savillo/Stephen Morris, Media Matters)
Ich würde gerne sagen, dass dieses mediale Ungleichgewicht ein spezifisch amerikanisches Problem wäre, aber leider nicht. Der Verstoß Tlaibs gegen existierende Normen durch ihr Fluchen ("motherfucker") verurteilt sich wesentlich leichter als der offene Rassismus Kings, schlichtweg deswegen, weil offener Rassismus inzwischen eine parteiische Größe ist: dadurch, dass die GOP eine offen rassistische Partei ist, ist Kritik an solchem Rassismus immer gleichzeitig parteiisch. Die Norm gegen öffentliches Fluchen dagegen ist überparteilich und lässt sich deswegen viel leichter öffentlich angreifen, ohne dass man deswegen gleich von Kritik der jeweiligen Parteigänger überschüttet wird. Diese Anreizsituation existiert auch in Deutschland, und sie ist extrem schädlich für die Demokratie. Auf diese Art finden die Empörungswellen über irgendwelchen irrelevanten Blödsinn statt, über den sich aber alle "sicher" empören können ohne irgendwem auf die Füße zu treten, anstatt über die echten Probleme zu reden, bei denen man mit ernsthaftem und teils schmerzhaftem Gegenwind rechnen und sich ihm stellen muss. Es ist Feigheit vor dem Feind.

8) Tweet
Ich lass das mal hier liegen für die "ach, das spielt alles keine Rolle, du übertreibst total"-Leute. Die Korrelation ist viel zu stark, als dass das keine Rolle spielen würde. Wir können gerne darüber diskutieren, wie groß der Effekt von Sexismus ist. Aber darüber, dass er existiert und eine Rolle spielt, besteht keinerlei Zweifel. 9) Berliner Senat steht hinter Rückkauf von Wohnungen
Die Ankündigung des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller (SPD), dem Immobilienkonzern Deutsche Wohnen große Wohnungsbestände abkaufen zu wollen, stößt koalitionsintern auf positive Resonanz. Mit dieser Idee könne man arbeiten, hört man in den Regierungsparteien SPD, Linke und Grüne. Auch die Finanzpolitiker der Koalition haben keine grundsätzlichen Bedenken gegen ein solches Projekt. Es geht, wenn man Müller beim Wort nimmt, um 51.000 ehemals landeseigene Mietwohnungen, die 2004 für 405 Millionen Euro an US-Fondsgesellschaften verkauft wurden – und seit November 2013 der Deutsche Wohnen gehören. Eine Aktiengesellschaft, die in Berlin fast 115.000 Wohnungen besitzt und einen Börsenwert von fast 17 Milliarden Dollar hat. Die rot-rot-grünen Haushalts- und Bauexperten räumen ein, dass auch eine teilweise Rekommunalisierung der Deutsche Wohnen ein Milliardenprojekt wäre, dass nur in mehreren Tranchen, gestreckt über viele Jahre, machbar ist. (Ulrich Zawatka-Gerrlach, Tagesspiegel)
Thilo Sarrazin, Meister des nachhaltigen Wirtschaftens und der pragmatischen Finanzpolitik, hat diese Wohnungen, die man nun für mehrere Milliarden zurückkaufen will, 2004 für 7941 Euro das Stück verramscht. Knapp 8000 Euro pro Stück. Jetzt muss Berlin Milliarden ausgeben, nur um den Status Quo wiederzubekommen. Das ist natürlich kein Problem, weil der gleiche Thilo Sarrazin die Stadtfinanzen ja in brillantem Zustand hinterlassen hat. /Ironie Diese Episode ist exemplarisch für den Privatisierungswahn der 2000er Jahre. Aus rein ideologischer Motivation wurde damals das Tafelsilber effektiv verschenkt. Sarrazin hat 204 Millionen gemacht. Hat das den Berliner Staatshaushalt irgendwie besser gemacht? Ist die Situation durch diesen Verkauf besser? Gibt es irgendeinen Menschen, dessen Leben durch diesen Verkauf besser ist? Das gleiche gilt für zahlreiche andere Maßnahmen damals auch. Damals wurden Milliarden verschwendet, in deutlich schlimmerem Ausmaß als viele der "Steuerverschwendungen", die der Bund der Steuerzahler so gerne anprangert. Das Ganze beruhte immer auf der ideologischen Prämisse, dass man die Staatsquote senken müsse, auf Teufel komm raus. Dabei waren die Schleuderpreise Ausdruck des Unvermögens, mit dem Kram auf dem freien Markt bestehen zu können. Sonst hätte man ja viel höhere Preise verlangen können. Wenig überraschend lassen sich die sozialen Leistungen dann nicht aufrecht erhalten. Oft genug kommt das die Steuerzahler teurer als wenn der Kram einfach beim Staat als Zuschussgeschäft verbleibt. Die Hoffnung wäre, dass künftige Maßnahmen dieser Art eine vernünftige Kosten-Nutzen-Rechnung bekommen, so dass man da privatisieren kann, wo es sinnvoll ist - und es da bleiben lässt, wo es nur ein Zuschussgeschäft ist.

 10) Interview mit Seda Başay-Yildiz
Sie fühlen sich in einen Topf geworfen mit Islamisten? Die Drohung gegen mich ist nicht nur ein Angriff auf mich, sondern ein Angriff auf den Rechtsstaat. Populistische Äußerungen, vor allem von Innenminister Horst Seehofer, aber auch von Alexander Dobrindt, der Rechtsanwälten eine "Anti-Abschiebe-Industrie" vorwarf, tragen dazu bei, das Klima aufzuheizen. Da werden wir Anwälte, Organe der Rechtspflege, plötzlich zu Feinden. [...] Die Polizei sagt mir, dass ich eine öffentliche Person bin und deswegen immer ein gewisses Risiko besteht. Aber man sieht das Risiko nicht als sehr groß an. Gleichzeitig bieten mir die Polizisten an, dass ich einen Waffenschein haben kann, um mich zu schützen.  Vergangene Woche kam heraus, dass auch ein anderer Polizist aus Hessen interne Informationen herausgegeben hat, diesmal an eine Frau aus der rechtsradikalen Szene, die derzeit in Halle wegen eines gewaltsamen Angriffs am 1. Mai 2017 vor Gericht steht. Haben Sie noch Vertrauen in die Polizei? Der Vertrauensverlust hat schon seit der Selbstenttarnung des NSU eingesetzt. Es wurden da so viele, bis dahin unvorstellbare Fehler gemacht. Nun heißt es wieder, diese verschiedenen Vorfälle hingen nicht miteinander zusammen, das seien Einzelfälle. Aber was wissen wir schon von der Dunkelziffer, von den Fällen, in denen interne Daten weitergegeben werden, und die nicht auffliegen? Von Einzelfällen kann man nicht mehr sprechen. Was erwarten Sie von der Polizei? Die Polizei ist eine wichtige Säule unserer Gesellschaft. Sie muss alle Bürger schützen, ohne Rücksicht auf Herkunft, Religion oder Geschlecht. Viele Polizisten machen einen aufrechten Job. Umso wichtiger ist es, rechtsradikale Tendenzen im Auge zu behalten und diese Leute ohne Wenn und Aber aus dem Dienst zu entfernen. Wenn nach solchen Drohungen und rechtsradikalen verfassungswidrigen Äußerungen nur Disziplinarstrafen verhängt werden und einer dann weiter Dienst als Polizist tun kann - das wäre für mich und auch andere nicht mehr nachvollziehbar. Hier muss man mit aller Härte durchgreifen.
Passend zu Fundstück 5) hier noch dieses Interview. Ich lasse das mal unkommentiert stehen.

11) Danke, Antifa
Das staatliche Gewaltmonopol hat Kamal K. damals nicht geholfen. Und wer angesichts der zahlreichen Gewaltaufrufe der AfD und anderer rechter Gruppen nur mit „Keine Gewalt“ und Justizgrundsätzen reagiert, verkennt, dass sich der Mörder von Kamal K. nicht um solche Grundsätze scherte und diese Gewalt gegen Menschen sehr wohl existiert. „Keine Gewalt“ ist angesichts der Tatsache, dass zahlreiche Menschen heute in Deutschland Gewalt ideologisch befürworten und sie auch ausführen, eine naive Parole. [...] Die Polizei hat es damals nicht geschafft, auf irgendeine Weise für unsere Sicherheit zu sorgen. Ganz anders die Leipziger Antifa-Szene: Eine 300-­Menschen-Demo stellte sich vor unser Haus und rief die alte Parole „Alerta, alerta, antifascista“ in den Stadtteil. In ­unserem Hausflur hielten nachts schwarz gekleidete Männer mit Schlagstöcken Wache, und ich konnte schlafen. [...] Was wäre geschehen, wenn er täglich nach seiner Knastentlassung von einer Antifa-Sportgruppe aufgesucht worden wäre? Wäre Kamal K. dann noch am Leben? Wäre es das wert gewesen, sein Leben gegen Marcus E.’s körperliche Unversehrtheit zu tauschen? Und kann Nothilfe präemptiv sein? (Lalon Sander, taz)
Das ist genau die Idiotie, die ich auf der Linken so hasse. Klar haben wir das hier in den Fundstücken beschrieben Problem, dass die Polizei auf dem rechten Auge blind ist. Aber die Lösung kann doch nicht darin bestehen, eine eigene Stadtguerilla aufzubauen, die für Sicherheit sorgt und effektiv rechtsfreie Räume zu schaffen. Wir würden das ja auch für andere Gruppen nicht akzeptieren. Mit der gleichen Begründung könnten irgendwelche Nazis in Berlin ihre eigene Schlägertruppe begründen, die für Sicherheit gegenüber dem Schwarzen Block sorgt. Oder eine islamistische Schlägertruppe, die den eigenen Bezirk absichert. Inhärent in diesen Ideen ist immer, dass die eigene Seite "die Guten" sind und es deswegen kein Problem ist, ihr Sonderrechte zu geben (in dem Fall präventive oder defensive Gewaltausübung). Aber das ist Quatsch. Und es ist in höchstem Maß gefährlich. Dass die taz diesem Blödsinn hier wohlwollend Raum gibt, spricht nicht gerade für sie.

Dienstag, 15. Januar 2019

Ungleichheit am Grünen Tisch


Die Diskussion hier im Blog hat immer wieder die Frage der Ungleichheit aufs Tablett gebracht, und wir diskutieren immer wieder Phänomene und Policies, die sich mit ihr beschäftigen. Ich möchte daher in diesem Artikel den Versuch unternehmen, eine vereinte Debatte zu führen, indem ich einige Policy-Ideen vorstelle, deren Ziel es ist, Ungleichheit zu reduzieren. Mein Ziel ist es dabei solche Policies zu identifizieren, die tatsächlich - anders als viele sozialstaatliche Maßnahmen - nur oder fast nur den unteren Schichten zugute kommen, und dabei die Frage der politischen Machbarkeit hintenanzustellen. Das Ziel der Policies ist es, die Ungleichheit zu reduzieren und hilfreiche Sekundäreffekte für die Unterschicht zu haben. Die Sammlung dieser Policies ist nicht zu verstehen als kohärentes Programm, sondern als Ideensteinbruch und Diskussionsgrundlage. Manches mag sich widersprechen oder diverse Nachteile haben, die es dann in der Diskussion zu untersuchen gilt. Wer meint, ein eigenes Konzept vorstellen zu wollen oder eine größere Entgegnung schreiben zu wollen, kann mir gerne Bescheid geben, dass das als Blogbeitrag eingestellt wird. Ich werde meine Vorschläge thematisch untergliedern, aber das soll vor allem der Übersicht dienen, auch um in den Kommentaren Bezug zu nehmen. Damit genug der Vorrede, los geht's!

Samstag, 12. Januar 2019

Warum Hillary verlor, Teil 6: Ein Desaster ohne Moral

Jonathan Chait bezeichnete die Wahl 2016 als ein "Desaster ohne Moral". Was er damit meinte ist, dass es keine besonderen Lektionen aus dem Wahlgang zu lernen gibt, weil sein Ergebnis letztlich ein zufälliges Ergebnis war. "Sorge dafür, dass dein Vorgänger keinen FBI-Chef einsetzt, der eine Woche vor der Wahl einen Brief an den Kongress schreibt" ist kein sonderlich nützlicher Tipp für den nächsten demokratischen Kandidaten. Aber man würde zu weit gehen, würde man behaupten, dass sich überhaupt keine Lehren aus 2016 ziehen ließen. Die Wahl hat eine Signalwirkung über das Jahr 2016 hinaus. Und damit werden wir uns zum Abschluss beschäftigen.

Chait verbringt in seinem Artikel viel Zeit damit, die gleichen Gründe darzulegen wie ich auch und einen todsicheren Tipp für Democrats zu finden, dem ich mich anschließe: Never nominate Hillary Clinton for the presidency again. Nun, das war ja einfach.

Nachdem wir das aus dem Weg haben, möchte ich auf zwei Dinge wert legen. Einerseits die Lektionen aus den Vorwahlen von 2016, und andererseits die Lektionen aus der eigentlichen Wahl.

Tatsächlich sind die Vorwahlen sehr instruktiv. In beiden Parteien schossen Außenseiterkandidaten an die Spitze, die die traditionelle Orthodoxie ihrer jeweiligen Parteien ignorierten (was nicht heißt, dass sie zwingend dagegen waren, sie ignorierten nur die tradierten Formen, in denen sie ihren Ausdruck fand). In beiden Fällen versuchte die Partei, diesen Aufstieg zu verhindern. Im Fall der Democrats einigte sich die Partei schnell auf einen gemeinsamen Kandidaten - Clinton -, weswegen der Außenseiter - Bernie - kaum eine Chance hatte. Im Fall der Republicans einigte sich die Partei nicht. Nachdem es weder Bush noch Rubio gelungen war, die Stimmen des Establishments auf sich zu vereinen, blieb als Alternative nur noch Ted Cruz übrig, der selbst eine Art Außenseiter war (wenn auch nicht so krass wie Trump), und der aus verschiedenen Gründen für viele Parteioberen ähnlich schwer zu ertragen war wie Trump, was eine Festlegung verhinderte und es Trump erlaubte, mit unter 40% der Stimmen der Kandidat der Republicans zu werden.

Die zentrale Lektion für die Democrats, die diese allem Anschein auch gelernt haben, ist es, dass die Aufgabe der Partei sein muss, das Bewerberfeld unter Kontrolle zu halten, ohne dabei einem Kandidaten direkt den Weg ebnen zu wollen. Das ist eine sehr schwierige Gratwanderung, und wir werden sehen, wie gut es dem Team um Tom Perez und Keith Ellison gelingen wird, diese zu meistern. Die Republicans werden dieses Problem aller Wahrscheinlichkeit nach erst 2024 wieder haben, weswegen aktuell schwer zu sagen ist, welche Folgerungen sie ziehen werden. Das hängt schwer davon ab, ob die Partei sich von Trumps Einfluss lösen wird, bevor wieder Wahlen anstehen (was nur bei einer Niederlage Trumps 2020 eine realistische Option ist) oder nicht.

Angesichts des sehr breiten demokratischen Bewerberfelds kommt der invisible primary einmal mehr eine hervorgehobene Bedeutung zu. Der Partei muss es gelingen, ihre Bewerber dazu zu bringen, das Wohl des Ganzen im Blick zu behalten. Das heißt konkret, dass Kandidaten, die absehbar keine Chance mehr haben und nur noch als "Spoiler" agieren (wie etwa Chris Christie, John Kasich oder Ben Carson 2016) das Rennen verlassen, um den "echten" Kandidaten den Raum zu lassen, den sie brauchen. Die bisherigen Strukturen, die der DNC dazu entwickelt hat, und das generelle Niveau der demokratischen Partei bieten hier Anlass zur Hoffnung.

Problematisch ist, dass die weitgehende Abschaffung der Superdelegierten dafür sorgt, dass die Wahrscheinlichkeit deutlich steigt, dass es im ersten Wahlgang keine Mehrheit gibt, so dass Koalitionen nötig werden, in denen Kandidaten "ihre" Deligierten gegen policy-Versprechen und Posten abgeben. Dieser Mechanismus wirkt als starker Anreiz, bis zuletzt im Rennen zu bleiben, um Zugeständnisse erpressen zu können. Aus diesem Grund blieben ja Bernie Sanders oder John Kasich auch bis zuletzt im Rennen, und das könnte 2020 noch viel mehr durchschlagen. Tom Perez wird das sicherlich bereits Kopfschmerzen bereiten.

Als sicher kann jedenfalls gelten, dass die Parteiplattform (also effektiv das Wahlprogramm) deutlich progressiver ausfallen wird als 2020. Ohne ein grundsätzliches Bekenntnis zu Medicare für All etwa wird kaum etwas gehen. Der deutliche Linksrutsch des Landes und der Partei seit 2016 hat Positionen, die für Clinton noch wesentlich zu radikal waren, bereits jetzt mehrheitsfähig gemacht, zumindest bei den Parteivorwahlen. Auch hier dürfte es den Parteistrategen deutliche Kopfschmerzen bereiten herauszufinden, welche dieser Forderungen nur an der Basis populär sind ("Build the Wall", sag ich da nur) und welche auch darüber hinaus Strahlkraft haben. Denn wenn man das verwechselt, steht ein Desaster bevor. Die Koalition, die die Democrats 2018 in das Repräsentantenhaus und 2016 beinahe ins Weiße Haus wählte besteht schließlich zu einem guten Teil aus den Suburbanites. Und die sind keine Fans der Programme, die die Basis zum Jubeln bringen. Da ein Democrat aber nur ins Weiße Haus gewählt werden wird, wenn er auch eine tatsächliche Mehrheit besitzt (was Republicans nicht brauchen), wird die Partei um solche Fragen nicht herumkommen.

Eine völlig falsche Schlussfolgerung wäre indessen, progressive Gesellschaftspolitik als verantwortlich und schädlich zu sehen, also künftig davon auszugehen, dass die Forderung nach Gleichberechtigung und die Verurteilung von sexueller Gewalt den Wahlaussichten der Democrats schaden. Besorgte Leitartikler warnten 2017 und 2018 orakelhaft vor genau diesem Phänomen, ohne ihre Einstellung angesichts eines offen progressiven Wahlsiegs im November 2018 zu überdenken, in dem die Democrats historische Gewinne bei den Frauen einfahren konnten. Trotz einer ähnlichen Strategie scheiterte Clinton 2016 knapp damit, die Stimmen der weißen Frauen aus Suburbia zu gewinnen (die gingen zu rund 52% an Trump, während sie 2018 zu fast 60% (!) an die demokratischen BewerberInnen gingen).

Chaits Mantra kann daher nur wiederholt werden: nicht noch einmal Hillary Clinton aufstellen. Dann stellen auch diese Themen kein Problem dar. Der Grund dafür ist einfach: Progressive Gesellschaftsthemen haben eine deutliche Mehrheit. Das übrigens gilt auch für andere Bereiche wie etwa Medicare for All oder einen höheren Mindestlohn. 2016 sorgte die bereits analysierte Unbeliebtheit Clintons dafür, dass viele weiße Frauen glaubten, die Wahl Trumps sei nicht schlimmer als die Clintons. Die letzten zwei Jahre hart rechter identity politics dürften sie von dieser Idee geheilt haben. Frauen sind nun über alle Ethnien hinweg eine solide demokratische Basis, und da sie die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, gibt es für die Partei keinen Grund, den Forderungen und Vorschlägen weißer, männlicher Leitartikler jenseits der 50 zu folgen und sich wieder mehr auf Männer zu konzentrieren. Dafür gibt es in der Partei gerade auch keine Anzeichen.

Diese Änderung in Partei und Gesellschaft ist es auch, die die fundamentale Fragestellung von 2016 auf den Kopf drehen wird. Es ist augenblicklich eher die Frage, ob im aktuellen Klima ein weißer Mann (Sherrod Brown oder Bernie Sanders etwa) die Nominierung erhalten kann oder ob es nicht eine Frau sein muss. Der Energieerhaltungssatz gilt auch in der Politik, und jede (rechte identity-politics-)Aktion verlangt nach einer Reaktion. Ich wäre jedenfals nicht überrascht, wenn das eine Unterströmung im Vorwahlkampf sein wird. Man konnte eine "light"-Variante davon ja auch im Rennen um den CDU-Vorsitz beobachten; die scherzhaft gestellte Frage, ob ein Mann überhaupt Kanzlerin werden könne, dürfte bei den Democrats mit etwas mehr Verve aufs Tablett kommen.

Egal welcher demokratische Bewerber 2020 das Rennen macht, er oder sie sollte den größten Fehler Clintons nicht wiederholen und ein ordentliches Narrativ schaffen. Wie 2016 auch sind die zahlreichen Skandale Trumps, die dieser mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch im Wahljahr 2020 nicht abreißen lassen wird, eine ebenso große Chance wie Gefahr. Die Democrats werden ein klares Narrativ brauchen, an dem sie festhalten können. Ich denke, die Dynamik von 2018 auszunutzen ist besser als die von 2016 zu wiederholen. Statt zu versuchen, aus den Verwicklungen Trumps Kapital zu schlagen (man denke an Trumps Russland-Beziehungen, in deren Thematisierung durch Clinton das Access-Hollywood-Tape (zum Ärger des Clinton-Teams) und dann der DNC-Leak platzte), ist es vermutlich sinnvoll, den Medien und Strafverfolgungsbehörden die Skandale Trumps zu überlassen und sich selbst auf die eigene Botschaft zu konzentrieren. Inwieweit das möglich sein wird, steht allerdings in den Sternen.

Die große Unbekannte für 2020 bleiben ohnehin die Mueller-Ermittlungen. Ich gehe in all meinen Analysen davon aus, dass sie keine entscheidenden Verbrechen zutage fördern werden. Aber das weiß aktuell niemand. Wenn Mueller doch Beweise für Trumps illegale Verwicklungen mit Russland zutage bringt, oder irgendwelche anderen nicht zu ignorierenden Verbrechen (im Gegensatz zu den tausenden kleinen Verbrechen, die der Mann bisher begangen hat), dann heißt es ohnehin: all bets are off. Aber das wird sich wohl 2019 herauskristallisieren.

Oder auch nicht. Unsicher die Zukunft ist, wie Meister Yoda bereits zu sagen wusste. Mein Tipp daher: Auf die Umfragenaggregate und die Experten vertrauen. Die liegen zwar nicht immer richtig. Aber von ihnen bekommt man die bestmögliche Sicht auf die Dinge.

Freitag, 11. Januar 2019

Die sozialdemokratische Flottenpolitik gefährdet die Integrität der primaries in der Slowakei - Vermischtes 11.01.2019

Die Serie "Vermischtes" stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Is the US ‘the greatest country on the face of this earth?’ Not even close
I know this might seem harsh, but the evidence of American indifference is overwhelming. Life expectancy in America declined in 2017 for the third year in a row. That hasn’t happened in this country in nearly a century and runs counter to the long-term global trend of increasingly higher life expectancy. Has the Trump administration or Congress mobilized resources and national attention in order to deal with this public health crisis? Not at all. In 2017, more than 70,000 Americans died of a drug overdose. The federal response was tepid legislation passed last year that doesn’t significantly increase federal spending to deal with this crisis and largely short-changes addiction treatment. The year 2017 was also the worst for gun violence in America since 1968 — with nearly 40,000 deaths. A country that “values life” would be looking for ways to lessen this carnage, but that hasn’t happened either. [...] If Sanders’ description of the United States were accurate, would America have some of the highest maternal mortality, child poverty, and obesity rates in the developed world? Would a child in a country that made the preservation of life its number one priority be 70 percent more likely to die before reaching adulthood than in other peer nations? [...] The sad reality is that while this administration is awful when it comes to prioritizing life, it is consistent with a decades-long tend of lowering taxes (particularly for the wealthiest Americans), slashing the social safety net, and demonstrating studied indifference to the impact these policies have had on the quality of life of all Americans. (Michael Cohen, Boston Globe)
Jemand hat neulich in den Kommentaren das höhere Durchschnittseinkommen in den USA als Beweis angeführt, dass die Ergebnisse mit weniger staatlicher Intervention besser wären. Meine Entgegnung war, dass man ja auch sehen müsse, was man für seine Steuern bekommt. Und gerade in den USA kriegt man da die reinste Bananenrepublik manchmal. Da gibt so politkulturelle Faktoren wie die völlig außer Kontrolle agierende Polizei oder die Wahlfälschungen gerade im Süden, aber die haben ja erst mal nichts mit Steuern zu tun. Wenn man aber schaut, was gerade bei so obigen Zahlen abläuft, oder das völlige Dauerdesaster des Gesundheitssystems, oder oder oder...Jeden Tag nehmen ich ein paar Prozentpunkte mehr Einkommenssteuer und Sozialabgaben bevor ich so was kriege. In Deutschland ist das Niveau der staatlichen Leistungen trotz aller Mankos sehr gut, gerade wenn man es mit anderen Ländern vergleicht. Das ist etwas, das man feiern und worauf man aufbauen sollte, nicht etwas, das man mit einem ideologischen Kreuzzug gegen die "Staatsquote" zu zertrümmern suchen sollte. Fakten wie die oben sollten da ein mahnendes Beispiel sein.

2) The exception to rulers
The idea that undeserving people of color are stealing money or recognition from the deserving predates Trump, of course. It has been a feature of American politics since the country’s founding. The poetry of the young enslaved woman Phillis Wheatley was assumed to be fraudulent because her intelligence undermined the basic assumption of chattel slavery, that black people were not truly human. After Frederick Douglass wrote his first autobiography, a critic who knew one of Douglass’s owners insisted that the famed orator was “not capable of writing the Narrative” and that “there are no such barbarities committed on their plantations.” More recently, the election of Barack Obama provoked a fierce backlash on the right, one that manifested in one conspiracy theory after another meant to prove Obama was a fraud. Conservatives became fixated on proving that the first black president did not write his autobiography, that he was functionally illiterate absent a teleprompter, and that his admission to elite universities was the unearned result of affirmative action, despite his graduating magna cum laude from Harvard Law. Even after Obama was elected, conservative pundits argued that Obama wasn’t “really popular” because he maintained sky-high support among black voters—who, they implied, should count less. The underlying argument behind the claim, no matter how mundane or outlandish, was that being black confers unearned benefits rather than systemic obstacles to be overcome. Obama became the living, breathing symbol of the narrative that undeserving people of color were being elevated even as hardworking white people were being left behind. In a country where most wealthy CEOs, legislators, governors, presidents, justices, and judges are white Christian men, Republicans believe whites and Christians face more discrimination than anyone else. (Adam Serwer, The Atlantic)
Einer der faszinierendsten Aspekte dieser rassistischen Abwertung Obamas und anderer vergleichbarer öffentlicher Figuren durch den Verdacht von Quotenbervorzugung oder sonstigen Hilfen ist die Projektion, die dabei stattfindet. Da wird behauptet, Obama sei nur durch affirmative action jemals irgendwohin gekommen, während man einen Präsidenten ins Amt wählt, der ohne die Hilfen seines Vaters und das geerbte Millionenvermögen nur ein weiterer Goldkettchenträger im Feinripp wäre, der in einem heruntergekommenen Apartment den Fernseher anbrüllt. Genauso merkwürdig ist dieser ständige Glauben einer bestimmten Schicht konservativer Weißer, dass man diskriminiert werde. In Deutschland lässt sich dasselbe Phänomen beobachten, wo saturierte Kolumnisten wie Martenstein oder Fleischhauer bitte Tränen darüber vergießen, nicht mehr ganz so privilegiert zu sein wie früher. Und je weiter dieser sanfte Abbau von Privilegien voranschreitet, desto mehr fühlen sie sich in die Ecke gedrängt und radikalisieren sich. Wozu das führt, hat man in den USA gesehen.

3) Worse than Watergate
But Watergate’s time as the gold standard of presidential malfeasance might well be coming to an end. If the multiple charges against President Donald Trump prove out, he’ll easily displace Richard Nixon at the top of the Crooked Modern Presidents list. [...] Although the allegations against Trump are still just that—allegations—they’re far more serious. At the heart of the matter is the possibility that his campaign conspired with a foreign government to influence the 2016 presidential election. Congressional investigators are also looking into whether the president has made policy decisions based on campaign favors. [...] In addition to the alleged original sin of foreign influence, Trump now faces serious accusations that he personally broke the law. [...] That’s not all. The New York Times uncovered a long history of corrupt tax practices in which a younger Trump and his father, Fred Trump, attempted to evade their tax obligations through false assessments of properties and other shell games to protect their money. According to the report, these actions went far beyond the normal mechanisms wealthier families have long used to protect their assets and strayed into criminal territory. [...] One of the chief conclusions of the Watergate scandal—“It’s not the crime, it’s the cover-up”—has been repeated so many times that it’s become a cliché. But like many clichés, it has the ring of truth. (Kevin Kruse/Julian Selizer, The Atlantic)
Die ganzen Ermittlungen um Trump laufen immer noch mit einer ganzen Menge Konjunktive, und ich halte es weiter für unwahrscheinlich, dass die Ergebnisse tatsächlich eindeutig und schwerwiegend genug ausfallen werden, um Trump zu versenken. Aber der obige Artikel zeigt deutlich auf, dass "unwahrscheinlich" wahrlich nicht "unmöglich" bedeutet. Die Gerüchteküche gibt aktuell die Losung aus, dass Mueller bald mit seinen Ermittlungen abgeschlossen hat und die Ergebnisse vorstellen wird. Angenommen, Trump kommt tatsächlich in all diesen Fällen unter Beschuss, und angenommen, ihm und seinen Leuten wird das alles auch unmissverständlich nachgewiesen, dann wären, wie die Amerikaner sagen, all bets off. Die Trump-Präsidentschaft birgt in sich das Potenzial für eine Verfassungskrise, wie sie die USA seit 1867 nicht mehr gesehen haben, oder vielleicht noch nie zuvor. Wenn sich die Partei entscheiden sollte, angesichts solcher Enthüllungen um ihre Macht zu kämpfen und sämtliche ihr zur Verfügung stehende Machtmittel auszunutzen, könnte das sehr schnell fatale Folgen haben. Erneut, ich sage nicht dass ich das für sonderlich wahrscheinlich habe. Aber allein, dass es ein realistisches Szenario ist, ist bemerkenswert.

4) The naval powershift in the Black Sea
Russian maritime dominance in the Black Sea is back. The shift was made possible by Moscow’s 2014 seizure of Crimea and subsequent buildup of combat and maritime law enforcement capabilities in the region. The Nov. 25 seizure of three Ukrainian naval vessels off the coast of Crimea has underlined this return, which is one of the most important changes in the region’s maritime security relationships in the last decade. The operation was carried out by coast guard vessels under the Federal Security Service, while Su-25 fighters and Ka-52 combat helicopters from Crimea provided a showy enforcement of the blockade of the Kerch Strait leading into the Sea of Azov. The Ukrainian sailors remain detained in Moscow, and Oleksandr Turchynov, secretary of Ukraine’s National Security and Defense Council, has vowed that Ukrainian ships will return to the Kerch Strait. [...] In 2015, after six years of thoroughgoing military reform followed by the seizure of Crimea, Moscow began placing new, advanced surface combatants and submarines in the Black Sea Fleet, alongside a massive shore-based buildup of air defense and coastal defense cruise missiles. A more capable and confident fleet then steamed into the Mediterranean to support Russia’s successful intervention to prop up the Assad regime in Syria. Three years later, in 2018, Russia still possesses the Black Sea region’s dominant maritime military. Moscow is using that force in an attempt to fulfill its strategic goal of, “reshap[ing] the geopolitical and geo-economic balance of the Black Sea region” in its favor. (Michael Petersen, War on the Rocks)
Russland geht mit ziemlich klarem Ziel vor, und die Stringenz, mit der das alles vor sich geht, spricht sehr dafür, dass die Übernahme der Krim kein spontaner Akt war, den ein an die Wand gedrängtes Land zum Schutz der Auslandsrussen unternahm - falls irgendjemand diese Kreml-Propaganda geglaubt hat. Putin ist offensichtlich bereit, ziemlich massive Investments in die militärische Schlagkraftverbesserung Russlands zu stecken. Aber: der obige Artikel zeigt auch deutlich die Grenzen dieses Engagements auf. Bedenkt man, dass Putin der Sowjetunion hinterhertrauert, die sich immer als eine Weltmacht mit globalen Ambitionen verstand (auch wenn dieser Anspruch nie mit der Realität übereinstimmte), so sind die oben beschriebenen Maßnahmen bescheiden. Obama bezeichnete Russland seinerzeit abschätzig als eine Regionalmacht, die den Interessen der USA nicht genuin gefährlich werden könne. Und was wir im Schwarzen Meer sehen können ist tatsächlich ein klar regionales Profil: wenn die Ambition Russlands ist, stärker als die Türkei zu sein, dann ist das natürlich auf der einen Seite ein destabilisierender Faktor, weil hier auch NATO und EU herausgefordert werden. Auf der anderen Seite aber verläuft das in einem Maßstab, der nichts mit den Ausmaßen des Kalten Kriegs zu tun hat. Wenn die EU die gemeinsame Außenpolitik und die militärischen Kapazitäten hätte, die ihrer Wirtschaftsmacht entsprechen, dann wäre Russland bei weitem nicht so besorgniserregend, wie sich das unter den gegebenen Umständen liest.

5) How Slovakia beat the oligarchs
Slovakia gained its independence through an inauspiciously undemocratic act, when two leaders—the Slovak Vladimír Mečiar and the Czech Václav Klaus—decided to split the country, partly because they had radically different visions. While Klaus was a Thatcherite, eager to adopt the shock therapy of privatization and market economics, Mečiar wanted to steer closer to Russia and more state control. Without a vote, Czechoslovakia ceased to exist. Days after Slovakia came into existence on January 1, 1993, Mečiar’s government fired most of the critical journalists working for the country’s largest newspaper, the state-run Smena. One of them was Alexej Fulmek, a former war reporter, who joined others in founding SME. Mečiar’s government ostracized the new publication, forbidding local presses to print it. It also refused to advertise in SME, depriving it of an important source of revenue for many newspapers in the region. The fledgling paper, however, fought back. It received three loans to build its own presses from the Media Development Loan Fund, as the New York-based nongovernmental organization backed by George Soros and a variety of other philanthropists was then known. [...] Many Slovaks credit SME with helping to bring down Mečiar in 1998. Its reporting, especially on an alleged effort by Mečiar to kidnap the president’s son, shocked many people into voting out the self-proclaimed father of the Slovak nation. Under opposition rule for most of the next eight years, Slovakia moved quickly toward the West. It joined the European Union and NATO in 2004, and the eurozone in 2009. (Ian Johnson, New York Book Review)
Es ist immer wieder spannend zu sehen woran es liegt, dass manche Demokratien wenn nicht sterben, so doch zumindest schwer krank sind, während andere erstaunlich robust sind. Es ist halt nicht "the economy, stupid", denn wenn man danach geht dürfte die Slowakei deutlich schlechter dastehen als Tschechien oder Polen. Tut sie aber nicht. Stattdessen ist der wichtigste Faktor gesunde Institutionen und selbst-verstärkende Normen. Wo es freie Presse und funktionierende Gewaltenteilung gibt, überlebt auch die Demokratie, wo diese nicht existieren (Polen, Ungarn), stirbt sie ab. Deswegen ist auch der Blick auf die Freie Presse so wichtig. Wo diese wie in der Slowakei in der Lage ist, Missstände anzuprangern und sich nicht kooptieren lässt, hat sie die Macht, authoritäre Machtübernahmen aufzuhalten. Wo dies nicht der Fall ist und die Regierung entweder auf parallele Staatsmedien zurückgreifen kann (USA, Polen, Ungarn, Venezuela) oder die Medienlandschaft direkt unterwirft (Russland, Türkei), ist die Demokratie gefährdet. Ich habe hier absichtlich die USA mit aufgelistet: die Parallelinstitutionen, die die Rechten sich in diesem Land aufgebaut haben, sind der größte Destabilisierungsfaktor. FOX News, die entsprechenden Thinktanks, Spenderkonglomerate etc. entheben die Republicans von der Pflicht, um eine Mehrheit zu werben, es reicht die entsprechend aufgebaute Minderheit. Mit denselben Techniken kamen auch die Kaczinskys und Orban an die Macht. Der Artikel - der in seiner Gänze empfehlenswert ist - erklärt weiterhin, dass die Slowakei sich inzwischen auch in einer Abwärtsspirale befindet. Verantwortlich war ironischerweise der Verkauf vieler Medien an westliche, etwa deutsche, Verlagshäuser, von denen man sich eigentlich einen Schutz liberaler Werte erhoffte, die aber ausschließlich auf Profit aus sind - und Profit macht man eben mit dem Verbreiten von Verschwörungstheorien und Anwanzen an diese Parallelgesellschaften. Auch das kennt man aus den USA, wo Breitbart, Infowars und über Dritte (Werbekunden) auch FOX News massiv Geld mit lauter Schlangenöl-Verkäufern machen. Dass durch Nahrungsergänzungspillen ohne Wirkung die Demokratie zerstört wird ist auch so ein Treppenwitz. Der einzige Hoffnungsschimmer, den man aus dem Artikel ziehen kann ist, dass dieses Problem in Deutschland bisher nicht existiert. Wir sollten daher von einer weiteren krassen Ausbreitung der AfD auch erst einmal verschont bleiben; für eine Expansion des rechten Rands über sein natürliches Habitat im 20%-Sumpf gibt es aktuell keine Grundlage, und der politische Konservatismus in Deutschland (wie auch in Frankreich und anderen westlichen Ländern) beweist gute Abwehrkräfte gegen die Versuchung, der die Republicans und in geringerem Ausmaß die Tories erlegen sind - oder die Rechten in weiten Teilen Osteuropas.

6) Is the 2020 Democratic field finally shrinking rather than expanding?
More broadly, we may finally be reaching the point where the vast Democratic presidential field is shrinking rather than expanding. After the midterm elections, New York governor Andrew Cuomo, always on everyone’s list of potential candidates for the Big Job, ruled out a run. And in December former Massachusetts governor Deval Patrick announced he would not, after all, be running for president. It’s also been a while since an entirely new possibility has come onto the scene, unless you take New York mayor Bill de Blasio’s announced plans to travel “all around the country” promoting progressive causes as an unlikely proto-candidacy, despite his protestations otherwise. That’s a good thing for Democrats, since the process of winnowing a field of as many as 20 viable candidates between now and the Iowa caucuses just over a year from now must begin sometime. Yes, the caucuses and primaries themselves will quickly dispatch a number of pretenders, but thanks to the Democratic Party’s strict adherence to proportional representation in delegate awards and the money multiple candidates may be able to spend or raise, there’s a nontrivial chance no one wins a solid majority before the July convention. And that sort of chaos could be exactly what Donald Trump needs. (Ed Kilgore, New York Magazine)
Die Gratwanderung, die der DNC besonders angesichts des 2016-Debakels betreiben muss ist nicht zu beneiden. Auf der einen Seite wollen sie, wie oben beschrieben, möglichst dafür sorgen, dass es einen klaren Gewinner gibt - das ist im Interesse der Partei. Auf der anderen Seite wollen sie aber nicht wie 2016 ihren Daumen massiv auf die Waagschale drücken, um dieses Ergebnis herbeizuführen. Ich denke aber auch nicht, dass letzteres dieses Mal ein Problem sein wird. Anders als 2016 gibt es diverse kompetitive Kandidaten, die allesamt für die Partei völlig akzeptabel sind. Der einzige für den DNC wirklich problematische Kandidat dürfte Bernie Sanders sein; mit dem Rest kann die Partei arbeiten. Daher ist die große Schwierigkeit, nicht für 2016 überzukompensieren und überhaupt keine Steuerung vorzunehmen. Die oben angesprochenen Effekte sind daher begrüßenswert.

First, I don’t think it’s a terrible idea for Biden to seek the nomination. Second, it’s a total exaggeration to declare that he “has a track record that puts him on the wrong side of every issue that currently energizes his political party.” Third, I think his performance as a presidential candidate in 1988 and in 2008 is almost completely irrelevant now in light of his performance as a candidate for vice-president. Fourth, I believe it’s tremendously inaccurate to suggest that Biden’s appeal is limited to being “a beloved figure among the pundit class, as well as among many of the old-line money people who currently are trembling at new forces that they do not understand.” In truth, Joe Biden is beloved figure period, which is probably his best argument for being the nominee. As I wrote yesterday, the Democrats should have the opportunity to win a landslide election in 2020 reminiscent of 1932, 1972, or 1984. But to accomplish that, they’ll need the GOP to continue its headlong charge into the threshing blades, and they’ll need a candidate who is beloved (or, at least, widely trusted) by most of the country. Joe Biden currently fits that bill better than anyone else who is reported to be in the running, and yes, part of that is his popularity with the pundit class. But it’s not just the pundit class, nor just his support among establishment Republicans. Joe Biden is immensely popular among mainstream Democratic voters, which is why he has the early lead in the polls. Yes, it’s true that early polls are heavily influenced by name recognition, but people certainly are familiar with Bernie Sanders. Biden leads him 30 percent to 14 percent in the most recent CNN poll. No one else is in double figures. (Martin Longman, Washington Monthly)
Ich bleibe aktuell kein besonderer Fan einer Kandidatur Bidens, aber die obigen Argumente haben durchaus etwas für sich. Besonders unterschätzt habe ich bisher den Aspekt seiner Vizepräsidentschaft unter Obama. Was Biden 2020 personifizieren würde ist eine Art "Entschuldigung" gerade jener Wähler, die Trump nicht aus Überzeugung wählten, sondern weil sie ein Zeichen setzen wollten und ihre Wahl mittlerweile bereuen. Mit Biden könnte man symbolisch noch einmal für Obama stimmen. Ob das eine nennenswerte Zahl Leute so sieht, und ob das für die Democrats ein Netto-Gewinn wäre, weiß ich dagegen nicht. Es ist aber zumindest ein Faktor, den man im Auge behalten sollte. Weniger relevant sind seine Beliebtheitswerte. Hohe Beliebtheitswerte hatte Hillary Clinton 2014 auch. Sie war damals ebenfalls zwei Jahre aus dem Amt ausgeschieden, da haben die meisten Politiker hohe Werte. In dem Moment, in dem Clinton wieder aktiver Spieler wurde, fielen ihre hohen Beliebtheitswerte sofort. Biden wird dasselbe passieren, auch wenn er hoffentlich keinen Emailskandal an den Backen hat. Aber zu glauben, seine Beliebtheitswerte würden der Polarisierung trotzden, wäre hochgradid naiv.

8) Mitt Romney, commander of the fake internationalists
Now Romney is being touted as the new standard-bearer for the bipartisan War Party, filling in for John McCain. Bloomberg columnist Hal Brands theorized that Romney was attempting to “position himself as heir to John McCain as the congressional conscience of U.S. diplomacy” (defined as advocating policies designed to prolifically kill and destroy). Towards this effort, Romney is articulating “a renewed Republican internationalism based on opposition to aggressive authoritarian regimes.” Brands celebrates Romney’s Russophobia, saying he “deserves credit for being anti-Russia before being anti-Russia was cool.” No hint that the U.S. might have contributed to Moscow’s hostility through the aggressive “internationalism” of Presidents Bill Clinton, George W. Bush, and Barack Obama—violating commitments not to expand NATO, dismantling Moscow’s Slavic friend Serbia, and encouraging violent regime change against an elected government that neighbored Russia. After all, equivalent Russian intervention in Mexico would have triggered an extremely hostile reaction in Washington. Neoconservative Max Boot lauded Romney for throwing “down the gauntlet to President Trump.” Indeed, argued Boot, “it now falls upon Romney to champion the cause of principled conservatism in Washington.” Boot hoped the freshman senator would lead a general opposition and seemed especially pleased at Romney’s support for the interventionist status quo. Yet the passion-less Romney is a poor substitute for the perennially angry McCain. It is difficult to imagine Romney leading Lindsey Graham and Joseph Lieberman on another apocalyptic ride, demanding that death and destruction be visited upon an enemy du jour. Indeed, Romney admitted as much, complained The New York Times, which noted that he said he “would only speak out against Mr. Trump on issues of ‘great significance,’ which means not much.” (Doug Bandow, The American Conservative)
Die Begeisterung, die Mitt Romney unter moderaten Konservativen zuverlässig auslösen kann, ist mir völlig schleierhaft. Ja, der Mann ist persönlich nett und sicher ein guter Familienmensch. Überhaupt keine Frage. Aber als Politiker kann man nur sagen, dass er gewogen und für zu leicht befunden wurde. Entgegen seinen (angeblichen) Überzeugungen hat er sich 2012 völlig vom rechten Flügel der Partei kooptieren lassen, hat keinerlei Widerstand gegen rassistische Attacken auf Obama geleistet (anders als McCain 2008) und hat diese sogar befeuert, unter anderem durch das Bündnis mit dem damaligen Chef-Birther Donald Trump. In der Wahl 2016 stellte er sich lauwarm gegen Trump, nur um nach der Wahl sofort alles über den Haufen zu werfen und sich zu prostituieren, um eine Stellung in der Regierung zu bekommen. Als ihm diese versagt wurde, entdeckte er seine Ideale dann wieder. Kurz gesagt, Romney ist ein Schönwetter-Freund, der immer dann gegen Trump ist, wenn es nichts kostet. Die Opposition des American Conservative zu interventionistischer Außenpolitik ist in dem Magazin schon seit vielen Jahren ein Dauerbrenner. Ich lese es schon eine ganze Weile, und es ist ein merkwürdiges Pflänzchen. Man muss den Leuten dort positiv anrechnen, dass sie ihren Idealen tatsächlich treu bleiben; so schreiben sie etwa konsistent gegen die Machtfülle der Gerichte an, auch wenn diese ihre bevorzugte Politik umsetzen und kritisieren Republicans gleich harsch, ob sie an der Regierung sind oder nicht. Das ist selten und macht sie interessant zu lesen. Auf der anderen Seite sind die Autoren überwiegend katholische Extremisten. Im American Conservative findet man etwa nichts dabei zu fordern, die eigenen Kinder von der amerikanischen Gesellschaft abzukapseln, damit sie im katholischen Geist erzogen werden können, oder zu beklagen, dass die Kirchen fast keine Exorzismen mehr durchführt. Ein merkwürdiges Pflänzchen, wie gesagt.

9) Nazis raus? Die richtige Reaktion!
Von der vor allem bei Verschwörungsideologen zu beobachtenden Attitüde, zu einer unterdrückten Minderheit zu zählen, die sich einer finsteren Übermacht tapfer entgegenstellt, war bei ihnen jedenfalls nicht viel zu spüren. Das vieltausendfach getwitterte „Nazis raus!“ entsprang einer Position der Stärke, mag sich auch der eine oder die andere unangemessen kühn und rebellisch dabei gefühlt haben. Nicole Diekmann ist im Netz in einer koordinierten Aktion wüst angegriffen worden, die Solidarisierung mit ihr ist ebenfalls im Netz und mit den Mitteln des Netzes erfolgt. Ob das mutig war, ist unerheblich. Es hat der Angegriffenen jedenfalls gezeigt, dass sie nicht alleine ist, und die rechten Trolle wenigstens für diesen Moment in die Schranken gewiesen. Das war nicht läppisch, nicht peinlich und erst recht keine „posthume Beleidigung der Frauen und Männer, die tatsächlich Widerstand geleistet haben“, wie Michael Miersch meint, sondern in Form und Inhalt angemessen und notwendig. Wenn jemand für eine Äußerung wie „Nazis raus!“ beschimpft, beleidigt und bedroht wird, ist es völlig richtig, diese Äußerung möglichst zahlreich dort zu bekräftigen, wo es zu den Beschimpfungen, Beleidigungen und Drohungen gekommen ist: auf der Straße, in den Parlamenten, in den (sozialen) Medien. Das muss man gewiss nicht zur Heldentat emporjazzen. Aber solche Attacken unwidersprochen geschehen zu lassen, ist erst recht keine Alternative. (Alex Feuerherdt, Salonkolumnisten)
Ich stimme diesem Artikel völlig zu, möchte jedoch gleich zu Beginn darauf hinweisen, dass es bei den Salonkolumnisten dazu ebenfalls einen Gegenartikel gibt. Mit bleibt die dauernde Kritik an Aktionen gegen Rechtsextremisten gerade von Seiten der gesellschaftlichen Mitte ein Rätsel. Dieses Nase-zuhalten und moralinsauere sich als etwas Besseres darstellen, indem man nichts tut, ist mir unbegreiflich. Irgendwie spricht da das eigene schlechte Gewissen. Man selbst tut nichts, und diejenigen, die etwas tun, sind häufig aus einer Ecke, mit der man selbst nichts zu tun haben will. Also wird es schlecht geredet und in der Gegend herum relativiert. Die Gewinner sind die Extremisten, weil sie so den Eindruck erwecken können, dass es sich um einen Streit der Extreme handle ("Links gegen Rechts"), während in Wirklichkeit eigentlich die ganze Gesellschaft etwas tun sollte. Daher #NazisRaus.

10) The Walking Red
Nahles und Scholz haben innerhalb des Dreivierteljahres, das sie die Partei führen, massiv an Unterstützung verloren. Für ihren Machterhalt spricht derzeit vor allem, dass die SPD kaum Alternativen hat, es fehlt die Führungsreserve. Was würde sich zum Beispiel unter einem Parteichef Stephan Weil ändern?, fragen Kritiker der Parteispitze. Der niedersächsische Ministerpräsident wird immer wieder als möglicher Nahles-Nachfolger gehandelt. Doch der Landespolitiker stünde wohl auch für ein Weiter-so. Eine echte Erneuerung bedürfte eines radikaleren Schrittes. Infrage kommen dafür zwei Ministerinnen, die im vergangenen Jahr für die wenigen Lichtblicke der SPD gesorgt haben: Justizministerin Katarina Barley und Familienministerin Franziska Giffey. Letztere hat es geschafft, mit einer neuen Sprache zumindest sporadisch auf die sozialdemokratische Handschrift der GroKo aufmerksam zu machen. "Gute-Kita-Gesetz" und "Starke-Familien-Gesetz" sind zwar längst nicht unumstritten. Giffey hat es jedoch geschafft, SPD-Politik ein wenig verständlicher und sympathischer zu vermitteln. (Christian Reevs, SpiegelOnline)
Diese Obsession mit dem SPD-Spitzenpersonal werde ich nie verstehen. Es spielt keine Rolle. Die Republik hält nicht den Atem an über die Frage, wer 2021 als Kanzlerkandidat der SPD antritt, weil jedem klar ist, dass "Kanzlerkandidat der SPD" ungefähr so relevant ist wie Kühlschränke am Nordpol. In Deutschland werden Parteien gewählt, nicht Personen. In Ausnahmefällen mag die Person mal ein, zwei, vielleicht sogar drei Punkte Unterschied machen. Aber das sind nicht die Dimensionen, in denen die sozialdemokratische Krise stattfindet. Das frenetische Rotieren der Partei auf der Stelle zeigt deutlich, dass die Gründe tiefer liegen. Die Sozialdemokratie weiß nicht, für was sie steht, und sie weiß nicht, für wen sie steht. Solange sie diese Frage nicht klärt ist völlig egal, wer 2021 antritt. Und Katharina Barley und Franziska Giffey machen sicher gute Politik, aber wenn 5% der Bundesbürger auf Nachfrage wüssten, wer sie sind, wäre ich ehrlich überrascht. Wenn die SPD attraktiv wird, wird sie das auch mit Nahles. Wenn die SPD unattraktiv bleibt, bleibt sie das auch mit Barley. Und von Scholz brauchen wir erst gar nicht anzufangen.

11) The 2020 invisible primary in light of 2016
In 2015 and 2016, Trump very visibly and repeatedly refused to bend the knee to key interests within the Republican coalition, whether he was insulting John McCain or flouting longstanding party views on foreign policy and trade. The party nonetheless rallied behind him eventually anyway. This is not the dynamic we are witnessing within the Democratic Party so far. [...] The very large number of candidates involved in this race and the lack of an obvious coordination point (such as a candidate named Clinton) make it a different sort of nomination cycle than Democrats have faced in recent decades and make options 2, 4, or 5 more likely than usual. Voter distrust of party elites and lingering resentments from 2016 make option 3 somewhat more likely than usual. But we may well be on the path to option 1, and the activities we’ve seen so far are consistent with that. So, by all means, let’s evaluate existing theories in light of what happened in 2016, and let those of us who were spectacularly wrong in describing those events be particularly humble and careful in examining 2020. But let’s not just assume that because one party exerted no control in one nomination cycle that parties are functionally dead as organizations. We have too much evidence telling us otherwise. (Seth Masket, vox.com)
Ich finde die aktuellenDiskussionen über Theorien und Modelle unter Politikwissenschaftlern in höchstem Maße spannend. Die Wahlen 2016 standen unter dem Eindruck der Theorie von "The Party decides", einem gleichnamigen Buch von 2014, das ich damals mit großem Gewinn gelesen habe. Die Autoren vertraten die These, dass die Rolle der Parteistrukturen unterbewertet werden und dass diese auf die Vorwahlprozesse deutlich mehr Einfluss nehmen als mithin angenommen. Sie wiesen dabei nach, dass die jeweiligen Sieger der Vorwahlen immer diejenigen waren, die die jeweiligen Parteien wollten - und dass bei Siegen von Außenseitern dies immer daran lag, dass die Parteien sich nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen konnten. Das war etwa 2008 bei den Democrats oder 2016 bei den Republicans der Fall. Maskets Warnung im obigen Artikel, dass man aufpassen muss, das Phänomen Trump weder überzubewerten und dafür überzukompensieren noch es 1:1 auf die demokratische Partei anzuwenden ist daher mehr als angebracht. Die Democrats sind nicht die Republicans. Das gilt sowohl für die Parteistruktur selbst als auch für die Wähler. Es ist zwar möglich, dass die aktuelle Anti-Establishment-Stimmung auch bei den Democrats überschwappt und zur Wahl eines völligen Außenseiters sorgt. Aber es ist nur eine von mehreren möglichen Dynamiken, und nicht die wahrscheinlichste.

Donnerstag, 10. Januar 2019

Warum Hillary verlor, Teil 5: Faktoren außerhalb ihrer Kontrolle

Nachdem wir über Faktoren geredet haben, die innerhalb von Clintons Kontrolle lagen und in die klassische Kategorie "Wahlkampffehler" fallen, müssen wir nun über die Faktoren sprechen, die außerhalb ihrer Kontrolle lagen und - anders als die Third-Term-Problematik - exklusiv Probleme ihrer Kandidatur waren. Der geneigte Leser dürfte nicht überrascht sein, dass ich diese Faktoren für die entscheidenden halte, wie diverse Experten und Trumps eigenes Wahlkampfteam auch (consistency!).

Bis zu diesem Punkt in meiner Analyse hat Clinton einen mittelprächtigen Wahlkampf gefahren. Ich habe mehrfach den Vergleich mit Mitt Romney 2012 bemüht: nicht besonders gut, nicht besonders schlecht. Nur hatte Romney in Obama einen Gegner, der den Amtsinhaber-Bonus sowie eine sich erholende Wirtschaft auf seiner Seite hatte und daher, all else being equal, gewinnen würde. Es war aber nicht all else equal, vielmehr führte Obama einen mit wenigen Ausnahmen (die erste Debatte!) einen sehr guten Wahlkampf. 2016 hatte Clinton die Third-Term-Problematik gegen sich, so dass sie - erneut all else being equal - verlieren würde. Aber es war eben nicht all else equal.

Denn mit den Frontrunnern aus den republikanischen Vorwahlen hatte Clinton außerordentlich schwache Gegner gegen sich. Ted Cruz und Donald Trump waren beide nicht unbedingt das, was man eine sichere Wahl nennt, und beide hatten Beliebtheitswerte deutlich (wir reden von über 20%) unter denen Clintons. Dass HRC in der entscheidenden Novemberwoche hier mit Trump gleichzog und dadurch die Tür für dessen Zufallssieg öffnete, lag an Faktoren, die völlig außerhalb ihrer (und Trumps!) Kontrolle lagen. Denn man sollte nicht den Fehler machen, der von vielen in diesem Rahmen ständig begangen wird und Trump irgendwelche besonderen Einsichten oder Fähigkeiten zuschreiben. Sein Wahlkampf war insgesamt mies (wenngleich sein Digital-Team das von Clinton überflügelte), und er war vom Ergebnis genauso überrascht wie jeder andere auch. Dieses Vorwort ist zur Einordnung wichtig.

Und damit gehen wir zu den Faktoren.

Der erste Faktor ist die Wahrnehmung progressiver Kandidaten durch die Linse der Medien. Ich habe bereits betont, dass die Wahrnehmung Clintons als Rechtsaußen in ihrer Partei zumindest innenpolitisch äußerst fragwürdig ist. Durch eigenes Verschulden schaffte es Clinton nicht, dies bei ihrer eigenen Parteibasis zu ändern. Wofür sie wenig kann ist aber die völlig schizophrene Wahrnehmung ihrer Persona von außerhalb der progressiven Basis: Clinton wurde hier sowohl als feuerfressende Sozialistin gesehen als auch als ineffektive Vertreterin eines verwaschenen Mittelwegs, je nachdem, welche Story man gerade schreiben wollte.

Zudem wurde Clinton mit einer Salve von Vorwürfen der "smugness" (in etwa: arrogant, selbstgefällig) bedacht, die fest in der Klischeekiste politischer Journalisten verankert sind. Zur Klarstellung: JEDER progressive Kandidat wird mit diesem Vorwurf bedacht, egal wer es ist. Obama musste sich damit auseinandersetzen, Kerry, Gore, Clinton - völlig egal. Es ist ein Dauerklischee, das keine Basis in der Realität hat, bei dieser Wahl aber durch die Kandidatur Trumps besondere Schärfe erhielt, der das Kunststück fertigbrachte, als New Yorker Millionär die Ostküstenelite als Gegner aufzubauen und mit Clinton zu identifizieren, ein Stück Wahlkampfpropaganda, das völlig unkritisch übernommen wurde. Die Bereitschaft der Medien, dieses konservative Narrativ aufzugreifen, auf der anderen Seite aber Trumps Sexismus und Rassismus beständig zu relativieren und als reine Wahlkampftaktik darzustellen, kann nicht Clinton angelastet werden. Deren Verhältnis zu vielen dieser Medien - besonders der New York Times - war zwar schon seit langem sehr angespannt. Aber das gilt für Trump auch, und da störte es niemanden.

Und das bringt uns direkt zum nächsten und wahrscheinlich größten Faktor, der über Clinton hinaus Bedeutung hat. Ich habe im Vorgehenden erklärt, dass Rassismus bei der Wahl 2016 keine (größere) Rolle als sonst gespielt hat, obwohl Trump den bisher eher impliziten Rassismus der GOP genommen und die Partei direkt in eine white-supremacy-Bewegung verwandelt hat. Was aber unzweifelhaft anders als bei anderen Wahlen war war die Rolle des Sexismus - schon zwangsläufig, war Clinton doch die erste Frau, die für das Amt kandidierte.

2008 fragten sich viele politische Beobachter, ob die Amerikaner reif seien für einen schwarzen Präsidenten oder ob es zu einem rassistischen Backlash kommen würde. Tatsächlich zeigen erste Studien, dass vielmehr der merkwürdige Effekt eintrat, dass gerade alltagsrassistisch eingestellte Leute für Obama stimmten ("we're voting for the nigger"), in der Hoffnung, das Thema damit endgültig zu begraben. Obama verbog sich zudem beinahe zur Unkenntlichkeit darin, das Thema weiträumig zu umschiffen (bis der Tod Trayvon Martins 2012 ihm das unmöglich machte). Es ist nicht zuviel gesagt, dass Frauenfeinde 2016 keine Illusionen hegten, sich von ihren Sünden durch die Wahl der ersten Präsidentin freikaufen zu können, oder dass Clinton versucht hätte, das Thema zu vermeiden. Das wäre 2016 auch nicht mehr möglich gewesen, zuviel hat sich seit 2008 verändert.

Aber Sexismus spielte eine hervorgehobene Rolle im Wahlkampf nicht nur, weil Clinton nun mal eben eine Frau war, oder weil sie schon immer - bereits als Studentin - eine feministische Aktivistin gewesen wäre. Die Natur ihres Gegenspielers tat ihr Übriges, um das Thema permanent auf die Agenda zu holen. Und das war nichts, was Clinton und ihr Team sonderlich begrüßten. Als Anfang Oktober 2016 das Access-Hollywood-Tape auftauchte, auf dem Trump seine berüchtigten "grab them by the pussy"-Bemerkungen machte, fluchten sie in Clintons Wahlkampfteam, weil es ihnen die Message verhagelte. Trump verkörperte wie kein anderer republikanischer Kandidat außer vielleicht Mike Huckabee ein sexistisches Amerika. Er lebt die 80er Jahre. Eine Zeit, in der Machos geachtet und berühmt waren, in der man mit einer albernen Frisur und einem noch alberneren Spruch und genügend Geschmacklosigkeit weit kam. Und er ist damit nicht allein.

Der Wahlkampf 2016 gerann an nichts anderem so sehr wie an der Toxic Masculinity. Frauenfeinde und Gegner der Gleichberechtigung versammelten sich hinter Trump noch zuverlässiger als Neonazis und Ku-Klux-Klan-Anhänger. Die Republicans, abgehängt in den Umfragen und von einer elektoralen Todesspirale bedroht, warfen sich mit vollem Einsatz in den von ihnen entfachten Kulturkrieg. Bathroom bills, "family values" und Konsorten dominierten alles andere und machten die unfähigen Versuche Clintons, policy und Narrativ in die Diskussion zu bringen, völlig zunichte. Jeder Versuch, eine kohärente Message aufzubauen und ein Narrativ um Clinton zu schmieden, musste gegen Donald Trump unabhängig von den Fähigkeiten der Kandidatin und ihres Teams auf diesem Feld (die, wie beschrieben, lausig waren und sind) eine Sysiphos-Arbeit sein.

Und das ist, erneut, ein Problem der Medien und außerhalb Clintons Kontrolle. Ihr Geschlecht konnte sie nicht ändern, und dass die Medien Trumps permanente Skandale auf eine Art verarbeiten würden, die ihn effektiv jeglicher ernsthafter Kritik enthob, ist nicht ihr anzulasten, sondern bis heute Ausdruck eines Medienversagens auf breiter Front. Doch die mediale Schuld endet hier nicht. In ihrer harschen Kritik an der Berichterstattung gerade der New York Times liegt Clinton ja durchaus richtig. Man kann ein schlechter Verlierer sein UND richtig liegen.

Was also ist die mediale Schuld? Die Berichterstattung des gesamten Wahlkampfs war in einem nie dagewesen Ausmaß negativ und schmutzig. Das gilt für beide Seiten - die Berichterstattung über Trump war zu nie dagewesenen 80% negativ - aber wie es so schön heißt, sollte man nie mit Schweinen im Schlamm kämpfen. Beide werden schmutzig, nur die Schweine mögen es. Trump verdiente die negative Berichterstattung offensichtlich. Keine Woche verging ohne einen Skandal, und spätestens mit Access Hollywood und den vorherigen Geschichten war jedem auch nur halbwegs aufmerksamen Beobachter klar, dass Trump ein Sexualstraftäter war. Es bestand keinerlei Äquivalenz zu Clintons Skandalen, die wir bereits besprochen haben.

Genau diese Äquivalenz aber wurde von den Medien gergestellt. Dies hatte mehrere Gründe. Zum einen waren da die bereits erwähnten Spannungen. Die Clintons und die Presse hatten schon lange ein schlechtes Verhältnis zueinander. Aber das war nicht der Hauptgrund; so viel Professionalität darf man den Journalisten schon zugestehen, die zudem überwiegend Trump auch nicht leiden können. Problematischer waren andere Faktoren.

Der erste war, wie bereits erwähnt, der allgegenwärtige Eindruck, Clinton würde die Wahl gewinnen. Kein Journalist wollte sich der Kritik aussetzen, zu weich gegenüber Wahlsiegerin Clinton gewesen zu sein. Dies führte zu einer Überkompensation.

Der andere war, dass die Medien damals wie heute im Bothdiserismus und Whataboutismus verhaftet sind. Jede negative Story über Trump musste mit einer negativen Story über Clinton ausgeglichen werden, um nicht in den Vorwurf der Parteilichkeit zu geraten. Nur produzierte Trump jede Woche 2,38 neue Skandale. Clinton keinen einzigen. Da die Leitmedien aber dennoch Clinton ebenso kritisieren zu müssen glaubten wie Trump, hackten sie immer auf dasselbe tote Pferd ein, bauschten jede Kleinigkeit zur Staatsaffäre auf, bis sich auch beim letzten Wähler der Eindruck festgesetzt hatte, dass Trump und Clinton austauschbar schlecht wären und Clintons Beliebtheitswerte von denen Trumps kaum mehr zu unterscheiden waren.

Das war fatal, denn es war dieser Eindruck, der vielen unentschlossenen Wählern auf den letzten Metern die nötige Deckung gab, ein solch unqualifiziertes Monster wie Trump zu wählen. Wenn schließlich beide Alternativen gleich schlecht waren, beide charakterlich gleich verkommen, dann konnte man es ja auch mit dem Außenseiter versuchen. Dieser Eindruck lag völlig außerhalb von Clintons Macht zu verhindern, und er liegt einzig und allein bei den Medien, die nicht das nötige Rückgrat hatten sich der parteiischen Kritik der Konservativen zu stellen, einen objektiv wesentlich skandalbeladeneren Kandidaten auch als solchen zu behandeln und die sich stattdessen in eine künstliche Objektivität flüchteten, in der es als unparteiisch galt, beide Kandidaten in den Dreck zu stoßen und den Eindruck zu erwecken, Demokratie sei nur ein gewaltiges, unterhaltendes Schlammschlacht-Spektakel. Bis heute stehen die meisten Medien nicht zu dieser Verantwortung. Gerade die New York Times versäumt es weiterhin, ihre Rolle in diesem Drama aufzuarbeiten und belügt sich selbst damit, keinerlei Einfluss gehabt zu haben.

Absurderweise dürfte gerade auch Clintons überzeugende Performance im Benghazi-"Skandal" dazu beigetragen haben. Dieser komplett von den Konservativen erfundene Skandal wurde tatsächlich objektiv begleitet - was eben auch bedeutete, Ross und Reiter zu bennenen und am Ende zu dem Schluss zu kommen, dass Clinton nicht verantwortlich und das ganze ein politisches Schauspiel war. Die Republicans griffen die Leitmedien dafür wochenlang aufs Aggressivste an, so dass die Furcht davor, eine noch viel schlimmere Variante dieses "Benghazi-Backlash" abzubekommen sicherlich auch eine Rolle spielte - schon allein, weil Clintons überzeugende Performance eine "einfache" Äquivalenz verhinderte. Es ist absurd, wie diese Mechanismen wirken.

Am auffälligsten waren diese Mechanismen aber im Falle des Emailskandals zu sehen. Ich habe gesagt dass die Existenz dieses Skandals Clintons Schuld war. Das trifft aber nicht auf die völlig überzogene Bedeutung zu, die ihnen zugewiesen wurde. Dass der exakt gleich geartete Skandal um Ivanka Trumps Emails aktuell praktisch kein Wimpernzucken wert ist zeigt, dass es bei Clinton nie um die Emails ging. Es ging darum, etwas, irgendetwas, an sie zu hängen, um auch einen Skandal zu haben, um negativ berichten zu können - und nicht nur negativ über Trump, sondern auch Clinton zu berichten und so "fair" zu sein. Aber nur ein Kandidat in diesem Wahlkampf war jemand, der 80% negative Berichterstattung rechtfertigte, der jede Woche neue, echte Skandale produzierte, der log dass sich die Balken bogen und offenkundig diverser Verbrechen schuldig war, die er nur aufgrund seines Status als reicher Ostküstenelite wegen entgangen war. Aber all das konnte und wollte man so nicht sagen. Stattdessen blieb man "objektiv" und "fair". Das Resultat sehen wir bei jeder Pressekonferenz im Weißen Haus.

Aber genug der Medienschelte. Ein weiterer Faktor außerhalb der Kontrolle Clintons, dessen Auswirkungen bis heute völlig unklar, aber eindeutig größer als null, sind, ist die Einmischung Russlands in den Wahlkampf. Es ist inzwischen nur noch von hauptberuflichen Putin-Verstehern zu leugnen, dass russische Hacker hinter den DNC-Leaks stehen und die sozialen Netzwerke mit Fake-News und Bots fluteten. Zudem gibt es diverse Indizien, dass es direkte Hackversuche von Wahlmaschinen durch russische Hacker gab und dass Russland rechtsextremistischen, mit Trump verbündeten Gruppen Geld zur Verfügung stellte. Nun ist nichts davon sonderlich ungewöhnlich; die USA versuchen gerne selbst auf diese Art, auf Wahlen Einfluss zu nehmen. Nur waren die Russen 2016 erfolgreicher als sonst. Was nicht viel heißen muss; selbst Experten und andere Beobachter, die Putin sämtliche der angesprochenen Aktionen zuschreiben sind sehr vorsichtig darin, ihnen übermäßige Effektivität zu bescheinigen. Russische Einflussnahme war deswegen ein Faktor, der zweifellos vorhanden und außerhalb Clintons Kontrolle lag, dessen Auswirkungen aber zumindest bis zur Veröffentlichtung der Ergebnisse der Mueller-Kommission unklar sind, ebenso seine Verwicklung mit der Trump-Organisation. Diese Spekulation soll an dieser Stelle auch unterbleiben.

Sie ist auch nicht notwendig. Denn selbst alle bisher genannten Faktoren, ob selbst verschuldet oder außerhalb Clintons Kontrolle, hätten nicht ausgereicht, um ihre Wahlniederlage hervorzurufen. It bears repeating: Clinton hätte die Wahl beinahe gewonnen. Eine Woche zuvor oder danach wäre sie sicher Präsidentin geworden. In der fatalen Novemberwoche hatte sie immer noch eine 2:1-Chance. Niemand rechnete mit ihrer Niederlage. Warum also verlor sie? Das lag an dem letzten Faktor, der ihrer Kontrolle völlig entzogen war. Und dieser Faktor war James Comey.

Der FBI-Präsident hatte sich bereits im Sommer 2016 in präzendenzloser Weise in den Wahlkampf eingemischt, als er Clinton im Ergebnis seiner offiziellen Email-Skandal-Untersuchung von allen Vorwürfen freisprach, ihr dann aber (in einer Überschreitung seiner Kompetenzen und der delikaten politischen Lage unangemessen) "extremely careless[ness]", also extreme Nachlässigkeit, bescheinigte. Dieser politische Schaden war durch Clinton aber im Herbst 2016 überwunden. Innerhalb von 24 Stunden von der Veröffentlichtung des Access-Hollywood-Tapes aber veröffentlichte Wikileaks, offensichtlich in Absprache mit dem Trump-Wahlkampfteam (sowohl Donald Trump Jr. als auch Paul Manafort machten vor der Veröffentlichung direkte Andeutungen in diese Richtung), die DNC-Mails, die Comey zum Anlass nahm, die Ermittlungen erneut aufzunehmen. Der Gipfel der Ironie ist, dass Comey dabei ein Clinton-ähnliches Unverständnis der Funktionsweise von Emails an den Tag legte: dass nämlich Mails lokal bei Sender UND Empfänger gespeichert werden, sollte einem FBI-Chef eigentlich bekannt sein. Und doch diente es ihm zur offiziellen Legitimation der Wiedereröffnung der Ermittlungen eine Woche vor der Wahl. Das wäre nicht schlimm gewesen, aber Comey teilte diese Wiedereröffnung auf sämtlichen Kanälen mit der Öffentlichkeit, vor allem in einem offiziellen Brief an den Kongress - wozu es keine Veranlassung gab.

Damit stellte Comey die letzte Woche vor der Wahl direkt unter den Schatten der Clinton-Mails. Die Schlagzeilen waren voll - und die meisten Umfragen waren vorher aufgenommen worden, so dass diese Ereignisse in vielen Umfragen nicht mehr auftauchten und die Experten kalt erwischten. Doch selbst diesen Schlag hätte Clinton vielleicht noch knapp verkraftet. Doch eine Woche später, am 6.11., schrieb Comey einen weiteren Brief, in dem er die Einstellung der Ermittlungen bekanntgab. Damit garantierte er, dass die letzten Zeitungen, die die Wähler vor dem Wahltag lasen, als Titelschlagzeile die Clinton-Mails hatten. Dass Clinton ein weiteres Mal freigesprochen wurde, war dafür irrelevant. Die Ereignisse bestätigten das in den Monaten zuvor beständig genährte Vorurteil, Clinton sei eine außergewöhnlich skandalbeladene Politikerin - was schlichtweg nicht der Wahrheit entspricht.

Nate Silver von 538 ist sich deshalb, wie die meisten anderen Beobachter außerhalb der bereits erwähnt aufarbeitungsresistenten Leitmedien auch, auch sicher, dass die Comey-Briefe Clintons Niederlage entschieden haben. Ihr Effekt kann in den Umfragen, anders als die Goldman-Sachs-Reden und alle anderen hier genannten Faktoren, direkt nachgewiesen werden. Es ist strittig, in welchem Umfang die Briefe gewirkt haben - die niedrigsten Schätzungen gehen von 1%, die höchsten von 3-4% Verlust für Clinton in den finalen Tagen vor der Wahl aus. Aber genau deswegen bin ich zu Beginn dieser Abhandlung so lang auf den knappen Ergebnissen in Wisconsin, Pennsylvania und Michigan herumgeritten. Sie alle sind deutlich unter 1% entschieden worden. Ohne Comeys Brief wäre Hillary Clinton heute Präsidentin. Das steht völlig außer Zweifel.

Warum tat Comey es? Aus dem gleichen Grund wie die New York Times ihren Bothsiderismus pflegte. Er hat es sogar offen gesagt: Er ging davon aus, Clinton werde gewinnen, und wollte sich von jedem möglichen Vorwurf, sie unterstützt zu haben, reinwaschen. Ihm fehlte schlichtweg das Rückgrat.

Es war damit Clintons Stärke, nicht ihre Schwäche, die absurderweise zu ihrer Niederlage führte. Wären die Umfragen durch den Oktober hindurch knapp und Kopf and Kopf mit Trump gewesen - sowohl die medialen Beobachter als auch Comey hätten sich anders verhalten, und Clinton wäre heute Präsidentin. Auch deswegen war dieser Schwung so schwer vorherzusehen. Clintons Stärke war echt, und sie war es bis wenige Tage vor der Wahl, an der dann 77.000 von über 60 Millionen Wählern die Entscheidung brachten.

Aber warum die ollen Kamellen wieder aufs Tablett bringen? Wen interessiert, außer den Historikern, der genaue Grund für 2016? Die Wahl wirkt deutlich nach, und sie spielt eine gewaltige Rolle für heute und für 2020. Im (versprochen!) letzten Teil der Serie wollen wir uns deswegen mit den Folgerungen aus 2016 befassen.