Dienstag, 15. Januar 2019

Ungleichheit am Grünen Tisch


Die Diskussion hier im Blog hat immer wieder die Frage der Ungleichheit aufs Tablett gebracht, und wir diskutieren immer wieder Phänomene und Policies, die sich mit ihr beschäftigen. Ich möchte daher in diesem Artikel den Versuch unternehmen, eine vereinte Debatte zu führen, indem ich einige Policy-Ideen vorstelle, deren Ziel es ist, Ungleichheit zu reduzieren. Mein Ziel ist es dabei solche Policies zu identifizieren, die tatsächlich - anders als viele sozialstaatliche Maßnahmen - nur oder fast nur den unteren Schichten zugute kommen, und dabei die Frage der politischen Machbarkeit hintenanzustellen. Das Ziel der Policies ist es, die Ungleichheit zu reduzieren und hilfreiche Sekundäreffekte für die Unterschicht zu haben. Die Sammlung dieser Policies ist nicht zu verstehen als kohärentes Programm, sondern als Ideensteinbruch und Diskussionsgrundlage. Manches mag sich widersprechen oder diverse Nachteile haben, die es dann in der Diskussion zu untersuchen gilt. Wer meint, ein eigenes Konzept vorstellen zu wollen oder eine größere Entgegnung schreiben zu wollen, kann mir gerne Bescheid geben, dass das als Blogbeitrag eingestellt wird. Ich werde meine Vorschläge thematisch untergliedern, aber das soll vor allem der Übersicht dienen, auch um in den Kommentaren Bezug zu nehmen. Damit genug der Vorrede, los geht's!

I. Steuern

1) Sondersteuern auf extrem hohe Einkommen
Diese Maßnahme gehört zu den groben Policy-Keilen. Es geht schlichtweg um effektive Strafsteuern auf extrem hohe Einkommen, wie sie früher gang und gäbe waren; wir reden von Sätzen von 70-90%. Der genaue Cut-Off-Punkt ist dabei nicht so relevant, auch als Einnahmegenerierung ist die Steuer zu vernachlässigen (das gilt ja für die Reichensteuer jetzt schon, und die greift bei 250k im Jahr). Der einzige Effekt ist, die Ungleichheit schlichtweg dadurch zu reduzieren, dass man das Einkommenswachstum nach oben begrenzt. Ich bin sehr unsicher, wie sinnvoll eine solche Maßnahme ist und ob sie alleine statistischen Effekt hätte. Aber ich denke sie gehört auf jeden Fall in die Liste.

2) Gleichbehandlung aller Einkommen
Wesentlich sicherer bin ich mir bei der Gleichbehandlung aller Einkommensarten. Vermögens- und Kapitalerträge sollten unter die Einkommenssteuer fallen und deren Grenzen aufkommensneutral hochgesetzt werden. Das hätte zwei Effekte. Die Aufkommensneutralität würde dafür sorgen, dass unterm Strich nicht eine verdeckte Steuererhöhung herauskommt, während die Gleichstellung dafür sorgt, dass die Leute, die tatsächlich von ihrer Hände Arbeit leben, eine echte Entlastung bekommen. Diese Maßnahme würde vermutlich der Mittelschicht am meisten helfen, hat hier aber so disparate Effekte (weil manche Leute nur wegen Kapital- und Vermögenserträgen in der Mittelschicht sind) dass ich sie trotzdem aufnehme.

3) Negative Einkommenssteuer
Da bekanntlich Niedriglöhner ohnehin kaum Einkommenssteuern bezahlen, kann man aus der Not gleich eine Tugend machen und ihnen durch negative Einkommenssteuersätze direkte Subventionen geben. Wie Maßnahme 1) auch ist das ein reichlich grober Keil, der eine direkte Umverteilung bedeutet. Aber es gibt nur wenig, das so direkt Geld in die Taschen derer spült, die kein oder wenig Einkommen haben, besonders wenn man es mit Maßnahme 2) kombiniert, dass nicht irgendwelche arbeitslosen Millionäre auch profitieren.

4) Konsumsteuerreform
Die Idee hier ist zweigliedrig. Auf der einen Seite soll eine Luxussteuer auf solche Produkte eingeführt werden, die ausschließlich von einer schmalen Oberschicht konsumiert werden, etwa Fahrzeuge mit mehr als 200PS, Diamanten, Yachten u.Ä. Der Grund dafür ist, dass wir diesen Leuten Geld weg nehmen wollen (erneut ein grober Keil zur Reduzierung der Ungleichheit durch Umverteilung) und sie es sich leisten können. Besteuert werden sollen dabei explizit Luxusprodukte, so dass keine notwendigen oder gesellschaftlich relevanten Güter bestraft werden. Auch diese Reform ist aufkommensneutral konzipiert und soll durch ein Wegfallen der Mehrwertsteuer auf Gemüse und andere gesunde Basisernährungsmittel kompensiert werden. Aktuell ist es billiger, sich ungesund zu ernähren, als sich gesund zu ernähren. Das bildet katastrophale Fehlanreize.

II. Bildung

1) Kostenloser und verpflichtende Kita
Der Teil mit dem "kostenlos" bezieht sich hier ausschließlich auf Geringverdiener; es spricht überhaupt nichts gegen gestaffelte Kitakosten, und es gibt auch echt keinen Grund dafür. Der Nutzen von Kita ist aber hoch: Die Kinder kommen in eine stimulierende Umgebung, lernen relevante Fähigkeiten und sind von Gleichaltrigen umgeben. Besonders für eher bildungsferne Haushalte ist hier der erste und oft einzige Kontakt mit Büchern, Basteln etc. zu finden. Da die frühen Jahre formativ sind, ist es hier besonders wichtig, Ungleichheit anzugreifen. Das alles erfordert natürlich die entsprechende Ausstattung, sowohl personell als auch infrastrukturell.

2) Einkommensabhängige Studiengebühren
Das Argument der Studiengebührenbefürworter, dass aktuell "die Krankenschwester dem Arztsohn das Studium finanziert", ist sicher nicht falsch. Die Art, wie Studiengebühren Mitte der Nuller Jahre angegangen worden sind, war nur völlig daneben. Was dagegen deutlich eher vorstellbar ist: Studiengebühren an das spätere Einkommen koppeln ("income-related downstream tuition"). Je mehr die Leute später verdienen, desto mehr zahlen sie (in handlichen Raten) Studiengebühren zurück. Entsprechende Modelle gibt es in einigen anderen Ländern, und sie würden die Last der Höheren Bildung auf die Schultern derjenigen verteilen, die aus ihr monetären Nutzen ziehen.

3) Negative Studiengebühren
Analog zu der negativen Einkommenssteuer kann man den Studiengebührensatz in Kombination mit Vorschlag 2) auch negativ gestalten. Das würde die absurde Bürokratie der Bafög-Ämter beseitigen und das Geld direkt zu denen bringen, die es brauchen. Auf die Art würde weniger relevant, wie gut die Eltern die Kinder unterstützen können (Bafög ist krass restriktiv).

4) Schulen- und Kitaffinanzierung aus den Händen der Kommunen nehmen
Aktuell wird ein Großteil der Infrastruktur von Kitas und Schulen durch die Kommunen finanziert. Zumindest bei den Schulen stellt das Land das Personal (und weist es über ein grotesk intransparentes Verfahren zu), während Gebäude, Reinigung, Ausstattung etc. von den Kommunen finanziert werden. Das hat den Effekt, dass reiche Kommunen gute Schulen und Infrastruktur stellen, während arme Kommunen schlechte Schulen haben. Das ist genau der gegenteilige Effekt, den man eigentlich haben wollen sollte. Möchte man nicht auf breiter Front einfach mit der Gießkanne die Ausgaben für Bildung erhöhen (auch nicht die schlechteste aller Ideen), so wäre es sinnvoll, hier anzusetzen.

5) Tutorenprogramme für Studenten aus bildungsfernen Haushalten
Eine große Hürde für potenzielle Studenten aus bildungsfernen Haushalten, ein Studium aufzunehmen, ist der völlige Mangel an institutioneller Vorbereitung. Während Erstsemester aus anderen Familien wenigstens die moralische Unterstützung haben oder Familienmitglieder oder Bekannte, die den Weg bereits gegangen sind, gilt dies für diese Gruppe nicht, die oft entsprechend verloren ist und ineffizient studiert, was höhere Abbrecherquoten bedingt. Das könnte durch gezielte Tutorenprogramme ausgeglichen werden.

6) Verbesserung der Personalschlüssel im Bildungswesen
Aktuell beträgt der Klassenteiler in Baden-Württemberg über fast alle Schularten hinweg 33, das heißt ein Lehrer auf 33 Schüler. Es ist zwar nicht unumstritten, dass ein kleinerer Klassenteiler für bessere Ergebnisse sorgt, aber die Korrelation ist zumindest sehr stark. In viel deutlicherem Maße gilt dies für Kitas, wo Betreuerschlüssel von 1:3 vorgeschrieben sind und selten erreicht werden. Es braucht mehr und gut aus- und weitergebildetes Personal, aber das ist natürlich sehr teuer (und endgültig nicht mehr aufkommensneutral).

7) Professionalisierung der Kitas
Auf diesem Feld ist bereits viel passiert, aber die Ausbildung von Erziehern ist immer noch viel zu sehr auf der Idee eines simplen Ausbildungsberufs für Frauen konzentriert. Dabei sind die Ansprüche an den Beruf viel höher als die oft wahrgenommenen Betreuungsaufgaben. Hier braucht es noch mehr als jetzt eine umfassende Ausbildung, die auch zumindest von den Hochschulen begleitet wird.

8) Ausbau der Ganztagesbetreuung
Nichts steht der Verbesserung der finanziellen Lage von Familien so sehr im Weg wie die Unmöglichkeit für beide Elternteile, besser bezahlte Beschäftigungen aufzunehmen, weil diese mit den Betreuungszeiten kollidieren. Noch immer findet sich in zu großen Teilen Deutschlands das Problem, dass Kitas und Grundschulen nicht für alle oder keine Ganztagsbetreuung anbieten können. Hier muss noch deutlich mehr geschehen.

9) Propaganda für Bildung
Ein letztes Element ist eine breit gefächerte Propgandaoffensive für Bildung, mit Prominenten-Testimonials und allem, was dazugehört. Bildung sollte sexy gemacht werden. In Deutschland werden zwar viele Sonntagsreden gehalten, aber Bildung hat trotzdem nicht den gesellschaftlichen Stand, den sie haben sollte. Warum nicht irgendwelche Größen aus der Wissenschaft bei der nächsten WM neben Merkel auf die Ehrentribüne setzen oder so was in der Richtung? Öffentlichkeitswirksame Lehr-Preise? Ehrungen herausragender Schülerleistungen an prominenter Stelle? So was. Kostet praktisch kein zusätzliches Geld.

III. Vermögen

1) Grunderwerbssteuer und Grundsteuer reformieren
Der erste Vorschlag der FDP auf dieser Liste! Grunderwerbssteuer und Grundsteuer sollten für Immobilien unter einer bestimmten Grenze (etwa 500.000 Euro) wegfallen. Die Idee hinter der Maßnahme ist, den Erwerb von Vermögen zu erleichtern (in dem Fall selbstgenutztes Immobilienvermögen). Eventuell kann man auch einfach die Kostenbeschränkung wegfallen lassen und stattdessen für selbst genutztes Wohneigentum gelten lassen, ich weiß nicht was sinnvoller ist.

2) Wiedereinführung der Eigenheimzulage
Flankierend für 1) kann eine staatliche Förderung des Wohneigentums wieder eingeführt werden. Das würde es geringer und durchschnittlich Verdienenden leichter machen, eigenes Wohneigentum zu erwerben.

3) Kreditzugangserleichterungen für Wohnkredite
Von der allgemeinen Verschärfung von Kreditzugängen im Zuge der Finanzkrise waren auch die klassischen Immobilienkredite betroffen. Ich will jetzt natürlich nicht der Schaffung eines deutschen Subprime-Markts das Wort reden, aber es ist vorstellbar, dass die Regeln im Einklang mit 1) und 2) etwas gelockert oder sogar diese Kredite subventioniert werden (etwa durch staatliche Sicherheiten zur Senkung der Zinsen, das kostet erst mal gar nichts).

4) Mehr sozialer Wohnungsbau
Angesichts der immer steigenden Wohnkosten besteht hier das größte Potenzial zur Entlastung von Niedriglöhnern. Analog zur Thatcher-Regierung (ich kann kaum glauben dass ich das aufschreibe) kann man auch passend zu 1), 2) und 3) Pläne entwickeln, dass die Bewohner dieses sozialen Wohnungsbaus mittel- bis langfristig zu Eigentümern werden; dies enthebt den Staat davon, permanenter Vermieter am Markt sein zu müssen und hält die Substanz besser in Schuss, weil (potenzielle) Eigentümer ein wesentlich größeres Eigeninteresse haben als Mieter.

5) Subventionen für die Schaffung und Erhaltung von Investment-Fonds für Niedrig- und Durchschnittsverdiener
Die Idee hier ist Anreize für die Schaffung spezifischer Anlagefonds für diese Einkommensgruppen zu schaffen, die auf deren Interessen zugeschnitten sind. Ähnlich Pensionsfonds wäre daher der Aspekt der Sicherheit deutlich höher bewertet als der der Performance. Auch hier lässt sich über staatliche Sicherheiten o.ä. nachdenken, die wenigstens in der Anfangsphase solcher Fonds hilfreich sind. Das rigide Konstrukt würde zwar die potenziellen Gewinne solcher Fonds schmälern, gleichzeitig aber die Sicherheit bieten, die wenig versierten Kleinanlegern wichtiger wäre, die von den Feinheiten des Aktienmarkts oft überfordert sind und ihm so fernbleiben. Letztlich belebt das die "Deutschland-AG" als Kleinanleger-Terrain wieder.

6) Schutz von Eigentum bei Arbeitslosigkeit
Das größte Problem aller vorangegangener Maßnahmen - und das größte Akzeptanzproblem für Hartz-IV! - ist, dass im Fall von unverschuldeter Arbeitslosigkeit der Zwang besteht, erst alles Vermögen aufzubrauchen, bevor man Unterstützung erhält. Diesem Dauerproblem wurde seit 2004 durch eine stetige, inkrementelle Ausweitung der Schutzbeträge entgegenzuwirken versucht, aber wenn das Ziel ist, Vermögensbildung bei bisher wenig vermögenden Schichten zu betreiben, muss hier deutlich mehr getan werden. Diese Regeln waren aber schon immer einer der miesesten Aspekte an Hartz-IV und sollten so oder so fallen.

IV. Arbeit

1) Förderung von Gewerkschaftsmitgliedschaft
Historisch sind die Institutionen, deren Erfolgsrate in der Reduzierung von Ungleichheit und der Schaffung von Wohlstand am besten ist, die Gewerkschaften. In Zeiten hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrads waren auch die Löhne und Arbeitszeiten besser als sie es heute sind. Die deutschen Gewerkschaften haben eine lange Geschichte als konservative, konsensorientierte Institutionen, so dass die Gefahr eines massiven Arbeitskampfs mit sofortigem inflationären Lohndruck (à la Frankreich) eher gering ist. Ihre Strukturen sind zudem (noch) grundsätzlich arbeitsfähig (anders als etwa in Großbritannien), so dass eine (etwa steuerliche) Förderung von Gewerkschaftsmitgliedschaft helfen kann, den Organisationsgrad wieder zu erhöhen. Dies hat auch für die Arbeitgeber Vorteile, weil die Sozialpartnerschaft historisch stets dazu angetan war, ein halbwegs ebenes Spielfeld zu schaffen, auf dem die Bedingungen für alle verlässlich gleich sind. Diese Maßnahme zielt vor allem darauf, den bislang erfolglosen Organisationsversuchen der Gewerkschaften im Dienstleistungssektor zu helfen; siehe auch die folgenden zwei Punkte.

2) Politische und rechtliche Hilfe für Gewerkschaften
Die Reformpolitik der letzten 30 Jahre war sehr großzügig zu den Arbeitgebern und hat deren Rechte ausgeweitet beziehungsweise ihre Pflichten reduziert. Es ist durchaus vorstellbar, dass der Staat seine Politik in die andere Richtung wandelt und die Gewerkschaften durch Reformen stärkt. Das kann eine Hilfe bei der Erhöhung des Organisationsgrads wie in 1) sein, aber auch andere Formen annehmen. Für Details kenne ich mich in den entsprechenden Gesetzen nicht gut genug aus, aber die Stoßrichtung sollte deutlich geworden sein.
 
3) Arbitration in Arbeitskämpfen durch das Arbeitsministerium
Das Arbeitsministerium könnte eine aktivere Rolle als Arbitrator in Arbeitskämpfen einnehmen, der tendenziell eher auf der Seite der Arbeitnehmer ist. Dies würde die Anreize für Unternehmen erhöhen, den Gewerkschaften in Verhandlungen weiter entgegen zu kommen. Diese Maßnahme steht wie 4) und 5) in einer Reihe von Unterstützungsmaßnahmen, die die Politik (wieder) auf die Seite der Arbeitnehmer zurückbringen.

4) Rechtshilfe für Arbeiter und Angestellte mit niedrigen oder durchschnittlichen Löhnen
Ein Grundproblem in allen Konflikten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern ist das extrem disparate Machtgleichgewicht. Häufig genug wissen Arbeitnehmer schlichtweg nicht um Rechte, die sie bereits haben, und haben nicht die Ressourcen, um diese durchzusetzen. Die Idee hinter dieser Maßnahme ist es, anstatt weitere Gesetze zu schreiben die Durchsetzung der bisherigen Gesetze zu stärken, indem Arbeitnehmern aus den unteren bis durchschnittlichen Lohnsegmenten (alle anderen können Rechtsbeistand selbst besorgen) Rechtshilfe durch vom Arbeitsministerierum gestellte Experten gestellt wird, ähnlich der Arbeit, die die Gewerkschaften in gewissem Ausmaß bereits selbst treiben. Erneut, es geht nur um die Durchsetzung bereits bestehender Gesetze, die bislang gebrochen oder ignoriert werden, nicht um das Schaffen neuer Rechte.

5) Bewerbung und Unterstützung der Betriebsräte
In diese Kategorie gehört auch diese Idee. Betriebsräte sind ein wichtiges Instrument, für Arbeitnehmer wie für Arbeitgeber. Für Arbeitnehmer, weil sie gerade in eher prekären Betrieben helfen können, betriebsverfassungsrechtliche Grundrechte sowie arbeitsrechtliche Grundrechte durchzusetzen. Für Arbeitgeber, weil zu viele Führungskräfte die alles andere als effiziente Neigung haben, alleine und ohne Rücksprache mit den Betroffenen Entscheidungen zu treffen, die sich dann allzuoft als teure Luftblasen oder Irrwege herausstellen. Das Problem mit Betriebsräten heute ist häufig, dass sie überaltert sind und sich aus einer Demographie der Arbeitnehmer 50+ rekrutieren. Diese haben dann ein gestärktes Interesse daran, diese Basis zu schützen und blockieren deswegen hauptsächlich, statt sich produktiv und konstruktiv in die Unternehmen einzubringen. Eine Bewerbung des Instruments Betriebsrats, möglicherweise sogar eine Verpflichtung für Unternehmen einen zu haben, wäre daher ein erster Schritt dazu, dieses wichtige Instrument zu dem zu machen, was das Gesetz eigentlich vorsieht. In einem weiteren Schritt kann das Arbeitsministerium sich bewusst mit Personalressourcen hinter die Betriebsräte stellen und etwa dort helfen, wo der Arbeitgeber deren Arbeit behindert, statt sich neutral zu verhalten und dies den Gerichten zu überlassen, wo die Arbeitgeberseite schlichtweg deutlich stärker vertreten ist.

6) Höherer Mindestlohn
Auf diesem Feld gibt es glaube ich nicht mehr besonders viel Spielraum, weil regional die Schmerzensgrenze bereits erreicht ist. Eventuell macht es Sinn, auf das während der ersten Großen Koalition 2005 bis 2009 öfter genutzte Instrument der branchenspezifischen Mindestlöhne zurückzugreifen, das unter Schwarz-Gelb wieder aus der Mode kam?

V. Rente

1) Einbeziehung von Kindererziehungs- und Pflegezeiten
 Eines der größten ungelösten Probleme der Rentenpolitik bleibt, dass Lücken in der Versicherungsgeschichte die Chancen auf Armut dramatisch erhöhen, und neben Arbeitslosigkeit entstehen diese Lücken vornehmlich durch Kindeserziehungszeiten und Pflege älterer Angehöriger. In den letzten Jahren wurde immer wieder daran gearbeitet, diese Lücken zu schließen, aber es bleibt unklar, wie genau das geschehen soll. Will man aber Altersarmut gerade unter geringverdienenden Frauen - der gefährdetsten Gruppe überhaupt - reduzieren, führt am Angehen dieser Aufgabe kein Weg vorbei. Eine gute Lösung habe ich auch nicht, vielleicht möchte ja ein Kommentator etwas beisteuern?

2) Renteneintrittsalter auf Erwerbsminderung umstellen
Eine Möglichkeit, mit der steigenden Lebenserwartung umzugehen ohne die Rente direkt durch ein erhöhtes Renteneintrittsalter zu kürzen (let's face it, kein Bauarbeiter geht mit 67 in Rente) wäre, die Rente komplett als Erwerbsminderungs- bzw. Erwerbsunfähigkeitsrente zu fassen und nicht länger an einen bestimmten Termin zu koppeln. Konkret würde dann jeder einfach so lange arbeiten, wie er oder sie kann. Dies wird fast zwangsläufig dazu führen, dass geistige Arbeiter länger arbeiten als körperliche Arbeiter, aber daran muss ja nichts falsches sein. Wolfgang Schäuble etwa hatte ja Kommentare in diese Richtung gemacht. Eine Flexibilisierung dieser Grenze würde die Übergänge von Erwerbsarbeit zu Rente gleitender machen und hätte für Arbeitnehmer und Arbeitgeber Vorteile und würde eventuell zu einer Umschichtung von körperlich anspruchsvoller auf weniger anspruchsvolle Arbeit im Alter (statt den direkten Austritt aus dem Arbeitsmarkt) fördern. Problematisch sind natürlich die Feststellung der Erwerbsminderung sowie die Übergangsphase.

3) Betriebsrenten stärken
Betriebsrenten sind aktuell eine gute Möglichkeit für Verdiener des Durchschnittslohns und darüber, um die gesetzliche Rente um so viel aufzubessern, dass wenigstens ein Modikum an Lebensstandardsicherung stattfinden kann. Dieses Instrument ist allerdings wenig geeignet, um Verdienern unterhalb des Durschnittslohns zu helfen. Das liegt unter anderem an den in 4) beschriebenen Problemen, aber auch an der Konstruktion "Betriebsrente" in Deutschland, die nur in bestimmten Bereichen finanziell sinnvoll ist und in diesen häufig ein Steuersparmittel für den Arbeitgeber darstellt.

4) Anrechnungsschutz für Vermögen
Eines der größten Probleme all der oben aufgeführten Maßnahmen ist, dass sie zwar die Vermögensbildung in Niedrigverdienerhaushalten als Ziel haben, diese Vermögen aber jederzeit akut gefährdet sind, weil sie mindernd angerechnet werden, sobald Sozialleistungen bezogen werden. Konkret trifft das vor allem auf die Rente und die Arbeitslosigkeit zu. Im Falle einer niedrigen Rente, die durch Sozialhilfe aufgestockt werden muss, wird eine etwaige Betriebsrente genauso wie anderes Vermögen voll angerechnet, was einer effektiven Enteignung gleichkommt (Beiträge wurden geleistet, die jetzt keinen Effekt mehr haben). Gleiches gilt für Arbeitslosigkeit, wo sämtliche Formen von Vermögen aufgebraucht werden müssen, bevor Unterstützung gewährt wird. Da die Gefahr von Arbeitslosigkeit gerade im Niedriglohnsektor besonders hoch ist, konterkarieren diese beiden Mechanismen die erhofften Anreize und Mechanismen zur Vermögensbildung fatal. Ohne eine effektive Abschaffung dieser Anrechnungen führen daher alle solchen Maßnahmen - wie bereits die völlig missratene Förderung der privaten Rentenversicherungen - in die Irre.

VI. Sonstiges

1) Privatinsolvenzen erleichtern
Überschuldung ist ein glücklicherweise nicht sonderlich weit verbreitetes Problem, aber es existiert dennoch in groß genugen Zahlen, um Handlung zu erfordern. Die bisherigen Strukturen für überschuldete Privathaushalte sorgen leider dafür, dass praktisch keinerlei Anreiz für die Aufnahme einer Regelbeschäftigung besteht, da die Schuldenstruktur kaum abbaubar ist. Dies ist aus zweierlei Gründen problematisch: Einerseits schließt es die Schuldner in einer ewig prekären Existenz ein und andererseits setzt es Fehlanreize für die Gläubiger, auf eine ordentliche Bonitätsprüfung zu verzichten, da eine Insolvenz - anders als bei Unternehmungen, Start-Ups etc. - praktisch nicht nutzbar ist.

2) Kostenlose Schuldenberatung
Dazu passend ist es sinnvoll, ähnlich der Struktur von Sozialarbeitern auch Schuldenberater vorzuhalten, auf die - telefonisch, im Internet oder mit persönlichen Terminen - zurückgegriffen werden kann. Diese Menschen können etweder präventiv tätig werden und bei der Strukturierung der persönlichen Finanzen helfen (beeindruckend viele Menschen scheitern damit) oder in den harten Fällen gegebenfalls den Gang in die Privatinsolvenz begleiten und managen und ähnlich einem Bewährungshelfer für danach solide Finanzen sorgen, um moral hazard aus 1) zu verhindern.

3) Billiger oder kostenloser ÖPVN
Gerade arme Menschen sind auf einen funktionierenden und gut ausgebauten ÖPVN angewiesen, um ihren Lebensalltag zu managen und berufliche Chancen zu ergreifen, wenn diese sich bieten. Dazu sind Modelle wie in Wien möglich (wo der gesamte ÖPVN für einen Euro am Tag nutzbar ist) oder sogar ein komplett kostenloser öffentlicher Nahverkehr. Einer der größten Armutsfaktoren aber ist Immobilität, und diese kann so angegangen werden. Diese Maßnahme hat den zusätzlichen Charme, dass sie dem Stadtklima und der CO2-Reduktion zuträglich ist.

4) Nährwertinformationskampagne
Ein letztes Problem betrifft die Ernährung. Gerade in sozial eher schwachen Haushalten fehlt es oftmals an grundsätzlichen Informationen zu Nährwerten von Nahrung und dem Zusammenspiel dieser Faktoren, weswegen - passend zu I.4 - hier die Gefahr von Übergewicht und Fettleibigkeit auch überproportional höher sind. Früher wurde auf diesem Feld deutlich mehr getan, und es kann hier sowohl die Gesundheit verbessert als auch aktiv Geld gespart werden. Und ich rede nicht von solchen Perversitäten wie dem Hartz-IV-Kochbuch.

Damit wäre ich am Ende meines Ideen-Steinbruchs. Ich möchte noch einmal betonen, dass es sich nicht um eine fest ausformulierte Policy handelt; ich möchte es als Anstoß für Diskussionen, nicht als festgefasste Meinung verstanden wissen.

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