Samstag, 28. September 2019

Das politische Gericht: Ein Leitfaden zum Impeachment-Prozess in den USA

Es ist passiert. Nachdem es drei Jahre lang so aussah, als gäbe es nichts, wirklich gar nichts, dass Donald J. Trump, 45. Präsident der USA tun könnte das zu einem Impeachment-Prozess führen würde, ist der Rubikon nun überschritten. Nancy Pelosi, Mehrheitsführerin der Democrats im House of Representatives und Sprecherin desselben, hat angekündigt, formelle Untersuchungen für einen Impeachment-Prozess gegen Trump einzuleiten. Ihr caucus steht geschlossen hinter ihr. Aber welche Chancen hat ein Impeachment? Wie funktioniert es überhaupt? Und ist Trump überhaupt schuldig? All das, und noch viel mehr, in diesem kleinen Leitfaden.

Der formelle Teil

Der Impeachment-Prozess ist in der US-Verfassung festgeschrieben. Wie das in diesem Dokument so oft der Fall ist, schweigt sie sich dabei über die Details ziemlich aus. Lediglich zwei Schritte - die formelle Anklageerhebung und das Verfahren - sind festgelegt. Aber auch hier sind die Details ziemlich diffus. Der geneigte Leser möge sich daher nicht über viele Konjunktive und Ungefährheiten wundern. Sie sind systemisch.

Beginnen wir mit dem einfachsten: dem Ziel. Wer kann impeached werden? Grundsätzlich jeder "civil officer", also vom niedrigsten gewählten Hundefänger (nicht, dass es die auf Bundesebene gäbe...) bis hin zum Präsidenten selbst. Privatpersonen etwa oder Angestellte des Öffentlichen Dienstes sind raus. Für sie greift normales Straf- und Arbeitsrecht.

Weswegen darf gegen die civil officers ein Impeachment eingeleitet werden? Die Verfassung nennt drei mögliche Vergehen: treason, high crimes and misedemeanors. Während das Konzept des Landesverrats vergleichsweise klar umrissen ist (wenngleich sich die Verfassung selbst ausschweigt), ist reichlich unklar, was mit high crimes and misdemeanors eigentlich gemeint ist. Das ist bis heute nicht klarer als 1787. Letztlich bleibt also nur die Festlegung im politischen Prozess.

Der erste Schritt im eigentlichen Verfahren sind Ermittlungen. Wer diese durchführt, ist in der Verfassung nicht festgelegt. Häufig tut dies der Rechtsausschuss (Judiciary Comittee) des House of Representatives, aber das ist nicht zwangsläufig der Fall. Die Ermittlungen gegen Richard Nixon begannen im Rechtsausschuss des Senats; die gegen Bill Clinton in den völlig aus dem Ruder laufenden Untersuchungen des special investigator Kenneth Starr. Im Fall des Impeachment gegen Trump aber beginnen die Untersuchungen im erstgenannten Gremium mit der offiziellen Erklärung Nancy Pelosis. Diese Unterschiede haben ihre Grundlage vor allem in den politischen Prozessen, von denen noch die Rede sein wird.

Wenn die Untersuchungen abgeschlossen sind, kommt der ganze Fall vor das House of Representatives. Dieses steht nun vor der Wahl, entweder formell Anklage zu erheben oder dies nicht zu tun. Diese Entscheidung ist nicht durch den vorhergehenden Beginn der Ermittlungen determiniert. Das Abgeordnetenhaus könnte auch entscheiden, dass die Beweislage zu dünn ist, um das Verfahren einzuleiten. Aus politischen Gründen erfolgt diese Abschätzung üblicherweise vorher.

Im Gegensatz zu Gesetzen, die der Sprecher des Senats (aktuell die Inkarnation des Bösen, Mitch McConnell) ignorieren kann, ist der Senat nicht nur gezwungen, sich mit dem Impeachment zu beschäftigen. Er muss es auch zu seiner obersten Priorität machen. Ein Impeachment bringt den gesamten legislativen (Bundes-)Apparat der USA zum Stillstand, ein weiterer Grund dafür, warum die Abgeordneten üblicherweise zögerlich sind, von dem Instrument Gebrauch zu machen.

Der Senat muss nun in einem offiziellen Verfahren, das vom Vorsitzenden des Supreme Court in einer weitgehend zeremoniell verstandenen Rolle geleitet wird, über die Schuld des Angeklagten befinden. Hierzu müssen 2/3 aller Abgeordneten, aktuell also 67 Senatoren, einer Verurteilung zustimmen. Diese hohe Hürde sorgt dafür, dass eigentlich keine Partei alleine und ohne Stimmen der Gegenpartei einen Impeachment-Prozess gewinnen kann. Wird das Quorum erreicht, ist der Präsident abgesetzt und sein Vizepräsident wird als neuer Präsident vereidigt. Wird das Quorum nicht erreicht, passiert gar nichts. Das Impeachment ist gescheitert, und alles nimmt wieder seinen normalen Gang.

Ein Blick in die Geschichte

Soweit die Rechtslage. Schauen wir einmal, wie es um das präsidiale Impeachment in der Geschichte bestellt war. Insgesamt gab es in der US-Geschichte drei Versuche, einen Präsidenten zu impeachen. Das ist, gerechnet über die 232jährige Geschichte des Landes, nicht sonderlich viel. Wir werden noch sehen, warum.

Das erste Impeachment richtete sich 1867 gegen den Andrew Johnson. Johnson war in der Wahl von 1864 von Abraham Lincoln als Vizepräsident ausgewählt worden, um die eher sklavereifreundlichen konservativen Kräfte zu befrieden. Diese politische Kalkulation half ihm zwar, die Wahl zu gewinnen, erwies sich aber nach seiner Ermordung kaum drei Monate nach seiner Amtseinführung 1865 als verhängnisvoll. Johnson blockierte jegliche Versuche, die besiegten Südstaaten zu reformieren oder irgendetwas für die Verbesserung der Situation der befreiten Schwarzen zu unternehmen. Er wehrte sich dagegen, ihnen Bürgerrechte zu geben und arbeitete eng mit den ehemaligen Sklavenhaltern an deren Rehabilitierung. Kurz: Er war ein Schurke.

Das sah die zunehmend frustrierte Mehrheit der republikanischen Partei auch so. Mehrere Male überstimmte sie - mit 2/3-Mehrheit - die Vetos des Präsidenten. Der Kampf zwischen Exekutive und Legislative eskalierte immer weiter. 1867 kippte er über. An Anklagepunkten mangelte es weder in Abgeordnetenhaus noch Senat. Am Ende allerdings scheiterte das Impeachment an einer einzigen Stimme im Senat. Das erste Impeachment ist damit das bisher auch knappste, das je ausgefochten wurde.

Völlig wirkungslos war es übrigens auch nicht. Johnson musste endgültig einsehen, dass er auf verlorenem Posten stand und auf breiter Front verhasst war. Gescheitert war das Verfahren weniger daran, dass er viele Freunde hatte, als daran, dass einigen der Schritt zu radikal war. Woran die Betroffenen auch keinen Zweifel ließen. In den Nachwehen des Verfahrens moderierte sich Johnson denn auch deutlich und sah davon ab, sich 1868 noch einmal um die Präsidentschaft zu bewerben.

Das zweite Impeachment war gegen Richard Nixon. Auch er verdient unzweifelhaft das Prädikat eines Schurken, wenngleich er für seine Leugnung dieses Sachverhalts berühmt wurde. Hinreichend bekannt ist hier der Einbruch seiner Handlanger in das Watergate Hotel, in dem die Democrats ihre Wahlkampfzentrale hatten. Als ein erster Verdacht entstand, bemühte sich das Team um Nixon, möglichst viele Nebelkerzen zu werfen und die Ermittlungen zu behindern. Aus diesen Tagen entstammt das geflügelte Wort "It's not the crime, it's the cover-up".

Jedoch tut man den Republicans Unrecht, wenn man denkt, dass sie damals einhellig Nixon verurteilten. Die Ermittlungen, in deren Verlauf immer krassere Enthüllungen ans Licht kamen, zogen sich über Monate, in denen die Funktionäre und Abgeordneten treu zu ihrem offensichtlich korrupten Präsidenten standen. Es war absurderweise die Veröffentlichung von Gesprächsmitschnitten aus dem Oval Office, die die Stimmung im konservativen Lager gegen Nixon kippen ließen. Der Grund? Nixon fluchte wie ein Dockarbeiter. Das brachte damals die Wertkonservativen gegen ihn auf.

Nachdem deutlich war, dass das Abgeordnetenhaus offiziell Anklage erheben und, entscheidend, der Senat Nixon verurteilen würde, zog der Präsident die Notbremse und trat als erster und bisher einziger Präsident der US-Geschichte zurück, um der Amtsenthebung (die praktisch sicher war) zuvorzukommen. Nixons Rücktritt wird daher oft ohne den Kontext des Impeachments debattiert, ist ohne dieses aber nicht vorstellbar.

Das zweite tatsächlich durchgeführte Impeachment dagegen betrifft den 42. Präsidenten, Bill Clinton. Die Republicans, die sich unter ihrem damaligen Anführer Newt Gingrich deutlich radikalisiert hatten, nutzten das Justizsystem, um Clintons Präsidentschaft zu erschweren. In den frühen 1990er Jahren ernannten sie einen special investigator, Kenneth Starr, um Vorwürfe aus Clintons Zeit in Arkansas zu untersuchen, die nebulöse Details eines noch nebulöseren Immobiliendeals ("Whitewater") untersuchen sollten. Zwar kann als sicher gelten, dass Clinton dort nicht hasenrein operierte; Konkretes nachweisen konnte ihm Starr jedoch nicht.

Anstatt nun seinen Bericht einzureichen und die Sache abzuschließen, erweiterte Starr eigenständig sein Mandat, gestützt von Gingrichs auf Linie gebrachtem caucus. Bereits kurz nach Clintons triumphaler Wiederwahl 1996 (eine ironische Parallele zu Nixons 49-Staaten-Triumph von 1972) kam er auf die Spur eines Sexskandals, der bald für Monate die amerikanische Öffentlichkeit in Atem halten sollte. Die Falle, die Starr dabei Clinton stellte war, ihn glauben zu lassen, keine Beweise für die Affäre mit Monica Lewinsky zu haben. Clinton tappte natürlich direkt hinein und sagte unter Eid aus, "keine sexuellen Beziehungen zu dieser Frau" gehabt zu haben.

Seine miese Haltung gegenüber Lewinsky wurde erst im Wahlkampf 2016 wieder zum Thema; den ganzen Rest der Affäre liquidierten die Republicans damals öffentlichkeitswirksam im Senat. Es zeigte sich aber schnell, dass man nicht mehr 1974 schrieb. Die amerikanische Öffentlichkeit empfand den Sex-Skandal zwar als verwerflich, aber nicht gerade als high crimes and misdemeanor.  Im Senat scheiterte das Impeachment, das mittlerweile übereinstimmend von allen Beteiligten als überzogen betrachtet wird, deutlich.

Lehren

Dieser letzte Fall ist vor allem deswegen von Bedeutung, weil die Analyse der politischen Dynamiken einen ganz eigenen Legendenstatus entwickelte. Viel davon hängt mit den Midterms 1998 zusammen. Obwohl sie die zweiten Midterms einer Amtszeit waren, gelang den Democrats etwas, das in der neueren amerikanischen Geschichte seit 1900 nur dreimal vorgekommen ist: Dass die Präsidentenpartei Stimmen hinzugewann. Während dies bei der Wiederwahl durchaus häufiger vorkommt, ist es für Midterms extrem selten.

Dieser Zugewinn wird in der politischen Folklore gerne auf den republikanischen overreach zurückgeführt, also die Idee, dass man mit dem frivolen Impeachment um Sexgeschichten die Bevölkerung gegen sich aufgebracht hatte. Das ist jedoch aus den Umfrage- und Wahldaten nur schwer zu belegen. Geholfen hat das Impeachment den Republicans 1998 sicherlich nicht; ihre Wahlniederlage aber hatte vor allem strukturelle Gründe.

Die Legende vom backlash gegen das Impeachment dagegen hält sich hartnäckig. Das ist nachvollziehbar. Für die Regierungspartei war sie eine gute Methode, leicht verständlich auf Fehler der Opposition hinzuweisen und mit dem beliebten Präsidenten zu glänzen. Für republikanische Strategen war es sehr einfach, die ganze Schuld auf Newt Gingrich abzuschieben, dessen Stern ohnehin im Sinken begriffen war und der stark an Rückhalt eingebüßt hatte (und 1998 auch den Posten des Mehrheitsführers verlor). So gewannen am Ende alle (bis auf Gingrich).

Dem Erkenntnisgewinn allerdings half es verhältnismäßig wenig. Die Republicans radikalisierten sich ungehemmt weiter (die Geschichte dieser Radikalisierung hier im Blog). Man sollte daher vorsichtig sein, zu starke Lehren aus dem Prozess von 1997 ziehen zu wollen.

Ein fundamental politischer Prozess

Wir haben jetzt viel darüber gesprochen, was das Impeachment alles nicht ist und nicht zu leisten in der Lage war, was nicht definiert und was in der nebulösen Grauzone des politischen Prozesses hängt. Das ist kein Konstruktionsfehler. Es ist im Impeachment vielmehr angelegt.

Die Vorwürfe, die zu einem Amtsenthebungsverfahren führen können, sind explizit nicht strafrechtlicher Natur. Sie können dies sein - etwa wenn Trump tatsächlich jemanden auf 5th Avenue erschießen würde -, doch in der Praxis haben sie bislang nie eine Rolle gespielt. Das einzige Mal, in dem strafrechtliche Konsequenzen zu erwarten gewesen wären, sorgte der neue Präsident Ford durch eine prophylaktische Begnadigung dafür, dass die Diskussion sich erübrigte.

Stattdessen wird das Verfahren aus politischen Gründen angewandt. Es ist auch in seiner Natur politisch. Anders als bei Gerichtsprozessen spielen konkrete Gesetzesverstöße und Beweisprozesse eine grundsätzlich eher untergeordnete Rolle. Es geht nicht darum, den oder die Richter von der Schuld zu überzeugen. Es geht darum, ob 2/3 der Richter bereit sind, für eine Amtsenthebung zu stimmen.

Hierfür ist selbst erwiesene Schuld keine Notwendigkeit. Niemand hat je bezweifelt, dass Bill Clinton bezüglich des Geschlechtsverkehrs mit Lewinsky Meineid begangen hatte. Niemand hat je bezweifelt, dass der Watergate-Einbruch stattfand. Niemand hat je bezweifelt, dass Johnson mit allen Mitteln versuchte, das rassistische Südstaatensystem zu retten. Der Kampf bestand darin, eine Mehrheit zu überzeugen, dass diese Schuld schwer genug wog, eine Amtsenthebung durchzuführen.

Und diese Entscheidung treffen die Senatoren überwiegend aus politischen Gründen. Es gibt sicherlich einige Verfassungsprinzipalisten. Aber sie sind höchst selten. Im aktuellen Senat ist keiner zu sehen, und der einzig konservative Unterstützer des Impeachments im Abgeordnetenhaus, Justin Amash, hat sich bereits vor Monaten mit seiner Partei über völlig andere Fragen überworfen und wird seine Wiederwahl mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verlieren.

Der wichtigste Gradmesser für die Unterstützung des Prozesses ist die öffentliche Meinung. Goutieren die Wähler das Impeachment oder nicht? Es ist ja nicht so, als hätte vor dem Ukraine-Skandal eine Mehrheit der Wähler geglaubt, Trump sei sauber. Jeder wusste von Anfang an, dass der Mann schuldig ist. Er hat es im Wahlkampf ja sogar immer wieder selbst gesagt. Nur gab es bisher keine Unterstützung für das Impeachment.

Nein, wenn am Ende Senatoren der Präsidentenpartei für eine Amtsenthebung stimmen, dann tun sie dies üblicherweise, weil fortgesetzte Loyalität zu ihrem Präsidenten die schlechtere Option wäre. Man mag das bedauern, aber zu glauben, in einem politischen Prozess würde Politik keine Rolle spielen, wäre eher inkonsequent. Hierfür müsste man den Fall an die Gerichte übergeben. Und das ist alles, aber keine gute Idee. In dieser Logik findet sich auch der Grund dafür, dass das Impeachment so selten benutzt wird und noch seltener erfolgreich ist.

Eine Dynamik bricht sich Bahn

Was also hat sich geändert, dass nun, nach drei Jahren fortgesetzter Misswirtschaft, offener Korruption und hanebüchener Fehlleistungen plötzlich das Impeachment auf dem Tisch liegt?

Die Forderung seitens demokratischer Aktivisten (also dem linken Rand der Partei), ein Verfahren zu eröffnen, liegt bereits länger auf dem Tisch. Das ist per se wenig überraschend. Der aktivistische Rand der GOP forderte auch permanent ein Impeachment gegen Obama, ohne sich groß Mühe zu geben, dieses zu begründen. Die schiere Existenz des jeweiligen Antipoden im Weißen Haus ist selbst-evident Grund genug. Entsprechend wurden diese Rufe von politischen Akteuren auch überhört.

Das erste Mal, dass die Forderung mehr an Fahrt gewann, war im Rahmen des Mueller-Berichts im Frühjahr. Mueller, der über ein Jahr lang als special investigator die Verbindungen Trumps zu Russland und zu Einflussversuchen 2016 untersuchte, kam zu dem Schluss, dass es solche Versuche unzweifelhaft gab. Entgegen dem Verhalten Kenneth Starrs, der seinerzeit als politischer Akteur und Aktivist agierte, gab er keine Handlungsempfehlung für den Kongress ab und weigerte sich auch in Anhörungen, das I-Wort in den Mund zu nehmen.

Es gelang den unbeholfen und inkompetent agierenden Democrats auch nicht, ein klares Narrativ in die Medien zu bekommen. Die meisten versuchten es auch gar nicht. Sie schätzten die Lage (wohl nicht falsch) so ein, dass die notwendige Unterstützung für ein Impeachment in der Bevölkerung nicht gegeben war. Entscheidend für Nancy Pelosis Weigerung, ein Verfahren einzuleiten, war aber, dass sie keine Mehrheit in ihrem eigenen caucus hatte. Viele Abgeordnete in wackeligen Distrikten befürchteten, 2020 ihren Sitz zu verlieren (die Legende von 1998 tat da ihr Übriges). Also geschah nichts.

Doch Trump zog einen anderen Schluss aus den Ergebnissen des Mueller-Reports. Wie es scheint sah er als Lektion, dass seine Gegner zahnlos waren und er sich erlauben konnte, was auch immer er wollte. In den Monaten seit den Mueller-Anhörungen legte Trump Woche um Woche eine Schippe auf. Seine öffentlichen Äußerungen wurden noch erratischer, die Skandale aus dem Weißen Haus noch absurder, sein Verhalten noch rücksichtsloser.

Die gleichbleibend hervorragenden Umfrageergebnisse Joe Bidens in hypothetischen Wahlen gegen ihn (die Biden mit mehr als 10% Vorsprung für sich entschied) trieben Trump über die Klippe. Anstatt die logische Konsequenz zu ziehen und die Umfrageergebnisse als die irrelevante Ablenkung abzutun, die sie sind (solche Ergebnisse sind notorisch irrelevant für tatsächliche Wahlergebnisse), reagierte er völlig über. Er versuchte, über seine Kanäle in der Ukraine, in denen sein ehemaliger (mittlerweile im Gefängnis sitzender) Wahlkampfmanager Manafort schon 2016 die Grundlage für die russische Einmischung schuf, belastendes Material gegen Biden zu finden. Der Politikveteran machte es ihm mit seiner Vetternwirtschaft für Sohn Hunter Biden zugegeben auch leicht.

Doch eine fremde Macht dazu zu benutzen, um sich illegal Vorteile im Wahlkampf zu verschaffen, geht sogar über Nixons Einbruch im Watergate Hotel hinaus. Innerhalb von drei Tagen hatte Pelosi ihren caucus auf Impeachment-Kurs gebracht.

Und jetzt?

Wie in den anderen Verfahren gilt auch hier, dass Trumps Schuld überhaupt nicht zur Debatte steht. Die beste Verteidigung, die republikanische Politiker derzeit haben, ist die Behauptung, den Bericht des Whistleblowers nicht gelesen zu haben. Niemand von ihnen unternimmt den Versuch, Trumps Schuld zu leugnen oder ihn zu verteidigen. Stattdessen spielen sie die Affäre herunter (allen voran natürlich wieder der Sensenmann Mitch McConnell). Das gleiche Muster war auch 1973 zu beobachten, als die Watergate-Untersuchungen begannen. Auch hier blockten die Republicans ab, gaben sich unwissend, spielten die Bedeutung des Zwischenfalls herunter.

Ob eine ähnliche Dynamik wie 1974 entstehen wird, die schließlich zum Untergang Trumps führt, darf bezweifelt werden. Die GOP hat kein Problem damit, dass ein Verräter im Weißen Haus sitzt, der mit Geheimdiensten anderer Länder zusammen die Integrität der Wahlen kompromittiert. Was sie interessiert ist nur, ob es ihr Verräter ist. Und diese Frage kann emphatisch mit "ja" beantwortet werden.

Es bräuchte schon einen beeindruckenden Umschwung in der öffentlichen Meinung, um diese Front bröckeln zu lassen. Das allerdings ist mehr als unwahrscheinlich. Die Zustimmungswerte Trumps über die letzten drei Jahre sind wie aus Beton. Nie gaben mehr als 45% oder weniger als 35% der Amerikaner ihm ihre Zustimmung. Der Minderheitenpräsident, der weder bei seiner Wahl noch je danach eine Mehrheit der Amerikaner auf seiner Seite wusste, wird durch eine radikalisierte, von der Realität dank der rechtsextremen Medienblase um FOX News, Breitbart und Co weitgehend abgeschirmte Anhängerschaft gestützt.

Dazu kommt, dass selbst ein Umschwung der öffentlichen Meinung für die republikanischen Abgeordneten und Senatoren nur sehr eingeschränkt vorteilhaft wäre. Die Midterms von 1974 waren ein Erdrutschsieg für die Democrats. Würde Trump tatsächlich seines Amtes enthoben werden, ist kaum zu erwarten, dass die Wählerschaft sich dafür bei den Republicans bedankt und diese in ihren Ämtern lässt. Die beste Option der GOP ist es, abzuwarten und den Sturm auszuhalten.

Im besten Fall für die GOP ändert sich die öffentliche Meinung nicht merklich. Das Thema spaltet das Land ungefähr entlang der Linien von 2016, und dank weitgehender Wählerunterdrückung, sonstiger Wahlbetrügereien, den Großspenden der durch schuldenfinanzierte Steuergeschenke gekauften Superreichen und ausländische Einflussnahme siegt Trump 2020 erneut - ohne eine Mehrheit unter den Wahlberechtigten, aber im Electoral College.

Im schlimmsten Fall für die GOP wird Trump seines Amtes enthoben, Mike Pence wird Präsident, verliert die Wahl 2020 krachend, und die Democrats machen sich daran, den Schaden für Demokratie, Wirtschaft und Ansehen zu reparieren. Die Republicans werfen ihnen dann permanent die Schäden vor, die sie selbst angerichtet haben, und die Democrats verprellen ihre eigenen Wähler im ehrlichen Bestreben, das Richtige zu tun. Wie es eben immer passiert, wenn die GOP die Macht verliert.

So oder so ist nicht unmöglich, dass dieses Impeachment erfolgreich sein wird. Es ist allerdings reichlich unwahrscheinlich. Aber wie es bei politischen Prozessen eben so ist - sie entwickeln ihre Dynamik, und was genau passieren wird, weiß man hinterher immer am besten.

Freitag, 27. September 2019

Das Asylrecht im Lateinunterricht, Warren in der Kathederale und Höcke nimmt Globuli - Vermischtes 23.09.2019

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Why Warren Would Be a More Effective President Than Sanders
Those examples can seem a bit incongruous to people who have grown accustomed to Warren’s fiery rhetoric. But she demonstrated that she knows the difference between populist rhetoric and pragmatic action when Andrew Ross Sorkin challenged her on the question of whether Glass-Steagall would have prevented the 2008 financial crisis. "In my conversation with Ms. Warren she told me that one of the reasons she’s been pushing reinstating Glass-Steagall — even if it wouldn’t have prevented the financial crisis — is that it is an easy issue for the public to understand and “you can build public attention behind.” She added that she considers Glass-Steagall more of a symbol of what needs to happen to regulations than the specifics related to the act itself. It is Warren’s pragmatism that is also on display in this report from Jonathan Martin about her recent meetings with Democratic leaders. "Her point was easy to grasp: While her liberal agenda may be further left than some in the Democratic establishment would prefer, she is a team player who is seeking to lead the party — not stage a hostile takeover of it." [...] These days people really hate the word “establishment.” But being president requires a complex set of skills. [...] The good news is that Elizabeth Warren obviously knows about the need for the kind of pivot described by Dean and has demonstrated that, in previous roles, she has been able to make the transition. That is precisely what makes her a better presidential candidate than Bernie Sanders, even when they agree on some of the issues. Warren is aware of what it takes to govern as an executive in a democracy. (Nancy LeTourneau, Washington Monthly)
Diese Argumentationslinie kann ich problemlos nachempfinden. Aus ähnlichen Gründen hatte ich ja 2016 bereits Sanders' Kandidatur abgelehnt. Ich glaube schlichtweg nicht daran, dass es ihm gelingen würde, Kraft der Begeisterung und Mobilisationsfähigkeit seiner Unterstützer die institutionellen Hindernisse beiseite zu räumen. Wahrscheinlicher ist, dass er dieselben Probleme hätte wie Trump, nur dank seiner größeren Intellogenz und Strahlkraft seiner Überzeugungen potenziert. Warren dagegen gelingt ähnlich wie Obama ein idealistisch-radikales Äußeres mit einem pragmatischen, konsensorientierten Vorgehen hinter den Kulissen zu kombinieren. Ich bin immer noch nicht sicher, ob sie präsidententaugliches Material ist - bisher hat mich noch keiner der demokratischen Kandidaten begeistern können - aber wenn ich zwischen ihr und Sanders wählen müsste, würde ich sofort Warren wählen.

2) The Catholic Church Holds a Lesson for Progressives
Ross Douthat wrote a column over the weekend about the possibility of a schism in the Catholic church. As you can imagine, I don’t really care if the Catholic church splits in two again, but I read the column anyway because of what it says about conservative thought in general. Here’s the relevant piece: "In the seventh year of the Francis pontificate [...] The partway-liberalization of the Francis era has encouraged the church’s progressives to push further, while many conservatives have been flung into intellectual crisis or a paranoia-flavored traditionalism. And the overlap of theological and national divisions means that national churches could evolve away from one another at a rapid pace." The seventh year! Think about that. Pope John XXIII died in 1963. For the next 50 years the papacy was held by conservatives. Now, after a mere seven years of a modestly liberal pope, conservatives are so hysterical that they’re openly talking about schism. This is why progressive change is so hard: conservatives are more afraid of us than we are of them. (Kevin Drum, Mother Jones)
Kevin Drum hat einen guten Punkt hier. Die völlige Hysterie der conservatives ist ein Dauerzustand. Sie ist übrigens auch ein amerikanisches Phänomen; sie lässt sich problemlos bis in die Zeit vor der Gründung des Landes zurückverfolgen und hat in den konservative Parteien und Strömungen Europas wenig Entsprechung. Die Erkenntnis dieser Hysterie ist auch relevant im Umgang mit konservativer Opposition. Die Republicans haben sich auch in eine achtjährige Dauer-Hysterie hineingesteigert, als ein bekennender Zentrist wie Obama an der Macht war. Selbst das Erringen der trifecta - absolute Kontrolle von Exekutive, Legislative und Judikative - 2016 änderte an der Hysterie der conservatives nichts. Vermutlich spielt die amerikanische Besessenheit mit der biblischen Endzeit (die sich ebenfalls die ganze amerikanische Geschichte nachverfolgen lässt) dafür eine große Rolle. Der Weltuntergang ist immer um die nächste Ecke.

3) Immer diese alten Geschichten
Es gibt bei Björn Höcke nichts mehr zu entlarven. Er ist bekannt. Die Fixierung auf den Sprachschwulst der AfD lenkt nur ab von dem, was sie inhaltlich aussagt und mit dieser Gesellschaft vorhat. Wer sich mit Höcke darüber streitet, ob sein Reden dem eines Nationalsozialisten gleicht, gibt ihm die Möglichkeit, im Wettbewerb der Wortklauberei zu entwischen. Er verwende den Begriff "entartet", hält ihm der ZDF-Journalist vor. Ja, der sei ja auch aus dem Biologieunterricht bekannt, entgegnet Höcke. Kein Wort darüber, was Höcke denn nun für "entartet" hält, was mit "Entartetem" zu tun sei, wenn einst "die Wendezeit" gekommen ist. Dabei sind das die Fragen, die der AfD und ihren Wählern gestellt werden müssen. Was genau meint etwa Alexander Gauland, wenn er sich im ZDF-Morgenmagazin von der "Ideologie der Grünen" abgrenzt, die "wiedergutmachen wollen, was unsere Väter und Vorväter sozusagen angerichtet haben", die "Fremde aufnehmen, das Klima retten, anderen Menschen helfen" möchten - und er die AfD im Gegensatz dazu als Partei positioniert, die für das Deutschland eintritt, "was wir von unseren Vorvätern übernommen haben"? (Stefan Kuzmany, SpiegelOnline)
Kuzmany weist auf einen wichtigen Punkt hin. Man muss mit Höcke und Gauland nicht über ihre Sprache diskutieren. Man muss nur erklären, warum es Nazi-Sprache ist. Die Wissenschaft hat nun fast 70 Jahre lang einen beeindruckenden Korpus dazu angelegt. Den Nazis in der AfD den Gefallen zu tun, das ganze ergebnisoffen zu diskutieren, ist für eine liberale Gesellschaft völliger Irrsinn. Hier gilt wie generell im Umgang mit den Rechtsextremisten: Nicht MIT Rechten reden, sondern ÜBER Rechte reden. Wir müssen nicht so tun, als ob mit Leuten, die für den demokratischen Diskurs nur Verachtung übrig haben, irgendwelche Erkenntnisse zu gewinnen wären. Gleichzeitig sollten wir auch nicht in die Falle laufen, die rechten Rattenfänger zu ignorieren oder das Problem totzuschweigen.

4) The left-wing threat to campus free speech is abating. The right-wing threat is not.
But regardless of how one characterizes what's transpiring on campuses, there are encouraging signs that things are getting better. A report last year by the Foundation for Individual Rights in Education (FIRE), an outfit that does yeoman's work tracking the threats to free speech in colleges, found that the percentage of institutions with speech codes banning offensive or hate speech, a genuine problem in the 1990s, had diminished by 42 percentage points since 2009 in the sample it surveyed. [...] On the disinvitation front there is good news. [...] But even as universities are beginning to diffuse the threat to free speech from leftist radicals on campus, they are facing new ones from right-wing lawmakers off campus. [...] There is a rising trend that goes something like this, as per New York University's Jonathan Haidt: A left-wing professor says something provocative on social media or elsewhere and the right-wing media goes into overdrive, covering the story ad nauseum to gin up viewer outrage. Republican politicos jump in and demand action. University administrators, terrified of the PR damage but unworried about academic freedom, put the professor on leave and begin the "process of termination," especially if the professor isn't tenured. (Shikha Dalmia, The Week)
Wie so häufig muss man bei den Republicans nur schauen, was sie an ihren Gegnern kritisieren - mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tun sie dasselbe, nur wesentlich schlimmer. So ist es auch mit der Beschränkung der Meinungsfreiheit am Campus. Wie so oft haben Progressive sich hier auch das Narrativ ihrer Gegner aufdrücken lassen. Dabei ist gerade eine Stärke der liberalen Seite des Spektrums, dass diese Kritik auch von der eigenen Seite geäußert wird; Jonathan Chait etwa wettert seit Jahren gegen die "PC-Police" an den Universitäten. Diese intellektuelle Hygiene auf Seiten der Linken geht der Rechten völlig ab. Hier gibt es überhaupt keine Kritik dieser Art. Dass etwa an den zahlreichen christlichen Universitäten das Recht auf freie Rede keinen Pfifferling wert ist - oder glaubt etwa jemand, dass dort ein Vortrag eines Vertreters von Planned Parenthood möglich wäre? - interessiert in der Debatte überhaupt nicht, weil es ihnen nie in den Sinn käme, wie die Linken die Prämisse der Kritik zu akzeptieren und sie intensiv zu debattieren. Wohlgemerkt: Das Akzeptieren der Prämisse einer Kritik heißt dezidiert nicht, dass man sie zwingend als gerechtfertigt anerkennen muss. Ich kann Kritik auch anerkennen, diskutieren und zum Schluss kommen, dass ich mein eigenes Verhalten als korrekt empfinde. Aber dieser Aushandlungsprozess findet auf den Extremen überhaupt nicht statt (auch links nicht!). Er ist ein Merkmal der liberalen Gesellschaft. Aber wegen des Wegbrechens der GOP als demokratischer Partei gibt es diese, anders als etwa in Deutschland, nur noch im Mitte-Links-Spektrum. Und diese Schieflage ist für die USA toxisch.

5) Spahn will Homöopathie auf Kassenkosten nicht antasten
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will umstrittene Kostenübernahmen für homöopathische Arzneimittel durch die Krankenkassen nicht antasten. Er verwies am Dienstagabend in Berlin beim "Berliner Salon" des Redaktionsnetzwerks Deutschland darauf, dass die gesetzlichen Kassen bei Arznei-Ausgaben von rund 40 Milliarden Euro im Jahr etwa 20 Millionen für Homöopathie zahlten. Darüber könne man emotional diskutieren und dabei vielen vor den Kopf stoßen. Oder man könne sich fragen, ob es das angesichts der gesamten Größenordnung wert sei. Er habe sich entschlossen, es sei "so okay". In Deutschland wird über das Thema heftig diskutiert. Wer solche Mittel haben wolle, solle sie erhalten, "aber bitte nicht auf Kosten der Solidargemeinschaft", hatte der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, kürzlich gesagt. Er verwies auf nicht ausreichende wissenschaftliche Belege für die Wirksamkeit homöopathischer Mittel. SPD-Fraktionsvize Karl Lauterbach sieht es genauso: Er will gesetzlichen Krankenkassen die Kostenerstattung von Homöopathie untersagen. "Wir müssen in der GroKo darüber reden", sagte er. (dpa, SpiegelOnline)
Auf einer gewissen Ebene sympathisiere ich mit Spahns Begründung. Auf der finanziellen Ebene spielen die 20 Millionen tatsächlich keine Rolle. Ich hoffe nur, dass Spahn sich daran erinnert, wenn es mal um 20 Millionen für etwas geht, das er tatsächlich ablehnt. Aber: Das Ausnehmen der Homöopathie aus den Kassenleistungen wäre ein wichtiges Signal, weil es deutlich macht, dass es sich hier um Pseudowissenschaft und Bauernfängerei handelt. Dadurch, dass er sich die 20 Millionen leistet, signalisiert der Staat, dass er Homöopathie gutheißt. Es ist quasi ein Gütesiegel. Aus diesem Grund muss sie ausgenommen werden. Diese Kritik richtet sich auch nicht primär gegen die CDU. Ich denke nur, die hätte in der GroKo die beste Chance, das zu erreichen. Denn wenn die Grünen erst einmal an der Regierung sind, wird diese Reform unmöglich geworden sein. Die Partei ist viel zu sehr in den Griffen der alternativen Spinner. Wo wir gerade dabei sind sollten SPD und CDU auch noch eine Impfpflicht verabschieden, dann hätten wir die größten Blockaden einer potenziellen grünen Regierung gleich noch weggeräumt. Win-Win.

Denn die Preise im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) sind von 2000 bis 2018 um fast 79 Prozent gestiegen, die für den Kauf und die Unterhaltung von Kraftfahrzeugen dagegen nur um gut 36 Prozent. Da sind Kosten für Sprit, Kfz-Steuer, Reparatur, Versicherung und Stellplatz schon eingerechnet. Die Verbraucherpreise insgesamt sind in dem Zeitraum um 30 Prozent gestiegen. Diese Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen: Obwohl das Ziel bezahlbarer, umweltfreundlicher Mobilität seit Jahren auf der politischen Agenda steht, ist für Menschen ohne Auto Mobilität nicht billiger, sondern teurer geworden. Ähnlich sieht es auch bei den Preisen für den Schienen-Fernverkehr aus: Die Preise für Bahntickets erhöhten sich um knapp 57 Prozent. Was ist da schiefgelaufen? [...] "Es wird darüber debattiert, wie zusätzlich zu den Ticketeinnahmen und den Zuschüssen von Land und Bund noch eine dritte Einnahmequelle kommen kann" sagt Thomsen. "Eine Option wäre etwa eine Übernachtungsabgabe für Touristen oder eine Nahverkehrsabgabe für Autofahrer, durch die der ÖPNV zweckgebunden unterstützt werden kann." Auch eine City-Maut werde diskutiert. [...] Der Blick auf die Preisentwicklung für die Verbraucher lässt allerdings auch eine andere Perspektive zu: Vielleicht ist nicht der ÖPNV zu teuer geworden – sondern das Autofahren zu billig? Denn ein großer Teil der Kosten des Autofahrens werden der Allgemeinheit aufgelastet. (Imre Balzer, Zeit)
Das ist ein gutes Beispiel für die völlig fehlgeleitete, autofixierte Verkehrspolitik in Deutschland. Wenn wir jemals von den verstopften Straßen der Innenstädte wegwollen, braucht es eine Wende hin zu ÖPVN und Fahrrad. Davon sieht man herzlich wenig, stattdessen steigen die Preise eines ÖPVN ständig an, der eine unbefriedigende Abdeckung aufweist (auch daher speist sich da die bittere Notwendigkeit aller, die außerhalb der urbanen Zentren wohnen, ein oder mehrere Autos zu besitzen), der zu selten fährt und unpünktlich ist. Auch der Schlusssatz des obigen Zitats ist von brennender Relevanz. Denn tatsächlich muss jeder die Kosten für den vergleichsweise billigen Autoverkehr bezahlen, auch wenn man kein Auto besitzt. Allein die Masse an Parkplätzen, die zur Verfügung gestellt werden müssen, sind absurd. Die Verkehrsregelungen und -kontrollen kosten ebenfalls ein Vermögen, und der Platz für breite Straße, in denen die riesigen Autos einander passieren können, ist ebenfalls allgemein finanziert. Dabei zeigen zahllose Großstädte im Ausland, wie das Ganze besser geht.

7) Der Supergrüne
Diese Kultur führte 2005 zum grandiosen Scheitern von Rot-Grün – die damals rot-grüne Mehrheitsgesellschaft ließ die Politik im Stich und erledigte sich damit historisch selbst. Die Zerstörung des ökosozialen Projekts von An­drea Ypsilanti in Hessen durch die SPD-Partei­zentrale markierte – wie man heute weiß – 2008 auch das Ende aller rot-rot-grünen Träume. Danach baute der so desillusionierte wie weitsichtige Tarek Al-Wazir die hessischen Grünen zur Verantwortungspartei der liberalen Mitte um, was sie in Baden-Württemberg längst waren. Robert Habeck folgte in Schleswig-Holstein, Cem Özdemir in der Bundeszentrale, Katharina Fegebank in Hamburg, Katharina Schulze in Bayern. Die Landesverbände, die die alte Anti-Establishment-Kultur hochhalten, wurden derweil gesellschaftlich marginalisiert und abgewählt – wie in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Dieser sich in einer pragmatisch-idealistischen Teilgesellschaft vollziehende Wandel weg von der Gegen- und hin zur Verantwortungskultur ist durch die solitäre Ministerpräsidentenfigur Kretschmann sichtbar gemacht, aber auch dynamisiert worden. Durch ihn haben viele Leute erst gemerkt, wo sie stehen und bewusst stehen wollen: in der „liberalen Mitte“ der Gesellschaft. Das nämlich ist nach Robert Habecks Definition heute grün. Demnach ist Kretschmann supergrün. [...] „Das Alte ist das Neue“, sagte Winfried Kretschmann am Donnerstag auf die Frage, was er denn für eine dritte Amtszeit auf der Pfanne habe. Damit meint er ernsthafte Klimapolitik und die sozialökologische Transformation der Wirtschaft, für die er in den Achtzigern angetreten ist. Die Mitte der Gesellschaft fängt – auch durch die Friday-Kids – langsam an, ihn auch hier ernst zu nehmen. Aber es dauert einfach alles so lang, wie es dauert. (Peter Unfried, taz)
Der Vergleich dieser Analyse - der ich aus vollem Herzen zustimme - mit Stefan Pietschs jüngster Polemik ist instruktiv. Denn tatsächlich sind die Grünen alles andere als radikal, sie sind mittig. Ihr Politikverständnis ist nicht revolutionär, es ist reformatorisch, und zwar in kleinen Schritten. Man muss sich dazu nur das tatsächliche Programm der Partei anschauen. Auch ein Blick auf die Wählerschichten reicht dazu aus. Es finden sich nur wenige Revoluzzer im gut situierten Bürgertum. Auch der Vergleich mit der FDP ist interessant, weil beide Parteien letzlich um einen vergleichbaren Platz im Parteinsystem streiten. Beide wollen die bürgerliche Mitte gewinnen, jedes Mal mit einer anderen Akzentsetzung an den Rändern. Aktuell sind die Grünen damit erfolgreicher, aber das muss kein Dauerzustand sein. Man sollte nicht vergessen, dass die FDP 2009 knapp 16% der Stimmen erreichte, ein Rekord, den die Grünen erst noch knacken müssen. Zumindest in einigen Bundesländern aber haben sich die Grünen mittlerweile als natürliche Regierungspartei etabliert. Ich sehe in der Entwicklung beider Parteien - ebenso der SPD und CDU - den anhaltenden Wunsch der breiten Mehrheit in Deutschland nach einer liberalen Mitte, jeweils an den Rändern moderiert. Es gibt auch 2019 keine Sehnsucht nach radikalen oder großen Lösungen. Auch das mag sich in Zukunft ändern.

8) "Sie sind alle Getriebene" (Interview mit Carl Christian von Weizsäcker)
ZEIT: Was folgt daraus?
Von Weizsäcker: Dass sich da offenbar etwas in unserem Wirtschaftsgefüge verschoben hat. Im Kapitalismus gab traditionell der Kapitalist den Ton an. Er kontrollierte das knappe Gut: das Kapital. Arbeit war dagegen reichlich vorhanden. Heute ist es umgekehrt: Die qualifizierte Arbeit ist knapp, Kapital gibt es im Überfluss. Deshalb fällt der Preis des Kapitals, also der Zins. [...] Die öffentliche Hand müsste neue Kredite aufnehmen. Dadurch würde sich die Nachfrage nach Kapital erhöhen. Das wachsende Kapitalangebot würde absorbiert und die Zinsen würden wieder steigen. Davon würden die Sparer profitieren. [...] Die Staatsschulden sind die Steuergröße. Der Staat regelt die Kreditaufnahme so, dass die Zinsen nicht zu sehr abrutschen, andererseits nicht zu stark steigen – und das bei Vollbeschäftigung. [...] Wirtschaftspolitik und Finanzpolitik sind immer schon Lernprozesse gewesen. Wir müssen davon wegkommen, Staatsschulden nur als Last zu betrachten. Eine staatliche Rentenzusage erhöht die implizite staatliche Verschuldung, der Staat muss das Geld ja irgendwann auszahlen. Für die Bürger ist das Anrecht auf eine künftige Rentenzahlung aber Vermögen, über das sie im Alter verfügen können. Das private Vermögen in Europa besteht heute etwa zur Hälfte aus solchen Ansprüchen an den Staat. Das bedeutet umgekehrt: Wenn der Staat keine Schulden mehr hätte, wären die Menschen nur halb so reich. (Mark Schieritz, Zeit)
Man muss Weizsäcker sehr dankbar sein, dass er diese offenkundigen Zusammenhänge so deutlich ausspricht, die in der ökonomisch analphebitisierten Debatte völlig unverstanden bleiben. Die Frage ist letztlich nicht, ob die Ausgaben des Staates pauschal zu hoch sind, die Frage ist, ob es der Staat ist, der die jeweilige Aufgabe am effektivsten bewältigen kann. Darüber kann man diskutieren. Aber die apokalyptischen Vorstellungen der Jünger Hayeks und Friedmans sind in jedem Falle Quatsch.

9) Metamorphosen der sexuellen Gewalt
Die deutschsprachige Altphilologen-Community hat auf #MeToo bisher nicht reagiert. In der Schule zielt die Vermittlung meist auf absolute Identifikation, um Jugendliche für die Antike zu faszinieren. Das treibt zum Teil absurde Blüten, wenn Schüler*innen erklärt wird, dass römische Heranwachsende ganz ähnliche Erfahrungen gemacht hätten wie heutige; die Gewalt in den Texten wird schlicht ignoriert. Werden dennoch unbequeme Fragen gestellt, lautet die Standardantwort, die Welt der griechisch-römischen Antike sei eben leider nicht ganz so wunderbar wie die unsrige gewesen. Hier haben wir das Gegenteil der naiven Überidentifikation: die totale Distanzierung. Aber wenn die Welt der antiken Texte so fremd ist, wenn sie rein gar nichts mit unserer Gegenwart zu tun hat – wieso sollen dann Jugendliche antike Texte überhaupt lesen? [...] Die antiken Texte zu zensieren ist aber die falsche Strategie. Erstens bleibt dann nicht mehr viel übrig, zweitens berauben wir uns eines Potenzials an Konflikt und Reibung mit unseren eigenen Traditionen. Sexismus im Jahr 2019 ist kein isoliertes Phänomen, sondern ein Punkt in einem jahrtausendealten Prozess. Die Geschlechterbilder der Antike stellen weitere Punkte auf dieser Zeitskala dar; die alte Weisheit von der Antike als "Wiege der europäischen Kultur" gilt nicht nur im Guten, sondern auch im Fürchterlichen. Die Zensur problematischer Inhalte würde unweigerlich zur Verarmung der Diskurse führen. Es geht aber auch anders. (Katharina Wesselmann, Zeit)
Was Wesselmann hier anspricht ist ein generelles Problem auch in Geschichte. Die Bildungspläne sehen für Geschichte einen chronologischen Durchlauf vor (was ich bescheuert finde, aber das ist Thema eines eigenen Artikels). Man beginnt in der Unterstufe (in BaWü zwischen Klasse 5 und Klasse 6, je nach Schulart), üblicherweise mit der Steinzeit oder den Frühkulturen, und arbeitet sich dann langsam vor. Da ich aber dadurch an das Alter und das kognitive Leistungsvermögen von Kindern gekoppelt bin, Dadurch unterrichte ich die Antike - die nur sehr ausschnittartig in der Sekundarstufe II wieder auftaucht - in einer stark bereinigten Version. Bereinigt einerseits im historischen Komplexitätsgrad (Rom etwa wird bestenfalls in Republik und Kaiserreich unterscheiden), andererseits aber auch in der Verniedlichung. Wir unterrichten effektiv gezwungenermaßen eine "politisch korrekte" Variante der Geschichte. Denn die frühen Kulturen sind uns deutlich fremder, als Dokumentarfilme, bunte Geschichtsbücher und eben der Unterstufenunterricht üblicherweise vermittelt. Würden wir beim Behandeln des Themas "Die römische Familie" etwa den Schülern tatsächlich erklären, wie römische Familien funktionierten, wären sie völlig traumatisiert, von der Kriegführung der Legionäre einmal ganz zu schweigen. Aber die Realität würde (zu Recht!) einen Sturmlauf entrüsteter Eltern vor mein Lehrerzimmer schicken. Es ist wenig überraschend, dass diese Thematik auch im Lateinunterricht aufschlägt.

10) Die Bundesrepublik hat jetzt das härteste Asylrecht ihrer Geschichte
Wo Geflüchtete wohnen dürfen, wie viel Geld sie zur Verfügung haben, ob sie arbeiten können, wie Abschiebungen ablaufen – das alles hat sich verändert. Immer wieder, bis kaum noch jemand durchblickte. Nicht nur, dass es ab 2015 jedes Jahr mindestens ein neues Gesetzespaket gab – die Gesetze sind dabei auch noch absichtlich kompliziert. Das hat Horst Seehofer im Juni beim Kongress wehrhafte Demokratie selbst gesagt (auch wenn er erklärte, das sei ironisch gemeint gewesen, als ihm deswegen öffentliche Empörung entgegenschlug). [...] Für Menschen aus dem Westbalkan hatten diese Verschärfungen den gewünschten Effekt zur Folge – die Anzahl der Anträge ist drastisch gesunken. Während 2015 noch ein Drittel aller Asylanträge von Menschen aus diesen Ländern gestellt wurden, ist der Anteil heute verschwindend gering. [...] Genau wie bei den sicheren Herkunftsländern wird hier ein Parallelsystem geschaffen – von Menschen mit und Menschen ohne Papiere: Denn anders als Menschen mit einer „normalen“ Duldung gibt es seither für Menschen ohne Papiere keine Möglichkeit, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. Sie können auch nicht von der Duldung zu einem richtigen Aufenthaltstitel (und den damit verbundenen Rechten und Sicherheiten) „aufsteigen“. Gleichzeitig können sie sich ohne Papiere aber auch nicht freiwillig in ein Flugzeug in ihr Herkunftsland setzen. Sie stecken also fest. Für Anwalt Tometten ist das deshalb eine der katastrophalsten Entwicklungen der letzten Monate. „Die Duldung light presst Menschen in die Perspektivlosigkeit.“ [...] Nachdem 2015 selbst die Bild-Zeitung einen Sommer lang #refugeeswelcome rief, ist daraus vier Jahre später auch aus Angst vor der AfD ein #bleibtbloßweg geworden. Das neue Migrationspaket geht diesen Weg weiter – so sehr, dass sogar einige CDU-Mitglieder im Rechtsausschuss Skrupel bekamen. Sie wollten, dass der Bundesrat den Vermittlungsausschuss anrufen sollte, um die Gesetze abzumildern. Dazu kam es nicht. Auch dieses Gesetzespaket hat der Bundesrat durchgewunken. Die Zeit des Willkommens ist für Geflüchtete in Deutschland schon lange vorbei. (Rebecca Kelber, Krautreporter)
Ich muss zugeben, ich war bass verblüfft, diesen Artikel zu lesen. Mir war nicht klar, in welchem Ausmaß das Asylrecht seit 2015 verschärft worden ist. Und offensichtlich auch praktisch sonst niemandem. Die Lektion aus dieser Tatsache ist deutlich. Die Verschärfungen werden nicht mal zur Kenntnis genommen. Stattdessen bestätigen alle derartigen Debatten (denn letztlich bleibt vor allem die Kritik des "zu liberalen" Asylrechts hängen) einfach nur die Rechtsextremisten. Ich kann mich nicht erinnern, dass hier im Blog jemals in den vielen Debatten zur Flüchtlingsdebatte von den entsprechenden Kritikern anerkannt worden wäre, wie viel sich seither getan hat. Wir haben die gleiche Dynamik in den 1990er Jahren gesehen. Damals wurde das Asylrecht ebenfalls krass verschärft, als Reaktion auf mordende Rechtsextremisten im Osten. Auch damals weigerten sich die Behörden, den grassierenden Rechtsextremismus und seine Gewalt als das eigentliche Problem zu sehen. Stattdessen wurde das auf die Opfer abgewälzt. Die Verschärfung des Asylrechts wurde dabei nicht gouttiert, von niemandem. Die Asylbewerberzahlen gingen aus Gründen zurück, die überwiegend der sich wandelnden Situation in den Ursprungsländern geschuldet war. Was blieb was das Gift einer Debatte, die Ausländerhass normalisiert hatte.

11) Tweet
Der Hintergrund dieses Tweets ist, dass der Rechtsextremist Milo Yiannopolous von den meisten sozialen Netzwerken, besonders aber Twitter, gebannt wurde. Yiannopolous beklagte sich bitterlich in irgendeinem peripheren sozialen Dienst, den er seither zu nutzen versuchte, über seine geschwundenen Followerzahlen und die Schwierigkeit, wie früher seinen Extremismus zu monetarisieren. Diese Episode zeigt deutlich, dass die liberale Gesellschaft sich gegen Extremisten nicht am besten wehrt, indem sie mit ihnen spricht - wie es in Yiannopolous' Fall wesentlich zu häufig geschah - sondern indem sie sich ihnen verschließt. Yiannopolous spritzt immer noch genau so viel Gift wie ehedem. Was ihm abhanden kam, war die kostenlose Plattform und die Aufmerksamkeit der Medien. Genauso muss man mit dem Gesindel verfahren.

Die Tea Party im Taxi auf dem Weg nach Frankreich gründet einen grünen Investitionsfond - Vermischtes 27.09.2019

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) How the Republican Majority Emerged

Phillips was not interested in a partnership between estranged Democrats in the South and Republicans in the North, which Gabrielson had imagined 20 years earlier. The old Republican establishment of the Northeast, Phillips argued, was crumbling as a result of its acquiescence to liberalism. Rather than including the Northeast in an electoral coalition, Phillips argued the region was most useful as a “provocateur of resentment elsewhere.” Instead, Phillips called for uniting the South and West, as Goldwater had hoped, while also appealing to another group: the growing suburban electorate. The key to wooing white voters in the Sun Belt, according to Phillips, was taking advantage of “group animosities” and exploiting racial tensions—once again, knowing “who hates who” and acting on it. “Ethnic and cultural animosities and divisions exceed all other factors in explaining party choice and identification,” Phillips observed. Phillips’s research landed him a role in Richard Nixon’s 1968 presidential campaign. Leonard Garment, one of Nixon’s liberal-leaning advisers, recalled hiring the young man “after scanning a manuscript Phillips had handed me in lieu of a resume. Something called ‘The Emerging Republican Majority.’” Phillips used his research to frame a Goldwater-like strategy that indirectly appealed to racial resentment through criticism of the federal government and an emphasis on law-and-order politics. “The fulcrum of re-alignment is the law and order/Negro socioeconomic syndrome,” Phillips wrote in one 1968 campaign-strategy memo. “[Nixon] should continue to emphasize crime, decentralization of federal social programming, and law and order.” (Dov Grohsgal/Kevin Kruse, The Atlantic)
Wie ich in meiner eigenen Serie zum Thema ja auch aufgearbeitet habe, dauerte die Entwicklung der republikanischen Partei hin zu einer rechtsextremen, demokratiefeindlichen und zutiefst rassistischen Partei eine lange Zeit - war aber, und das muss betont werden, das Resultat von bewussten strategischen Entscheidungen. Die "Emerging Republican Majority" war für mehrere Jahrzehnte ein Erfolgsrezept für die Partei und schob das Land im Zeitraum zwischen 1970 und 2010 deutlich nach rechts. Bereits seit gut anderthalb Dekaden prognostizieren Demographen und Demoskopen das Auftreten einer "Emerging Democratic Majority". Es ist möglich, dass sich das gerade, mit Trump als Brandbeschleuniger, Bahn bricht. Aber man möchte nicht zu optimistisch werden; die Hoffnung wurde schließlich schon öfter enttäuscht. 2020 wird aber eine erste Wasserscheide werden, an der man das absehen kann.

If the Republican Party wants to succeed in the future, it has to start dropping off conservatives and start picking up a different kind of passenger. The Democrats have faced the same challenge. It’s in the nature of the two-party system that each party will perform one side of a two-sided dance. But the Democrats have a few advantages at the moment. The kids at the train station prefer the look of their vehicle to the beat up jalopy the Republicans are using as a taxi. Immigrants that gain citizenship prefer to ride with the Democrats, too. Suburban voters, particularly women, are repelled by the GOP. A lot fewer of the Democrats’ passengers die each year. And, there are a ton of people idling around looking for a lift whose only option right to now is to hop in with the Democrats. Finishing up with this analogy, there will probably not be a point at which the conservatives willingly hand over the keys to the Republican Party’s car. As we’ve seen in California and New England, they’d rather get no fares than change their ideology and rhetoric to attract the wrong kind of passengers. It looks like Texas is the next state on the list, and if it falls to the Democrats it will signal the end of the conservative movement’s viability as a taxi company. But, remember, the conservatives in the Republican Party had enough influence even in the wilderness years between the 1932 election of FDR and the 1994 Gingrich Revolution to keep the GOP in a near-permanent congressional minority. The party does not adapt easily. What’s different about Texas is its impact on the Electoral College. During the wilderness years, the Republicans still manage to elect Eisenhower, Nixon, Reagan, and Poppy Bush. The party’s congressional misery was thus offset to a considerable degree by their potential to own the White House. If Texas goes blue, it will end that hope for conservatives of the future. (Martin Longman, Washington Monthly)
Gewissermaßen als Ergänzung von Fundstück 1 dient dieser Text; ich würde die beiden auch als Einheit kommentiert sehen wollen. Denn wenn tatsächlich eine dauerhafte demokratische Mehrheit entstehen sollte (Konjunktiv), wird die republikanische Partei nicht umhin kommen, sich anzupassen. Die Democrats taten ja dasselbe, um mit dem Rechtsrutsch ab 1980 umzugehen. Wie Longman aber zurecht anmerkt, kann eine Partei natürlich ziemlich lang in einer strukturellen Oppositionsrolle verharren, ehe sie Änderungen durchführt. Sollte Texas tatsächlich blau werden (Konjunktiv), haben die Republicans ein Problem, so viel steht fest.

Doch die kommunikativ geformte Idee der „schwarzen Null“ ist in Politik und Medien zum Selbstläufer – zur Ikone der Rechtgläubigen – geworden, so dass schon die Nutzung der in der Schuldenbremse vorgesehenen Spielräume der Rechtfertigung bedarf. Das ökonomische Irrlicht des jährlichen Haushaltsausgleichs ohne Neuverschuldung spiegelt sich in der ebenso eigenartigen Negierung von Steuerentlastungen für Haushalte und Unternehmen. Wenn man in einem Entscheidungssystem eine Variable fixiert – wie durch die Schuldenbremse, dann verändert dies natürlich die Handlungsstrategien. Anders gewendet: Die Einschränkung der öffentlichen Kreditaufnahme mag zwar dem Gedanken folgen, eine langfristig rationale Finanzpolitik zu betreiben. Doch unterstellt dies, dass alle Anpassungsversuche an die neue Regel für sich genommen auch diesem Ziel folgen und rational sind. Die Erfahrung zeigt, dass das Gegenteil richtig ist. [...] Was folgt aus alledem? Die Finanzpolitik sollte zu einer nüchternen, nicht emotionalen Betrachtung ihrer Ausgabenbedarfe und der dazu passenden Finanzierungswege finden. Denkblockaden hier – bei der Frage der Kreditfinanzierung – und dort – bei der Steuerfinanzierung – verhindern eine sachgemäße Politik. Diese kann unter den gegebenen Umständen darin bestehen, einen auf zehn Jahre angelegten föderalen Investitionsfonds (Sondervermögen) aufzulegen, der mit einem Volumen von 450 Milliarden Euro sowohl die aufgestauten Bedarfe (kommunale Infrastruktur, Verkehr, Energie) als auch die neu fixierten Herausforderungen (Digitalisierung, Klimawandel) adressieren kann. Mit der zehnjährigen Ausrichtung verbindet sich die Chance, dass die Bauwirtschaft anders als bei der Kurzatmigkeit jährlicher Budgets ihrerseits die Kapazitäten ausweitet. Ist das ohne Risiken zu haben? Freilich nicht. Polit-ökonomisch besteht das Risiko, dass die Finanzpolitiker versuchen, konsumtive Aufgaben über diesen Fonds zu finanzieren. Dem kann entgegenwirken, wenn analog dem Stabilitätsrat ein Investitionsrat die prinzipielle Eignung für den Fonds testiert und damit dem Parlament für die Öffentlichkeit transparent eine Orientierung an die Hand gibt. Solide Finanzpolitik würde so neu definiert: Den künftigen Generationen wird ein moderner staatlicher Kapitalstock zu verantwortbaren Finanzierungskonditionen übereignet. Kritisch wird eingewandt, dass Schulden immer Schulden bleiben und zurückgezahlt werden müssten. Hier wird das Haushaltsbuch der schwäbischen Hausfrau an die Stelle volkswirtschaftlicher Logik gesetzt, die nach der Tragfähigkeit der Staatsschulden fragt. Diese findet sich in den Marktkonditionen für den deutschen Staat testiert. Bei einer Neuverschuldung von 45 Milliarden Euro jährlich würden die Maastricht-Kriterien jederzeit mindestens gewahrt. (Michael Hüther, Salonkolumnisten)
Mir fehlen die wirtschaftlichen Kenntnisse, um die Validität eines solchen Investitionsfonds angemessen bewerten zu können. Er klingt grundsätzlich sinnig, aber das muss natürlich nur wenig heißen. Vielleicht können an der Stelle einschlägig gebildetere Kommentatoren aushelfen. Ich teile mit Hüther in jedem Fall die Ablehnung eines ideologisch motivierten Verbots von Neuverschuldung, das notwendige, rationale und sinnvolle Politik blockiert. Ich habe nie viel davon gehalten, sich in starre Fesseln zu legen, anstatt selbst nachzudenken und die Verantwortung zu übernehmen. Den Haushalt aufzustellen ist das Königsrecht des Parlaments. Es hat ordentlich darüber nachzudenken und zu beraten, wie und zu welchem Zweck es Geld ausgeben und eintreiben will, und es hat sich dafür zu verantworten - und nicht hinter irgendwelche ideologischen Potemkinschen Dörferfassaden zurückzuziehen.

4) Tweet
Mir bleibt weiterhin unklar, weswegen so viele (ehemals) bürgerliche Medien es als notwendig ansehen, Extremismus zu verharmlosen oder zu relativieren. In FAZ, ZEIT oder NZZ finden sich schließlich auch keine Artikel, in denen der Schwarze Block "ein Zeichen gegen Ungleichheit setzt", wenn er Autos abfackelt und Steine auf Polizisten wirft. Da werden Verbrecher als das benannt, was sie sind. Es scheint mir die gleiche instinktive Abwehrreaktion zu sein, die wir in den Kommentaren des letzten Vermischten auch gesehen haben. Dieses merkwürdige Gemeinmachen mit dem extremistischen Rand kenne ich noch zu gut aus meiner linkeren Zeit, wo auch gerne Venezuela oder der Schwarze Block verteidigt wurden, die zwar vielleicht ein bisschen in der Ausführung, aber sicherlich nicht in der Sache falsch liegen. Es ist Zeichen einer Radikalisierung, und es ist mehr als besorgniserregend.

5) The Tea Party Is Alive and Well
Peters does mention in passing that Obama allies believed the tea party gave “cover and a voice to those who wanted to attack the first black president — people who in some cases showed up at rallies waving signs with racist caricatures and references.” Not only is that conclusion obviously right; it’s central to any sensible understanding of the tea party. Racism was its animating force. The movement was revanchist to its core. Its “bare-knuckle, brawling style,” as a source described matters to Peters, was a reaction to Obama’s blackness as much as it was to his perceived socialism. Peters does not mention birtherism in his piece, but the claim — which combined anti-black racism, xenophobia, and Islamophobia into one Franken-theory about Obama’s ineligibility to be president — was popular among tea party activists. Further, though Peters refers to it as a “mass uprising,” it was not a spontaneous, organic populist movement, at least not entirely. It was Astroturf, too, funded by libertarian donors like the late and little-lamented David Koch. [...] Years after Santelli screamed “This is America!” into the stale air of the Chicago Mercantile Exchange, Trump promised to make a threatened homeland great again. In this way, he is Santelli’s president. He is the president of birthers and small-government hysterics. He might not be a tea party purist, but he’s clearly a believer. The tea party is not dead, and neither are its ideas. We look not at its defeat but at its victory — incomplete, but real all the same. (Jonathan Chait, New York Magazine)
Gerade in den eher zentristischen Medien (CNN und Konsorten) hält sich immer noch beharrlich der Mythos, dass die Tea Party auf der einen Seite eine Bewegung gewesen sei, der es um niedrigere Steuern und eine Einhegung des Staates gegangen sei, und auf der anderen Seite dass sie mittlerweile keine Rolle mehr spiele, weil die Republicans sich von dieser Idee offensichtlich verabschiedet haben. Beides ist Quatsch. Der zentrale Animus der Tea Party war ein rassistisch motivierter backlash gegen den ersten schwarzen Präsidenten. Die Tea Party hatte nie ein Problem mit gigantischen staatlichen Ausgaben und Einmischungen in das Leben der Bürger. Sie wollte immer nur, dass es IHRE Ausgaben und Einmischungen für IHRE Themen waren. Der ganze Rest sind Nebelkerzen.

6) Die Macht des Individuums
Angesichts weltumspannender Probleme wie Klimawandel und Artensterben fragen sich viele, was das einzelne Individuum wohl verändern kann. Was nützt es, wenn der eine im Supermarkt am Rindersteak aus Brasilien vorbeiläuft, es am Ende des Tages aber vom anderen gekauft wird? Was bringt es, sich Sonnenkollektoren aufs Dach zu schrauben, wenn im Kraftwerk um die Ecke gigantische Mengen Kohle verfeuert werden und in Indien und China sogar neue Kraftwerke entstehen? Warum aufs Fliegen verzichten, wenn die Nachbarn über die Feiertage nach Bali jetten? Angesichts solcher Gedanken ist es leicht, die Hoffnung zu verlieren. Sich machtlos zu fühlen. Oder sogar lächerlich. Es ist allerdings zu einfach, die eigene Kleinheit als Entschuldigung fürs Nichtstun gelten zu lassen und sich auf diesen Gedanken auszuruhen. Dem Gefühl der Machtlosigkeit liegt nämlich ein Denkfehler zu Grunde: Der Einzelne ist ja nicht bloß Konsument. Er oder sie kann ja auch zum Erfinder werden, zur Unternehmerin, zum Aktivisten oder zur Politikerin. [...] Und es sind nicht allein die großen Beispiele, die zählen. Die vielen kleinen machen den Unterschied. Der Bürgermeister, der ein nachhaltiges Stadtviertel schafft. Die Kleinstädterin, die zusammen mit anderen ihr Stromnetz zurückkauft. Die Studentin, die sich über eine Plastiktüte im Meer aufregt. Es sind Menschen, von denen die wenigsten sich selbst als Helden beschreiben würden. Sie sind bloß Bürger, die dem Untergang der Natur nicht länger zuschauen wollen und die die Dinge selbst in die Hand nehmen. In einer Welt mit sieben Milliarden Menschen sind sie es, die den berühmten Schmetterlingseffekt auslösen können: jenen Flügelschlag, der einen Wirbelsturm erzeugt. (Laura Cwiertnia/Petra Pinzler, Zeit)
Ich bleibe der Überzeugung, dass wir die Klimakrise nur dadurch lösen werden, dass eine Umgestaltung auf breiter Ebene notwendig ist, die zwangsläufig nur durch staatliche Maßnahmen ermöglicht werden kann. Ich halte aber gleichzeitig individuelle, freiwillige Verhaltensänderungen, wie sie hier im Artikel beschrieben werden, für einen zentralen Baustein. Die angesprochene Umgestaltung nämlich kann ja schlecht autoritär oder gar diktatorisch verschrieben werden, sie braucht Akzeptanz. Wir haben genug Beispiele aus den realsozialistischen Ländern, die uns zeigen, wie sehr von oben verordnete Verhaltensänderungen wirken: gar nicht. Es ist daher entscheidend, dass eine Stimmung entsteht, in der solche Umgestaltungen Konsens sind. Und dazu braucht es diese individuellen Schritte. Je mehr Menschen ihr Verhalten Stück für Stück ändern und anpassen, desto normaler wird, desto mehr nehmen sie mit und desto mehr entsteht ein entsprechendes Bewusstsein. Ich habe das auch an mir selbst gemerkt. Und das ist auch im besten Sinne der progressive und demokratische Weg, so etwas zu erreichen.

7) Die Angst der GroKo vor dem Wähler
Die Koalition will aber nicht nur einen Maximaldeckel einziehen. Eingeführt wird auch noch ein Mindestpreis: Unter 35 Euro soll der Preis bitte nicht sinken. Damit ziehen Union und SPD einen Sicherungsmechanismus ein, um ihr Versagen zu kaschieren. Denn im Zertifikatehandel kann es nur einen Grund für zu niedrige Preise geben: Wenn die Politik die Firmen mit einer zu großen Menge Emissionszertifikate verwöhnt. Das war auch bei der Einführung des europäischen Emissionshandels 2005 das Problem. Absurd ist auch, wie die Koalition ihre eigenen Regelungen beim Verkehr aushebelt. Die CO2-Preise werden dazu führen, dass die Literpreise von Diesel und Benzin steigen, erst um etwa drei Cent, ab 2026 weiter auf neun bis 15 Cent. Autofahren wird teurer, ist das Signal. Aber die GroKo wäre nicht sie selbst, würde sie ihre eigene Maßnahme nicht umgehend wieder konterkarieren: Die Pendlerpauschale wird um fünf Cent pro Kilometer erhöht. Union und SPD geben also erst Geld aus, um mit dem Emissionshandel einen Mechanismus einzuführen, der Autofahren teurer macht. Dann nehmen sie noch mehr Geld in die Hand, um Autofahren wieder billiger zu machen. Wenn man hier überhaupt noch von Lenkungswirkung sprechen will, dann gleicht sie dem eines Betrunkenen, der das Steuer seines Wagens erst nach rechts und dann nach links reißt. Wer noch einen Grund gesucht hat, warum Deutschlands Emissionen im Verkehr seit Jahrzehnten nicht sinken: Hier ist er. (Benjamin Bidder, SpiegelOnline)
Die Rolle des Automobils in Deutschland ist wahrlich eine Crux. Es ist ziemlich offensichtlich, dass es in Deutschland zu billig ist, beziehungsweise dass seine Kosten externalisiert werden. Das sieht man dann an solchen Kompromissen. Um aber die Stelle zu nutzen, generell mal Stellung zum Klimapaket zu beziehen: Ja, selbstverständlich ist das unzureichend. Jedes solche Paket musste zwangsläufig unzureichend sein. Wer erwartet hat, dass Schwarz-Rot mal eben die Klimakrise löst, dem ist eh nicht zu helfen. Der Wert des Klimapakets liegt darin, einen ersten Schritt gemacht zu haben. Der CO2-Preis ist zu niedrig? Keine Frage, aber den kann man anpassen. Vielleicht - da kenne ich mich zu wenig aus - macht sogar eine paritätisch besetzte Kommission analog zum Mindestlohn für so was Sinn. Die Verteuerungen von Benzin sind zu gering? Auch hier geht leicht mehr, wenn einmal das Signal in die entsprechende Richtung gesetzt ist. Und so weiter. Ähnlich wie die großen Klimakonferenzen und deren Ergebnisse gilt für solche legislativen Pakete, dass die Vorgabe der Marschrichtung, das Signal, der entscheidende Punkt ist. Das signalisiert nämlich der Bevölkerung eine Zielrichtung, an der diese dann ihr Verhalten ausrichten kann. Und das haben wir bereits ein Fundstück vorher diskutiert.

8) Wall Street Democratic donors warn the party: We’ll sit out, or back Trump, if you nominate Elizabeth Warren
Democratic donors on Wall Street and in big business are preparing to sit out the presidential campaign fundraising cycle — or even back President Donald Trump — if Sen. Elizabeth Warren wins the party’s nomination. [...] “You’re in a box because you’re a Democrat and you’re thinking, ‘I want to help the party, but she’s going to hurt me, so I’m going to help President Trump,’” said a senior private equity executive, who spoke on condition of anonymity in fear of retribution by party leaders. [...] During the campaign, Warren has put out multiple plans intended to curb the influence of Wall Street, including a wealth tax. In July, she released a proposal that would make private equity firms responsible for debts and pension obligations of companies they buy. Trump, meanwhile, has given wealthy business leaders a helping hand with a major corporate tax cut and by eliminating regulations. Warren has sworn off taking part in big money fundraisers for the 2020 presidential primary. She has also promised to not take donations from special interest groups. She finished raising at least $19 million in the second quarter mainly through small-dollar donors. [...] Biden, who has courted and garnered the support of various wealthy donors, has started to lag in some polls. The latest Quinnipiac poll has Warren virtually tied with the former vice president. Biden was one of three contenders that saw an influx of contributions from those on Wall Street in the second quarter. (Brian Schwarz. NBC)
Mir ist etwas unklar, warum die Wall Street darauf besteht, Elizabeth Warren kostenlose Wahlgeschenke zu machen, aber die Leute verstehen halt auch nur wenig von Politik. Wenn es in den USA ein Thema gibt, das partei-, schicht-, geschlecht- und rassenübergreifend Zustimmung erwirbt, dann der Hass auf die Wall Street. Warren hat zudem von Beginn an klar gemacht, dass diese ihr Feindbild ist und dass sie kein Geld von ihnen nimmt. Von den wahlkampftaktischen Implikationen abgesehen wäre es eine gute Nachricht, wenn die Democrats sich der Unterstützung der Wall Street entwöhnen würden. Die Expertise von Timothy Geithner und Larry Summers haben nicht eben zu Ruhmesblättern von Obamas Regierungszeit geführt, und auch sonst wäre die Finanzindustrie in letzter Zeit nicht eben durch ihre konstruktive Rolle aufgefallen. Es ist mehr als Zeit, dass deren Macht zurückgestutzt wird. Zuletzt ist es auch sehr bedenklich, mit welcher kruden Leichtigkeit die Wall-Street-CEOs die Abwägung zwischen Demokratie und einem kleinen Anteil an ihrem Vermögen machen. In dem Moment, in dem Rechtsstaat und Demokratie sie Geld und Einfluss kosten könnten, entscheiden sie sich für den Totalitarismus. Und sie haben nicht die geringsten Probleme, das offen auszusprechen.

9) Trump’s $28 Billion Bet That Rural America Will Stick With Him


A couple of years ago, a pep talk from Trump might have drawn raucous applause from one of the president’s key constituencies. This time the crowd was subdued. “The aid package that has come in is a relief, and it softens the landing, but it’s not a solution, it’s a Band-Aid,” says Stan Born, a farmer who attended the event. When asked if the payments make him whole, Born, who grows 500 acres of soybeans near Decatur, responds, “Of course not.” He’d rather have free trade, he says. [...] The bailout funds won’t cover all of farmers’ losses. Producers in Iowa received $973 million in direct payments from the first round of trade aid covering a period in which Iowa State University estimated the trade war cost them $1.7 billion. Even so, there’s been no break in Trump’s support in rural areas, where his poll numbers are consistently about 12 percentage points higher than they are nationally. [...] Farmers became collateral damage in Trump’s tit-for-tat tariff war with China, which is being waged primarily for the benefit of such sectors as manufacturing and tech. Agriculture is actually one of the rare U.S. industries that consistently runs a trade surplus, and not just with China—testimony to the gains that have accrued to American farmers from globalization. (Mario Parker/Mike Dorning, Bloomberg)
Die 28 Milliarden Dollar, die die Republicans mal eben locker zu machen um Trumps undurchdachten Handelskriegs zu finanzieren, sind mehr als das Doppelte des Auto-Bailout von 2009, mit dem Obama damals gegen den fanatischen Widerstand der GOP die Wirtschaft aus der Krise rettete. Falls es für Fundstück 5 noch eines weiteren Beleges bedurft hätte, findet er sich hier. Kein Rechter in den USA hat irgendein Problem mit Staatssozialismus oder riesigen, schuldenfinanzierten Ausgaben, solange diese nur ihm selbst zugute kommen. Es gibt auch keine "prinzipientreuen" Abgeordneten aus den Reihen der Partei, die sich gegen diese massiven, schuldenfinanzierten Umverteilungsgeschenke gestellt hätten. Es ist alles eine Riesenbande elender Heuchler.

10) Tweet
Anhand dieses kontrafaktischen Beispiels kann man gut sehen, wie einseitig die Radikalisierung von rechts aktuell abläuft. Die progressive Seite des politischen Spektrums verwendet bei weitem keine so polarisierenden, radikalen Formulierungen wie ihre Rivalen. Auch finden sich wesentlich seltener hasserfüllte Polemiken wie die von Stefan Pietsch über "Grüne Kreuzritter" in diesen Reihen. 

11) Why the far right is obsessed with “gender ideology”
Still, far-right politicians and activists have distinct ideas about gender roles, which in part reflect the views of their respective societies. These differences can be grouped together as traditional, modern-traditional and reactionary.  Traditional views of gender are more evident in machismo and conservative cultures. Paradoxically, reactionary perceptions are increasingly popular among younger and more highly educated men in northern Europe and North America. At second glance, this makes sense; their generation is the first to be an increasingly marginalised minority in college – inferior in numbers, grades, and job prospects. [...] Common to these online communities is a view of women as morally deviant and psychically weak, but as politically and socially strong. Men are allegedly oppressed, while “Femi-Nazis” (feminists) supposedly control society through “political correctness”, and women control men through their use (or  refusal) of sex. [...] What makes the far right particularly important is that it has been much better at adapting its sexist views to changing gender relations in society – where several distinct cultural changes have created a situation in which men no longer have the access to, or power over, women’s bodies that they might once have had in a previous era. This adaptability is one of the key reasons for the far right’s growing success across the globe. (Cas Mudde, New Statesman)
Ein wichtiger Grund, der die Abwehr der Frauenemanzipation auch von weiblicher Seite begleitet, ist das Verschwinden eines Helden-Narrativs für unterdrückte Frauen. Je mehr die Fiktion der häuslichen Sphäre als spezifischem, noblem Aufgabenfeld der Hausfrau und ihre "biologische" Rolle als Mutter durch die Realitäten des Lebens im 21. Jahrhundert - allen voran die Notwendigkeit zur doppelten Erwerbsarbeit - zusammenbricht, desto mehr müssen diese sich auch vor sich selbst legitimieren.
Auf der männlichen Seite ist dagegen augenfällig, welche ausgeprägte Opferkultur hier herrscht. Permanent imaginieren sich Männer in die Rolle des Opfers der Gesellschaft hinein, sehen sich selbst als unterdrückt und benachteiligt und jammern, wo in Wahrheit nur lang tradierte und unverdiente Privilegien dahingehen.

Donnerstag, 26. September 2019

Die Macht des Symbols

Wir wissen nicht erst seit gestern, wie bedrohlich der menschengemachte Klimawandel ist. Spätestens seit der ersten großen Konferenz von Rio de Janeiro 1990 sind die wesentlichen Leitlinien hinreichend bekannt, ebenso wie die Notwendigkeit, zu handeln, um das Ausmaß in Grenzen zu halten. Passiert ist insgesamt eher wenig. Seit im letzten Jahr die (mittlerweile) sechzehnjährige schwedische Schülerin Greta Thunberg ihren "Schulstreik für's Klima" begann, ist das Thema jedoch mit Wucht in die Schlagzeilen gekommen. Woran liegt das? Interessiert sich die Öffentlichkeit plötzlich mehr den Klimawandel als vorher? Ich halte Greta Thunberg für ein Musterbeispiel dafür, welche Macht ein Symbol haben kann.

Das schwierige Thema

Diese Beobachtung kann ich an mir selbst festmachen. Seit mittlerweile drei oder vier Jahren packte mich periodisch das schlechte Gewissen. Ich wollte immer mehr über den Klimawandel schreiben. Nur war irgendwie nie ein richtiger Anlass oder Angriffspunkt dafür da. Seit einem Jahr ist das überhaupt kein Problem mehr. Man kann alleine am Vermischten sehen, wie viel häufiger das Thema ist. Logisch, denn es wird jetzt gesamtgesellschaftlich diskutiert. Im Gegenzug muss ich viel weniger die Flüchtlingsdebatte aufgreifen, weil diese wieder in dem Orkus verschwunden ist, in den sie schon immer gehört hätte. (Ich bin mir sicher, einige Leser fühlen für die aktuelle Situation genau umgekehrt.)

In den letzten Jahren habe ich einige Artikel gelesen, die von Journalisten geschrieben wurden, die sich schwerpunktmäßig mit dem Klimawandel beschäftigten. Das waren, wenig überraschend, nicht viele. Und die, die es gab, kamen praktisch durchweg aus dem "wonkischen", dem policy-lastigen Spektrum. David Roberts von vox.com etwa schreibt seit vielen Jahren unentwegt und ungeheur kenntnisreich ellenlange Erklärartikel zu allen Themen rund um Klimawandel und fossile Energieträger. Chris Hayes, der brillante Moderator von "All In" und Host des Podcasts "Why is this happening", kam auch immer wieder auf das Thema zurück - nicht ohne reuevoll zu vermerken, dass auch er gerne mehr über das Thema sprechen würde.

Woran liegt das? Der Klimawandel hat, im Gegensatz etwa zu Terrorismus, Hartz-IV-induzierter Armut oder Flüchtlingen, keine guten Bilder. Er lässt sich nur sehr schlecht narrativ verpacken. Er ist abstrakt und ungreifbar. Ein Foto eines Eisbergs ist einfach nicht so wirkmächtig wie das einer Menschenmasse an der Grenze, das Foto einer Überschwemmung weniger geeignet das Phänomen "Klimawandel" begreiflich zu machen als das von Ground Zero die Gefahren des Terrorismus. Der Klimawandel wirkt mittelbar und über große Zeiträume. Unsere Gehirne sind aber weder für mittelbare Effekte noch für Langzeitplanung ausgelegt. Entsprechend schwer fällt uns die Beschäftigung mit dem Thema, und entsprechend wenig Priorität hatte es.

Selbst die Grünen legten das Gewicht in der Vergangenheit wesentlich häufiger auf Umweltschutz als auf Klimaschutz. In der Debatte werden diese gerne zusammengeworfen, schon alleine weil sie für Gegner beide gleich sind. Staatsintervention, Regulierung, Zusatzkosten - hüben wir drüben. Aber während das Dosenpfand die Müllmenge in der Pampa reduzieren mag, tut es herzlich wenig dazu, die Klimaerwärmung aufzuhalten. Das Thema "Klimawandel" war daher nicht als Hauptthema bei irgendjemandem präsent. Und ohne diese Beleuchtung gab es auch wenige, die sich dafür engagierten.

Aktion - Reaktion

An dieser Stelle traten gleich mehrere neue Symbole auf den Plan. Wir können als Startschuss das Jahr 2016 nehmen, mit dem ein kruder Klimawandelleugner Präsident der Vereinigten Staaten wurde. So sehr der Aufstieg der AfD dem vermeintlich falschen Umgang mit der Flüchtlingskrise durch die Mitte-Parteien geschuldet war, so mobilisierte die offene, krude, gewalttätige Leugnung des Klimawandels durch die Rechtspopulisten die Opposition. Aktion und Reaktion gelten in beide Seiten. So verschob sich das Overton-Fenster zeitverzögert nach dem Rechtsrutsch auch nach links. Zuerst in Fragen von Rasse und Geschlecht (man denke an #BlackLives Matter und #MeToo), dann in Fragen der Gesundheitsvorsorge (#MedicareForAll), im Mindestlohn (#MovementFor15) und schließlich eben auch im Klimawandel. Die ersten Symbole, die wir bekamen, waren immer die Anti-Symbole von der extremen Rechten. Sie schoben die Themen, die vorher nur um breiten Strom der Politik mitschwammen, direkt ins Scheinwerferlicht und erzwangen eine Reaktion der Opposition.

Doch wärend die meisten der oben genannten Themen eigene, progressive Symbole erhielten - von Eric Gardner zu den Pussyhats und Handmaid-Trachten, von Bernie Sanders zur Einigung mit McDonalds - fehlte dies dem Klimawandel eine ganze Weile lang. In diesem Jahr kam dann der Doppelschlag. Einerseits bekamen wir, wie ich bereits beschrieben habe, den perfekten Bösewicht. Der brasilianische Premier Bolsonaro inszenierte sich als Anti-Thunberg, als ökozidaler Terrorist.

Aber noch viel wichtiger war das Auftreten von Greta Thunberg. Als sie ihren Klimastreik in Stockholm begann, war dies allenfalls eine Kuriosität für die Lokalpresse. Als sie zu ihrem ersten richtig großen Auftritt nach Davos fuhr, kam sie zwar in die Schlagzeilen. Sie teilte sich das Scheinwerferlicht dort aber etwa mit Rutger Bregman, dem niederländischen Historiker. Seine umfassende Kritik des Kapitalismus' aktueller Prägung schien vor wenigen Monaten noch relevanter und tiefgreifender zu sein als Thunbergs anderthalbtägige Zugfahrt. Mir wäre allerdings unbekannt, dass irgendjemand noch von Bregman redet. Was also ist es, das dieses sechzehnjährige Mädchen zu einem solch potenten Symbol verwandelt hat? Warum ruft ihre Rede vor der UN-Generalversammlung so ungeheuer große Reaktionen auf allen Seiten hervor, Ablehnung wie Zustimmung? Was macht Thunberg zu solch einem potenten Symbol für den Klimawandel?

Die Aura der Unschuld

Da wäre zum einen ihre Erscheinung. Thunberg ist sechzehn, aber sie sieht jünger aus. Sie ist klein, ihre Gesichszüge wirken kindlich. Ihre Frisur wird es sicherlich nicht in die Style-Guides der Teenie-Magazine schaffen. Man stelle sich vor, Thunberg würde aussehen wie eine Teilnehmerin an "Germany's Next Topdmodel". Die Wettbewerberinnen in Heide Klums Dystopia sind häufig ebenfalls sechszehn, siebzehn Jahre alt. Zwischen ihnen und Thunberg liegen nicht nur beim politischen Engagement Welten. Sie könnten andere Planeten bewohnen.

Diese kindliche Erscheinung verleiht Thunberg eine Aura von Unschuld. Es ist kein Zufall, dass Freund wie Feind sie gerne als "Kind" bezeichnen, obwohl sie doch altersgemäß so eindeutig eine Jugendliche ist. In Deutschland könnte sie wählen, Alkohol trinken und den Führerschein machen. Das ist nichts, was wir landläufig mit Kindern assoziieren. Aber ihr Aussehen hilft ihr hier.

Und diese Erscheinung gibt ihr eine gewisse Immunität. Denn die meisten Abwehrstrategien funktionieren gegen sie nicht. Die Boulevardpresse kann sie nicht sexualisieren. Nicht, dass sie moralische Probleme damit hätte, Sechzehnjährige zu Sexobjekten zu machen. Das ist für die BILD das tägliche Brot. Aber bei Kindern ist die Lage anders. Das fällt also aus. Auch für Donald Trump übrigens, der sich bisher uncharakteristisch zurückgehalten hat.

Auch vor der sonstigen scharfen Rhetorik, die in der politischen Arena üblicherweise verwendet wird, schrecken die meisten Akteure zurück. Wer will schon schließlich als erwachsener Mensch auf ein Kind einschlagen? Es beißt sich auch mit der anderen großen Angriffslinie, Thunberg als ein Kind zu schmähen, das gar nicht versteht, wovon es eigentlich redet. Umso heftiger werden ihre Eltern attackiert oder düstere Hintermänner konstruiert. Kleben bleibt davon wenig. Thunbergs Aura der Unschuld bewahrt sie (bislang) vor entsprechenden Angriffen.

Abteilung Attacke

Das ist umso verwirrender, weil Thunberg nicht das übliche Vorgehen ziviler Protestsymbole nutzt. Sie gehört nicht gerade zur Schule des friedlichen Widerstands, der mit sanfter Stimme gegen Ungerechtigkeit vorgeht. Sie haut sehr grobe Keile auf grobe Klötze. Ihre Sprache ist voll von Superlativen. "Ich will, dass ihr in Panik geratet." "Meine Generation wird euch niemals verzeihen." "Wie könnt ihr es wagen." Das ist nicht gerade die Sprache eines Engels. Es ist eine Sprache der Wut, wie sie von den meisten Aktivisten abstoßend wirken würde. Weswegen die meisten Aktivisten ja auch immer sehr vorsichtig sind, ihren Gegnern dieses Mobilisierungsmittel nicht in die Hand zu geben.

Warum funktioniert es also für Thunberg? Der erste Grund ist das gerade beschriebene Oxymoron. Der Widerspruch an sich ist bereits faszinierend. Aber es ist erneut ihr Status als Kind, der ihr hilft. Konservative Kritiker bemühten als (soweit eher erfolglosen) Angriff die Metapher des "Kinderkreuzzugs". Damit beschrieben sie aber unwissentlich einen Erfolgsfaktor. Denn die ganze Klimawandeldebatte hat immer wieder betont, dass man den Planeten für die Nachkommen retten müssen. Wir erinnern uns an die Grünen in den 1980er Jahren: "Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt."

Die Macht Thunbergs liegt darin, dass zum ersten Mal diese bisher immer nur abstrakt gefassten Kinder als Akteure auftauchen. Sie werden zum Subjekt statt zum Objekt. Thunberg nutzt das ja auch rhetorisch geschickt, indem sie für sich in Anspruch nimmt, für ihre ganze Generation zu sprechen. Dass diese Generation ziemlich nebulös definiert ist, versteht sich da eher als Feauture denn als Bug.

Nun gehöre ich nicht gerade zu Gretas Generation. Technisch gesehen trifft mich ihr Vorwurf ebenso. Auch mir will sie nicht verzeihen. Auch mich fragt sie, wie ich es wagen könne. Auch mich will sie in Panik versetzen. Warum also gibt es so viele Erwachsene im progressiven Spektrum, die so ungeheur positiv auf Thunberg reagieren?

Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt...

Wie bereits mit der Metapher vom "Kinderkreuzzug" haben Thunbergs konservative Kritiker auch hier eine entscheidende Dynamik aufgedeckt. Die gesamte Umweltbewegung als Sekte oder Religion abzustempeln gehört seit vierzig Jahren zum konservativen Standardrepertoire, aber nie was es so zutreffend wie bei Thunberg und den #FridaysForFuture.

Thunberg ist keine Politikerin. Sie ist auch nur eingeschränkt eine Aktivistin. Mir wäre jedenfalls keine konkrete Maßnahme bekannt, für die sie sich einsetzt. Thunberg beschränkt sich - weise - darauf, in stärksten Tönen zum Handeln aufzufordern. Wie dieses Handeln genau aussieht, spielt für sie keine Rolle. Das ist angesichts dessen, dass sie ein Kind ist, sicherlich klug. Das letze, was ihr Aktivismus brauchen kann, ist in die Debatte gezogen zu werden ob zehn oder fünfunddreißig Euro pro Tonne CO2 der richtige Steuerbetrag sind.

Ich glaube, man muss Thunberg als Prophetin begreifen. Was sie bietet ist nichts weniger als Katharsis, Buße und Absolution.

Progressive wie ich haben jahrelang eine hilflose, unartikulierte Wut auf kleiner Flamme brennen gehabt. Jedes Mal, wenn das Thema (selten genug) auf den Klimawandel kam, hat man sich gegenseitig darin versichert, wie dramatisch die Lage und wie dringend der Handlungsbedarf ist. Und dann erkannt, dass die politische Lage nichts zulässt. Thunbergs klar artikulierter, ungefilterter Zorn wirkt hier als Katharsis. Georg Schramm hatte darüber 2011 gesprochen.

Man sollte nicht unterschätzen, wie gut das tun kann. Das rechte Spektrum hatte dieses Gefühl gerechten Zorns 2015, als Angela Merkel sich entschloss, das Schengen-Abkommen aufrechtzuerhalten. Pegida und Konsorten gaben dem lange gehegten, nie richtig artikulierten Gefühl Ausdruck, das Land entwickle sich in die falsche Richtung. Thunberg gab es den Progressiven, die seit Jahren und Jahrzehnten ohnmächtigen Zorn angesichts der dräuenden Klimakatastrophe empfanden.

Aber das erklärt nicht, warum die Generationen, die von Thunberg in großen Worten verdammt werden, ebenfalls so empfänglich für ihre Botschaft sind. Diese Verwirrung lässt sich schnell klären. Man muss sich nur klarmachen, dass auch viele Reiche für Jesus' Heilbotschaft empfänglich waren und immer noch sind, egal wie wenig Nadelöhre und Kamele sich in Griffweite befinden.

Die Schuld, die Mitschuld, ist ja schließlich nicht zu leugnen. Thunberg erteilt zwar keine Absolution. Das wäre auch vermessen. Aber auch hier gilt: Das machen die Leute ja selbst. In der Betonung der Wichtigkeit des Engagements Jugendlicher, des Mutes und der Klarheit Thunbergs und der brennenden Aktualität des Themas leistet man seinen Beitrag. Man tut Buße. Zumindest ist das das Gefühlswirrwarr, das Thunberg in mir wachruft. Katharsis, Buße, Absolution. Es sind wirkmächtige Instrumente.

Lächeln und Nicken

Bevor jetzt die sich selbst als pragmatisch, vernünftig und von Kosten-Nutzen-Rechnungen bestimmt fühlenden Konservativen und Liberalen in die Tasten greifen und sich in all ihrer Kritik bestätigt fühlen: Das läuft natürlich auch in die umgekehrte Richtung. Denn so große Zustimmung und positive Gefühle, wie Thunberg sie in ihren Unterstützern wachruft, so aggressiv und überbordend ist die Reaktion auf sie.

Es war wieder einmal Angela Merkel, die der Welt demonstrierte, wie man souverän mit Kritik wie der Thunbergs umgeht. Nachdem die Aktivistin Deutschland als eine einer Handvoll Nationen namentlich in ihrer Bandrede vor der UN wegen mangelnder Tatkraft geißelte - was einer "Klimakanzlerin" nicht gerade ins Konzept laufen dürfte - ließ sich Merkel im Gespräch mit Thunberg ablichten und hielt danach eine Rede, in der sie pathetisch erklärte, "die Botschaft der Jugend" gehört zu haben. Das kostet sie gar nichts und stellt sie auf die richtige Seite der Geschichte.

Wir wollen Barabbas frei!

Zur gleichen Zeit drehen andere völlig am Rad. Das Pegida-nahe Umfeld ergeht sich erwartungsgemäß in Mord- und Vergewaltigungsfantasien. Das ist nichts Neues. Jegliche namhafte Politikerin, die etwas sagt das dieser Randgruppe nicht in den Kram passt, muss sich mit diesen auseinandersetzen. Mit ihnen müssen wir uns nicht weiter auseinandersetzen. Es sind schweinische Stimmen aus der Gülle, repräsentativ für nichts als den eigenen Hass.

Interessanter ist da die fast schon instinktive Abwehrhaltung, die aus großen Teilen des konservativen und liberalen Spektrums kommt. Beispielhaft dafür sind Journalisten wie der Welt-Autor Ulf Poschardt. Es ist dieses Umfeld, aus dem die heftige Kritik und die obigen Metaphern von Kult, Religion und Kinderkreuzzug kommen. Es ist wenig verwunderlich, denn diese Kritik wurde bereits vorher permanent an allen Schattierungen von Umweltaktivisten geübt. Der geneigte Leser muss nicht weit gehen, um diese Art der in die Invektive umschlagender Kritik auch hier im Blog zu finden.

Man kommt in diesem Kontext auch nicht um eine andere interessante Feststellung herum. Die heftigen Abwehrreaktionen auf Greta Thunberg sind stark männlich verzerrt. Das fällt sogar einigen ihrer liberalen Gegner auf, die noch argumentativer Ehrlichkeit verpflichtet sind. Über die Gründe kann man nur spekulieren, aber sieht man den verbreiteten Hass auf Teenagerinnen in der Gesellschaft an, überrascht das wenig. Diese Herren der Schöpfung lehnen Kritik ohnehin ab, aber aus dieser Quelle können sie aus irgendwelchen Gründen überhaupt nicht damit umgehen.

Hier werden alternative Kulte eröffnet. Das zur Gegenreligion überhöhte Auto (siehe auch hier im Blog) ist dafür nur ein Beispiel. Im Namen der Freiheit, mit 200 auf der Autobahn den Sportwagen ausfahren oder den Straßenpanzer in die Innenstädte steuern zu dürfen, blockieren sie den Wandel. Es sind diejenigen, die nach Freiheit für Barabbas schreien, um im Bild zu bleiben. Für sie ist Thunberg eine Häretikerin. Sie ist gefährlich. An ihr muss ein Exempel statuiert werden.

Die Demaskierung

Die Wirkmächtigkeit des Symbols Thunberg geht allerdings über die vorhersehbaren Reflexe dieser kleinen Gruppe hinaus. Sie personifiziert die kognitive Dissonanz, die die Klimadebatte seit 30 Jahren begleitet. Der konservative New-York-Times-Kolumnist Bret Stephens macht dies in seiner aktuellen Kolumne ungewollt deutlich:
Let’s assume the most dire predictions are right and we don’t have a moment to lose in substantially decarbonizing the global economy, no matter what the financial cost or political pain. In that case, isn’t Pelosi’s incrementalist approach to climate absurdly inadequate? Are we dealing with a problem so severe that it requires the political and economic equivalent of war socialism? Or should we think of climate change roughly the same way we think about global poverty — a serious problem we can work patiently to solve without resort to extreme measures like ending capitalism or depriving equally serious priorities of the attention they deserve?
Für Stephens ist die Antwort klar: Letzteres. Nur ist das Problem zweierlei. Einerseits haben wir schon dann das von ihm als "most dire" beschriebene Szenario, wenn nur die bestmöglichen Annahmen des IIPC eintreffen, also eine Erderwärmung um 1,5-2 Grad (die von Klimawissenschaftlern als schon fast nicht mehr möglich gesehen wird). Andererseits ist es für solche Maßnahmen längst zu spät.

Die Grundlage der heftigen Reaktionen auf Thunberg ist die Frage, ob man den Klimawandel als existenzielle Bedrohung begreift oder nicht. Es ist die Gretchenfrage unserer Zeit.

Denn entweder ist der Klimawandel eine existenzielle Bedrohung. In diesem Fall gibt es keine Parallelen, gibt es keine anderen Prioritäten. In diesem Fall sind durchgreifende, umfassende Maßnahmen gefragt. Da geht es nicht mehr um den Verzicht auf ein Schnitzel oder das SUV-Verbot in Innenstädten. Da reden wir von drastischeren Maßnahmen.

Oder er ist es nicht. In diesem Fall übertreibt Thunberg maßlos, sind ihre Unterstützer und Anhänger Fanatiker und Hysteriker und treiben wir wegen eines eingebildeten Problems direkt in die Ökodiktatur. In diesem Fall nutzt eine Gruppe am alternativen Rand (man zögert, sie links zu nennen, weil sie in ihrer Feindschaft zur klassischen Industrie und Wirtschaftswachstum wenig Freunde unter klassischen Linken haben) das Symbol Thunberg, um eine extremistische Agenda zu pushen.

Hier sehe ich die zentrale politische Wirkung Thunbergs als Symbol für den Klimawandel. Sie demaskiert die "vernünftige Mitte" und zwingt sie, Farbe zu bekennen. Welche der beiden obigen Alternativen ist es? Seit fast 40 Jahren war der Konsens ein merkwürdiges "Sowohl als auch". Man bekannte sich grundsätzlich zu den Erkenntnissen der Klimawissenschaftler und zur Gewichtigkeit der Krise. Gleichzeitig waren die Lösungsansätze aber von geradezu grotesker Bescheidenheit. In FAZ und Welt werden Vorschläge wie der Verzicht auf das Sylvesterfeuerwerk diskutiert, als seien sie die maximal vorstellbare Reaktion auf die Krise und nicht nur ein erster, kleiner, unzureichender Schritt.

Thunbergs offener Zorn, ihre undiplomatische Verachtung für diesen Ansatz, zwingen jeden zu einem klaren Bekenntnis für eine der beiden Seiten. Das polarisiert und wird vermutlich, wie das bei solchen Themen immer ist, den Anteil der Klimawandelleugner in die Höhe treiben. Die AfD profiliert sich schon jetzt als Anti-Klima-Partei. Christian Lindner versucht auch in bewährter Manier, hier nach Wählern zu grasen. Die CDU und SPD zerreißen sich gerade über diese Frage, wie man am Würgen über das aktuelle "Klimapaket" zu deutlich sehen kann. Selbst die Grünen hadern damit, ob sie die Radikalität einzusehen bereit sind, die die Erkenntnis der Dramatik der Situation erfordert.

Die schmerzhafte Sicherheit

Ich muss zugeben: Ich hadere selbst mit diesem Problem. Rational, im Kopf, habe ich verstanden und akzeptiert, dass wir bereits seit mehreren Jahrzehnten in einer elementaren, existenbedrohenden Klimakrise leben. Dass es praktisch zu spät ist. Dass wir bestenfalls das Schlimmste verhüten können. Dass gigantische Umwälzungen auf uns zukommen, ob wir es wollen oder nicht. Aber im Herzen, im Bauchgefühl, ist dieses Bewusstsein immer noch nicht angekommen.

Darin liegt die Kraft des Symbols Greta Thunberg. In ihrer unkonventionellen, offenen, ja brutalen Art erzwingt sie endlich den Blick in den Abgrund. Und wie schon Nietzsche wusste: Wenn man in den Abgrund sieht, sieht der Abgrund zurück. Das ist kein schönes Gefühl. Aber es ist notwendig. Und es wird uns noch eine Weile beschäftigen. Ich weiß nicht, ob meine Kinder mir, meinen Eltern und meinen Großeltern jemals verzeihen werden. Ich bin mir aber ziemlich sicher, ob wir diese Verzeihung verdient haben werden.