Freitag, 30. April 2021

Bücherliste April 2021

 

Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt.

Diesen Monat in Büchern: Kaiserreich, Nachahmung, Maus, Finanzkrise

Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: Care-Arbeit, Schweiz

BÜCHER

Ivan Krastev/Stephen Holmes - Das Licht, das erlosch - Ein Abrechnung (Ivan Krastev/Stephen Holmes - The Light that failed)

Es ist mittlerweile eine Binsensweisheit, dass die Luftsprünge, der Westen kollektiv angesichts des Zusammenbruchs der Sowjetunion 1991 vollführte, deutlich verfrüht waren. Seither unterliegt Osteuropa einem antiliberalen Backlash, der mit der Wahl Donald Trumps seinen Weg auch über den Atlanktik zurückgefunden hat. Das Autorenduo untersucht in drei großen Kapiteln, warum der Liberalismus seine Strahlkraft so schnell und nachdrücklich verlor.

Die Argumentation zieht sich dabei entlang der Konzepte der "Nachahmung" und Demografie entlang.

Im ersten Kapitel untersuchen die Autoren, wie die osteuropäischen Staaten damit scheiterten, mit ihrer Nachahmung des westlichen Liberalismus aufzuschließen und Respekt und Wohlstand zu erlangen. Stattdessen zogen Millionen junger Menschen aus den östlichen Staaten in den Westen. Die Zurückgebliebenen wurden mit einem neuen, antiliberalen Nationalismus bei der Stange gehalten, die Liberalen als Verräter an der Nation gebrandmarkt. Letztlich richtete sich Osteuropa in der Stagnation ein und schottete sich nach außen ab, um nicht noch mehr Verluste zu erleiden. Dass diese Sicht nur eingeschränkt mit den wirtschaftlichen Erfolgen der Liberalisierung in Einklang zu bringen ist, versteht sich von selbst. Es ist das Gefühl, dass die Nachahmung keinen Respekt erbracht habe, das solchen Schaden anrichtet.

Noch viel schlimmer ist die Lage in Russland: Auch hier ist die demografische Lage katastrophal, aber weniger wegen Abwanderungen in den Westen - mangels EU-Beitritt ist das für Russ*innen keine Option - sondern wegen der Lage des Landes selbst. Die Autoren beschreiben es eindringlich als "Geburtenrate einer westlichen Nation und Lebenserwartung eines Entwicklungslands". Die Aussichten in Russland sind düster, das Land schwach. Man fühlt sich vom Westen betrogen. Deswegen greife Russland seit etwa 2007 zum aggressiven Mittel der Spiegelung: dem Westen werde vorgehalten, wie hohl die eigenen Ansprüche sind, vom Krieg in Georgien bis zur Wahlmanipulation 2016 in den USA.

Am merkwürdigsten ist der Fall der USA selbst. Sie sind das Land, das von der ganzen Welt nachgeahmt wird, und doch gibt es gerade hier einen starken illiberalen Backlash. Die Autoren erklären dies damit, dass die Nachahmung aus Sicht vieler Amerikaner*innen eine eigene Schwäche offenbart oder geschaffen habe. Dafür haben sie gute Argumente: Die Dominanz des amerikanischen Werte- und Kultursystems sorgt dafür, dass das Land weltweit gut verstanden wird - Wissen, das gegen die USA eingesetzt werden kann. Dagegen haben die Amerikaner*innen praktisch keine Kenntnisse über das Ausland. Dazu kommt, wie in Osteuropa und Russland, das Gefühl, demografisch von "Fremden" bedroht zu sein.

Die Argumentationslinie des Buches ist spannend und bietet einen erkenntnisreichen Analysezugang. Wenn ich eine Kritik hätte, dann, dass es insgesamt länger ist, als es sein müsste. Gelegentlich fühlte es sich arg an, als wiederholten sich die Autoren. Aber das soll von einer Empfehlung nicht abhalten.

Christoph Nonn - Zwölf Tage und ein halbes Jahrhundert

Christoph Nonns Buch über die Geschichte des Kaiserreichs wählt eine interessante Perspektive, um den Stoff neu aufzuarbeiten. Zwölf Tage werden exemplarisch sehr detailliert besprochen, um bekannte Themen aus neuen Blickwinkeln zu betrachten. So werden etwa die Sozialistengesetze aus der Perspektive von Julie Bebel beschrieben, die den Anschlag auf Wilhelm I. erlebt. Oder die Katholikenverfolgung anhand einer angeblichen Mariensichtung in einem Dorf geschildert.

Solche Ansätze ermöglichen es Nonn, nicht nur ein über die Beschreibung großer Strukturen, Dynamiken und, vor allem, der "Geschichte großer Männer" hinausgehende Betrachtung zu schreiben, sondern auch, das Kaiserreich lebendig wirken zu lassen. Man fühlt den Alltag der Menschen und ihre Mentalität mehr als der sonst üblichere, distanzierte Blick.

Gerade dieser Tage erfreut sich das Kaiserreich glücklicherweise anlässlich des Gründungsjubiläums und eines passenden Historiker*innenstreits neuer Aufmerksamkeit. Nonns Buch ist rundum empfehlenswert.

Art Spiegelman - Maus (Art Spiegelman - Maus)

Es gibt genau zwei Graphic Novels, die auch außerhalb von Comicfankreisen weithin bekannt und als Literatur anerkannt sind: Alan Moores "Watchmen" (deutsch) und Art Spiegelmans "Maus". Nicht, dass diese Einschätzung notwendigerweise gerechtfertigt wäre; es gibt eine ganze Reihe weiterer Werke, die bekannter sein sollten, als sie es sind. Ich habe diesen Monat wieder einmal Maus gelesen, und dabei ist mir aufgefallen, dass ich es bisher hier noch gar nicht besprochen habe. Das soll korrigiert werden!

"Maus" erzählt die Geschichte von Vladeck Spiegelman, dem Vater des Autors. Der polnische Jude geriet 1939 in Kriegsgefangenschaft, überlebte die folgenden Jahre im Untergrund und wurde schließlich bei einem Fluchtversuch von den Schleppern verraten und nach Auschwitz deportiert. Er überlebte den Horror des Vernichtungslagers und die anschließenden Todesmärsche durch Deutschland bis nach Dachau. Durch Zufall entrann er den Erschießungskommandos und wurde von den US-Truppen befreit.

Die Geschichte läuft zweigleisig: Vladeck erzählt Art die Geschichte, die dieser für das Zeichnen des Comics aufschreibt. Dieser Strang verläuft in der Gegenwart, und Art muss sich dabei auch mit der schwierigen Persönlichkeit seines Vaters und seiner eigenen Identität herumschlagen. Narrativ  wird das vor allem zur Darstellung des langen Schattens des Holocaust benutzt. Das Gros der erzählung aber nimmt die Holocaust-Erzählung ein.

Die zentrale Gestaltungsentscheidung in "Maus" ist die Darstellung aller Juden als Mäuse und der Deutschen als Katzen. Dies erlaubt Spiegelman die Arbeit auf mehreren metaphorischen Ebenen, besonders wenn es um die Täuschungsversuche der Umgebung geht: Vladeck gibt sich oft als Pole aus, um seine jüdische Identität zu verbergen, was durch eine Schweinsmaske angedeutet wird (die Polen sind Schweine, die Franzosen Frösche, die Schweden Elche, die Amerikaner Hunde). In einem besonders selbstreflektiven Teil sieht man Art als Mensch, aber er trägt eine Maus-Maske.

"Maus" ist keine leichte, aber eine fesselnde Lektüre. Was es so faszinierend macht, ist gerade die Intimität der persönlichen Lebensgeschichte Vladecks. Er kann kaum stellvertretend für alle Juden stehen, aber gerade diese Individualität sticht so hervor, denn sie zeigt eine zentrale Wahrheit über den Holocaust: Ob jemand überlebt oder nicht ist oft blanker Zufall, und wo es das nicht ist, stehen Betrug, Diebstahl und Täuschung, die - gerade zusammen mit der arbiträren Natur des Überlebens - auch zum Schuldgefühl der Überlebenden beitragen, ein Schuldgefühl, von dem auch Art nicht frei ist - starb sein jüngerer Bruder doch im Holocaust.

Auch nach 40 Jahren ist "Maus" deswegen immer noch eine mehr als empfehlenswerte Lektüre, und wer sich noch nie damit auseinandergesetzt hat, sollte das dringend nachholen.

Adam Tooze - Crashed (Adam Tooze - Crashed)

Adam Toozes Buch über die Finanzkrise las ich diesen Monat zum zweiten Mal. Es ist ein umfassendes Werk, das die eigentliche "Kernkrise" von 2007 bis 2009 in einen wesentlich größeren Zusammenhang bettet. Das Narrativ, das Tooze entwirft, zieht sich bis ins Jahr 2018 und enthält damit auch den Brexit und die Wahl Trumps, die er durchaus als direkt mit der Krise verbunden beschreibt. In mehreren großen Kapiteln widmet sich Tooze zuerst dem Aufbau des internationalen Finanzsystems in den Jahren vor der Krise. Es ist ihm hier wichtig zu betonen, dass es sich um ein globales System handelte, in dem sämtliche Industrienationen direkt und der Rest der Welt mehr oder weniger indirekt miteinander verbunden waren. Tooze hat wenig Geduld mit Peer Steinbrück oder Nicolas Sarkozy, wenn diese behaupten, es sei eine "amerikanische" Krise. Für Tooze ist die Krise international.

Diese Argumentation belegt er dann im Zusammenbruch des Systems. Die ganze Welt hing (und hängt) vom Dollar ab, weswegen eine amerikanische Immobilienkrise auch der Auslöser war. Es war das amerikanische Krisenmanagment einerseits und die Lektionen der Asienkrise von 1997 andererseits die einen weltweiten Totalcrash analog zu 1929 verhinderten. Für die Reaktion der Europäer (zu denen für Tooze Großbritannien meist nicht gehört, da ist er ganz Brite) hat er dagegen nur Kritik übrig.

Das macht Sinn, denn er sieht die folgende Eurokrise nicht als eine eigene, losgelöste Staatsschuldenkrise, sondern als einen weiteren Teil der Krise des globalen Finanzsystems. Sie ist zudem hausgemacht. Für die Politik besonders Deutschlands während der Krise hat Tooze keinerlei Verständnis, aber auch die meisten anderen Akteure kommen nicht sonderlich gut dabei weg.

Tooze betrachtet auch mehr als nur die EU und die USA, sondern bettet gleichzeitig weitere außenpolitische Entwicklungen in diesen Kontext ein. Dazu gehört vor allem der antiliberale Umschwung in Russland und China, der dann in Georgienkrieg und Ukrainekrise einerseits und der symbiotischen Beziehung Chinas zu den USA andererseits direkten Niederschlag findet. Eher gegen Ende untersucht Tooze dann den politischen Fallout, vom Aufstieg (und Fall) Syrizas in Griechenland zu Orban in Ungarn über Occupy Wallstreet und schließlich Brexit und Trump.

Toozes Analysen sind scharf, sein Narrativ ist fesselnd und seine Perspektive augenöffnend und herausfordernd. Das Buch ist voll und ganz zu empfehlen.

Philipp Zelikow - The Road less Traveled

Ereignisse, die nicht stattgefunden haben, sind aus geschichtswissenschaftlicher Sicht immer sowohl attraktiv als auch ein Problem. Was nicht passiert ist, lässt sich schwer erforschen und belegen. In vielen Fällen ist es aber trotzdem wertvoll. Dies ist so ein Fall. 

Zwischen Frühjahr 1916 und 1917 gab es eine Serie von Versuchen, den Ersten Weltkrieg mit einem Kompromissfrieden zu beenden. Die Verluste auf allen Seiten waren hoch, und es gab keine Aussicht, dass eine der beiden Seiten einen entscheidenden Sieg erreichen konnte. Alles, was blieb, war ein langsames, langes Abnutzen - um am Ende doch in völliger Erschöpfung einen Kompromiss schließen zu müssen. Die linken und liberalen Politiker in allen beteiligten Staaten sahen dies und drängten auf eine Friedenslösung.

Doch dem standen große Hindernisse entgegen. Im Krieg bestanden keine direkten Kommunikationskanäle, niemand wollte den ersten Zug machen und das Vertrauen war zerstört. Die Alternative lag auf der Hand: Amerika musste, als neutrale Macht, den Frieden als Mediator vermitteln. Der amerikanische Präsident war willens, genau das zu tun. Und doch schlugen all diese Versuche fehl. Im Februar 1917 erklärte das Deutsche Reich den uneingeschränkten U-Boot-Krieg. Im April traten die Vereinigten Staaten auf Seiten der Entente in den Krieg ein.

Dieses Buch verfolgt die Versuche, den Frieden zu vermitteln, und warum sie scheiterten. Die Hauptakteure sind Wilson und sein Sonderbevollmächtigter Edward House, der deutsche Botschafter in Washington, Bernstorff, und die britischen Premierminister Asquith und Lloyd George. Das Narrativ, das Zelikow entwickelt und nachverfolgt, ist auf House als Hauptperson fokussiert. Das ist die größte Stärke und Schwäche des Buchs.

Wie so viele angelsächsische Geschichtswerke neigt auch Zelikow dazu, starke Narrative in den Vordergrund zu stellen. So erfährt man unter anderem, dass der britische Außenminister Grey gerne Fliegen fischen ging und welche Schulen House besuchte, was die Personen lebendig macht. Aber aus geschichtswissenschaftlicher Sicht ist das alles Fluff, Zuckerwatte, süß, aber wenig nahrhaft. Letztlich sind diese ganzen Informationen wenig hilfreich bei der Analyse, und wie die leeren Kalorien von Zuckerwatte drängen sie sich gerne in den Vordergrund weil die Notwendigkeit des Geschichtenerzählens die Schärfe der Analyse beeinträchtigt.

Das ist zugegebenermaßen auch eine persönliche Präferenz; ich bin einfach zu sehr an deutschen Universitäten sozialisiert, als dass ich das problemlos gouttieren könnte. Das Buch ist trotzdem insgesamt zu empfehlen, allein weil es keine anderen Abhandlungen zu diesem entscheidenden Thema gibt. Es ist absolut faszinierend, wie Leute wie House, die außer reichen Eltern und guten Beziehungen nichts vorweisen konnten, in praktisch allmächtiger Position das Schicksal der ganzen Welt entscheiden konnten und aus bloßer Inkompetenz scheiterten. Wenn irgendetwas die zentrale These dieses Buchs sein könnte (nicht, dass das so ausdrücklich gesagt wird), dann dass diese Leute geradezu absurde blinde Flecken hatten.

Auch der Grad ökonomischer Ignoranz ist erschreckend. Wenn Bethmann Hollweg, Hindenburg und Ludendorff auch nur ein bisschen ökonomische Kenntnisse gehabt hätten, wäre ihnen klar gewesen, dass die Weigerung der Fed aus dem Oktober 1916, weiterhin die britischen Kriegsanstrengungen zu unterstützen, mehr Schaden als jedes U-Boot anrichten musste. Aber in ihrer reaktionären Weltsicht konnten sie nur in eingefahrenen, militaristischen Bahnen denken und rissen darüber die ganze Welt mit in die Tiefe. Es ist auf eine dunkle Weise faszinierend.

ZEITSCHRIFTEN

Aus Politik und Zeitgeschichte - Care-Arbeit

Es ist ein bemerkenswerter Trend der letzten Monate, dass Care-Arbeit wesentlich mehr in den Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit gerückt ist. Die oft prekäre Natur dieser Arbeit, ihre Existenz im Schattenraum scheinbar privater Arrangements in Beziehung, ihre Abwälzung auf Frauen und Einwander*innen, die schlechte Bezahlung und Arbeitsbedingungen und die mangelnde Anerkennung wurden durch Corona in ein grelles Scheinwerferlicht gerückt. Dies hat eine Debatte darüber angestoßen, wie Care-Arbeit künftig organisiert und gesellschaftlich bewertet werden soll, die noch bei weitem nicht abgeschlossen ist.

Diese Ausgabe bietet einen sehr guten Überblick über die Themen dieser Debatte. Ich würde sie vor allem in drei Bereichen sehen, die unmittelbar miteinander verknüpft sind. Einerseits ist Care-Arbeit in überragendem Maße weiblich. Der Löwenanteil dieser Arbeit wird immer noch unentgeltlich geleistet und lastet auf den Schultern von Frauen - auch wenn diese in Doppelverdiener-Ehen vollzeit tätig sind. Gleichzeitig wird die Arbeit sehr gering geschätzt und oftmals auch gar nicht wirklich als Arbeit anerkannt, schon gar nicht als eine, die der Entlohnung oder Wertschätzung verdiene. Wenig überraschend, Dimension 3, wird sie im gewerblichen Bereich deswegen zu großen Teilen von Einwander*innen durchgeführt.

Die Geringschätzung der Care-Arbeit ist untrennbar mit ihrer Codierung als "weiblich" verbunden. Deswegen ist sie schlecht oder gar nicht bezahlt, deswegen wird sie nicht wertgeschätzt. Es ist dringend notwendig, dass hier ein Umdenken einsetzt. Der demografische Wandel einerseits und die Änderung der Paardynamiken andererseits machen es unbedingt erforderlich. Zwar findet dieses Umdenken bereits statt, aber es passiert mit der Geschwindigkeit eines durchschnittlichen Gletschers, und konkrete Folgen dieses Umdenkens lassen noch auf sich warten.

GEO Epoche - Die Schweiz

Die Eidgenossenschaft in der Mitte Europas ist ein eigener, bemerkenswerter Staat, der sich von seinen Nachbarn in vielerlei Dingen fundamental unterscheidet. Das vorliegende Heft unternimmt den Versuch, die Besonderheiten des Alpenstaates anhand seiner Geschichte herauszuarbeiten, ohne in Schweiz-Romantik zu verfallen und zu viele Klischees zu reproduzieren.

Letzteres gelingt recht gut. Diverse Beiträge im Heft sind gegen den Strich gebürstet, wo es etwa um die Beteiligung der Schweizer Eliten am Sklavenhandel im 18. Jahrhundert oder die alles andere als ruhmreiche Geschichte des Baus des Gotthardt-Tunnels geht. Aber wie immer, wenn solche gewaltigen Zeiträume verhandelt werden, kann kaum mehr als an der Oberfläche gekratzt werden, regiert der grobe Pinsel. So viele Themen müssen verarbeitet werden: Schweizer Söldner, Wilhelm Tell, Neutralität, Uhren, Heidi, Föderalismus und Asylpolitik.

Die Autor*innen geben sich reichlich Mühe, Klischees auszuweichen und ein differenziertes Bild der Schweiz zu entwerfen, aber was ist "die Schweiz" über einen Zeitraum von 800 Jahren schon? Wie in den Beiträgen selbst klar wird, gibt es sie in ihrer heutigen Form ohnehin erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Versuch fühlt sich daher ein wenig wie die unsäglichen Geschichten "der Deutschen" an, die gerne über einen 1000-Jahres-Zeitraum erzählt werden, als ob da irgendeine Kontinuität bestünde. Diese Konstruktion jahrhundertelanger Kontinuitäten ist trügerisch, und obwohl die Autor*innen immer wieder deutlich machen, dass sie nicht existieren, straft das ganze Heft-Konzept diesen Ansatz ja wieder Lügen. Hier wäre etwas mehr thematische Selbstbeschränkung angeraten gewesen.

Donnerstag, 29. April 2021

Die verdrängte Dekade, Teil 2: Auf tönernen Füßen

Teil 0 mit einleitenden Bemerkungen und Teil 1 mit einer Betrachtung der außenpolitischen Rolle der USA gingen diesem Artikel voraus.

Hellsichtige Beobachtende hatten bereits 2006 vor der sich zusammenbrauenden Katastrophe im US-Immobilienmarkt gewarnt. Aber die Verlockungen dieser Blase waren zu groß. Invrestor*innen aus aller Welt steckten Billionen und Aberbillionen in den Markt. Wie die Akteure rund um den berühmten "Big Short" bald feststellen mussten genügte es auch nicht, diese Analyse zu treffen und gegen den blinden Markt zu wetten, denn die großen Player der Finanzindustrie waren mächtig genug, die Marktkräfte außer Kraft zu setzen und das Spiel teils durch Lobbying, teils durch illegale Geschäftspraktiken noch länger aufrechtzuerhalten. 2007 aber war das Spiel aus. Die lange Finanzkrise begann.

Mittwoch, 28. April 2021

Kinder spielen draußen mit Nawalny und begehen beim europäischen Abitur Verbrechen gegen Putin - Vermischtes 28.04.2021

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) "Wie wir Leistung messen, ist nicht zeitgemäß" (Interview mit Patricia Drewes)

Warum gibt es nicht mehr Erleichterungen für die Abiturienten?

So, wie unser Schulsystem funktioniert, sehe ich tatsächlich nicht mehr Spielraum. Ich bin aber davon überzeugt, dass wir grundsätzlich eine andere Prüfungskultur brauchen. Die Art, wie wir Leistung messen, ist nicht mehr zeitgemäß. Die Pandemie macht das gerade deutlich sichtbar.

Wo liegt das Grundproblem?

Es wird noch immer zu viel auswendig Gelerntes abgefragt und zu wenig Wissenstransfer und Selbstwirksamkeit in Prüfungen ermöglicht. Leistung darf nur unter steter Kontrolle erbracht werden. Die Selektionsfunktion steht vielfach im Vordergrund: Am Ende einer Unterrichtseinheit wird geschaut, wer eine Leistung erbracht hat und wer nicht. Dann wendet man sich etwas Neuem zu. Es ist viel sinnvoller, den Schülern vermehrt auch während des Lernprozesses zurückzumelden, wo sie stehen und wie sie sich verbessern können.

Wie sieht das in der Praxis aus?

Die Schüler meines Geschichtskurses haben kürzlich im Geschichtsunterricht an individuellen Projekten über Migration im 20. Jahrhundert gearbeitet, etwa zur Flucht aus der DDR oder zu "Gastarbeitern" in Deutschland. Ich habe sie dabei begleitet. Anschließend gab es eine Open-Media-Klausur. Das heißt, Hilfsmittel waren erlaubt. Ich war erstaunt, wie fundiert diese 15-Jährigen mit den zugrunde liegenden Quellen umgegangen sind. Es stand nicht die Reproduktion von Zahlen oder vermeintlichen Fakten im Vordergrund. Stattdessen war mehr Zeit für die Formulierung individueller Sach- und Werturteile, die kein Hilfsmittel abnehmen kann. (Lilith Volkert, SZ)

Diese Kritik ist alles andere als neu, aber es passiert praktisch nichts in dieser Richtung. Zwar wurde das Abitur durch die Reformen der letzten Jahre deutlich schwieriger und auch inhaltlich fordernder. Aber die Künstlichkeit der Prüfung und die Irrelevanz des Prüfungsformats für später wurde eher vertieft, als dass man da Lösungen angehen würde. Wir erschaffen unglaublich künstliche Prüfungssituationen, die mit jeder technischen Neuerung aufwändiger werden (das geht soweit, dass eine absurde Diskussion über das Aufstellen von Störsendern betrieben wird) und gleichzeitig genau jene Kompetenzen verhindern und aus der Prüfung halten sollen, die wir eigentlich später wollen, dass die Schüler*innen sie meistern können - konkret Recherche und Teamarbeit. Was für ein unglaublicher Blödsinn.

2) Lasst die Kinder raus!

Die Kindheit ist bedroht. Und das nicht erst seit Beginn der Corona-Pandemie. Wie eine repräsentative Studie aus Großbritannien zeigt, werden heutige Kinder durchschnittlich erst mit elf Jahren von ihren Eltern auch mal unbeaufsichtigt zum Spielen ins Freie geschickt. Als die Eltern selbst noch Kinder waren, durften sie schon mit neun Jahren draußen alleine oder mit Freunden Quatsch machen. Und die Großeltern? Noch früher. Die Auswirkungen, die diese Entwicklung für Körper und Geist der sogenannten "Generation Z" sowie für die Gesellschaft insgesamt darstellt, sie sind noch nicht absehbar. Fast 2000 Eltern von fünf- bis elfjährigen Kindern wurden für die "British Children's Play Survey" befragt, das Ergebnis ist laut Studienleiterin Helen Dodd, Kinderpsychologin der Universität Reading, eindeutig: Heutige Kinder erhalten im Gegensatz zu früheren Generationen deutlich weniger die Gelegenheit, sich bereits in jungen Jahren auf eigene Faust mit der Außenwelt samt ihren Schönheiten und Gefahren auseinanderzusetzen. Dies führe dazu, dass Kinder auch im späteren Leben Risiken und Gefahren weniger gut einschätzen und verarbeiten könnten. Wer als Kind nur selten alleine oder mit gleichaltrigen Freunden oder Geschwistern unter freiem Himmel unterwegs sei, der leide bald auch psychisch. Bereits vor der Pandemie habe sich eine ganze Generation, so die Autoren der britischen Studie, in einer Art Dauer-Lockdown befunden. Zu jener Zeit sei es noch die elterliche Angst vor dem Verkehr, vor Sexualverbrechern, Gewalttätern oder der Aufnahme peinlicher Handyvideos durch andere Kinder gewesen, die die Eltern dazu verleiteten, die Haustür fest verschlossen zu halten. Dieser Zustand habe bei vielen Kindern zu Langeweile, Einsamkeit und Antriebslosigkeit geführt. Mit Corona sei die Situation nicht besser geworden. (Martin Zips, SZ)

Ich kann das aus eigener Erfahrung bestätigen. Ohne zu sehr ins Detail gehen zu wollen, aber die Frage, ob die Kids alleine draußen spielen dürfen, sorgt bei uns für mehr Streit in der Ehe als alles andere. Bis zu einem gewissen Teil aber ist die Frage eh hinfällig, weil mit wem wöllten die Kinder draußen spielen? Die anderen Eltern lassen sie ja auch nicht raus. Ich war als Kind praktisch jeden Tag dauerhaft draußen, allein und unbeaufsichtigt. Heute gibt es das praktisch gar nicht. Die Eltern haben alle panische Angst vor bösen Menschen (danke an die Medien für die völlig realitätsferne Dauerbeschallung mit der drohenden Gefahr von Kinderschändern an jeder Ecke an dieser Stelle) oder dass sie überfahren werden. Letzteres ist tatsächlich eine größere Gefahr als zu meiner Zeit: im Vergleich zu den frühen 1990er Jahren ist das Pkw-Aufkommen heute um mehr als 50% höher. Das ist schon eine Ansage. Aber zutiefst problematisch ist dieser Trend dennoch. Wie man dagegen wirken sollte? Keine Ahnung.

3) Should Biden Pack the Supreme Court?

Today’s congressional Democratic leadership has kept their distance from the court-packing bill. Leaning on the President’s new blue ribbon commission exploring non-specific judicial reforms, House Speaker Nancy Pelosi said she has “no plans to bring [the bill] to the floor.” This is wise. FDR couldn’t move public opinion in favor of the bill, and he won his election by 20 more points than Biden. While there are far fewer conservative Democrats today than in 1937, a move to a floor vote could well have split the Democrats and harmed the rest of their agenda. But McConnell is correct that the threat still looms—which is a good thing. What if the Supreme Court moved in a radical right-wing direction now that it has a 6-3 conservative majority? What kind of backlash would materialize? Could it lead to big Democratic gains in the upcoming elections and give Biden a greater mandate to pack the Court than FDR had? The conservative Justices can’t know for sure, and they may not want to test the proposition with a slew of provocative rulings. John Roberts has shown for almost a decade that he’s happy to lead the march in a conservative direction, but not too quickly, avoiding some incendiary cases and defusing others—most notably, preserving Obamacare in 2012. This could explain why the Court has kept punting on the Mississippi 15-week abortion ban case. If the Court’s conservatives are ready to overturn Roe v. Wade, right now they would take the case. If they want to avoid needless divisiveness and protect their legitimacy, they will leave it alone. So long as the latter strategy appears to be in effect, that strongly suggests the conservative Justices see the dangling sword. Biden, Pelosi and Schumer are wise to keep it sheathed, and keep them guessing. (Bill Sher, Washington Monthly)

Die Frage ist letztlich rhetorisch; für Court-Packing hat Biden gar keine Mehrheit. Dafür müsste er nicht nur die Stimmen aller 50 demokratischen Senator*innen haben (die er nicht hat) als auch eine Mehrheit von 50 Stimmen für die Reform des Filibuster (die er erst recht nicht hat). Gleichwohl ist das Court Packing und die Diskussion darüber ein nützliches Werkzeug, weil sie wie in den 1930er Jahren als Warnung an den Supreme Court dienen kann. Wenn der Gerichtshof sich als allzu parteiischer und ideologisch einseitiger politischer Akteur erweist, muss sich die Politik den ihr zustehenden Handlungsspielraum anderweitig holen.

4) How Navalny Fell Short

Navalny’s primary base of support is young, middle-class professionals in major cities. Although Navalny has made an effort to broaden his appeal in recent years, many Russians still regard him with suspicion. A February poll from the Levada Center, the country’s leading independent pollster, found that only 19 percent of Russians approved of Navalny’s work, while 56 percent disapproved. The share of Russians willing to support Navalny for president is even smaller, just 2 percent. [...] Saveliev noted that only a fairly small percentage of Russians turned out for the pro-Navalny protests, something he attributed to the movement’s lack of a bigger political objective. “Navalny’s people did not have a coherent message beyond ‘Free Navalny’ and ‘Russia without Putin,’” he said. “Those are fun slogans, but they are not a tangible political program.” Further complicating matters for Navalny’s team is the fact that few Russians are in a revolutionary mood. Although Russia has experienced economic hardships in recent years, Russians have by and large adapted to them, explained Denis Volkov, deputy director at the Levada Center. “No one is ready for radical political changes,” he said. “Instead, most people want to see certain economic improvements such as higher wages and lower prices.” A skeptical public is not the only obstacle for Navalny. Alexey Chesnakov, a political analyst who previously served as a Kremlin aide, noted that all successful revolutions in Russia enjoyed the support of at least some part of the existing elite, who helped shift the balance of power by throwing its weight behind a political insurgent. But Chesnakov argued that Navalny’s attacks on the elite had caused its members to regard him as a “threat” and further consolidate around Putin. (Dimitri A. Simes, The American Conservative)

Ich muss zugeben, ich verstehe nicht, was Nawalnys Strategie ist. Das einzige, was er aktuell erreicht, ist, sich zum Märtyrer zu machen. Die Oppositionsbewegung in Russland ist schwach und zersplittert, und die Proteste, die hierzulande immer für Schlagzeilen sorgen, sind lächerlich gering. Das ist, als würden wir von einer Demo mit 3000 Teilnehmenden in Mobile, Alabama berichten. Putin sitzt fest im Sattel, der Wahlprozess ist so unter seiner Kontrolle, dass ein Erfolg von Oppositionellen bei Wahlen praktisch unmöglich ist. Alles, was da bleibt, sind trotzige Gesten. Das sind große Gesten, keine Frage, und es ist bewundernswert, was Nawalny und andere auf sich nehmen. Aber irgendeine Erfolgschance haben sie de facto nicht.

5) Stop Treating Friends like Foes

Neither of these controversies—which are not unique to India, as Washington also sanctioned Turkey over its purchase of S-400 missiles—should alter the positive trajectory of relations that both governments recognize as important. Nevertheless, national ego and image matter wherever government leaders gather. Unfortunately, the Biden administration made a poor start to an otherwise potentially beautiful friendship. Sanctions risk poisoning the relationship. [...] The new administration should more carefully coordinate its approach, pushing for sustained cooperation rather than alliance dependence, and making the locus of activity with America’s allies and partners rather than Washington. For, as noted earlier, to the extent that China’s military poses a threat, it is to those allies, not America. Already Delhi has had naval exercises, both bilateral and multilateral, and with Australia, Japan, the Philippines, and Vietnam. Just as Beijing hopes to deter American intervention in the Asia-Pacific, Washington’s friends together should forestall Chinese aggression in those same waters. Perhaps the most important factor for the U.S. to remember after Pompeo’s frequent self-immolations is how often Washington officials undermine their own policy. In the Cold War, other nations often spoke of the Ugly American. Today, Washington should ensure that other governments instead talk about the Ugly Chinese. (Doug Bandow, The American Conservative)

Ich stimme dem Artikel völlig zu, was die Zielrichtung und Taktik der außenpolitischen Handlungen angeht. Das Paradoxe an dem, was Bandow hier fordert, ist, dass es einen Idealismus in der Außenpolitik erfordert, eine Wertebasierung, den und die die Realisten ja gerade oft ablehnen. Auf der einen Seite erheben sie die Forderung, die USA mögen von ihrem hohen moralischen Ross herunterkommen und aufhören, die Welt bekehren zu wollen; auf der anderen Seite aber soll ja genau der moralische high ground wieder eingenommen werden, den man vor der "Normalisierung" der US-Außenpolitik unter Obama und besonders Trump hatte. Das scheint mir ein wenig die Quadratur des Kreises darzustellen.

6) Die Gesellschaft braucht Erinnerungsorte der Demokratie

Das Stiftungs-Konzept sucht die Entwicklung einzufangen, die sich bereits zuvor in Frankfurt aus der Diskussion um die Paulskirchen-Sanierung ergeben hat: dass nämlich ein in unmittelbarer Nähe – sei’s zu errichtendes, sei’s in einem Bestandsbau – unterzubringendes „Haus der Demokratie“ vonnöten ist, um darzustellen, was die Paulskirche in ihrer beim Wiederaufbau 1948 purifizierten Gestalt selbst nicht mitzuteilen vermag. Seit ihrem Wiederaufbau ist die Paulskirche eine nüchterne Raumhülle, genutzt für allerlei Veranstaltungen, aber nicht mehr erkennbar als der Ort des ersten frei gewählten, gesamtdeutschen Parlaments. Gewiss, die Paulskirche war seit den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs eine ausgeglühte Ruine. Doch mit dem Wiederaufbau wurde ihr jede Erinnerung an Revolution und Nationalversammlung ausgetrieben, zugunsten eines moralischen Imperativs – so in einem Wort der vier Wiederaufbau-Architekten über die neugeschaffene Raumfolge: „Wir wollten damit ein Bild des schweren Weges geben, den unser Volk in dieser seiner bittersten Stunde zu gehen hat.“ Die Worte von 1948 sind ihrerseits historisch geworden. Selbstverständlich ist der Wiederaufbau der Paulskirche in der Zeit schlimmster Not unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg Teil der deutschen Demokratiegeschichte, aber weder der einzige noch der maßgebliche. [...] Eine im Papier benannte, lediglich als Verein konstituierte „Gesellschaft zur Erforschung der Demokratiegeschichte“ kann da kaum mehr sein als ein erster Versuch, Forschung anzuregen und zu bündeln. Gegenüber den gut ausgebauten Einrichtungen zur Erforschung der dunklen Kapitel deutscher Vergangenheit bedarf das zarte Pflänzchen Demokratiegeschichte noch erheblicher Pflege, um gleichermaßen Früchte zu tragen. (Bernhard Schulz, Tagesspiegel)

Schulz bringt einige sehr gute Punkte zur Erinnerungskultur. Der Nationalsozialismus ist tatsächlich auf eine schlechte Art zu prominent in unserer Erinnerungskultur verankert. Das heißt nicht, dass ich plötzlich einem Rechtsausleger wie Gauland zustimmen und die Periode als Fliegenschiss abtun möchte. Ganz im Gegenteil, die Aufarbeitung der dunklen Kapitel der deutschen Geschichte lässt einiges zu wünschen übrig.

Aber gleichzeitig ist unbestreitbar richtig, wofür etwa Hedwig Richter, Christoph Nonn oder Birte Förster gerade streiten: dass eine Normalisierung der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts, eine Rekontextualisierung im Rahmen der Demokratiegeschichte, dringend notwendig ist. Die jüngste Aufmerksamkeit besonders, aber nicht nur, auf die Geschichte des Kaiserreichs ist da extrem hilfreich und hat zu einer wahnsinnig fruchtbaren Debatte geführt. Ähnliches wäre für 1848 auch durchaus angebracht, wo der öffentliche Diskurs - so überhaupt vorhanden - auf einem unterirdischen Niveau verläuft. Selbst für Weimarer Republik wäre es an der Zeit für ein größeres Schlaglicht.

7) GOP Stands Up to ‘Cancel Culture’ by Criminalizing Dissent

DeSantis’s law also makes the destruction of a memorial (including Confederate ones) a felony punishable by 15 years in prison; strong arms liberal city governments into adopting a more militant posture toward mass protests by making them liable for all property damages suffered by residents during an “unlawful assembly”; and makes blocking a highway into a felony offense. Finally, as indicated above, the law establishes civil immunity for drivers who run over protesters unlawfully congregated in a street. These last items are worth dwelling on. It is essentially impossible to hold a spontaneous demonstration in an American city without illegally congregating in a street. And obstructing traffic has long been recognized as a legitimate form of nonviolent civil disobedience. When Alabama governor George Wallace wished to justify the violent suppression of the Selma marchers in 1965, he did so by citing the threat the civil-rights protesters posed to traffic on U.S. Route 80. [...] Yet it would be a mistake (or at least, imprecise) to regard the GOP’s simultaneous opposition to “cancel culture” and support for criminalizing dissent as hypocritical. Although the former is often expressed through civil libertarian rhetoric, and the latter through authoritarian policy, the two positions are actually of a piece. The conservative movement has a principled view on freedom of expression, but the principle is that Republicans should use state power to promote conservative speech and deter progressive dissent. In substance, the GOP’s “anti-cancel culture” agenda is broadly similar to its anti-protest one; in both cases, Republican officials aim to use public policy as a tool for increasing the costs of anti-conservative speech. [...] It’s plain then that the GOP’s opposition to “cancel culture” is not rooted in support for open debate untrammeled by economic coercion. Rather, the party’s concern is with social liberalism’s burgeoning cultural hegemony. [...] Florida’s anti-protest law is surely motivated, in part, by an earnest desire to deter riots, which have victimized many innocent Americans over the past year. But the legislation’s heavy burdens on nonviolent dissent aren’t incidental. They reflect a broader authoritarian turn in conservative politics. For Republican activists in 2021, any manifestation of progressive power — whether it be a street demonstration, corporate statement, or Democratic election victory — is itself a form of unlawful disorder; and authorities shouldn’t let constitutional niceties get in the way of restoring the peace. (Eric Levitz, New York Magazine)

Wie in meinem Artikel zur Cancel-Culture bereits beschreiben geht es denjenigen, die dieses Wort im Munde führen, im Allgemeinen nicht um Meinungs- oder Pressefreiheit, sondern um die Dominanz des Diskurses. Nirgendwo wird das so deutlich wie bei den Republicans, die jeglichen demokratisch-pluralistischen Boden verlassen haben und eine autokratische Partei geworden sind, die sich im Gefolge Putins, Erdogans, Jinpings und Orbans wesentlich wohler fühlt als in dem Trudeaus, Merkels, Macrons oder selbst Johnsons.

Man sehe sich nur einmal an, was diese Leute hier machen. Die Republicans stehen mit solcher Gesetzgebung natürlich in einer langen amerikanischen Tradition, Widerspruch zur herrschenden Meinung mit drakonischen Strafen zu unterdrücken. Ob Anarchisten in den 1910er Jahren, Kriegsgegner während des Ersten Weltkriegs, Sozialisten in den frühen 1920er Jahren, Kommunisten zu allen Zeiten, Abolitionisten im 19. Jahrhundert - stets erließen sie Gesetze, die massiv die Meinungsfreiheit einschränkten und zahllose Unschuldige hinter Gitter und um ihre Existenz brachten.

Genau dasselbe tut die GOP nun auch wieder. Dabei sollte man annehmen, dass wir eigentlich weiter sind. Aber wie verhalten der Aufschrei dagegen ist, dass die Partei in Florida es quasi legal macht, unliebsame Demonstrierende zu überfahren (!) ist schockierend. Andererseits hat Florida auch Gesetze erlassen, die es praktisch legal machen, unliebsame Schwarze einfach zu erschießen ("stand your ground law"), ohne dass das bisher zu einem Umdenken geführt hätte. Es ist echt übel.

8) Das große Brüsseler Baerbock-Rätsel

Ein sehr interessanter Artikel, der mögliche Konflikte der Grünen auf europäischer Ebene aufzeigt. Das ist auch abseits Baerbocks Kanzlerschaftschancen relevant, weil die Grünen sehr wahrscheinlich irgendwie an der nächsten Bundesregierung beteiligt sein werden; und wenn sei das sein werden vermutlich mit dem Außenministerium oder dem Kanzleramt, also direkter außenpolitischer Beteiligung.

Es ist merkwürdig, dass neben der CDU ausgerechnet die Grünen die letzte Stütze von Westbindung und NATO in Deutschland sind. Und beide Parteien wackeln hier in letzter Zeit auch; die Ostverbände der CDU zeigen eine ostentative Putin-Freundlichkeit, und Armin Laschets Irrlichtereien sind auch besorgniserregend. Das ist das einzige Feld, auf dem ich Friedrich Merz vorgezogen hätte. Die im Artikel angesprochenen Merkwürdigkeiten der Grünen dürften aber auch für Stresspunkte sorgen, ob bei Ceta oder beim Atomwaffenverbotsvertrag.

Die Debatte zeigt ganz generell das Abseits, in dem die deutsche Außenpolitik sich beriets länger befindt. Bei der LINKEn ist man das ja gewohnt, von der AfD hat glaube ich auch nie jemand etwas erwartet. Aber der Totalabsturz der SPD auf diesem Feld in der vergangenen Legislaturperiode und die mehr als erratischen Äußerungen führender FDP-Politiker*innen, besonders Lindners und Kubickis, zeigen auch hier einen deutlichen Schwung hin zu populistischen Haltungen, die bislang eher die Provinienz von links und rechts außen waren. Deutschland verabschiedet sich praktisch von der internationalen Bühne in einem Moment, in dem es sich das weniger leisten kann als je zuvor.

9) Kretschmer reist nach Moskau – im Dienste der kulturellen Beziehungen?

Da kommt der Besuch von Kretschmer den russischen Funktionären mehr als gelegen. Moskaus Staatsmedien zeigten zuletzt gern die Vertreter der AfD als Zeichen dafür, dass es trotz aller Spannungen im deutsch-russischen Verhältnis auch Lichtblicke gebe. Der sächsische Bundestagsabgeordnete Tino Chrupalla hatte im Dezember sogar eine Audienz bei Russlands Außenminister Sergej Lawrow. [...] Regierungschef Kretschmer verteidigt seinen Trip mitten in der Corona-Pandemie als Reise im Dienste der kulturellen Beziehungen. [...] In der öffentlichen Wahrnehmung dürfte sich der Fokus nun darauf richten, welche Termine Kretschmer sonst noch hat. „Die Wiederbelebung eines solchen Gesprächs ist aus meiner Sicht auf allen Ebenen bitter nötig“, sagt er. Dabei gehe es nicht nur um Politik, sondern auch um Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur. In freundschaftlichen Beziehungen könnten und müssen auch schwierige Themen besprochen werden. Mit seiner Reise will Kretschmer „daran mitwirken, dass Deutschland und Russland einander wieder differenzierter wahrnehmen“. Sachsen wolle als Deutschlands Brücke nach Mittel- und Osteuropa dabei Vorreiter sein. Rückendeckung bekommt Sachsens Regierungs-Chef von seinem Stellvertreter in der Regierung – Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD). Kontakte ins Ausland dürften gerade in der Pandemie nicht abreißen, sagt Dulig. „Für Ostdeutschland und speziell für Sachsen hat Russland schon immer einen hohen Stellenwert.“ (DPA, RND)

Wo wir es gerade von irrlichternden CDU-Ostverbänden hatten, hier ein Paradebeispiel. Meinem Eindruck nach ist dieses Putin-Kuscheln mittlerweile ein fester Bestandteil der Landespolitik in den neuen Bundesländern, wo die Ansichten zu Russland hart unterschiedlich zu denen in den alten Bundesländern sind auch 30 Jahre nach der Einheit die Ablehnung des Westens noch durch eine ostentative Freundlichkeit gegenüber Russland kompensiert wird. Wie gesagt, bisher hat das eigentlich nur die LINKE gemacht, aber seit die AfD im Osten reüssiert und dieses Erfolgsrezept kopiert, sind auch CDU und FDP auf den Zug aufgesprungen (die SPD sowieso, aber die spielen da ja keine Rolle, und die Grünen sind im Osten ja praktisch nicht existent).

Meine Arbeitsthese ist, dass es sich dabei letztlich weniger um ernsthafte Außenpolitik sondern um ostdeutsche Identitätspolitik handelt. Man zeigt seine "Eigenständigkeit" und streckt den Mittelfinger zu den Wessis und Amis. Nur passiert das halt nicht im Vakuum, und der Unsinn ergibt politisches Heu, das Putin dreschen kann. Kretschmers Besuch ist daher genauso beknackt wie die Idee, Sputnik V zu bestellen. Selbst wenn die Impfstoffe zugelassen und gekauft würde, sie würden nicht rechtzeitig eintreffen, um die deutsche Impfquote zu erhöhen. Alles, was hier getan wird, ist Putin Trümpfe in die Hand zu geben.

10) Zum Glück haben Söder und Habeck die Machtkämpfe verloren

Das Interview ist für mich der schlagende Beweis dafür, warum es richtig war, Annalena Baerbock zur historischen Figur der Grünen zu erheben. Robert Habeck ist zweifellos ein bemerkenswerter Politiker, aber er wirkt auf mich oft so, als sei er im Übermaß mit sich selbst beschäftigt, als beobachtete er sich selber dabei, wie er redet und argumentiert und in Talkshows neben anderen Politikern aus anderen Parteien sitzt und sich von ihnen unterscheidet. Nicht zufällig unterliefen ihm Fehler, offenbarte er Wissenslücken und fiel im Rennen mit Annalena Baerbock zurück. Mit seinem Interview hat sich Robert Habeck einen Bärendienst erwiesen. Besser hätte er einfach geschwiegen, anstatt der "Zeit" seine Gefühle plakativ zu offenbaren. Einige Grüne dürften es ihm übel nehmen und Annalena Baerbock weiß spätestens jetzt, wo seine Loyalität offenbar endet. [...] Auch die beiden Unterlegenen haben Entscheidendes gemeinsam. Bei Robert Habeck und Markus Söder dreht sich vieles ums Ich. Wenn Söder sagt, die Union müsse "sexy und solide" zugleich sein, dann verstehen wir ihn richtig, wenn wir denken, dass er sexy und solide sei. Würde Armin Laschet das Wort "sexy" in den Mund nehmen, würden wir uns kringeln. [...] Habeck und Söder sind Individualisten und nehmen sich als Person wichtiger als die Sache, die sie vertreten. Damit soll nicht gesagt sein, dass sie schlechte Kanzlerkandidaten gewesen wären, aber sie sind eben nicht zufällig unterwegs auf Grund gelaufen. (Gerhard Spörl, T-Online)

Ich finde diese Argumentationslinie unsagbar blödsinnig. Ach was, Söder und Habeck wären gerne Bundeskanzler geworden? Und Baerbock und Laschet nicht, oder wie? Diese Idee, dass man sich "rufen" lassen müsse und sich nicht um das Amt bewerben darf, sollte eigentlich mittlerweile echt ausgestorben sein, aber sie hält sich super hartnäckig. Das hat auch wenig mit Loyalität zu tun. Natürlich ist Habeck enttäuscht. Söder sicherlich auch. Das dürfen sie auch sein. Und Laschet und Baerbock wären in einem unfassbaren Ausmaß naiv wenn sie annähmen, dass dem nicht so wäre. Was also soll das? Wer den Spitzenjob will, der muss drum kämpfen. Parteivorsitzende, die das nicht wollen, haben ihren Beruf erfüllt (Seitenblick zur SPD-Parteiführung an dieser Stelle). Der einzige Grund, dass Lindners Hut nicht in diesem Ring liegt ist, dass er keinerlei Chance hat. Und eine Blamage in die Richtung reicht der FDP glaube ich. Aber sonst würde er sicher auch Anspruch erheben, und völlig zu Recht.

11) US-Häftling ist 27 Jahre auf der Flucht – bis jetzt

Ein Gefangener, der vor 27 Jahren aus einem Gefängnis im US-Bundesstaat Nevada geflohen ist, befindet sich wieder in Haft. Er sei in Mexiko verhaftet worden, berichtet der US-Nachrichtensender "CNN" mit Berufung auf das Justizministerium von Nevada. [...] Der 52-Jährige war 1992 dem "CNN" zufolge zu einer 40-jährigen Haftstrafe verurteilt worden. Er habe betrunken einen schweren Verkehrsunfall verursacht, bei dem ein 18-Jähriger starb und zwei weitere Menschen schwer verletzt wurden. (lw, T-Online)

Was mich an dieser Geschichte absolut fasziniert: der Mann wird zu 40 Jahren (!) Haft verurteilt. Seit 27 Jahren ist er auf der Flucht. In dieser Zeit hat er keinerlei weitere Verbrechen begangen. Warum um Gottes Willen wollte man ihn für 40 Jahre wegsperren?! Das amerikanische Justizsystem mit seinen drakonischen Haftstrafen ist völlig pervers. Selbst wir in Deutschland vergeben viel zu viele und zu lange Haftstrafen.

Ein wesentlich besseres System wird seit Längerem von den Proponenten der so genannten "restaurativen Gerechtigkeit" (restorative justice) vertreten. Es wird im brillanten Podcast von Chris Hayes näher erklärt, aber in aller Kürze geht es darum, nicht die Täter zu bestrafen, sondern sie zum Ausgleich zu verpflichten. Gefängnisstrafen gäbe es dann nur noch für Leute, die gefährlich sind.

Das hat gleich mehrere Vorteile. Die riesigen Kosten für die Gesellschaft würden deutlich sinken. Die Opfer der Tat hätten etwas davon, weil der Täter sich tatsächlich intensiv mit den Folgen und Kosten seiner Tat auseinandersetzen und Abhilfe schaffen muss. Statt in einen ewigen Kreislauf der Gewalt einzutreten, der am Ende nur Verlierer*innen zurücklässt, könnte man ihn brechen und tatsächlich Gutes tun.

Montag, 26. April 2021

Der unerträglichste Diskurs

 

Ich hab die Schnauze voll. Wirklich. Worum geht es? Natürlich um Cancel Culture. Ich kann den Blödsinn nicht mehr hören. Und trotzdem schreibe ich wieder einen Artikel. Warum? Weil diesem schwachsinnigen, unerträglichen Diskurs nicht mehr zu entkommen ist. Er ist die aktuell größte Mode im Medientreiben, und er ist unerträglich dumm. Und ich mag einfach nicht mehr. Der aktuelleste Anlass ist die missratene Aktion einer Riege B-Schauspieler*innen, die unter dem Hashtag #allesdichtmachen satirische Beiträge gegen die Corona-Maßnahmen veröffentlichten. Dass es öfter danebengeht, wenn deutsche Kulturschaffende sich satirisch zur Politik äußern, lässt sich ja wöchentlich in der heuteShow beobachten. Insofern stehen Jan Josef Liefers und seine Mit-Video-Erstellenden in einer guten Tradition. Es gibt keinen Grund, sich groß mit der Meinung einiger Tatort-Kommissare zu beschäftigen, aber natürlich ging es auch nie darum, hier irgendeine Debatte zu führen. Es ging um das Generieren von Aufmerksamkeit, und die haben sie bekommen.

Denn natürlich wurden die Videos, deren Inhalt - ob beabsichtigt oder nicht - rechtsradikale Narrative mitbedienten, kritisiert. Das war zu erwarten; niemand kann irgendetwas ins Internet packen, ohne kritisiert zu werden, und wenn es nur ein Katzenvideo ist. In diesem Fall war es offensichtlich auch erwünscht. Das Drehbuch begann auch sofort abzulaufen: Liefers beklagte sich, er werde von einem "Lynchmob" gejagt, die entsprechenden Verdächtigen schrieen so laut sie konnten "Cancel Culture", und für drei Tage beherrschte das übliche Geschrei die deutschen Twitter-Feeds.

Was das Ganze so unerträglich macht ist seine ritualisierte, jeglichen Inhalts entkleidete Form. Die Videos werden eingestellt, damit man kritisiert wird und sich dann in die Pose des Verfolgten werden kann. Das wird zunehmend als wirtschaftliches Modell benutzt, wie man etwa zuletzt an der konstruierten Debatte um die weitere Karriere Gina Cararos sehen konnte, die ebenfalls bewusst eine Kontroverse schuf, indem sie Instagram-Posts veröffentlichte, in denen sie trotz expliziter Aufforderung ihres Arbeitgebers, das künftig zu unterlassen, Nazi-Vergleiche postete. Eine neue Stellung bei eher rechtsgerichteten TV-Produktionen hatte sie bereits in der Tasche; die "Kontroverse" um Cancel Culture, die in den USA für einige Tage die Medien beschäftigte, schuf dafür kostenlose Werbung. Genau dasselbe ist das mit Liefers und seinen Kolleg*innen; deren Karrieren sind von einem Allzeithoch reichlich weit entfernt, da sind ein paar Leitartikel und Talkshow-Einladungen gerade Recht.

Und - gut für sie. Die Leute müssen von irgendwas leben, und man kann nicht von allen Kunstschaffenden erwarten, dieselbe Reife wie eine Punkband mitzubringen. Ich mache Liefers und den anderen gar keine großen Vorwürfe.

Vorwürfe mache ich vielmehr einer völlig hohldrehenden bürgerlichen Öffentlichkeit. In der Welt etwa fabuliert der liberale Leuchtturmintellektuelle Stefan Aust, die Vorgänge erinnerten an "die Ausbürgerung Wolf Biermanns". Nachdem einige der beteiligten Schauspieler*innen ihre Videos zum #allesdichtmachen-Projekt zurückzogen, weil sie offensichtlich nicht wirklich nachgedacht hatten was sie eigentlich sagten und in welchem Kontext das erscheinen würde, schreibt Aust, die Website "gleiche jetzt mit ihren schwarzen Flecken den zensierten Seiten einer Zeitung in einer Militärdiktatur".

Da sind wirklich alle Sicherungen durchgeknallt. Wolf Biermann wurde von einer totalitären Dikatur ausgebürgert und über Nacht seiner Existenz und eines Teils seiner Identität beraubt. Jan Josef Liefers wurde von Jens Spahn gelobt und auf eine Diskussion ins Ministerium eingeladen. Armin Laschet persönlich verteidigte die Aktion (natürlich, ohne Stellung zum Inhalt zu beziehen, das Merkeln kann er mindestens genausogut wie die aktuelle Inhaberin des Kanzleramts), weil Satire alles dürfe.

Und: Fair enough. Das ist Satire, natürlich darf sie das. Das steht völlig außer Frage. Nur darf ich das halt auch scheiße finden. Und wer den Gegenwind nicht aushält, der darf halt auch nicht in die Manege steigen. Ich muss die Kritik in den Kommentaren hier auch aushalten, ohne dass das Cancel Culture ist. Und wer vom wahrscheinlich nächsten Kanzler Deutschlands verteidigt und vom Gesundheitsminister zur Gesprächsrunde eingeladen wird, der ist nicht der nächste Wolf Biermann. Liefers Thesen wurden in der deutschen Presselandschaft tagelang kontrovers diskutiert. Das ist Meinungs- und Pressefreiheit in Reinform, und diese Selbstradikalisierung der Bürgerlichen, wie sie etwa bei der Welt betrieben wird, ist einfach nicht mehr auszuhalten. Es ist ein Verlust jeglichen Maßes, jeglichen Anstands, jeglicher Relation. Sollen nicht gerade das bürgerliche Kerntugenden sein?

Das ganze wird extra eklig dadurch, dass es alles so heuchlerisch ist. Denn es geht ja nicht mal um die Verteidigung der Meinungsfreiheit oder um die Freiheit von Kunst und Satire. Es geht um die Dominanz im Meinungsdiskurs, um das Unterdrücken unliebsamer Meinungen. Die gleichen Leute haben nämlich überhaupt kein Problem damit, Satire zu canceln und als unzulässig zu erklären, wenn sie ihnen nicht ins Konzept passt. Beispiel gefällig?

Letztes Jahr produzierten die gleichen Leute einen Mini-Skandal um den satirischen Beitrag des WDR, in dem ein Kinderchor in einem Lied eine fiktive Oma als "Umweltsau" besang, um auf die Probleme des Klimawandels aufmerksam zu machen und meine These zu belegen, dass die meisten deutschen Kulturschaffenden einfach die Finger von Satire lassen sollten. Derselbe Armin Laschet, der gerade mit Verve für die Freiheit der Satire eintritt ("Man darf das sagen in einem freien Land"), erklärte noch vor Jahresfrist, das Lied habe "Grenzen des Stils und des Respekts gegenüber Älteren überschritten. Jung gegen Alt zu instrumentalisieren ist nicht akzeptabel."

Das macht auch vor Friedrich Merz nicht halt. Der schlug letzte Woche ein Verbot von Gendersprache vor:

Der CDU-Bundestagskandidat Friedrich Merz (CDU) hat ein Verbot von geschlechtergerechter Sprache nach französischem Vorbild ins Spiel gebracht. [....] "Es gibt nach meiner Wahrnehmung einen kulturellen Konsens in der Republik – die überwiegende Mehrheit der Menschen lehnt die Gendersprache ab." [...] "Wer gibt Nachrichtenmoderatorinnen und -moderatoren das Recht, in ihren Sendungen einfach mal so eben die Regeln zur Verwendung unserer Sprache zu verändern?" [...] Merz erinnerte daran, dass Frankreich allen staatlichen Institutionen untersagt habe, geschlechtergerechte Sprache zu verwenden. "Die Franzosen haben offenbar ein besseres Feingefühl für den kulturellen Wert ihrer sehr schönen Sprache", sagte Merz dem Nachrichtenmagazin. Gerade in gesellschaftlich verantwortungsvollen Positionen "kann das nicht jeder so machen, wie er das vielleicht gerne hätte." Die Bevölkerung habe das Recht, "dass gerade die mit Pflichtbeiträgen finanzierten Medien Rücksicht nehmen auf ihre Empfindungen und ihre Meinung". (AFP, T-Online.de)

Das ist natürlich nicht Cancel Culture. Die CDU ist natürlich keine "Verbotspartei", sie folgt nur dem "gesunden Volksempfinden". Die Argumentation Merz' ist ungeheuer inkonsistent, sie ist heuchlerisch, und auch hier können wir gut sehen, worum es wirklich geht: um die Dominanz des Diskurses. Genau deswegen war ich immer gegen Merz; der Mann hat kein Problem, seine hervorgehobene Stellung und Autorität für solche identätspolitisch motivierten Attacken zu nutzen. Dabei sollte man nicht den Fehler machen, mit tumben Trump-Vergleichen um sich zu werfen; Merz ist bei allen Schwächen geschickter. Er will zwar bei der CDU-Basis den Eindruck erwecken, mit autoritärer Hand Denkverbote zu erteilen (die CDU liebt das, wenn es gegen Meinungen geht, die sie nicht teilt - wie jede andere Gruppe auch). Aber sein Verweis auf Macron zeigt, dass er sich eine Rückzugslinie offen hält. Denn wer sich jetzt wundert, warum die Schlagzeilen Deutschlands so merkwürdig leer waren, als Macron in Frankreich die Meinungs- und Pressefreiheit abgeschafft hat: hat er selbstverständlich nicht. Was Macron gemacht hat war, den Behörden die Verwendung geschlechtergerechter Sprache in ihren offiziellen Formularen und Verlautbarungen zu verwenden. Das kann er machen, und das ist natürlich genau das, was Konservative den Progressiven vorwerfen, wenn das Gegenteil an Unis gemacht wird. Aber erneut, der Diskurs ist endlos beknackt und heuchlerisch, und es geht nur um dessen Dominanz.

Damit könnte ich den Artikel beenden. Mache ich aber nicht, denn ich habe ein Geständnis abzugeben.

Ich lag die letzten Monate falsch. Ich habe viel zu oft die Bedrohung der Cancel Culture durch die Progressiven relativiert, weil mich mein Zorn über die oben beschriebenen Dynamiken und der unterirdische begleitende Diskurs geblendet haben. Das war falsch. Zwar halte ich weiterhin daran fest, dass die wahre Gefahr, die wahre Cancel Culture aktuell eher von rechts kommt (einfach nur, weil die Leute im Gegensatz zu einem Mob Idioten auf Twitter, der das Thema morgen wieder vergessen hat, reale, institituonelle Macht besitzen) und dass solche Versuche, die Dominanz über den Diskurs zu erwerben, einfach schon immer da und zu allen Zeiten normal waren.

Aber ich war zu nonchalant, die Gefahr beziehungsweise die Schäden durch eben jene Mobs zu relativieren. Mea culpa. Ursprünglich hatte ich vor, aus dieser Entschuldigung einen eigenen Artikel zu machen und sie nicht mit dem vorangegangenen Teil zu verwässern, aber so trete ich eben als Vertreter des Hufeisens und Bothsiderismus auf.

Anlass für den Sinneswandel war kein spezifisch hervorstechendes Ereignis, vielmehr ein Tropfen, der das Fass eines seit länger nagenden Zweifels zum Überlaufen brauchte (schiefe Metapher, sorry). Konkret geht es um die Pinky Gloves, ein Produkt aus der TV-Serie "Die Höhle der Löwen", in denen mittelprächtige Unternehmer*innen Geschäftsideen bewerten und finanzieren oder eben nicht. Konkret ging es bei dem Projekt zweier männlicher Gründer (das Geschlecht ist relevant, ihr werdet gleich sehen warum) um einen pinken Plastikhandschuh, mit dem Frauen ihr Tampon entfernen und entsorgen können, ohne mit dem gebrauchten Hygieneprodukt in Berührung kommen zu müssen.

Das Produkt (und seine Finanzierung durch den ebenso männlichen Investor) zog eine Welle des Protests nach sich, die erst einmal gut nachvollziehbar ist. Denn die Begründung der beiden Gründer war, dass sie in ihrer WG entsetzt darüber waren, gebrauchte Tampons im Müll sehen zu müssen. Dieses "period shaming" gehört zu den vielen Dingen, die in der progressiven Welt kritisiert werden; dass die beiden Männer (!) den Intimbereich der Frauen (!!) mit einem umweltschädlichen (!!!) pinken (!!!!) Produkt regulieren wollten, setzte dem Ganzen nur die Krone auf. Kurz, es war eine dumme Idee, es wurde kritisiert, der Investor zog zurück. Dabei hätte man es belassen können. Tat man aber nicht. Wie der Spiegel berichtet:

Die verdrängte Dekade, Teil 1: Das kürzeste Jahrhundert aller Zeiten

 

Im Jahr 1997 gründeten Dick Cheney, Robert Kagan und Bill Kristol den Thinktank "Project for a new American Century". Die Denkfabrik, die schnell auf eine prominente Mitgliederliste verweisen konnte, die zahlreiche spätere Mitglieder der Bush-Regierung sowie viele ehemalige Reaganites enthielt, formulierte in einem "statement of principles":

As the 20th century draws to a close, the United States stands as the world's preeminent power. Having led the West to victory in the Cold War, America faces an opportunity and a challenge: Does the United States have the vision to build upon the achievements of past decades? Does the United States have the resolve to shape a new century favorable to American principles and interests? [...] We seem to have forgotten the essential elements of the Reagan Administration's success: a military that is strong and ready to meet both present and future challenges; a foreign policy that boldly and purposefully promotes American principles abroad; and national leadership that accepts the United States' global responsibilities.

Bereits 2006 wurde die Denkfabrik wieder aufgelöst, nicht ohne sich den berechtigten Ruf erarbeitet zu haben, eine der einflussreichsten Lobbyorganisationen aller Zeiten gewesen zu sein. Spätestens mit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten 2016, der eine Strategie des "America First" und eine völlige Ablehnung wertebasierter Außenpolitik formulierte, war diese Theorie am Ende. Das "neue amerikanische Jahrhundert" hatte also kaum zwei Jahrzehnte geschafft. Das war mehr als das tausendjährige Reich zustandebekommen hatte, zugegeben.

Freitag, 23. April 2021

Die verdrängte Dekade, Teil 0: Einführung

Wenn die Frage im Raum steht, wann der Umschwung zu einer instabilen Welt der Rechtspopulisten und gefühlten Dauerkrisen entstanden ist, landet man beinahe unweigerlich im Jahr 2015, als die Flüchtlingskrise die Schlagzeilen beherrschte und half, das Brexit-Votum und Trumps Präsidentschaftswahl 2016 zu befeuern. Aber ich halte das für verkürzt gedacht. Diese Ereignisse waren weniger der Beginn als vielmehr der Schlussstein unter einem ganzen Jahrzehnt der Verwerfungen und Krisen, das auf kuriose Weise im öffentlichen Bewusstsein verdrängt wurde, aber im gesellschadftlichen Unterbewusstsein hartnäckig verhaftet bleibt. Es lohnt sich, diese verdrängte Dekade aufzuarbeiten und zu untersuchen, was in ihr vor sich ging.

Im Jahr 2004 gewann George W. Bush als einziger republikanischer Präsident seit 1988 eine Mehrheit der Bevölkerung für sich. Der Irakkrieg war frisch "gewonnen", die Steuern für Reiche radikale gesenkt und die Wirtschaft dereguliert worden. In Europa traten zehn neue Staaten der Europäischen Union bei, voller Zukunftsforderung auf die Verheißungen eines globalen Kapitalismus, unter dessen Auspizien sie sich in den vergangenen Jahren radikal reformiert hatten und an dessen Früchten sie nun teilzuhaben hofften. Unter Führung des überzeugten Europäers Giscard d'Estaigne arbeitete eine Kommission einen Verfassungsentwurf für Europa aus. In Deutschland traten die Hartz-Gesetze in Kraft und brachten die größte innenpolitische Veränderung seit der Wiedervereinigung und die tiefgreifendste Umgestaltung des Sozialstaats seit 1957 mit sich. Horst Köhler wurde zum Bundespräsidenten, was weithin als Signal für einen kommenden Machtwechsel hin zu einer noch entschlosseneren Reformriege im Geiste des Leipziger Programms interpretiert wurde. Trotz gefälschter Wahlen in Russland orientierte sich das Land in eine Integration ins Weltwirtschaftssystem, ebenso wie China, das 2001 der WTO beigetreten war und sich seither als Musterschüler zu etablieren versuchte.

2005 schwang die Stimmung in den USA und endgültig weltweit gegen den Irakkrieg, als die scheinbar so mächtige Nation von terroristischen Milizen in den Straßenschlachten Falludjas vorgeführt wurde. Gleichzeitig offenbarte die katastrophale Reaktion auf den Hurrikan "Katrina" die Brüchigkeit des amerikanischen Staates zuhause und die tiefen Gräben, die sich durch die Gesellschaft zogen. Bei Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden wurde die Europäische Verfassung abgelehnt und brachte das gesamte Projekt der Europäischen Union zu einem unerwarteten und plötzlichen Stopp. In Deutschland fanden vorgezogene Bundestagswahlen statt, bei denen die SPD einen Überraschungserfolg erzielte, indem sie sich gegen die USA stellte und als Verfechterin sozialer Gerechtigkeit gegen den Neoliberalismus inszenierte; die eigentlich fest geplante Wunschhochzeit des bürgerlichen Lagers fiel aus und machte einer Großen Koalition Platz. Russland führte den ersten von vielen Gasstreits mit der Ukraine.

Solcherlei Grenzziehungen sind natürlich immer etwas arbiträr. Es ist allerdings auffällig, wie sehr die Welt Anfang der 2000er Jahre noch in Richtung der "neuen liberalen Weltordnung" unterwegs schien, geprägt von der Harmonisierung des internationalen Handelsregimes, das alle Nationen auf dieselben liberalen Werte verpflichten werde. Die Erwartung war, dass die internationalen Finanzmärkte und Handelsregulierungen der WTO Länder wie China schrittweise liberalisieren würden. Das alles ist, vorsichtig gesagt, nicht unbedingt eingetreten.

Die Gründe dafür finden sich in der Dekade zwischen 2005 und 2015. Die Krisen, die die Welt in diesen zehn Jahren erschüttert haben, sind tiefgreifend und haben nicht die Aufmerksamkeit gefunden, die sie verdient haben. Dabei sind sie für das Verständnis unserer gegenwärtigen Situation zentral. Die merkwürdige Amnesie dieser Ereignisse lassen mich von einem "verdrängten Jahrzehnt" sprechen.

Die grundsätzlichen Linien, die ich im Folgenden nachzeichnen möchte, verlaufen entlang der folgenden Fragestellungen:

  1. Warum verloren die USA ihren globalen Führunganspruch, und wer stieß in das entstehende Machtvakuum?
  2. Warum folgte aus der Finanzkrise kein grundsätzlicher Legitimitätsverlust des Kapitalismus und Aufstieg der Linken?
  3. Warum zerbrach die liberale Weltordnung, anstatt wichtige Teilnehmer wie Russland oder China zu integrieren, wie man das in den frühen 2000er Jahren zuversichtlich voraussagte?
  4. Warum gelingt es der EU bis heute nicht, als größter Wirtschaftsraum der Welt eine internationale Rolle zu spielen, und warum sind die Zersetzungserscheinungen an ihrer Peripherie so wirkmächtig?
  5. Warum begann in der verdrängten Dekade der Aufstieg des Rechtspopulismus zu einer weltweiten politischen Kraft?

In den folgenden Artikeln dieser Serie sollen all diese Fragen verhandelt werden.

 

 

Donnerstag, 22. April 2021

Quo vadis, Linke?

 

Anlässlich des Deutungsstreits um Sahra Wagenknecht und ihre Hinwendung zur Kritik am Zeitgeist hat Cimourdain in den Kommentaren zum letzten Vermischten eine Frage gestellt, die ich gerne in ihrer Gänze aufgreifen möchte:

Nachdem hier im Forum weitgehend Konsens herrscht, dass die Differenzen zwischen ‚traditionellen‘ und ’neuen‘ Linken im Wesentskern ein Generationenkonflikt ist, möchte ich eine These aufstellen, woher diese Entfremdung kommt – sozusagen mein persönliches Hufeisen: Die ‚woke‘ Linke steht inhaltlich und methodisch dem Neoliberalismus unangenehm nahe.
Das beginnt bei klassisch linken Positionen, die sie aufgegeben hat(z.B. Pazifismus) ; unter diesen sticht insbesondere die universell freie Rede hervor. Von der „Freiheit der Andersdenkenden“ (mit Ausnahme offener Faschisten) ist es ein deutlicher Abstieg zur ‚cancel culture‘
Der nächste Punkt sind die falschen Freunde. So wie der Zuspruch der AfD zu Wagenknecht einen unangenehmen Nachgeschmack hinterlässt, so erregt auf der anderen Seite die Unterstützung, die die ‚woke‘-Kultur durch (klassische) Medienoligarchen und die ‚Robber Barons‘ der Digitalkonzerne genießen, Misstrauen.
Eine weitere Rolle spielt der Wechsel des Fokus linken Denkens von materiellem zu kulturellem Kapital (Aufmerksamkeit und Deutungshoheit). Hieraus resultiert auch der andere Blick, der statt materiell messbaren (Lohnungleichheit) lieber subjektiv ‚gefühlte‘ (Sprachdiskriminierung) Ungerechtigkeiten in den Mittelpunkt rückt.
Und – hart gesprochen – in Bezug auf kulturelles Kapital agiert die neue Linke erzkapitalistisch – Klassendünkel, rücksichtslose Akkumulation, Herausdrängen von Konkurrenten (z.B. Wagenknecht) aus dem Meinungsmarkt.
Und dann ist da noch der Elefant im Raum: die Klassenfrage. Es gibt selbstverständlich immer noch eine Arbeiterklasse und ein Präkariat, jeweils definiert durch materielle Lebensumstände. Angesicht der massiven Ungerechtigkeit materieller Klassenunterschiede wirken die kleinen Konflikte, die ‚die linken‘ gegen ‚die Rechten‘ ausfechten wie Nebenkriegsschauplätze -schlimmer noch: wie Prokrastination. Weil die großen Probleme zu schwer sind (dazu muss man sich mit den Mächtigen anlegen), machen wir lieber sauber (z.B. die Sprache). Und weil es immer irgendeinen total wichtigen Streit um die Deutungshoheit gibt, bleibt die Klassenfrage halt liegen.
Aber das problematischste ist der Mangel eines utopischen Gegenentwurfs. Die Uhr Klimawandel und Ressourcenübernutzung wird wahrscheinlich einen Systemwechsel notwendig machen – und andere haben Pläne zur digitalen Komplettdiktatur. Der progressive Ansatz klingt eher wie „Weiter so, aber alle ein bisschen netter zueinander“…

Ich würde das gerne ausführlicher kommentieren.

Erstens sehe ich nicht, dass sich die moderne Linke vom Pazifismus verabschiedet hätte. Hier liegt glaube ich eine Verwechslung mit dem Establishment der linken/progressiven Parteien vor, ob die Democrats in den USA, die Grünen in Deutschland oder Labour im UK. Die Basis ist in all diesen Fällen immer noch genauso pazifistisch, wie sie es früher war. Genauso ist es keine Neuigkeit, dass diese Haltung an der Regierung kaum aufzufinden ist. Man denke nur an Helmut Schmidt. In den USA und dem UK (oder Frankreich) ist die Sache sowieso anders gelagert, weil hier der "support for the troops" und Patriotismus so eng verwoben sind und der Linken generell nie fremd waren, einmal davon abgesehen, dass gerade in den USA weite Teile der Bevölkerung hinter diesen Ideen stehen.

Das scheint mir daher vor allem ein Phänomen zu sein, das sich auf Parteiführungen und Regierungsverantwortung bezieht. Die SPD war immer am pazifischsten, wenn sie in der Opposition war. Gleiches gilt für Labour oder die Democrats; Tony Blair war ein begeisterter Unterstützer des Irakkriegs, während die damals oppositionellen Democrats wenig Probleme hatten, denselben Krieg in Bausch und Bogen zu verdammen. An der Regierung zeigte sich für alle, auch für die Grünen, schnell, dass das Ideal mit der Wirklichkeit kollidierte.

Die "Freiheit der Andersdenkenden" ist ein Konzept, das gerade von Linken sehr gerne missverstanden wird. Rosa Luxemburg war nie für Meinungsfreiheit. Ihr ging es um den offenen Meinungskampf innerhalb der sozialistischen Bewegung, in der sie eine "skurrile Minderheit" war, um es in Wagenknechts Worten auszudrücken. Die Idee, in der Räterepublik hätte Meinungsfreiheit für die Bourgeoisie oder gar den reaktionären Adel bestanden, ist absurd. Und ich wage zu behaupten, dass im Falle eines Erfolgs Liebknechts und Luxemburg es auch mit innerparteilicher Meinungsfreiheit nicht weit hergewesen wäre. Die heutigen Campus-Pöbler haben es deutlich mehr mit der Meinungsfreiheit als Rosa Luxemburg oder die anderen klassischen sozialistischen Agitator*innen.

Das heißt im Übrigen nicht, dass Cancel Culture und Meinungsfreiheit keine Probleme unserer Tage wären; sie waren nur zu allen Tagen Probleme, und sie sind es von links wie rechts, oben wie unten. Ich habe dazu geschrieben. Es ist an ideologischen Nachbarn, jeweils den eigenen Stall sauber zu halten. Ich muss zugeben, da in letzter Zeit arg relativierend gewesen zu sein und gelobe Besserung.

Relevanter ist die Kritik, die Cimourdain an der Unterstützung der "woken" Ideen durch die robber barons aus dem Silicon Valley anbringt. Und ja, das ist natürlich erst einmal verdächtig, genauso wie der Beifall, der Sahra Wagenknecht aus dem rechten Spektrum entgegenschlägt. Nur begeht Cimourdain hier den Fehler, den Jetzt-Zustand auf die Vergangenheit linear zurückzuschreiben. Die aktuelle gesellschaftliche Dominanz der "woken" Ideen, der progressive Sieg im Kulturkampf, ist das Resultat von Jahrzehnten erbitterter Auseinandersetzungen.

Als Mark Zuckerberg seine Karriere begründete, tat er dies mit einem Portal, auf dem Frat Boys Mädchen nach ihrem Aussehen bewerten konnten. Das ist nicht gerade woke. Es sind die letzten 5-10 Jahre, in denen der Kulturkampf entschieden wurde. Und der Kapitalismus liebt Gewinner und wird immer auf ihrer Seite sein. Nicht umsonst kann man heute Che-Guevara-T-Shirts bei H&M kaufen. Das heißt nicht, dass H&M die Vorteile des revoltionären Klassenkampfs für sich entdeckt hätte. Man sollte performative Bekenntnisse zur Mehrheitsmeinung nicht mit ernsthafter Überzeugung oder gar Aktivismus verwechseln.

Völlig korrekt dagegen ist, dass die Linke einen Bedeutungswandel vom materiellen zum kulturellen Kapital durchgelebt hat. Das ist in meinen Augen das Resultat des überzeugenden, durchschlagenden und totalen Sieg der Rechten (hier, das sei betont, explizit nicht als rechtsradikal, sondern nur als Gegenstück zu "links" zu verstehen) in den 1980er Jahren. Ohne diesen totalen Sieg ist weder Bill Clinton, noch New Labour, noch Gerhard Schröder zu verstehen. Die Linke hat sich von dieser totalen Niederlage immer noch nicht erholt, wenngleich Bidens Präsidentschaft als zartes Hoffnungspflänzchen dient.

Auf der anderen Seite aber hat sich die Rechte letztlich überdehnt. Bis heute hat sie die Totalität ihres Sieges nie anerkannt und begreift sich immer noch als ständiger Underdog, der von allen Seiten unter Beschuss steht. Wo das Bürgertum während der 68er in wohligem Grausen vor der Revolution der Student*innen erzitterte, liest es heute vom unerbittlichen Vormarsch der Cancel Culture. Eine ernsthafte Gefahr für den Status Quo ist beides nicht, aber die Selbstradikalisierung des Bürgertums vor allem in den USA hat dafür gesorgt, dass eine entsprechende Gegenreaktion einsetzte. In den resultierenden Kulturkämpfen verlor die Rechte nach weiteren großen Siegen in den 1990er und frühen 2000er Jahren (man denke an Clintons Sister-Souljah-Moment, Bushs homophoben Wahlkampf 2004 oder die rassistische Doppelpass-Kampagne Roland Kochs 1999) in den späteren 2000er und vor allem 2010er Jahren in einem rapiden und entscheidenden Ausmaß an Boden, das bis heute noch weitgehend unverstanden scheint. Die Rapidität dieses Wandels verwirrt viele, und zurecht. Aber sie ist unleugbar.

Wie jeder Kampf kennt auch ein Kulturkampf Gewinner und Verlierer, kennt solche, die den Weg mitgehen, und solche, die zurückgelassen werden. Ob Kohlekumpel im Ruhrrevier oder linke Klassenkämpferin, der Fortschritt ist unerbittlich, und am Ende wird noch jeder von uns an einen Punkt geraten, an dem wir die ganze moderne Welt furchtbar finden. Ich hoffe einfach, dass das für mich noch 20, 30 Jahre dauern wird, bin da aber weder sonderlich optimistisch noch zweifle ich daran, dass der Moment kommt, an dem ich mich über irgendeine neue Entwicklung beklagen und von ihr zurückgelassen werde. Das ist der Lauf der Zeit, und wenn die Analyse stimmt, dass die Welt sich beschleunigt, wird dieser Wandel eher früher denn später kommen.

Gibt es noch eine Klassenfrage? Selbstverständlich. Gibt es noch eine "Arbeiterklasse", für die Wagenknecht ostentativ zu kämpfen gedenkt? Das ist wesentlich unklarer. Cimourdain hat völlig Recht, dass diese Fragen immer noch sehr wenig verhandelt werden (wenngleich sich hier gegenüber den letzten Jahrzehnten sehr viel getan hat). Das allerdings liegt, erneut, am so vollständigen Sieg der Rechten seit 1980. Die ganzen Denkstrukturen und Begrifflichkeiten, in denen etwa Wagenknecht, Corbyn und Sanders operieren, sind zwar Krücken im Meinungskampf und besser als nichts, aber sie laufen für große Teile des Prekariats ins Leere.

Wie andere Kommentator*innen bereits angedeutet haben, lässt sich das Prekariat nicht mehr ohne intersektionelle Ansätze denken. Die Linke ist weiter als vor 50 Jahren. Der "Klassenkampf", der früher verhandelt wurde, war extrem ausgrenzend. Die Arbeiterklasse war ein exklusiver Club, der effektiv nur weißen, männlichen Facharbeitern offenstand. Diese Gruppe war groß und homogen genug, um diese Ausgrenzung vergessen zu machen, und die Ausgegrenzten hatten keine Stimme.

Das hat sich geändert. Sie haben nun eine Stimme, und sie haben diese Stimme innerhalb der Linken. Dass das die Vertreter*innen der alten Hierarchie stört, ist nachvollziehbar, weil es ein Verlust von Macht, Einfluss und Deutungshoheit ist. Aber die Kritik an der Existenz neuer Hierarchien läuft ins Leere, wo wie bei Wagenknecht letztlich nur eine Restauration alter, nicht unbedingt egalitärer Deutungsmuster wiederhergestellt werden soll. Das ist es, was sich hinter dem Fehlen der Klassenfrage wirklich verbirgt.

Zuletzt bleibt Cimourdains Kritik am Fehlen einer umfassenden Gegenerzählung, eines utopischen Zukunftsentwurfs der Linken. Hier kann ich nur unumschränt zustimmen, ich habe über dieses Problem immer wieder selbst geschrieben. Nur kann das kaum im Aufwärmen der Ideen der 1970er Jahre bestehen. Die Linke braucht definitiv ein großes Narrativ, für was sie steht, was sie erreichen will. Es muss ein positives Bild sein, groß und mutig. Eine Vision. Mit einer solchen muss man nicht zum Arzt, ohne eine solche hat sich die Linke noch jedes Mal schwer getan, Mehrheiten zu erringen und zu halten.

Aktuell ist nicht absehbar, was das sein könnte. Aber die Rechte hat vier Jahrzehnte gebraucht, als sie in einer ähnlichen Situation war, bevor sie ihre Erzählung gefunden hatte - eine Erzählung, deren Sieg so umfassend war, dass sie die nächsten 40 Jahre dominierte. Das Pendel wird irgendwann wieder zurückschwingen, eher früher als später. In einer pluralistischen Demokratie hält keine ideologische Vorherrschaft ewig. Aber die alten Ideen werden es wohl nicht sein. Ihre Kritik mag fruchtbar sein. Ihre Lösungen sind es nicht.

Montag, 19. April 2021

Grüne Polizisten machen Coronaregeln in Russland und verlangen Tests von der Arbeiterklasse - Vermischtes 19.04.2021

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Warum ich meine eigenen Coronaregeln mache