Ich bin über einen Tweet gestolpert:
Damit eine Partei de facto ihren Vorsitzenden schasst, muss viel passieren. Die CDU setzt darauf, dass sie am Ende stärker sein wird als die Grünen und die Ampel nicht zustande kommt. Im Bund waren die Grünen immer Umfrageriesen, Union em Ende Siegerin. Darauf baut man offenbar.
— M. Lewandowsky (@mlewandowsky) April 12, 2021
Es ist eine Argumentation, die ich schon öfter gelesen habe. Das Narrativ ist, dass die Grünen in den Umfragen "immer stark" seien und dann bei den Bundestagswahlen absaufen. Nur, stimmt das überhaupt? Diese Frage stelle ich nicht, weil ich irgendwie die Grünen verteidigen will, sondern weil diese unhinterfragte Geschichte in meinen Augen einer vernünftigen Analyse im Wege steht. Ich habe mich deswegen auf die Suche nach ein wenig Datenmaterial begegeben - und finde wenig Anhaltspunkte dafür, dass die Grünen "Umfrageriesen" wären. Sie liegen in den Umfragen vielmehr da, wo sie auch bei den Wahlen landen - irgendwo zwischen 8 und 10%, meist als schwäche oder zweitschwächste Partei im Bundestag. Es ist aber offensichtlich, wo die Idee der "Umfrageriesen" herkommt. Sehen wir uns zuerst Schaubild 1 an, eine Zusammenstellung der Sonntagsfrage für CDU, SPD und Grüne zwischen 2013 und 2018 (leider habe ich keine Gesamtübersicht gefunden, deswegen stückeln wir uns hier die Informationen etwas zusammen).
In den Umfragen vor der Bundestagswahl 2013 lagen die Grünen ziemlich dicht an ihrem (damals) enttäuschenden Ergebnis von 8,4%. Über die folgenden Jahre waren sie stets knapp zweistellig, ehe sie 2016 ein Umfragehoch von rund 15% und 2017 ein Umfragetief von rund 7% erreichten, nur um dann als schwächste Partei bei den Bundestagswahlen 2017 praktisch ihr Ergebnis von 2013 zu bestätigen. Seither sind sie in den Umfragen im Verlauf des Jahres 2018 nie aus dem einstelligen Bereich herausgefallen und erreichen seit 2019 konstant Werte um die 20%:
Heißt das jetzt, dass die Umfragen 2016 ungenauer waren als 2017? Oder dass die Umfragen von 2015 die präzisesten waren, weil sie im Schnitt am nächsten am tatsächlichen Wahlergebnis 2017 waren? Das ist natürlich völliger Unsinn. Umfrageergebnisse sind immer Momentaufnahmen, und da sich die meisten Leute bis wenige Wochen vor dem Wahltag nicht für Politik interessieren, sind sie ohnehin mit großer Vorsicht zu genießen. Letztlich spiegeln sie zwangsläufig immer ihren eigenen Augenblick. Und wenn man das bedenkt, erklären sich auch die Umfragen recht schnell:
- Das Hoch 2016 ist recht einfach aus der Stimmung des Jahres zu erklären: sowohl der Brexit als auch der Wahlkampf in den USA beförderten genauso wie 2020 einen Aufschwung in progressiven Haltungen, der den Grünen zugutekam. Zudem waren 2016 Landtagswahlen in Baden-Württemberg, bei denen der erste grüne Ministerpräsident im Amt bestätigt wurde und eine Koalition mit der CDU anführte.
- 2017 dagegen stand ganz im Licht der völlig aus den Fugen geratenen Flüchtlingsdebatte, die auch den Wahlkampf dominierte und den triumphalen Einzug der AfD in den Bundestag als stärkste Oppositionspartei untermauerte. Die Grünen als migrant*innenfreundliche Partei litt darunter genauso wie die SPD. Gleichzeitig waren die rechten Bewegungen auf dem Höhepunkt.
- 2018 begann dann wieder ein backlash einzusetzen, der etwa in den USA auch an der blauen Welle sichtbar war. Davon profitierten die Grünen; ich gehe aber davon aus, dass die meisten Zugewinne auf der Implosion der SPD beruhen dürften.
- 2019 stand ganz im Fokus der Fridays-For-Future-Bewegung; der Klimawandel wurde zum zentralen Thema. Das half den Grünen genauso wie der Fokus auf die Flüchtlingspolitik der AfD 2017 geholfen hatte. Wenig überraschend im Übrigen, dass die AfD 2019 erstmals konstant wieder Umfrageergebnisse im einstelligen Bereich erzielte.
- Das anhaltende Hoch seit 2020 hat sicherlich viel mit der Unzufriedenheit über die Corona-Politik zu tun. Der gleichzeitige Gewinn der FDP deutet jedenfalls deutlich darauf hin: Es gibt eine Wechselstimmung von SPD und CDU, die diesen beiden Parteien zugute kommt. Da AfD und LINKE nicht als potenzielle Regierungsparteien wahrgenommen werden, profitieren sie deutlich weniger, als dies in den großen Protestwahlen von 2005 (Anti-Agenda2010, die LINKE) und 2017 (Anti-Flüchtlinge, AfD) bemerkbar war.
Nur, ob die Umfrageergebnisse der Grünen um die 20% real sind oder nicht wissen wir nicht, weil die Bundestagswahl erst im September 2021 sein wird. Woher also kommt die Idee, dass die Partei in den Umfragen "immer" größer erscheint, als sie es am Wahltag ist? Aus den Umfragen seit 2013 jedenfalls lässt sich die These nicht ableiten. Ihr Ursprung wird aber klar, wenn man die Umfrageergebnisse der Zeit vorher ansieht:
Ich denke, dieses Narrativ kommt aus den Jahren 2011 und 2012, als die Grünen das erste Mal Umfrageergebnisse um die 20% erzielten - um danach auf nicht einmal die Hälfte bei den Bundestagswahlen 2013 abzustürzen. Abgesehen von diesem krassen Ausschlag performte die Partei 2005 um ca. 1-2% schlechter als die Umfragen angaben, aber das liegt im margin of error und kann kaum als "Umfrageriese" beurteilt werden. 2009 erzielten die Grünen 10,1% und lagen damit ziemlich genau auf der Linie der Umfragen.
Damit ergibt sich ein einmaliges Umfragehoch, das danach nicht gehalten werden konnte. Der Grund dafür ist nicht schwer zu finden; er spülte die Grünen seinerzeit in Baden-Württemberg an die Macht. Es war der Reaktorunfall von Fukushima, der das grüne Kernthema des Atomausstiegs wieder auf die Agenda brachte und Angela Merkel zum überhasteten Atomausstiegsausstiegausstieg brachte, mit dem sie das Thema politisch erledigte.
Was aber sagt uns das? Letztlich nicht, dass die Grünen (oder irgendeine andere Partei!) in Umfragen generell immer stärker oder schwächer wären, als sie es sind. Sondern eben, dass Umfragen Momentaufnahmen sind. Es ist durchaus realistisch anzunehmen, dass, wenn 2011 der Bundestag gewählt worden wäre, die Grünen mit 15-20% eingezogen wären. Bei einer Bundestagswahl 2007 hätte die SPD auch noch um die 30% erzielt. Bei einer Bundestagswahl 2019 wäre die AfD nicht stärkste Oppositionspartei geworden. Im Frühjahr 2002 wäre Edmund Stoiber Bundeskanzler geworden. Wahlen sind genauso Momentaufnahmen wie Umfragen. Aber sie schreiben eben, anders als Umfragen, einen Stand für die nächste Legislaturperiode fest. Das ist nichts Neues, aber man sollte sich nicht von falschen Narrativen leiten lassen.
Das ist, nebenbei bemerkt, auch der Grund, warum ich den Umfragen zur aktuellen Schwäche sowohl Laschets als auch der CDU misstrauisch gegenüberstehe. Klar, jetzt sind sie so beliebt wie Fußpilz. Aber die Wahl ist im September. Wenn die Impfzahlen sich so weiterentwickeln wie gerade, haben wir im Sommer 75% der Menschen geimpft und die Corona-Pandemie wird als weitgehend überstanden betrachtet werden. Wer glaubt, dass das keinen Einfluss auf die Sicht der Regierungsparteien und besonders der Partei einer dann scheidenden, sich die Meriten dafür auf die Fahnen schreibenden Kanzlerin haben wird, die ohnehin immer noch über starke Beliebtheitswerte verfügt, macht sich etwas vor.
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