Als im März 2020 die Corona-Pandemie Europa und Nordamerika erreicht hatte, reagierten die Länder sehr unterschiedlich auf die neue Gefahr. Noch unterschiedlicher als die Reaktionen allerdings stellten sich die Resultate heraus: während Deutschland extrem glimpflich durch das Frühjahr kam, stapelten sich etwa in Italien und Spanien die Leichensäcke, schossen die Todeszahlen in USA und Großbritannien steil in die Höhe. Die Bewertungen der deutschen Pandemiepolitik waren generell positiv. Was auch immer es war, man war davongekommen. Im März 2021 hat sich das Bild völlig gewandelt. Die deutsche Corona-Politik gilt als episches Desaster, der glimpflichte Verlauf vom Frühjahr 2020 als reines Glück. Es ist sicherlich wahr, dass die Landesregierungen und die Bundesregierung 2020 deutlich zu viel gelobt worden sind. Gleichzeitig aber erscheint gerade eine Überkorrektur stattzufinden. Das soll nicht heißen, dass die deutsche Corona-Politik irgendwie besser wäre als ihr Ruf, oder dass es aktuell viel gut zu finden gibt. Aber während in den USA zum Frühsommer die Impfungen für die Über-18-Jährigen praktisch abgeschlossen sein werden, können wir hierzulande voraussichtlich froh sein, wenn wir bis dahin auch nur die Risikogruppen durch haben. Nun hat ja aber weder die Wahl Joe Bidens über Nacht die USA transformiert, noch was Donald Trump doch ein heimliches Organisationsgenie. Auch die deutschen Gesundheitsämter haben nicht zwischen März 2020 und März 2021 eine kollektive Amnesie erlitten. Ich denke, wir sehen viel mehr strukturelle Faktoren am Werk, die eine genauere Analyse wert sind.
Gesellschaften können nicht aus ihrer Haut. Politische Systeme sind, bestenfalls, Supertanker. Da macht man nicht mal eben eine 90° oder gar 180° Kurskorrektur, egal, wie kritisch die Lage ist. Dazu sind sie nicht in der Lage. Systeme sind dazu gebaut, auf eine bestimmte Art zu funktionieren; das ist ihr ganzer Sinn, sonst bräuchten wir keine Systeme, sondern könnten spontan auf jede Herausforderung reagieren. Das mag für Höhlenmenschen noch funktioniert haben, aber spätestens seit wir kollektiv vor rund 12.000 Jahren den Beschluss gefasst haben, sesshaft zu werden, hat such das erledigt. Wir müssen deswegen auf die Systeme schauen. Und ich habe eine Theorie, warum Deutschland - neben einer gehörigen Portion Glück! - im Frühjahr 2020 so viel besser funktionierte als im Herbst/Winter 2020/21. Und warum Deutschland anfangs besser durch die Krise kam als die USA und das UK, während diese seither deutlich vorbeigezogen sind.
Diese Theorie ist: Es liegt an den Strukturen. Konkret am Föderalismus und der Bürokratie in Deutschland und ihrer spezifischen Mentalität und Funktionsweise, besonders im Vergleich zu den USA, die zwar Föderalismus, aber eher weniger die deutsche Bürokratie, und dem Vereinigten Königreich, das eher zentralistisch organisiert ist, dafür aber durchaus mit eigenen Großbehörden aufwarten kann.
Meine Behauptung ist, dass das verhältnismäßig glimpfliche Bestehen im ersten Lockdown auch mit diesen Faktoren in Deutschland zu tun hat. Wir haben ein gerade im Verhältnis zu den Angelsachsen in der Breite gut ausgestattetes Gesundheitssystem. Vor allem die dezentralen über 400 Gesundheitsämter waren verhältnismäßig gut darin, die Nachverfolgung zu gewährleisten und Cluster zu isolieren, während in den USA und um UK hier praktisch ein Totalversagen zu beobachten war. Hierzu der Guardian:
When Germany imposed its first lockdown on 22 March last year, it was lucky that, unlike in Italy, the virus had not yet silently spread around the country and into care homes for the elderly. In the highly decentralised country, Covid-19 also came up against a political system that was surprisingly well-placed to cope with the initial challenges. With health one of the policy areas devolved to the country’s federal states, Germany had more than 400 local health authorities that were already experienced in running contact-tracing schemes. And a competitive network of regional university and private laboratories gave the country a head start on testing.
In allen drei Ländern spielte auch die politische Lage eine große Rolle. Während in Deutschland recht schnell und umfassend reagiert wurde - vor allem durch das Verhängen eines vergleichsweise wirkungsvollen Lockdowns - wurden die amerikanischen und britischen Institutionen von ihren jeweiligen Exekutivköpfen - hier Trump, dort Johnson - deutlich gehemmt. Doch die systemischen Grundlagen, die die Situation seither radikal gedreht haben, zeigten sich hier bereits: das deutsche System lief effektiv unabhängig von den Vorgaben aus Berlin vor sich hin. Und der Lockdown, so effektiv er auch war, fand seine Grenzen schnell im Aufbrechen des politischen Konsens: bereits fünf Tage nach seinem Inkrafttreten begann etwa Christian Lindner auszuscheren und für Öffnungen zu plädieren, eine Linie, die er seither als populistisches Ass im Ärmel beibehalten hat - begleitet von seinem Koalitionspartner Armin Laschet, der eine führende Stimme innerhalb der CDU-Führungsriege für Öffnungen wurde und seither geblieben ist.
Als aber im Frühsommer die Lage in Deutschland sich entspannt hatte, tuckerte das System weiter im Grundmodus vor sich hin, während sich die Politik effektiv in die Sommerpause verabschiedete, aus der sie bis heute nicht wirklich zurückgekehrt ist. Zur gleichen Zeit änderten Trump und Johnson radikal ihren Kurs. Es ist diese Zeit, in der sie ihre Entscheidungen für die massive Impfstoffbeschaffung trafen, die ihnen heute ihren großen Vorteil gibt.
Und hier zeigen sich deutlich die System- und Mentalitätsunterschiede zwischen den Ländern. Denn in den USA und dem UK ist der ganze Apparat kopflastiger als bei uns; wenn Präsident beziehungsweise Premierminister nichts tun oder gar aktiv gegenwirken, hat das wesentlich krassere Konsequenzen als die Untätigkeit der Kanzlerin bei uns. Daher auch das anfängliche Desaster in beiden Ländern, daher der Staatsminimalismus als deutsche Standardhaltung in der Politik: der deutsche Staat ist bereits so umfassend, dass er die meisten Aufgaben auch ohne dirigistische Anweisungen ob oben umsetzen kann, während die Systeme in den angelsächsischen Ländern sehr viel mehr auf Kante genäht sind und ohne die schnelle Dirigierung großer zusätzlicher Ressourcen schnell kollabieren.
Und hier kommt die Mentalität ins Spiel. Während in Großbritannien die jeweiligen Exekutivoberhäupter von Trump zu Johnson, Cuomo über Inslee sich als Macher in Szene setzten und aktiv wurden (mit durchaus gemischten Erfolgen, um es milde auszudrücken), was der Standardreaktion auf Krisen und Konflikte entspricht, fiel auch Deutschland auf seine Standardreaktion in solchen Fällen zurück: der Institutionalisierung dieser Konflikte als Ausgleich von Länderinteressen. Ein Ansatz, der für alle möglichen Probleme von der Verteilung von Flüchtlingen bis zur Finanzierung des Aufbau Ost sicherlich taugen mag, zur Pandemiebekämpfung aber zum Scheitern verurteilt ist.
Aus dieser Geisteshaltung ergab sich die Kette an Fehlentscheidungen seit dem Frühjahr 2020, die Jonas Schaible schön nachgezeichnet hat: aufbauend auf dem diffusen Gefühl, dass das System funktioniert habe, ohne sich klar zu machen, wie und unter welchen Umstände, sorgten unklare und schlecht begründete Maßnahmen im Herbst 2020 für langen, enervierenden Pseudo-Lockdown, der dann angesichts der zu erwartenden Verschlimmerung der Lage auch noch seine eigene Öffnungsdynamik schuf.
Die Folgen waren verheerend. Regeln wie etwa in Berlin werden schlicht missachtet. Wozu aber führt man Notbremsen und Ampeln ein, wenn die Politik dann die Werte wiederum beliebig verschiebt? So kann sich nur ein Eindruck von Unernsthaftigkeit und Unsicherheit verfestigen. Niemand kann sich auf irgendetwas verlassen, was nebenbei bemerkt auch Gift für die Wirtschaftstätigkeit ist, und überall werden die Nerven abgerieben. Dieser Trend wird durch Ministerpräsident*innen noch weiter befeuert, die sich aus Verantwortung stehlen und Wissenschaftsleugnung betreiben, von Hoffnungen und Bauchgefühlen schwadronieren, krassen Unsinn erzählen, sich auf eine angebliche Mehrheitsstimmung berufen oder einfach aufgeben. Auch in Ministerien und Bundeskanzleramt sieht es nicht besser aus: So spricht sich auch Jens Spahn plötzlich für einen Lockdown aus, ohne irgendeine Entscheidungskompetenz zu haben. Daneben spekuliert er über einen bevorstehenden Zusammenbruch des Gesundheitssystems, als ob es ihn nicht beträfe. Merkel ihrerseits fordert bei Anne Will im Stil eines Leitartiklers die MPK zum Handeln auf, als ob sie keinerlei Regierungsverantwortung trüge.
Das Resultat ist eine Erosion des Vertrauens in die Institutionen und Demokratie, die sich als nachhaltig herausstellen könnte. Wenn man sich fragt, wer dafür nun verantwortlich zu machen ist, kommt man in Deutschland an diesem übersichtlichen Schaubild nicht vorbei:
Abgesehen von der AfD sind alle im Bundestag vertretenen Parteien irgendwie in der Verantwortung, und die AfD liegt direkt mit der Querdenker-Bewegung im Bett und für Demokrat*innen ohnehin keine Alternative. Der deutsche Föderalismus mit seinem Zwang zum Ausgleich verwischt die Verantwortlichkeiten völlig. Irgendwie sind alle schuld, und wenn alle schuld sind, ist keiner Schuld. Diese Kommunikationslinie war von Anfang an sowohl Merkels als auch der Ministerpräsident*innen bevorzugte Wahl, und man muss fairerweise hinzufügen, dass sie von der Wählerschaft auch gouttiert wurde.
Doch diese unklaren Linien sind nicht das einzige strukturelle Problem, das zum individuellen Versagen der deutschen Regierungspolitiker*innen hinzukommt. Der deutsche Föderalismus ist, in den Worten des Historikers Siegfried Weichlein, eine "Zwangsjacke für einen notorisch aggressiven Staat". Die Tendenz deutscher Politik, in alle Lebensbereiche hineinzuregulieren, wird durch den Föderalismus ausgebremst und verwässert. Das kann sehr positive Effekte haben, etwa zu Beginn der Pandemie, als er zu "Wettbewerb an der Spitze und einer hohen Akzeptanz der politischen Entscheidungen" führte. Gleichzeitig aber bringt er seine eigenen Nachteile mit sich.
Der im Zusammenhang der Pandemie wohl bedeutendste ist der technokratisch verstandene Perfektionismus. Dies wird von Janosch Damen schön beschrieben: "Man wünscht sich, dass die Großmutter einen Anruf von ihrem Arzt bekommt, zu dem sie seit 20 Jahren geht, der ihr mitteilt, dass sie sich wegen der Nebenwirkungen, von denen sie im Radio hört, keine Sorgen machen muss. Menschen sind keine Autos."
Doch nicht nur dies Kommunikation ist auf diese Art typisch Deutsch. "Geschwindigkeit schlägt Perfektion", erklärt Dahmen hierzu weiter. "In Deutschland haben wir versucht, das Rad bei den Impfungen neu zu erfinden, ein System zu perfektionieren, bevor es eingesetzt wurde. Diese Gründlichkeit ist schädlich." Die Stichworte, die dieses Problem umgeben, lassen sich schnell abarbeiten: im Gegensatz zu den USA und dem UK überkomplexe Zulassungsregeln, das Bestehen auf Haftungsklauseln anstatt der Übernahme durch den Staat, der Versuch, die Kosten der Impfstoffe durch die gemeinsame Handlungsmacht so weit wie möglich zu drücken.
Wo die USA und das Vereinigte Königreich mit ihren wesentlich dysfunktionaleren Bürokratien ohnehin nicht gewohnt waren, ordentlich und sauber ohne Einmischung der Politik zu arbeiten, weigerte sich die Politik in Deutschland, die bürokratischen Abläufe anzutasten und unterwarf sich der Logik von Institutionen, die auf den Normalfall ausgerichtet sind. Dass man sich in einer Krise empfindet, scheint weder im Kanzlerinnenamt noch in den einzelnen Landesregierungen bislang angekommen zu sein.
Es ist diese interne Logik, die kaum diskutiert und wesentlich dafür verantwortlich ist, was gerade geschieht. Das allerdings enthebt individuelle Akteure nicht von ihrer Verantwortung. Denn jene, die Spitzenämter der Exekutive anstreben, müssen bereit sein, außerhalb der eigenen Komfortzone zu denken und zu handeln - und dafür dann auch die Verantwortung zu tragen.
Hierzu ist politisches Handeln nötig, und das hat die deutsche Politik, gefangen in ihrem ständigen Ausgleich der permanenten Großen Koalition, weitgehend verlernt. Der zaghafte Versuch Angela Merkels, über die Öffentlichkeit Einfluss auf die MPK zu nehmen, indem sie bei Anne Will sprach, wäre in den meisten Ländern keine sonderlich große Neuigkeit. Charaktertypisch führte er auch zu nichts. Merkel mahnte und warnte zwar - vollkommen zu Recht - von irgendwelchen konkreten Handlungen oder dem Wahrmachen ihrer entsprechenden Drohung schreckte sie dann aber zurück. Von dem traurigen Bild, das die Ministerpräsident*innen selbst boten, können wir hier gänzlich schweigen.
Natürlich ist eine Pandemie eine gesamtgesellschaftliche Angelegenheit, und in einer pluralistischen Demokratie ist ebenso falsch wie undenkbar, die alleinige Handlungshoheit und Verantwortung einseitig bei der Politik zu suchen. Denn das ganze klägliche Bild ist ja leider das eines gesamtgesellschaftlichen Versagens (ich hatte darüber bereits im Herbst geschrieben). So wird etwa im Spiegel die Mitschuld der Wirtschaft betont:
Das Gejammer gerade aus der Industrie ist blanker Hohn für all jene, die in Gastronomie und Kultur seit einem Jahr mehr oder weniger dauerhaft Ruhetag haben. Bei denen herrscht das Drama, nicht beim großen Rest der Wirtschaft. [...]Während Schulen über Monate weitgehend geschlossen blieben, ebenso wie Restaurants, Kinos und Einzelhandel, geht der Betrieb im Rest der Wirtschaft auf erstaunlich unbekümmerte Art weiter. Was sich schon daran ablesen lässt, dass das Bruttoinlandsprodukt selbst inmitten des Lockdowns steigt; und sonst läge auch der Dax wahrscheinlich nicht auf Rekordhoch. Gut – und pandemisch bedenklich zugleich. Da wirkt es umso grotesker, wenn in der ersten Panik der Pandemie gut ein Viertel aller Beschäftigten über Wochen von zu Hause arbeiten konnten – Ende 2020 aber nur noch 14 Prozent: obwohl die Pandemie ja eher schlimmer wurde.
Dazu kommt die bereits aus der Agenda-Zeit sattsam bekannte erotische Faszination der Wirtschaftsvertreter*innen mit dem Leiden der Kleinen Leute. Wenn etwa Michael Hüther erklärt, dass eine bestimmte Menge Tote eben in Kauf genommen werden müsse, dann denkt er nicht an sich und seinesgleichen. Er operiert in derselben Mentalität wie ein General des Ersten Weltkriegs, der eben "eine bestimmte Menge Tote" zum Erreichen des Ziels in Kauf zu nehmen bereit ist. Dass diese Leute sich als Sprecher*innen für "die Wirtschaft" aufschwingen und als solche medial auch akzeptiert werden, ist das Sahnehäubchen auf diesem ganzen Problemkomplex.
Auch bleibt die Rolle der Medien als demokratisch verfasste Öffentlichkeit katastrophal. Seit nunmehr beinahe einem Jahr erwecken sie hartnäckig den Eindruck, es gebe einen Druck seitens der Bevölkerung, die Lockdown-Maßnahmen zu lockern. Dabei handelt es sich nur um eine lautstarke Minderheit. Die Forschungsgruppe Wahlen hat nun eine Studie vorgelegt, die belegt, dass zu keinem Zeitpunkt der Pandemie eine Mehrheit für Öffnungen bestand. Lange Zeit war die Bevölkerung dreigeteilt: Maßnahmengegner*innen, Maßnahmenbefürworter*innen und Maßnahmenverschärfer*innen. Man könnte beim Blick in die Presse den Eindruck gewinnen, erstere Gruppe nehme massiv zu. Dabei hat in den letzten Wochen letztere Gruppe um fast 20% zugelegt und stellt die mit Abstand führende Gruppe in Deutschland dar!
Und zuletzt darf auch die Bevölkerung selbst nicht aus der Verantwortung gelassen werden. Denn auch, wenn die Kommunikation seitens der Politik katastrophal ist und die Presse mit ihrer Berichterstattung stets neues Öl ins Feuer gießt, so gilt in einer liberalen Gesellschaft doch, dass Eigenverantwortung übernommen werden muss. Ein großer Teil der Menschen, das zeigen obige Meinungsumfragen ja auch und wird durch zahlreiche Studien und Beobachtungen bestätigt, halten sich im Großen und Ganzen an die Maßnahmen.
Und genau das ist das Problem.
Denn wie die Coronaleugnenden nicht zu betonen müde werden, sind diese Einschränkungen gravierend. Ich kann an der Stelle für mich selbst sprechen: Ich opfere so viel. Ich habe viele Freunde seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen. Meine Hobbies liegen brach. Ich kann die Masken nicht sehen. Ich muss die Arbeit ständig auf neue Pandemiebedingungen einstellen. Und so weiter. Ich habe keinen Bock mehr auf die Scheiße, ich will endlich wieder leben können. Ich kann aber nicht, weil die Politik nicht bereit ist, ihren Job zu machen, und es stattdessen auf mich ablädt (pars pro toto). Die großzügige Verwendung der ersten Person Plural durch unsere Ministerpräsident*innen ist nur der auffälligste Ausfluss, und es macht mich rasend.
Deswegen ist es auch irrelevant, ob in Mallorca nun die Ansteckungsgefahr geringer ist als in Köln. Ich reise seit einem Jahr nirgendwo hin, das Auto steht weitgehend still. Ich schränke mich massiv ein, und die Mehrheit der Deutschen tut es mir gleich. Deswegen ist es keine Frage der Inzidenzen, ob Flüge nach Mallorca erlaubt werden sollten, beziehungsweise, ob man - Eigenverantwortung, einmal mehr - unabhängig von den Verordnungen dorthin fliegen sollte. Es ist eine Frage der empfundenen Fairness. Was will man dazu sagen?
Auch Harry aus dem Wetteraukreis ist mit seinen Reiseplänen in der Heimat auf Kritik gestoßen. „Uns haben auch ein paar Freunde entsetzt gefragt, wie wir denn jetzt in den Urlaub fliegen könnten“, erzählt er. Bedenken hätten seine Frau und er dadurch aber nicht bekommen. „In Deutschland demonstrieren 20.000 Menschen ohne Maske, und dann soll der Mallorca-Urlaub, wo die Inzidenz niedriger ist, ein Problem sein?“ Aber auch er will sich in den sozialen Netzwerken zurückhalten. „Es gibt viele Neider, die einfach nicht den Schneid haben, jetzt zu verreisen“, sagt er.
In ihrer technokratischen Beharrung auf Verordnungen, Inzidenzwerten und anderen Kennziffern hat die Politik die Lebenswirklichkeit völlig aus den Augen verloren. Die Gefahr ist das Sinken der Akzeptanz der Maßnahmen, irgendwelcher Maßnahmen. Denn dass irgendetwas von dem, was gerade in Berlin ausgeköchelt wird, die dritte Welle verhindern könnte, glaubt mittlerweile niemand mehr. Wir stehen vor einem weiteren Lockdown, der letztlich - auch hier dank der unverantwortlichen Kommunikation seitens Politik und Medien - schon gar nicht mehr nur als Lockdown bezeichnet werden kann, weil der vorherige, arbiträre Einschränkungswirrwarr ständig und unterschiedslos mit dem Begriff belegt wurde.
Diese begrifflichen Unschärfen schlagen sich auch an anderer Stelle nieder, wo etwa von "hartem" oder "verschärftem" Lockdown gesprochen wird, als ob Härte und Schärfe, mithin also ihr verursachter Schmerz, irgendwelche Erfolgsindikatoren wären. Auch hier schließt sich die obrigkeitsstaatliche Rhetorik aus dem Kanzlerinnenamt nahtlos an die Agenda-Diskurse an, in denen die Wirksamkeit von Reformen auch danach bewertet wurden, wie viel Elend sie bei den Arbeitslosen verursachten - oder die aktuelle Flüchtlingspolitik, die auch dann als besonders wirksam gilt, wenn sie maximale Verheerungen unter den Asylsuchenden anrichtet.
Gleichzeitig wirkt dieses Gefangen-sein in den eigenen bürokratischen Logiken, wenn die Einschränkungen als Gegner begriffen werden und nicht das Virus. Wo in zahlreichen anderen Ländern die Ergebnisse zählen - geimpfte Menschen, dieser Tage - dreht sich die politische Rhetorik in Deutschland vor allem um die Frage, wann und in welchem Ausmaß man denn die Einschränkungen aufheben könne. Von Lindner zu Laschet, von Söder zu Kretschmann, von Schwesig zu Ramelow, geht es um die Frage, wann diese oder jene Einschränkung aufgehoben werden könne, anstatt dass man endlich mit festem Blick das Ende der Pandemie ins Ziel fasst.
Es steht zu befürchten, dass die Pandemie ein schleichend wirkendes Gift in die Bundesrepublik injiziert hat, das eine Erosion des Vertrauens in die Institutionen und den verfassten Aufbau des Staates in Gang setzt. Man sollte sich vor dem klassisch linken Fehler hüten, das als Chance für Reformen zum Guten hin zu betrachten. Die Geschichte solcher Erosionen enthält keine Beispiele dafür, dass jemals, um das abgedroschene Wort zu benutzen, die Krise als Chance begriffen wurde. Am Ende stand immer die Aushöhlung des Systems.
Wenn wir denken, dass die technokratische Bürokratenmentalität, die aktuell die deutschen Entscheidungsstrukturen im Griff hält, das Schlimmste ist, was uns passieren kann, sollten wir einen Blick auf Osteuropa werfen. Das ist das Schicksal, das uns blüht, und die einzige Partei, die an dem ganzen Drama aktuell nicht beteiligt ist, steht bereit, daraus Kapital zu schlagen. Das zu verhindern ist ein Ziel, für das eigentlich alle Demokrat*innen zusammenstehen sollten. Davon ist gerade leider herzlich wenig zu sehen.
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