Dienstag, 30. Oktober 2018

Die neue Mitte?

Ich habe in letzter Zeit sowohl auf Twittter als auch hier in den Kommentaren ziemlich weit reichend den Begriff der "Mitte" benutzt, ohne darauf zu achten, den vorher vernünftig zu definieren. Dieses Versäumnis will ich hier nachholen, denn zumindest mein Begriff von "Mitte" hat sich in den letzten Jahren deutlich gewandelt, und ich habe zumindest den Eindruck, dass dieser Wandel bei vielen anderen auch stattgefunden hat.

In meinen früheren Blogger-Zeiten hätte ich den Begriff der "Mitte" nur mit der Beißzange angefasst. Er war immer ein extrem wirksamer Werbebegriff von CDU und FDP (vor allem aber der CDU), die sich als "Mitte" definierten, womit in Deutschland allerlei Positives verbunden war. Mitte war rational, pragmatisch, vernünftig, konservativ. Hier regierten ökonomischer Sachverstand, Recht und Ordnung und traditionelle Werte. Unter Rot-Grün wurde versucht, den Mitte-Begriff zu kooptieren, sehr innovativ unter dem Schlagwort "Neue Mitte": Die Schröder-SPD verstand darunter ihre Koalition zur Erneuerung Deutschlands, die - ebenfalls mit Vernunft und ökonomischem Sachverstand - Deutschland fit für's 21. Jahrhundert machen würde.

Diese Maßnahme war tatsächlich erfolgreich, vielleicht sogar erfolgreicher, als es sich die Parteistrategen ausgemalt hatten: Es entstand eine "Einheits-Mitte" aus CDU und FDP auf der einen und SPD und Grünen auf der anderen Seite, die grundsätzlich die gleichen Ziele verfolgten, sich allerdings in Ausprägung und Gestaltung uneins waren. Grundsätzliche Streitereien allerdings gab es nicht, was einer der großen Faktoren für den Erfolg der LINKEn war, die sich ab 2005 als Alternative für Deutschland (gegen Merkels unglückliche "alternativlose" Politikkonzeption) etablieren konnte.

Doch seit 2015/2016 hat die "Mitte" eine andere Bedeutung angenommen. Der Aufstieg der Rechtspopulisten in der ganzen Welt, besonders prägnant aber in den USA, Ungarn, Polen, Österreich und neuerdings auch Brasilien, hat dafür gesorgt dass die Demokratie, wie wir sie kennen, grundsätzlich in Gefahr geraten ist. Damit meine ich ein politisches System, das einige Grundprämissen hat, die von den Akteuren der Mitte geteilt werden. In Deutschland sind das spezifisch die folgenden:
  • Ein Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft in ihrer Post-Agenda2010-Ausprägung. Hier haben wir quasi einen Konsens, die im Zuge der Reformen stark geminderten Sozialleistungen auf ihrem aktuellen Level zu erhalten und die Liberalisierung und Deregulierung, die damit einherging, ebenfalls ungefähr auf ihrem aktuellen Stand festzuschreiben. Veränderungen werden nur marginal vorgenommen, durch kleine Stellschrauben (Bezugsdauer ALGI, Mindestlohn, Begrenzung Zeitarbeit, solcherlei Maßnahmen). Das ist die berühmte "Sacharbeit", die sich für die SPD so wunderbar an der Wahlurne auszahlt.
  • Ein Bekenntnis zur NATO und EU in ihren Post-1995-Ausprägungen. Für die NATO bedeutet dies ein Einschließen der Osterweiterung und das Ehren der entsprechenden Beistandsverpflichtungen sowie die Umstellung auf Interventionsarmeen und entsprechende Einsätze. Für die EU bedeutet das den Bestand des Euro, des Maastricht-Vertrags und des Schengener Abkommens einzuhalten.
  • Ein Bekenntnis zum bürgerlichen Rechtsstaat in seiner derzeitigen Form. Das bedeutet grundsätzliches Anerkennen gleicher Rechte für alle Einwohner (auch Flüchtlinge etc.), der aktuellen Präzedenzfälle (etwa den starken Schutz des Eigentums, der viele linke Politikwünsche unmöglich macht) und das Aufrechterhalten der bürgerlichen Freiheitsrechte auch gegen einen starken Staat (was besonders die Rechte nicht mag, etwa wenn es um bürgerliche Rechte von Straftätern geht).
Wenn man diese Bekenntnisse als "Mitte" definiert, ist klar, dass die vier etablierten Parteien - Rot-Grün und Schwarz-Gelb - zwar unterschiedliche Grade auf der "Mitte-Achse" darstellen, aber grundsätzlich alle zur "Mitte" gehörig sind. Kurz: Es geht um ein Bekenntnis und aktive Unterstützung einer liberalen Ordnung, gesellschaftlich wie wirtschaftlich. Während Rot-Grün tendenziell den gesellschaftlichen Teil betont und eher für Einschränkungen bei der wirtschaftlichen Liberalisierung ist, ist dies bei Schwarz-Gelb genau umgekehrt, aber jeweils in einem Rahmen, der eine Zusammenarbeit grundsätzlich ermöglicht. Dies ist bei LINKEn und AfD anders. Beide gehören nicht zur "Mitte" und wollen dies auch gar nicht, genausowenig, wie ich mich vor 2015 als "Mitte" definieren hätte wollen. Bei der LINKEn liegt der Grund vor allem in der Ablehnung der ersten beiden Punkte: Weder will die Partei den Agenda-2010-Status in seiner vorliegenden Form akzeptieren, noch bekennt sie sich zu NATO und EU in ihrer derzeitigen Form. Sie bietet stattdessen Alternativen auf allen drei Feldern an, über deren Qualität an dieser Stelle nicht gesprochen werden soll - unstritt dürfte sein, dass die LINKE diese Alternativen bietet. Sie stellt damit, wengleich im Rahmen des Grundgesetzes, durchaus die Systemfrage auf eine Art, die in der "Mitte" nicht vorhanden ist.

Gleiches gilt für die AfD. Diese hat mit dem ersten Punkt kein Problem und würde bedenkenlos jegliche Wirtschaftspolitik der CDU und FDP mittragen können, hat aber ein entschiedenes Problem bei den Punkten 2 und 3. Während die Ablehnung der NATO in ihrer derzeitigen Form auch betrieben wird, darf man das getrost als einen der weniger wichtigen Punkte ablegen, der kein grundlegendes Hindernis für eine Zusammenarbeit wäre. Anders sieht es schon bei der EU aus, wo der AfD deutliche Kurskorrekturen vorschweben - in Linie mit der "illiberalen Demokratie" Orbans auf Ebene der EU. Diese "illiberale Demokratie" verhindert auch ein Akzeptieren des dritten Punkts; für die AfD gibt es klare Hierarchieabstufungen bei den bürgerlichen Freiheitsrechten, die mit der aktuellen Mitte nicht vereinbar sind. Auch hier gilt: die AfD stellt im Rahmen des Grundgesetzes die Systemfrage und bietet eine Alternative zur Mitte.

Nimmt man diese Definition als Maßstab, dannwird deutlich, wie sich die Mitte gleichzeitig vergrößert und verkleinert hat.

Vergrößert, weil sie die vier etablierten Parteien beinhaltet (und in anderen Ländern ihre Äquivalente). Anstatt dass es sich um einen parteiischen Kampfbegriff der demokratischen Rechten handelt, beinhaltet er stattdessen die Verteidiger der liberalen Demokratie, mithin alle vier genannten Parteien in Deutschland. Diese Unterscheidung hätte für einen Beobachter aus dem Jahr 2002 keinen Sinn gemacht.

Verkleinert, weil die von mir genutzte Qualifizierung "demokratisch" im obigen Absatz bereits darauf hindeutet, dass wir es inzwischen zunehmend mit undemokratischen Kräften zu tun haben. Die LINKE etwa hat ihr Verhältnis zu ihrem eigenen radikalen Rand immer noch nicht zufriedenstellend geklärt, und bei der AfD ist weiterhin völlig unklar, inwieweit die Partei überhaupt als demokratisch begriffen werden kann. Diese Unschärfe geht mit dem Stellen der Systemfrage allerdings beinahe zwangsläufig einher.

Eingedenk dessen, dass die aktuellen Umfrageergebnisse für die "klassische Mitte" aus CDU und FDP auf absehbare Sicht ebenfalls keine Mehrheit mehr erwarten lassen, macht der Begriff auch keinen wirklich Sinn mehr. Ich werde ihn daher künftig in der oben beschriebenen Variante verwenden, die für mich deutlich mehr analytische Aussagekraft hat. Sie ist auch der Grund, warum ich mich inzwischen selbst als "Mitte" sehe, wo ich vorher noch deutlich mehr im Links-Rechts-Schema eingeordnet habe. Aber das verliert mehr und mehr an sinnvoller Aussagekraft.

Für mich hat das auch einige befremdliche Effekte. Ich war ja nie ein großer Parteigänger Angela Merkels, um es milde auszudrücken. Ich habe sie und ihre Politik stets bekämpft, und ich blogge nun schon fast so lange, wie sie Kanzlerin ist. Aber seit sich das politische Gefüge seit 2015 ruckartig nach rechts verschoben hat und die neue Mitte-Definition notwendig machte, sehe ich mich immer wieder der unangenehmen Wahrheit ausgesetzt, dass Merkel deutlich unter "das geringere Übel" läuft. Angesichts der chronischen Schwäche beider Lager ist eine grundsätzliche Alternative nur unter Einbindung einer der die Systemfrage stellenden Parteien zu erwarten, was seine ganz eigenen Unwägbarkeiten mit sich bringt.

Die Dauerregierung der Mitte, selbst in wechselnden Koalitionen von Rot-Schwarz zu Schwarz-Grün zu Jamaika, mag sich manchmal anfühlen wie ein Schrecken ohne Ende. Aber das sprichwörtliche Ende mit Schrecken könnte bei weitem dramatischer sein, und es würde die Mitte pulverisieren. Man muss nur nach Brasilien, in die USA, nach Ungarn oder Polen sehen um zu erkennen was es heißt, wenn der Machtstreit nicht mehr innerhalb der Mitte, sondern zwischen der Mitte und dem Rand ausgetragen wird.

Ohne eine breite Mitte rutscht das ganze Land in die Radikalität. Und dann bekommen wir die Herrschaft von Populisten, die das Land - und alles drumherum - zugrunde richten. Das ist die größte Herausforderung unserer Tage, und sie transzendiert in meinen Augen im Moment auch die Frage konkreter Politik und Personalien. Umso bedenklicher ist es, wenn Akteure wegen Streitereien um kleine policy-Differenzen oder wegen verletzter persönlicher Eitelkeiten den Bestand des gesamten liberalen Systems gefährden.

Es sei denn natürlich, man lehnte das gesamte liberale System ab. Dafür stehen Alternativen mittlerweile ja zur Verfügung. Nur muss man sich immer klar machen, was diese beinhalten.

Montag, 29. Oktober 2018

Männliche Smartphones haben im Süden mehr Nuklearwaffen als weibliche - Vermischtes 29.10.2018

Die Serie "Vermischtes" stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Das Smartphone ist an allem Schuld, Ausrufezeichen!
Wenn überhaupt eine Personengruppe die vielfältigen Komplexitäten und Zumutungen der heutigen Welt bewältigen können wird - dann doch diejenigen, die mit dem ständigen Rückkanal aufgewachsen sind. Die in ihrem netzgestählten Handeln zu jedem Zeitpunkt ein Publikum und dessen Reaktionen mitdenken. Die genau aus diesem Grund intellektuell für die kommenden Schwierigkeiten besser gewappnet sein werden als die Älteren. Wir überlassen den jüngeren Generationen eine Welt, randvoll mit Nationalisten und Nazis, Populisten und islamistischen Terroristen, vom Klimawandel und Umweltschäden nicht zu reden - aber das Smartphone ist schuld an den zunehmenden Depressionen der Jugend. Die heute Älteren haben in den 1980ern ein komplettes Jahrzehnt dem Tanz ums Goldene Ich gewidmet, aber die jungen Leute sind Narzissten, weil sie mit dem Teufelsgerät Selfies verschicken. Rechtschreibung beherrschen sie nicht mehr, weil ihnen WhatsApp wichtiger ist als der Duden. [...] Ich möchte eine Perspektive vorschlagen, die mir viel näher am tatsächlichen Geschehen erscheint: Das Smartphone ist der Kristallisationspunkt des heutigen Kapitalismus und damit der heutigen Gesellschaft. In den meisten Fällen ist das Verhalten jüngerer Generationen schlicht eine Reaktion auf die Welt, die wir ihnen vorgesetzt haben. Und meistens sogar eine clevere. Alles, was wir im Smartphone zu sehen glauben, ist in Wahrheit das Produkt unseres eigenen jahrzehntelangen Schaffens. Im Guten wie im Schlechten. Was das Smartphone wirklich zum vielkritisierten Objekt macht, kann man natürlich im Smartphone selbst erkennen. Man muss es bloß ausschalten und ganz genau in die schwarze spiegelnde Fläche hineinschauen. (Sascha Lobo, SpOn)
Sascha Lobo, brillant wie immer. Das Reflexhafte an der Smartphone-Kritik ist glaube ich das, was mich am meisten stört. Mit fast nichts kriegst du von deinen Gesprächspartnern so schnell ein Kopfnicken wie mit unreflektierter Smartphonekritik. Die darf heute einfach in keinem Zusammenhang mehr fehlen, egal worüber man sich beklagt. Hauptsächlich trifft es natürlich "die Jugend", die angeblich alle total süchtig nach den Dingern sind. Das ist ganz und gar nicht meine Erfahrung, aber diese dämlichen Vorurteile, die ständig befeuert und verstärkt werden, soind einfach nicht totzukriegen. Ich möchte auch Lobos Argument unterstützen, dass gerade die Leute, die sich permanent über das angeblich so miese Sozialverhalten der Jugendlichen beklagen, selbst gerade die sind, die das Land zunehmend herunterwirtschaften. Diese Generationenlücke wird immer noch viel zu wenig thematisiert.

2) Trump's party is the petri dish for diseased minds that grew Cesar Sayoc
It is of course true that the overwhelming majority of Republicans are not violent. It is likewise true that nothing about conservative ideology or its program requires violent action. Nonetheless, the relationship between the two parties and violence is not symmetrical, and the fact that alleged bomber Cesar Sayoc had a strong identification with Trump and his partisan message is not a coincidence. The Republican Party encompasses an extremist fringe that nurtures violence in a way the Democratic Party does not. [...] The left certainly has illiberal, paranoid modes of thought. The difference is that the left-wing version resides outside the boundaries of two-party politics, because the Democratic Party is fundamentally liberal not radical. Coulter’s examples of “liberal” violence inadvertently bear this out: the Haymarket Square bombers were anarchists, and the Unabomber developed an idiosyncratic hatred of technology that did not connect to other nodes of left-wing politics. The street-fighting cult antifa lies outside of, and is primarily hostile to, Democratic politics. Left-wing violence from the 1960s likewise came out of radical groups who viewed the Democratic Party with contempt. The Republican Party, on the other hand, has followed a course that has made its rhetoric amenable to extremism. Republican radicalism enabled the rise of a conspiratorial authoritarian president, and that president has expanded the bounds of the party’s following farther out to the fringe. It is getting harder and harder to distinguish the “normal” elements of conservatism from the “kook” parts. That some of those kooks would resort to violence is not an accident but a statistical likelihood. Trump’s party is a petri dish for diseased minds. (Jonathan Chait, New York Magazine)
Der obige Argumentationsstrang ist genau der Grund, warum ich dem Bothsiderism, der hier in den Kommentaren von manchen gerne gepflegt wird, so ablehne. Es besteht schlichtweg keine Symmetrie in der Polarisierung und Gewaltspirale, die die USA im Griff hat. Mit wenigen Ausnahmen ist die Lage auch in Europa ähnlich, wo die Radikalisierung von rechts kein Gegenstück auf der Linken hat (eine Ausnahme wäre etwa Großbritannien). Aber nur in den USA gibt es ein Staatsoberhaupt, das Ziellisten von politischen Gegnern öffentlich verliest und danach, wenn rechte Terroristen sich diesen Zielen annehmen, alle Seiten zu "mehr Anstand" aufruft. Oder nach jahrelanger antisemitischer Rhetorik und dem Anschlag auf eine jüdische Gemeinde lakonisch feststellt, dass Juden zur Taufe ihres Kindes eben besser ein Sturmgewehr zur Verteidigung mitbringen sollten. Das ist dermaßen kaputt.

The uncertainty isn’t just about hedging. It’s a reflection of the sheer number of highly competitive districts, and the limited data available about each one. There are typically only one or two polls of the most competitive races. It is a very different information environment from a presidential election, when there are dozens of polls of a handful of highly competitive states. [...] All the conditions for a wave election remain in place. It’s a midterm year, when the president’s party typically struggles; the president’s approval rating is beneath 50 percent; and the Democrats hold a high-single-digit lead on the generic congressional ballot, which asks voters whether they’ll vote for Democrats or Republicans for the House. But this year, such an election doesn’t guarantee anything like the 63 seats a previous wave election brought to the Republicans in 2010. The Democrats don’t have nearly as many good opportunities to pick up seats, because of partisan gerrymandering and the tendency for Democrats to win by lopsided margins in urban areas. Alone, it’s enough to give the Republicans a chance to survive a wave that would otherwise give the Democrats a huge majority. [...] It would be a wave, on paper, given the limited opportunities that Democrats have on favorable terrain. But it wouldn’t necessarily feel like a wave. [...] It’s not a comfortable margin for Democrats, given how close these races appear. Republicans wouldn’t need much good fortune in races that were quite close. [...] But there’s still one big force on the G.O.P. side: the Republican-lean of the battleground. If Republicans can polarize the electorate along the lines of recent presidential elections, they will lock the Democrats into that disadvantageous map. (Nate Cohn, New York Times)
Was Nate Cohn hier so neutral als eine "disadvantegeous map" beschreibt ist das Resultat einer der vielen Merkwürdigkeiten im amerikanischen politischen System. Die Einteilung der Wahlkreise wird hier bekanntlich von den Gewinnern der Wahlen in runden Jahrzehnten vorgenommen (zuletzt also 2010, als die Republicans eine wave election gewannen). Dazu kommen weitere Traditionen der US-Verfassungshierarchie, die - noch aus der Gründungsphase, als die reichen Plantagenbesitzer den Ton angaben - dem flachen Land vor den Städten deutlich mehr Gewicht einräumen. Das ist also alles kein gottgegebenes Phänomen, sondern eines, das durch politische Entscheidungen entstanden ist. Warum die Progressiven in den USA immer noch ihre liebe Not damit haben, anzuerkennen dass ein Status, in dem der Gewinn von sechs bis sieben Prozent des popular vote gerade so zu einem Gleichstand reicht die oberste Priorität haben sollte, ist mir völlig schleierhaft. Die Republicans sind ein Haufen extremistischer Arschlöcher, aber sie verstehen sich auf Politik. Die Democrats sind zwar die Guten, aber es ist absolut an der Zeit, dass sie auf diesem Feld endlich aufrüsten und Waffengleichheit mit der GOP herstellen.

4) Brazilian media reports police entering classrooms to interrogate professors
In advance of this Sunday’s second-round presidential election between far-right politician Jair Bolsonaro and center-left candidate Fernando Haddad, Brazilian media are reporting that Brazilian police have been staging raids, at times without warrants, in universities across the country this week. In these raids, police have been questioning professors and confiscating materials belonging to students and professors. The raids are part a supposed attempt to stop illegal electoral advertising. Brazilian election law prohibits electoral publicity in public spaces. However, many of the confiscated materials do not mention candidates. Among such confiscated materials are a flag for the Universidade Federal Fluminense reading “UFF School of Law - Anti-Fascist” and flyers titled “Manifest in Defense of Democracy and Public Universities.” For those worrying about Brazilian democracy, these raids are some of the most troubling signs yet of the problems the country faces. They indicate the extremes of Brazilian political polarization: Anti-fascist and pro-democracy speech is now interpreted as illegal advertising in favor of one candidate (Fernando Haddad) and against another (Jair Bolsonaro). In the long run, the politicization of these two terms will hurt support for the idea of democracy, and bolster support for the idea of fascism. (Amy Smith, Vox.com)
Brasilien ist eine weitere der vielen Horrorgeschichten unserer Tage, in denen eine Demokratie von Rechtsautoritären zerschlagen wird. Als ob Argentinien nicht gereicht hätte. Südamerika kann einem Leid tun; es scheint wirklich, als ob die Wahl letztlich nur zwischen linken oder rechten Diktatoren bestünde. Und wenn man sich die Katastrophe von Venezuela anschaut, erwischt es Brasilien, wenn nur diese beiden Pole zur Wahl stehen, vielleicht sogar noch besser. Ein anderer wichtiger Faktor betrifft die Feinheiten der Strategie Bolsonaros. Das ist genau das was die AfD erreichen will. Zum Einen wird Psychoterror auf Lehrer und Professoren ausgeübt, sich ja nicht politisch für die Demokratie festzulegen - ein Muster, das die AfD mit ihren Meldeportalen in Deutschland ebenfalls verfolgt und das in Polen oder Ungarn bereits gut dokumentiert ist - und andererseits werden Begriffe wie "pro-demokratisch" plötzlich zu parteiischen Kampfbegriffen. Das ist genau das, warum die AfD keinesfalls Erfolg mit ihrer Strategie haben darf, ständig alles in den diskutablen Raum zu ziehen. Es dauert nicht lange, bis wir bei Anne Will dann einer offenen Diskussion darüber zuschauen dürfen, ob Demokratie wirklich gut ist und irgendwelche konservativen Kommentatoren davor warnen, es mit den identity politics zu übertreiben und stattdessen das hohe Gut der Meinungsfreiheit betonen, das es notwendig mache, diese Diskussionen zu führen. Das Resultat kann man sich auch in Ungarn anschauen, wo Orban keine Scham mehr kennt, von einer "illiberalen Demokratie" zu schwärmen, oder nun eben Brasilien. Eine wehrhafte Demokratie muss intolerante Meinungen ausgrenzen, sonst schafft sie sich selbst ab.

5) Under the missile's shadow: What does the passing of the INF treaty mean?
One by one we are losing the treaties that helped bound competition between peer nuclear powers, maintain strategic stability in the military balance, and manage security dilemmas inherited from the Cold War. For years, the INF Treaty has been a terminal patient, with Moscow in overt violation of the agreement, leaving the United States as the only country genuinely abiding by it. [...] However, Russia’s gains are not without long-term costs. First and foremost, Russia will further lose status and recognition as a great power that once signed treaties as a peer of the United States. Moscow views itself as holding a special position, responsible for international security alongside Washington, in large part thanks to arms control agreements. The United States and the Soviet Union were never really peers outside of the military balance (and even then the matter was debatable), but arms control treaties served to confer on Moscow the status of Washington’s equal in international politics. As those agreements fray, so too do Russian hopes for regaining the respect and status once held by the Soviet Union. The New START Treaty remains, but it’s unclear if it will be extended and whether another agreement will ever follow it once the deal expires. Given the asymmetry in economic resources, the United States is much better positioned to eventually deploy a substantially larger arsenal of intermediate-range missiles than Russia. Rather than basing them in Western Germany, short- and intermediate-range missiles could eventually find their way to NATO’s eastern member states, where they would pose an existential threat to Russia. (Michael Kofman, War on the rocks)
Ich habe in den deutschen Medien vor allem kritische Stellungsnahmen zu Trumps Entscheidung gelesen, den INF-Vertrag einseitig aufzukündigen. Da ist diese Einschätzung vielleicht als Gegenpunkt ganz interessant. Ich habe selbst keine eigene Meinung zu dem Thema, weil mir zur aktuellen nuklearstrategischen Lage schlichtweg die Informationen fehlen. Ein interessanter Aspekt, dem ich gerade wesentlich mehr Aufmerksamkeit und Lektüre widme, ist auf jeden Fall die Abrüstung der Mittelstreckenraketen in Europa (die in den 1980er Jahren für so viel Konflikt sorgten), wo die Aussichten, neue Waffen zu stationieren, eher schlecht aussehen - was unter Umständen schwerwiegende Konsequenzen haben könnte, nun da Russland hier deutlich freier agiert. Aber wie gesagt, das muss ich weiter studieren.

6) "Die FDP wird keine Koalition mit Frau Merkel beschließen"
Die Freien Demokraten wollen dem Land eine andere Richtung geben. Deshalb wären wir gesprächsbereit für eine Jamaika-Koalition, wenn das Vorbild Schleswig-Holstein wäre und nicht die Methode Merkel. Einen Linksruck mit Grün-Rot-Rot wollen wir verhindern. [...] Es darf keinen Linksruck in Hessen geben. Meine hessischen Freunde haben gesagt, dass sie den Grünen Tarek Al-Wazir nicht zum Ministerpräsidenten wählen. [...] In Hessen wird auch über die Migrationspolitik abgestimmt, weil eine Landesregierung im Bundesrat mitentscheidet. Die Grünen blockieren, die Maghreb-Staaten zu sicheren Herkunftsländern zu erklären. Das würde Abschiebungen erleichtern, in individuellen Ausnahmefällen wäre Schutz bei uns dennoch möglich. Die CDU nimmt da Rücksicht auf die Grünen. Das wollen wir neu verhandeln. [...] In einer roten Ampel wäre das aussichtslos. Wir müssen zum Beispiel verhindern, dass der nach Tunesien abgeschobene Bin-Laden-Leibwächter Sami A. auf Staatskosten im Privatflieger zurückgeholt wird, um dann von der Polizei wieder Tag und Nacht überwacht zu werden. Die Grünen betreiben so indirekt Wahlkampfhilfe für die AfD. [...] Die Methode Merkel bedeutet Stillstand. [...] Die FDP wird keine Koalition mehr mit Frau Merkel schließen. Das ist klar und beruht sicher auf Gegenseitigkeit. Unser Land darf keine Zeit mehr verlieren. (Christian Lindner, SpiegelOnline)
Die obigen Zitate aus dem Lindner-Interview sind aussagekräftig, weil sie zeigen, dass Lindner den Kurs von 2017 unverändert weiterfährt: die FDP versucht, eine Art AfD-light zu sein und die gleichen Instinkte zu bedienen wie die Rechtspopulisten, nur gemäßigt und in klassich bürgerlicher Politik gezähmt. Auffällig ist etwa die Fixierung auf die Person Angela Merkels, die ja auch die AfD auszeichnet, wobei Lindner statt deren ungezügelten Hasses rein polittaktische Gründe vorbringt. Ebenso parallel läuft die Hauptgegnerschaft zu den Grünen, auf die alles Schlechte projiziert wird und die zu Hauptgegnern hochgejazzt werden, während man für die SPD nur noch Mitleid übrig hat, was auch ein vernichtender Schlag für sich ist. Wenn sich der FDP-Chef Sorgen um den Zustand der SPD macht... Und dann ist da noch das mit den Flüchtlingen, und hier fährt Lindner den AfD-Kurs so hart er kann. Das ist einerseits sicherlich sinnvoll; neben der Merkelkritik kann er so gemäßigte AfD-Sympathisanten im demokratischen Spektrum halten. Auf der anderen Seite zündelt er aber gehörig, wenn er die Grünen dafür verantwortlich macht, dass Sami A. zurück nach Deutschland musste und in den widerwärtigsten BILD-Bildern arbeitet. Das war ein rechtsstaatliches Gerichtsurteil, das auch ein Bundeskanzler Lindner hätte so umsetzen müssen. Für solche Art von widerwärtigem Populismus kann man nur Verachtung übrig haben.

7) Angriff von rechts
Europa wird von rechts bedroht In Österreich ist dieser Zusammenschluss bereits gelungen, dort verbindet die Regierungskoalition aus ÖVP und FPÖ ein bürgerliches Milieu mit rechtsextremen Gruppen. Vieles hängt nun von der politischen Entwicklung in Deutschland ab. Die AfD legt zwar deutlich zu, verfügt aber noch nicht über die Machtoptionen wie ihre Freunde in Italien oder Ungarn. Allerdings zeichnet sich ab, dass in Bundesländern wie Sachsen eine Koalition zwischen CDU und AfD im kommenden Jahr zumindest denkbar erscheint. Sollten sich auch die Machtverhältnisse auf Bundesebene zugunsten des nationalistischen Flügels der Union verschieben, wäre es nur eine Frage der Zeit, bis sich diese Veränderungen auch auf europäischer Ebene bemerkbar machen würden. Der Angriff von rechtsaußen kommt dabei für die EU in einer äußerst schwierigen Zeit. In Migrationsfragen ist sie tief gespalten, eine Einigung ist nicht in Sicht. Bei einem ungeordneten Austritt Großbritanniens drohen der Union schwere wirtschaftliche und politische Turbulenzen. Hinzu kommt, dass die Euro- und Schuldenkrise noch längst nicht ausgestanden ist. Und die nächste große Rezession ist schon in Sicht. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im kommenden Mai steht daher für die EU alles auf dem Spiel. Salvini und seine Verbündeten müssten nicht die absolute Mehrheit erringen, um die angestrebte Neuordnung der EU voranzubringen. Sollten ihre Parteien die stärkste Fraktion im künftigen EUParlament bilden, könnten sie die EU-Gesetzgebung entscheidend beeinflussen. Ihr Ziel ist es nicht mehr, die europäischen Institutionen zu zerschlagen, sondern sie zu transformieren. Wären sie damit erfolgreich, bliebe die EU vielleicht formal erhalten. Es wäre aber ein Europa der illiberalen Demokraten. (Anton Landgraf, Jungle World)
Ich zitiere diesen Artikel hauptsächlich deshalb, weil die europäische Dimension des Rechtspopulismus immer noch generell unterschätzt wird. Diese Bewegungen beziehen sich aufeinander und füttern sich gegenseitig, schaukeln sich hoch und zehren vom Erfolg ihrer jeweiligen Partner. Es ist ein gewisses Paradoxon, dass nationalistische, rechtsgerichtete Bewegungen global organisiert und vernetzt sind, während die internationalistischen linksgerichteten Bewegungen zahnlos und zersplittert sind. Aber solange die Rechtsextremen in der Rolle des Underdog sind, fällt ihnen das Bündnis leicht. Ihre Zusammenarbeit wird sich schnell auflösen, wenn sie erst einmal alle an der Macht sind, und ihre luftigen Reden vom "Europa der Vaterländer" und gegenseitigen Respekt werden sich dann in zahllosen Konflikten und Krisen entladen. Das wird für uns, die wir dann in ihren unterdrückerischen Systemen leben, aber allenfalls ein kleiner Trost sein. Ebenfalls spannend ist der Aspekt des Strategiewandels gegenüber der EU. Wenn die sich wirklich daran machen, die EU quasi zu kapern, sind sie - passend zu Fundstück 3 - tatsächlich einmal mehr wesentlich cleverer als ihre traumtänzerischen linksradikalen Gegenparts. Die Dauerkritik der Rechten, sowohl der demokratischen als auch der radikalen, an der EU ist ja deren ungeheure Machtfülle. Man muss erschaudern wenn man sich vorstellt, was geschieht, wenn diese Machtfülle in die Hände der Rechten gerät. Ein Europäischer Menschengerichtshof, der von Rechsextremisten dominiert ist? Eine Kommission, in der Nazis das Sagen haben? Dagegen ist die Troika ein Witz auf Rädern.

8) White men stockpile guns because they're scared of black people and feel inadequate, science says
“We found that white men who have experienced economic setbacks or worry about their economic futures are the group of owners most attached to their guns,” one of the Baylor sociologists said. “Those with high attachment felt that having a gun made them a better and more respected member of their communities.” And it’s not just white men who are poor and angry at the economy. It’s also those who harbor racial resentments. A British study looked at gun owners using a test to determine racism and found that just a one-point jump in the scale collated to a 50 percent increase in the likelihood of owning a gun. A study by the University of Illinois at Chicago also found that racial resentment among whites fueled opposition to gun control also found that racial resentment drove white people’s opposition to gun control. These men also tend to not be right with Jesus. The sociologists found that religious faith tended to stop the attachment to guns. “The gun is a ubiquitous symbol of power and independence,” the sociologist said. “Guns, therefore, provide a way to regain their masculinity, which they perceive has been eroded by increasing economic impotency.” These guns are a public health hazard . A woman is five times more likely to be killed by her husband when there’s a gun in the home, Scientific American points out, and owning a gun is dangerous for a bitter and insecure man who is at risk of an “economic setback.” “White men aren’t just the Americans most likely to own guns,” it says, “they’re also the people most likely to put them in their own mouths and pull the trigger, especially when they’re in some kind of economic distress.” (Martin Cizmar, Raw Story)
Einmal mehr haben die Phänomen der toxischen Maskulinität und des Rassismus deutlich mehr Erklärungsgehalt, als seine Kritiker immer zuzugestehen bereit sind. Waffen sind eben auch nur identity politics, nur eben für die Rechten (wie so vieles andere auch). Umso schlimmer ist es, dass die Medien - allen voran FOX News - permanent die Furcht vor schwarzen Gewalttätern schüren. Dass in vielen US-Bundesstaaten noch dazu eine völlig perverse Gesetzeslage herrscht, in der "stand your ground laws" es Menschen ermöglichen, straffrei andere zu erschießen, wenn sie sich bedroht FÜHLEN, ist da nur noch der Zuckerüberzug auf dem Kuchen. Gerade diese Verbindung von Waffen mit performter Männlichkeit ist aber ein Grund, warum es so schwer ist, da irgendetwas dagegen zu unternehmen. Siehe dazu auch das folgende Fundstück.

9) Hase, du bleibst hier
Aggressive Männlichkeit im Zaum zu halten: das ist in der patriarchal organisierten Gesellschaft eine klassische Aufgabe von Frauen. Viele solcher Stimmen gibt es unter Neonazis und in der AfD nicht. Nur 16 Prozent ihrer Mitglieder sind weiblich. Doch nicht nur in der Rechten sind Frauen stark unterrepräsentiert – sie sind auch im gesamten Osten in der Minderheit. Von Mecklenburg-Vorpommern bis in den Süden Sachsens herrscht ein eklatanter Männerüberschuss, und das seit fast 30 Jahren. Europaweit ist keine Region so männlich dominiert wie die ländlichen Gebiete im Osten der Republik. Das Phänomen ist nicht neu – und doch erstaunlich unterrepräsentiert in der Debatte über die Gründe für das Erstarken der Rechten. [...] Der Osten ist also männlich – und nicht nur der. Auch die ländlicheren Regionen in Niedersachsen, Baden-Württemberg und Bayern weisen einem Männerüberschuss auf. In Niederbayern spricht man bereits von „chinesischen Verhältnissen“. Wo sind all die Frauen hin? Die Deutschlandkarte der Geschlechterverteilung zeigt: in die großen Städte. In Hamburg, München, Köln oder Berlin kommen auf 100 Frauen 93 bis 96 Männer. [...] Die Autorin einer Studie der Hochschule Zittau / Görlitz zur Abwanderung von Frauen aus dem Jahr 2016, Julia Gabler, weist zudem auf die Folgen des Frauenmangels für die Zivilgesellschaft hin: In Gegenden mit eklatantem Frauenmangel breche bürgerschaftliches Engagement teils gänzlich zusammen, so Gabler: „In Regionen mit Männerüberschuss hält die soziale Kälte Einzug.“ Die Studien weisen zudem auf einen indirekten Zusammenhang zwischen Männerüberschuss und Kriminalität hin: Sie steigt dort, wo die Erwerbslosenquote der Männer unter 30 Jahren hoch ist – und wo es viele Singlehaushalte gibt. Die Entwicklungen in der Arbeitswelt spielen für weibliche Abwanderung und männliche Krise ebenfalls eine Rolle: Während Berufe, in denen der kräftige männliche Körper eine wichtige Rolle spielt, durch die radikale Deindustrialisierung ganzer Regionen und Digitalisierung wegfallen oder „verweichlichen“, wurden im Dienstleistungsbereich Jobs geschaffen, in denen vor allem Frauen arbeiten – sie finden sich aber vor allem in den Städten. Die Frauen ziehen ab in die Fremde, die Männer bleiben abgewertet in der Provinz sitzen. (Elsa Koester, Freitag)
Der obige Artikel zeigt einmal mehr, warum die beharrliche Weigerung vieler Leute, Gender als Analyse-Kategorie zu verwenden, ein echtes Problem darstellt. Nicht nur ist toxische Maskulinität ein entscheidender Faktor, der das Fundament vieler heutiger Probleme darstellt. Die Verweigerung darüber, überhaupt die Möglichkeit geschlechterbasierter Analysen anzunehmen, schafft blinde Flecken, die dann irgendwelche haarsträubenden anderen Ansätze erfordern - oder aber ein Problem einfach als gottgegeben, natürlich hinnehmen und nicht ändern.

Das brachte selbst Volker Perthes, den altgedienten Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, zu der Feststellung: "Es ist eigentlich erstaunlich, dass Saudi-Arabien plötzlich wegen eines Mordes, egal wer letztendlich dafür verantwortlich war, am Pranger steht und nicht wegen des seit Jahren anhaltenden Jemenkrieges, der mindestens so viel Kritik notwendig hat." Recht hat er. Das ist erstaunlich. Ein harmloseres Beispiel für denselben Mechanismus: Europäische Journalistinnen und Journalisten, darunter auch von ZEIT ONLINE, haben aufgedeckt, wie Superreiche mehrere Staaten Europas um 55,2 Milliarden Euro betrogen haben. 33,8 Milliarden Euro Schaden sind es in Deutschland. Rechnerisch wurden jedem Deutschen damit mehr als 400 Euro geklaut. Tatsächlich schwappt eine Welle der Empörung durch die digitale Öffentlichkeit, wird über asoziale Reiche gestritten – aber nur zum Teil wegen des Cum-Ex-Skandals. Für mehr Erregung sorgt eine Rolex, die die Politikerin Sawsan Chebli am Handgelenk trägt, was aus Sicht einiger für eine Sozialdemokratin obszön und deshalb empörenswert zu sein scheint. Auch das ist erstaunlich, oder? Öffentliche Empörung scheint sich nicht an den größten Anlässen zu entzünden. Sie erscheint oft unverhältnismäßig. Woran liegt das? Es hilft zu verstehen, dass die Empörung der wütende Zwilling des Mitgefühls ist. Das eine ist negative Anteilnahme, das andere positive. Das Mitgefühl für Opfer eines Terroranschlags in Paris ist in Deutschland viel höher als das für Terroropfer in Beirut oder Ankara, ja, oft ist gar das Mitgefühl für die Schicksalsschläge im Leben eines Promis höher als das für Kriegsopfer. Mitgefühl und Empörung sind beides Gefühle, die sich nicht an die Kriterien der Rationalität zu halten scheinen. Aber es gibt doch Kriterien, die darüber entscheiden, wann diese Gefühle wie stark werden, wann die Empörung klein bleibt und wann sie hochkocht. [...] Früher gab es ein wirkmächtiges Raster, das heute wunderbar zum Fall Cum-Ex passen würde. Es heißt: Klassenkampf. Es war unter sozialistisch bis sozialdemokratisch Gesinnten selbstverständlich, Bereicherungen von Reichen auf Kosten der Mehrheit als direkten Angriff zu verstehen, auf die Gerechtigkeit und auf einen selbst. Diese Menschen hätten Cum-Ex sehr persönlich genommen. Aber Klassenkampf ist abgesagt. Klare Fronten sind heute verpönt, weil ja angeblich Komplexität die Ideologie abgelöst hat. Die Fronten wären herstellbar, denn die Regeln der Empörung lassen sich verändern. Ein Beispiel: Früher gab es kaum öffentliche Empörung über sexualisierte Gewalt, heute schon. Wenn genug einflussreiche Akteurinnen und Akteure sich darum bemühen, die Empörung auf ein Ziel zu lenken, das ihrer wert ist, kann das einen Unterschied machen. (Lenz Jacobsen, ZEIT)
Dieser Artikel zeigt in meinen Augen zwei Phänomene. Das eine ist die Notwendigkeit von Empörung. Egal wie sehr sich Konservative auch darüber ärgern mögen (empören gar), sozialer Wandel ist ohne vorhergehende Empörung nicht vorstellbar. Deswegen ist beim Thema Frauenemanzipation, Gleichberechtigung von Transsexuellen und was sonst noch alles verächtlich "identity politics" gescholten wird Empörung notwendig. Andernfalls entsteht kein Veränderungsdruck. Das ist umso ärgerlicher, weil die Konservativen das selbst sehr gut wissen: Sie haben kein Problem damit, sich für ihre eigenen Themen zu empören und Empörung anzufeuern, vom Flüchtlingsthema über Jugendstraftäter bis Hilfen zu Griechenland. Warum also sollten Progressive das nicht auch dürfen? Das ist ein heuchlerischer Doppelstandard. Der andere Aspekt ist der im Artikel angesprochene Mangel an Klassenkampf. Obwohl die Ungleichheit immer wieder zunimmt und in der bundesrepublikanischen Geschichte auf einem Rekordhoch ist, empört sich darüber so gut wie niemand. Die rituelle Beschwörung dieser Fakten durch die SPD oder LINKE jedenfalls lockt keinen Hund hinter dem Ofen hervor, und "Ungleichheit" taugt auch nicht als Feindbild. Wo niemand Schuld ist (anders als Merkel, die das Grundgesetz brechend Horden von Flüchtlingen...ihr wisst schon), kann aber auch keine Empörung stattfinden. Das ist natürlich Demagogie und Populismus, aber anders funktioniert Politik offensichtlich nicht. Die Wahlerfolge von Trump, AfD und Konsorten zeigen das ja allzu deutlich.

11) College sports are affirmative action for rich white students
Put another way, college sports at elite schools are a quiet sort of affirmative action for affluent white kids, and play a big role in keeping these institutions so stubbornly white and affluent. What makes this all the more perplexing, says John Thelin, a historian of higher education at the University of Kentucky, is that “no other nation has the equivalent of American college sports.” It’s a particular quirk of the American higher-education system that ultimately has major ramifications for who gets in—and who doesn’t—to selective colleges. When it comes to college athletics, football and basketball command the most public attention, but in the background is a phalanx of lower-profile sports favored by white kids, which often cost a small fortune for a student participating at a top level. Ivy League sports like sailing, golf, water polo, fencing, and lacrosse aren’t typically staples of urban high schools with big nonwhite populations; they have entrenched reputations as suburban, country-club sports. According to the NCAA, of the 232 Division I sailors last year, none were black. Eighty-five percent of college lacrosse players were white, as well as 90 percent of ice-hockey players. And the cost of playing these sports can be sky high. “There are high economic barriers to entering in this highly specialized sports system,” Hextrum says. “White people are concentrated in areas that are resource rich and have greater access to those economic resources.” Getting good enough at a sport to have a shot at playing collegiately often necessitates coaching, summer camps, traveling for tournaments, and a mountain of equipment. One in five families of an elite high-school athlete spend $1,000 a month on sports—the average family of a lacrosse player spends nearly $8,000 a year. Kids from low-income families participate in youth sports at almost half the rate of affluent families, according to a report from the Aspen Institute. It’s no surprise, then, that per The Harvard Crimson’s annual freshman survey, 46.3 percent of recruited athletes in the class of 2022 hail from families with household incomes of $250,000 or higher, compared with one-third of the class as a whole. (Saahil Desai, The Atlantic)
Es ist ziemlich nachvollziehbar, dass bei college admissions auf Basis der eigenen Segel-Fähigkeiten nicht unbedingt sozial benachteiligte Schichten zum Zuge kommen. Die Überschrift sagt es bereits alles: es ist affirmative action for rich whites. Aber, und das ist für deren Selbstverständnis immer entscheidend, sie können sich einreden dass es in Wahrheit ihre eigenen Fähigkeiten waren, ihre harte Arbeit, die ihnen den Platz gebracht hat - statt die Connections der Familie und das viele Geld, das ihnen die Möglichkeit überhaupt erst gegeben hat. Natürlich stimmt es auch, dass diese Leute sich durchaus durchsetzen - gegen andere reiche Weiße eben, die noch schlechtere Noten bei ebenso gutem Leumund haben. Aber Fakt ist halt auch, dass der Wettbewerb, in dem diese Leute stehen, keiner ist, in dem die besten miteinander konkurrieren würden. Es ist das Paradoxon der Meritokratie: Sobald eine Generation den Aufstieg durch echte Leistung geschafft hat, tritt sie die Leiter weg und sichert dem eigenen Nachwuchs die Stellung ab. Chris Hayes hat das Phänomen in seinem Buch "Twilight of the Elites" von 2012 ausführlich beschrieben, das an dieser Stelle einmal mehr empfohlen werden soll.

Freitag, 26. Oktober 2018

Die Ampel: Eine verpasste Chance?

In einem Interview mit dem Spiegel hat der ehemalige hessische Ministerpräsident und Finanzminister Hans Eichel die Linie der hessischen SPD bestärkt, als bevorzugte Koalition die Ampel anzustreben. Das ist insofern interessant, als dass es ein wenig aus der Zeit gefallen scheint. Ich habe letzthin schon auf Twitter die Hypothese aufgestellt, dass das Nichtzustandekommen einer Ampel eines der großen "Was wäre wenn" der 2000er-Jahre ist. An der Stelle lohnt sich ein Blick zurück, bevor wir die Augen wieder auf die Gegenwart lenken.

Während der ersten Großen Koalition 2005 bis 2009 begannen die Werte der SPD in den Umfragen bereits langsam abzusinken und machten ein ums andere Mal deutlich, dass eine Wiederauflage des rot-grünen Bündnisses seit dem Einzug der LINKEn in den Bundestag nicht mehr möglich sein würde. Da die SPD noch hoffte, Merkel 2009 wieder durch einen SPD-Kanzler ablösen zu können, brauchte es daher eine realistische Machtoption. Rot-Rot-Grün wurde hierzu beständig und emphatisch ausgeschlossen, getrieben durch Druck der bürgerlichen Parteien und Medien auf eine Art, die spätestens in der Rückschau schon fast neurotisch und hysterisch scheint. Die einzig realistische Option war daher die Ampel-Koalition, die auch auf Nachfragen gebetsmühlenartig als Alternative bemüht wurde.

Die FDP weigerte sich unter ihrem damaligen Vorsitzenden Guido Westerwelle konsequent, sich dieser Idee gegenüber zu öffnen, was die beständigen Avancen der SPD-Führung umso peinlicher erscheinen ließ. Der Grund dafür ist simpel: Die Strategie der FDP war es, die Stimmen derjenigen, die mit der damals vielfach beklagten "Sozialdemokratisierung" der CDU in der Großen Koalition unzufrieden waren, aufzufangen und so gestärkt in das schwarz-gelbe Bündnis zu gehen, das man für 2005/2006 eingeplant hatte. Diese Strategie ging bis zur Wahlnacht auch auf, in der die FDP ein Rekordergebnis von rund 16% erzielen konnte.

Danach allerdings ging es für die Partei rapide bergab. Nicht nur ließ sie sich bei der Verteilung der Ministerien übervorteilen, ihr gelang es auch, konsequent keine ihrer Wahlkampfforderungen umzusetzen, mit der Ausnahme der Angleichung der Mehrwertsteuersätze für Hotels, die sich dank einer Mövenpick-Parteispende und guten Spins der Opposition in den Köpfen der Wähler als Korruption festsetzte. Bei der Wahl 2013 flog die Partei dann aus dem Bundestag. Seit ihrem Wiedereinzug 2017 scheut die Partei als gebranntes Kind die Verantwortung.

Nicht viel besser erging es der SPD, die 2009 ein Rekordniedrigergebnis einfuhr, dies 2013 nur marginal verbesserte und 2017 noch einmal unterbot, nur um nun in Umfragen um den Platz als drittstärkste Partei zu kämpfen. Einzig die Grünen fahren zwar in einer Umfragenachterbahn, sind aber insgesamt relativ stabil im höheren einstelligen Prozentbereich unterwegs - der gleiche Bereich übrigens, in dem es sich auch die LINKE gemütlich gemacht hat. Inzwischen hätte die früher noch mit Vehemenz bekämpfte R2G-Koalition nicht einmal mehr eine sichere Basis; die "linke Mehrheit", mit der Lafontaine in der ersten großen Koalition die SPD vor sich hertrieb, ist nicht einmal mehr als arithmetische Spielerei vorhanden.

Umso interessanter ist die Überlegung, wie anders die Situation wäre, wenn die FDP seinerzeit auf die Avancen der SPD eingegangen und das Ampelrisiko eingegangen wäre. Für diese Überlegung begehen wir gleich den ersten Kardinalsfehler und ignorieren die Grünen, aber das wird bei den R2G-Debatten ja auch gemacht. ;) Aber ernsthaft, sehen wir uns einmal kurz die Situation an, in der damals heiß über die Ampel diskutiert wurde.

Um 2007 herum waren die tonangebenden Figuren innerhalb der SPD Politiker wie Franz Müntefering, Frank-Walter Steinmeier, Peer Steinbrück, Wolfgang Clement, Matthias Platzeck, Kurt Beck und Olaf Scholz. Mit anderen Worten, es waren die Agenda-Boys, minus das Agenda-Oberhaupt, das sich von Putin fürstlich für die kläglichen Reste seines guten Leumunds entschädigen ließ. Entsprechend sah auch die Politik aus: Erhöhung der Mehrwertsteuer, Heraufsetzung des Renteneintrittsalters, Verschärfung der Hartz-IV-Sanktionen, Mittragen der Stasi-2.0-Sicherheitspolitiks des innenpolitschen Scharfmachers Schäuble, etc.

Als 2008 Kurt Beck seine glücklose Periode als Vorsitzender der SPD übernahm. Dessen strategische Perspektive war die Öffnung der SPD nach allen Seiten. Er schaffte das kategorische Kooperationsverbot mit der LINKEn in den westdeutschen Bundesländern ab, das die SPD so teuer kostete (unter anderem Hessen im selben Jahr), machte aber aus seiner Präferenz für die Ampel keinen Hehl, für die er auch persönlich stand: Beck hatte in Rheinland-Pfalz mit der Partei zusammen die letzte sozialliberale Koalition der BRD geführt, bevor er die absolute Mehrheit holte, ein aus heutiger Sicht beinahe unvorstellbares Zeugnis für seine Fähigkeiten - das sich dann jedoch als voreilig herausstellte. Im Amt agierte Beck denn auch eher glücklos, schwankte von hier nach dort (einerseits beleidigte er Arbeitslose und die Unterschicht, über die seinerzeit eine wilde Debatte tobte, andererseits unternahm er die Aufweichung der Bezugsregeln für das ALG-I) und fiel schließlich innerparteilicher Intrige und medialem Druck zum Opfer. Er hat da einiges mit Martin Schulz gemein.

Lange Rede, kurzer Sinn: die SPD von 2008 ist nicht die SPD von 2018. Die Partei war damals noch völlig im Fluss, und welche der Richtungen sich durchsetzen würde - und welche strategischen Optionen sich daraus ergeben würden - war damals noch völlig unklar. Für die Bundestagswahlen 2009 jedenfalls legte sich die SPD auf die Ampel fest. Dies bedeutete ein grundsätzliches Bekenntnis zum Agenda-Kurs.

Doch für eine Koalition braucht es immer Partner, und der Gewünschte erwies sich in diesem Fall mehr als unwillig. Westerwelle hatte spätestens seit der gemeinsamen Wahl Horst Köhlers (auch so ein Rohrkrepierer dieser an Rohrkrepierern nicht gerade armen Zeit) auf eine schwarz-gelbe Koalition hingearbeitet. Diese sollte eigentlich der Triumph von 2005 sein (beziehungsweise 2006, ohne Schröders Panikentscheidung mit den Neuwahlen). Aber durch Schröders überraschend starke Performance und dem Einbruch der CDU erledigte sich das, die FDP wurde Oppositionsführung und kritisierte seither die Große Koalition von rechts. Das ständige Polemisieren gegen die "Sozialisten", die quasi mit jedem nächsten Schritt die DDR wieder einführen würden, machte einen Kurswechsel gegenüber der SPD, milde ausgedrückt, schwer vermittelbar und in der Praxis dank der überzeugenden Mehrheit 2009 auch unnötig.

Aber hätte die FDP damals die Möglichkeit ergriffen und, ermutigt aus den Erfahrungen in einigen Bundesländern, für 2009 tatsächlich eine Ampel ernstlich in Betracht gezogen - wir würden heute vermutlich eine andere Republik sehen. Die SPD würde mit ziemlicher Sicherheit trotzdem Verluste erlitten haben, aber ob diese so groß wären wie sie heute sind kann durchaus bezweifelt werden. Der FDP wäre ebenso wahrscheinlich sowohl der große Erfolg 2009 als auch der gewaltige Absturz danach erspart geblieben.

Relevanter aber wären die Folgen für das Parteisystem als Ganzes. Offensichtlich wäre dadurch die ewige Große Koalition nicht mehr relevant gewesen, da genügend Alternativen bestanden hätten. Die CDU wäre mit Sicherheit deutlich rechter als ihre heutige Ausprägung, und die FDP würde das Zünglein an der Waage spielen, weil die Frage wäre, mit wem sie koalieren würde - statt in babylonischer Gefangenschaft an die CDU gekettet zu sein. Gleichzeitig würde die LINKE etwas stärker sein, weil die SPD und Grünen beide durch die FDP deutlich auf dem Agendakurs bleiben.

Fraglich ist allerdings, und das war damals neben den wahlkampftaktischen Festlegungen ja auch eine entscheidende Weichenstellung, welches Politikprojekt eine Ampel-Koalition gehabt hätte. Genau das war die Antwort, die die SPD damals auch nie geben konnte und die die FDP nicht einmal ernsthaft zu diskutieren bereit war. Offensichtlich dürfte sein, dass das Programm von 2009 mit der Ampel nicht hätte taugen können. Grundsätzlich hätte sich die Ampel wohl als ein sozialliberales Bündnis begreifen müssen: die FDP hätte ihr Profil als Partei von Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechten hervorgehoben und sich auf der anderen Seite als Korrektiv für die SPD und Grünen inszeniert (insbesondere was Energiewende und Agenda2010 anging), während SPD und Grüne ihrerseits die damalige Marktradikalität der FDP gezügelt hätten. Die Parteien hätten sich zudem, ähnlich dem Lindner-Wahlkampf 2017 und dem SPD-Wahlkampf 1998, hinter einem generellen Modernisierungsbegriff sammeln können, der durchaus das Internet und den Bildungsbereich hätte umfassen können. Eine Art großes "Deutschland zukunftsfähig machen"-Projekt, das den Status Quo auf dem Arbeitsmarkt unangetastet lässt. Das hätte erfordert, die Agenda2010 allseitig als Erfolgsstory und "mission accomplished" zu deklarieren, aber diese Grundströmung war ja ohnehin vorhanden.

Es ist offensichtlich, dass hierzu einige Bewegung bei allen Seiten mit ungewissem Ausgang und hohen politischen Kosten notwendig gewesen wäre. Es ist also nicht schwer zu sehen, warum aus dem Projekt nie etwas wurde. Doch die strategische Bedeutung einer stärkeren Mitte, als wir sie heute haben, ist nicht zu unterschätzen. Vielleicht hätte die Ampel sogar glücklicher mit dem Flüchtlingsproblem agieren können - man weiß es nicht. Vorteilhaft wäre so oder so die Einbindung der FDP in die politische Verantwortung gewesen.

Auf der anderen Seite steht natürlich die Gefahr, dass so der Zorn der Abgehängten noch schneller auf der Tagesordnung steht. Man vergisst das leicht, aber zwischen 2005 und 2008 gab es eine Vielzahl an Diskussionen über "soziale Unruhen", den Aufstieg der LINKEn und ein Abgleiten in den Linkspopulismus - ungefähr in derselben alarmistischen Stimmung, wie wir sie heute bezüglich der AfD haben, nur ohne die beständige Erklärung aller Beteiligten, dass jeder, der so fühle, einfach zu doof sei, die Segnungen der Agenda-Politik zu verstehen. Wäre damals die Ampel Wirklichkeit geworden, so hätte auch - gerade im Hinblick auf den Doppelschlag von Finanzkrise und Eurokrise 2009/2010 - die Bedrohung des deutschen Status Quo von der LINKEn ausgehen können. Dass die plötzlich mit 15-20% für westdeutsche Parlamente gehandelt wird und in ostdeutschen Parlamenten die mit Abstand stärkste Partei stellt, mit all den demokratielegitimierungstechnischen Problemen die ihr fortdauernder Ausschluss von der Macht gehabt hätte, ist kein völlig unrealistisches Szenario.

Die Ampel ist damit "the road not taken", aber ihr Weg steht grundsätzlich offen, zumindest in Ländern wie Hessen. im Bund käme sie nicht einmal auf eine rechnerische Mehrheit, geschweige denn dass die an Agenda-Schmerzen leidende SPD irgendwie mit der rechtsblinkenden, jugendlich-frischen FDP Lindners passen würde. Aber reizvoll wäre das Szenario durchaus. Zumindest für mich.

Mittwoch, 24. Oktober 2018

Saudische Finanzen geraten über Geschlechterfragen in eine polarisierende EU-Krise über die Einreisesperre - Vermischtes 24.10.2018

Die Serie "Vermischtes" stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Tribalism isn't our country's main problem
This utter dearth of partisan polarization undermined democratic accountability. A liberal could vote for Democratic candidates in New York, and unwittingly empower arch-segregationists in the Senate; many voters had no clear heuristic telling them which party would best represent their interests and ideological goals, nor which one was to blame for Congress’s failure to advance such aims. In response, the American Political Science Association (APSA) released a report in 1950 that called on Republicans and Democrats to heighten their contradictions, arguing that “popular government in a nation of 150 million people requires political parties which provide the electorate with a proper range of choices between alternatives of action.” Sixty-eight years later, we’ve done just as the APSA advised. Today’s party system offers voters a wide — and clearly labeled — range of alternatives. While myriad policy debates remain stifled by bipartisan consensus (the proper size and role of the U.S. military, for example), it is nevertheless the case that Democrats and Republicans now provide the electorate with stark choices on health care, taxation, social spending, immigration, racial justice, abortion, environmental regulation, labor rights, and other issues. It has rarely, if ever, been more clear what — and whom — each party in the U.S. stands for. And rarely, if ever, has “popular government” been a worse misnomer for what transpires in our nation’s state and federal capitals. (New York Magazine)
Das ist ein sehr langer und ausführlicher Artikel sowohl über die Geschichte der Polarisierung beziehungsweise Überparteilichkeit als auch eine Analyse ihrer Funktion und Konsequenzen. Ich empfehle die Lektüre unbedingt und will an dieser Stelle nur eine kleine Ergänzung bringen. In Deutschland wurde und wird immer wieder gefordert, die Parteien müssten mehr streiten, sich klarer unterscheiden, und so weiter und so fort. Es wird immer so getan, als würde das Probleme lösen. Dabei zeigt das amerikanische Beispiel deutlich, dass es vor allem eine Änderung ist: manche Probleme verschwinden, andere kommen neu dazu. Es gibt kein objektiv besseres System, genauso wie bei Verfassungsmechanismen und Wahlrechten. Jede Variante kommt mit ihren eigenen Vor- und Nachteilen, und es wäre hilfreich diese ehrlich zu benennen statt der Idee einer utopischen Lösung aller Probleme nachzujagen.

First, liberals must fight alongside and for the powerless, the underdogs of both society and economics. At its root, liberalism is a political philosophy demanding the diffusion of power—whether economic, social or political. That is why liberals want free, competitive, fair markets; a socially liberal culture and laws allowing for human diversity; and pluralism in politics. [...] Second, liberals have to be eternally vigilant against the rigging of markets in favour of vested interests. This is not a battle that will ever end. Those with economic power will always use it to shape market dynamics to suit their own ends. The housing market in America and Britain, for example, is strongly tilted in favour of those with wealth and political power. [...] Third, liberals have to sharpen their anti-elite instincts. The emergence of the phrase “liberal elite” is deeply unfortunate, since liberals ought in principle to be wary of the power of elites. But sadly, it applies. Liberals, especially those of an intellectual orientation, have become too respectful of the authority of elite colleges, professional associations, perhaps even of elite publications (like this one). Liberals certainly value expertise. And they worry that mass movements can damage pluralism. Mill and Tocqueville both wrote eloquently on these points. But while elites will always exist, liberals will always fight against them when they become self-serving. (The Economist)
Das gleiche kann man auch über die Sozialdemokraten sagen. Der große Vorteil der Rechten dieser Tage ist, dass sie ein klares Narrativ haben. Sie haben Schuldige, und sie haben ein Ziel. Alles was sie sagen und tun passt da rein. Von sozialdemokratischer oder liberaler Seite kommen da meist nur inkrementelle Reförmchen und policy-Ideen, die zwar allesamt besser sind als der Mist, der von AfD und Konsorten kommt, aber auch nicht sexy. Und ein großer Teil dieses Problems ist der mangelnde Wille zur Auseinandersetzung, der ja auch in Fundstück 1 beklagt wird. Selbst in den USA ist die Polarisierung eine sehr einseitige Veranstaltung; die krasse Aufrüstung wird bisher nur von einer Seite betrieben, in Deutschland sowieso.

Wie die Dinge liegen, hat die AfD nur diese Wahl, es gibt keinen Mittelweg. Extremisten können Gemäßigte aus taktischen Gründen tolerieren, umgekehrt geht das nicht. Ein Gemäßigter, der Extremisten toleriert, ist kein Gemäßigter mehr, er bezahlt dafür mit seiner Glaubwürdigkeit. Entsprechend vergiftet ist das Argument von Rechtsradikalen wie Björn Höcke, die stets betonen, für einen innerparteilichen Pluralismus einzutreten und Andersdenkende nicht verdrängen zu wollen. Das muss Höcke auch nicht, seine Duldung ist sein Sieg. Ebenso erklärt es, warum Gemäßigte wie die Vereinigung „Alternative Mitte“ nur verlieren, je länger sie zahnlos einen Ausschluss von Höcke fordern. Mit ihrem dürren Stimmchen liefern sie gerade den Beweis, warum die „Alternative“ nicht mehrheitlich in der „Mitte“ steht. Aber auch der Weg der Mäßigung birgt ein großes Risiko. Auch an ihm kann die Partei zerbrechen, übrigens aus dem gleichen Grund: Es gibt keinen Mittelweg. Wenn etwa die Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Alice Weidel, den Parteiausschluss des antisemitischen baden-württembergischen Abgeordneten Wolfgang Gedeon fordert, klingt das zunächst nicht nach einem Risiko. Ist es aber. In der AfD-Landtagsfraktion gibt es einen Abgeordneten namens Stefan Räpple, der sagt, er teile Gedeons Ansichten vollkommen. Kann Weidel auf dessen Ausschluss verzichten, ohne ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren? Natürlich nicht. So sind es schon zwei. Dann sagt Gedeon selbst, er habe in der Landtagsfraktion weitere Unterstützer. Was ist mit denen? Die Kreise werden weiter. Und was ist, wenn nach langem Hin und Her dann doch keiner von ihnen ausgeschlossen wird? (FAZ)
Wenn du dich mit dem Teufel einlässt, verändert sich nicht der Teufel, der Teufel verändert dich. Das gilt für die AfD genauso wie für die Republicans. Wer sich nicht klar gegen Extremisten abgrenzt, wird am Ende zusehen wie sie den eigenen Laden übernehmen. Das ist im Übrigen auch einmal mehr einer der Gründe, warum die CDU nicht einfach den rechten Rand (wieder) integrieren kann, wie die CSU gerade schmerzlich erfahren musste. Das Dilemma der Populisten ist real, aber sie werden sich zwingend dafür entscheiden, diese Leute zu tolerieren und zu integrieren, weil sonst ihr ganzer scheiß Laden auseinander fällt. Umso wichtiger ist, sie auszugrenzen zund zu isolieren, damit dieses ganze Dilemma auch mit realen Kosten behaftet ist.

4) Why can't Democrats get angry?
“Everyone is mocking Lindsey Graham for expressing the kind of outrage Democratic Senators should’ve been expressing daily over Merrick Garland,” tweeted writer Isaac Butler after the hearing. He’s not wrong, but it’s worth imagining a similar tweet reading, “Everyone is mocking Brett Kavanaugh for expressing the kind of outrage Christine Blasey Ford should have expressed daily since this debacle began.” What would “should” even mean in this case? She would have been justified, yes, but she absolutely never, ever could have. Crying, screaming, blaming, complaining—Brett Kavanaugh can get away with it. She can’t. This thought experiment isn’t just sophistry; the pressures are the same on the party at large, and for similar reasons. Lindsey Graham can get away with it; Kamala Harris would be pilloried. Even Chuck Schumer would be pilloried. The gender of the legislator is significant, but so is the gender, if you will, of the party. And though we don’t really discuss it, the Democratic Party is a girl. This isn’t just about who’s allowed to scream without consequence; it’s also about who’s expected to be reasonable and who gets to be stubborn, who keeps the peace and who advocates force, who makes compromises and who makes demands, who can and can’t successfully run a human tantrum for president. It’s also about ideology. Democrats’ concerns are those that are cast as feminine: justice, feelings, women’s bodily autonomy, children, the ability to keep a family provided for and alive. Republicans’ concerns are those considered masculine: money, business, repelling those seen as intruders, the wielding of physical and economic brutality. It’s not an accident that people who are deeply invested in the sanctity of masculinity—the right of men to power, violence, and control—tend to vote GOP. It is not an accident that these same people tend to denigrate the other party as womanly. (They think it’s a denigration, anyway.) (Slate)
Passend zu Fundstück 2 kommt hier diese Fragestellung. Auch wenn die Kommentatoren sich vermutlich gleich wieder an den Gender-Ideen reiben werden, ist doch zumindest die Substanz kaum zu leugnen. Die progressiven Kräfte haben ein ernstes Problem damit, Zorn, Erregung und Wut zu performen. Man denke nur an die Dauerkritik gegenüber den müden Versuchen seitens diverser SPD-Politiker von Nahles bis Scholz, das auf Wahlkampfveranstaltungen zu versuchen. In deren Fall ist es zum einen Teil auch eine mangelnde Glaubwürdigkeit, es wirkt alles nur wie Performance. Aber teilweise ist es halt auch so, dass der Zorn schlicht nicht zugestanden wird, weil man schon die Themen selbst als eine Zumutung empfinden will. Umgekehrt ist es immer kein Problem, wenn ein lautes "Mir san mir" im Bierzelt herausgedonnert wird. Mag auch an den unterschiedlichen Milieus liegen.

5) Trump, populists and the rise of far-right globalization
President Trump and the far right preach not the end of globalization, but their own strain of it, not its abandonment but an alternative form. They want robust trade and financial flows, but they draw a hard line against certain kinds of migration. The story is not one of open versus closed, but of the right cherry-picking aspects of globalization while rejecting others. Goods and money will remain free, but people won’t. [...] The pattern of right-wing alter-globalization is repeated in Germany and Austria, where the Alternative for Germany and the Austrian Freedom Party have recently recorded electoral wins. Neither party proposes national self-sufficiency or economic withdrawal. In their programs, the rejection of economic globalization is highly selective. The European Union is condemned, but the language demanding increased trade and competitiveness is entirely mainstream. The Alternative for Germany takes fiscal conservatism to an absurd degree with criminal charges demanded for policymakers who overspend. Both parties call for no inheritance tax and burdensome regulations, even as they make new promises for social spending. Free market capitalism is not rejected but anchored more deeply in conservative family structures and in a group identity defined against an Islamic threat from the East. Several of the Alternative for Germany’s leaders are also members in a society named after Friedrich Hayek, often seen as the arch-thinker of free-market globalism. (New York Times)
Ich bin mir immer nicht ganz sicher, wie viel von dieser "Hyper-Konnektivität", die in dem Artikel angesprochen wird, genuin gefühltes Programm bei den Rechtspopulisten ist und wie viel davon einfach nur routinierte Rückfallposition. Es erinnert mich ein bisschen an Pazifismus und Internationalismus bei den Linkspopulisten: eine nützliche Rückfallposition, die aber im Zweifel sehr schnell anderen, als wichtiger empfundenen Prioritäten untergeordnet wird. Ich glaube, ähnlich verhält es sich mit globalisiert marktwirtschaftlichen Elementen bei Trump, Brexiteers, AfD und Co: Im Zweifel dafür, aber sobald in irgendeiner Art und Weise ein direkter Interessenskonflikt aufpoppt, ist der jeweilige Kulturkampf oder die jeweilige Wahlkampfhilfe wichtiger. Unabhängig davon zeigt die Analyse, weswegen die Begeisterung linker Kapitalismuskritiker für Trump, Brexit, AfD und Co so unglaublich kurzsichtig ist. Der Feind meines Feindes ist halt nicht automatisch mein Freund, und nur weil Nigel Farage und Donald Trump die EU nicht mögen heißt das noch lange nicht, dass sie die Ziele der linken Kritiker teilen würden. Und etwas zerschlagen, ohne eine Idee zu haben was danach kommt (oder einen Pfad, diese umzusetzen) ist noch der Kardinalsfehler aller gescheiterten Revolutionen gewesen, die danach von Extremisten übernommen wurden, ob von rechts oder links.

6) Weit weg von der Transferunion
Selten hat eine Idee eines amtierenden deutschen Finanzministers so viel mediale Empörung ausgelöst wie der in der vergangenen Woche bekannt gewordene Vorschlag von Olaf Scholz zu einer "Europäischen Arbeitslosenrückversicherung". Es bringe nichts, "Europas Probleme mit Deutschlands Geld lösen zu wollen", tönte es sofort aus der FDP. Die Spitze der Unionsfraktion polterte, man dürfe nicht "weitere Risiken vergemeinschaften". Am Freitag stellte Kanzlerin Angela Merkel klar, dass auf dem geplanten Eurozonengipfel im Dezember der Vorschlag "kein Thema" sein werde, weil die Bundesregierung keine einheitliche Position zu dem Thema habe. Diese reflexhafte Abwehr ist bedauerlich. Denn tatsächlich ist die Grundidee einer Art Rückversicherung für nationale Arbeitslosenversicherungen ökonomisch schlicht sinnvoll. Die Ängste, dass die Deutschen über ein solches System am Ende für die Fehler anderer zahlen müssten, sind dagegen weit übertrieben. Fangen wir einmal bei der ökonomischen Logik des Vorschlags an: Länder zahlen in guten Zeiten jedes Jahr aus ihrem Haushalt einen kleinen Beitrag auf ein Konto in einem gemeinsamen Fonds ein. Wenn ein Land in eine tiefe Krise rutscht, in der die Arbeitslosigkeit rapide und plötzlich steigt, bekommt es das von ihm selbst angesparte Geld zurück. Wenn die eigens angesparten Rücklagen nicht reichen, weil die Krise besonders tief ist, kann sich das Land außerdem Mittel aus den Rücklagen der Partner leihen. Diese Mittel müssten zurückgezahlt werden, sobald die Krise abebbt. Allein dieser einfache Mechanismus könnte schon dazu beitragen, dass die Konjunkturzyklen in der Eurozone weniger heftig ausfallen. Da die Länder gezwungen würden, in guten Zeiten in den Fonds einzuzahlen, würden sie im Effekt gezwungen, eine Reserve für schlechte Zeiten zu bilden. (ZEIT)
Die ideologisch begründete, instinktive Ablehnung eigentlich guter policy-Ideen habe ich ja bereits im Zusammenhang mit der Energiewende im letzten Vermischten beklagt. Gerade bei den Reformen der EU hätten CDU und FDP gerade eigentlich die einmalige Chance gehabt, mit einem gleichgesinnten und reformwilligen Staatsoberhaupt in Frankreich endlich eine Reform umzusetzen, statt alles nur auszusitzen - und das gerade entlang ihrer eigenen policy-Präferenzen, die ich ja nun wahrlich nicht teile. Aber stattdessen zog man sich in die eigene ideologische Wagenburg zurück und gefiel sich in der Rolle des moralisch sauberen Prinzipienreiters, eine Rolle, die man ja sonst gerne den Linken anhängt. Mich erinnert diese Weigerung, selbst auf Basis der eigenen Prämissen sich überhaupt intellektuell mit den Ideen zu beschäftigen, an Obamacare. Ein allseits bekanntes Problem wird endlich auf Basis der Ideen der Gegenseite angegangen, aber anstatt konstruktiv mitzuarbeiten, wird ideologisch und wahlkampftaktisch sabotiert und behindert, was das Zeug hält. Das lohnt sich zwar an der Wahlurne, fügt der res publica aber schweren Schaden zu. Dabei könnten die Leute ja gerade mit so etwas wie der Agenda2010 auf eine sehr erfolgreiche konstruktive Mitarbeit zurückblicken, unabhängig davon, was man von der Agenda2010 hält. Die CDU und FDP konnten seinerzeit über die Sperrmajorität im Bundesrat einiges an eigenen policy-Vorstellungen einbringen (und die Schuld für das ganze Projekt bei der SPD belassen), was sie mit einem Beharren auf ideologischer Reinheit nicht erreicht hätten.

7) Einreisesperre offenbar überflüssig
Die von Bundesinnenminister Horst Seehofer Mitte Juni verfügte Wiedereinreisesperre für abgelehnte Asylbewerber an der deutsch-österreichischen Grenze hat bislang kaum Wirkung gezeigt. Wie die Zeitungen der Funke-Mediengruppe unter Berufung auf Sicherheitskreise berichten, hat es bislang erst drei Zurückweisungen solcher Asylbewerber gegeben. Das Ministerium hatte der Zeitung zufolge mit rund 100 Fällen im Monat gerechnet. Tatsächlich seien es bis zum 17. Oktober insgesamt 89 Migranten gewesen. Davon hatten nur drei bereits einen Asylantrag gestellt. Alle übrigen 86 wären auch vor dem Erlass schon abgewiesen worden. Seehofer hatte es im Sommer als "Skandal" bezeichnet, dass Menschen mit Einreisesperre trotzdem einreisen könnten. (Tagesschau)
Das sind halt rechte identity politics: kosten einen Haufen Geld, belästigen zahllose unbescholtene Bürger, machen jede Menge Krach, vergiften den Diskurs und bringen - nichts. Dass solcherlei schädliche Symbolpolitik zwar immer gerne kritisiert wird, wenn sie von links kommt, aber nicht von rechts, liegt vermutlich auch am Sujet: Dadurch, dass die Rechtspopulisten den Scheiß immer bei Kriminalitätsthemen abziehen, will sich niemand die Blöße geben als schuldig dazustehen, wenn am Ende doch irgendwas passiert - während eine Seehofer immer die Schuld für einen Asylbewerber-Selbstmord weit von sich weisen kann, schon alleine, weil dessen Tod praktisch niemand berührt. Ekelhaft.

8) Warum Saudi-Arabien vor der Revolution steht
Saudi-Arabien ist ein Scheinriese. Er wankt heftig. Nicht erst seit heute, sondern grundsätzlich, strukturell. Die Frage ist nicht ob, sondern wann der Scheinriese strauchelt. Der entsetzliche Mord an Regimekritiker Jamal Khashoggi ist gerade wegen seiner Perversität ein Zeichen torschlusspanikartiger Schwäche. Wenn der saudische Scheinriese strauchelt, sind die Auswirkungen global und, wie bei der Iranischen Revolution seit 1979, nicht nur national oder regional. Die Welt, wir nicht zuletzt, sollten uns darauf vorbereiten. [...] Jamal Khashoggi ist die eine Spitze des bürgerlich-saudischen „Eisberges“, der Oberterrorist Osama bin Laden die andere. Auch er stammt aus einer wohlhabenden, ja, geradezu superreichen Familie des sunnitisch-saudischen Bürgertums. So unterschiedlich die von bin Laden und Khashoggi gewählten Mittel – hier Reform und Partizipation, dort Terror und Revolution –, so ähnlich ihr Ziel: politische Teilhabe und Teilnahme. Ergänzt sei in diesem Zusammenhang, dass 19 von 22 der 9/11-Terroristen aus Saudi-Arabiens Bourgeoisie stammten. Ihre und Osamas Herkunfts-Geografie und Biografie dokumentiert Entscheidendes über ihre gegen die heimische Monarchie gerichtete Ideologie. Das saudische Regime meint offenbar, außer Mord keine Mittel mehr zu haben, um sich vor dem bevorstehenden bürgerlichen Umsturz zu „schützen“. Es hätte eine theoretische Chance: Machtteilung mit der sunnitischen Bourgeoisie. [...] Ist es fünf vor oder nach zwölf für Saudi-Arabien? So oder so ist es höchste Zeit, dass Deutschland, Europa und die Welt sich auf Fundamentalveränderungen in Saudi-Arabien vorbereiten. Einstweilen fehlen besonders hierzulande Wille und Fähigkeit zur strategischen Risikoanalyse. (Handelsblatt)
Die im Artikel angesprochenen Parallelen zu 1979 sind in der Tat kaum zu verhehlen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die angesprochenen unterdrückten Gruppen - ob es die "sunnitische Bourgeoisie" ist oder die Schiiten im Osten des Landes - nicht wissen, dass die Waffen und anderen Hilfen, die ihrer Unterdrückung dienen, unter anderem aus Deutschland kommen. Uns mag da durchaus ein Umschwung bevorstehen, wie ihn die USA nach 1979 erlebt haben, mit einer zutiefst feindlich gesonnenen Regionalmacht unter radikal-islamistischer Fahne im Mittleren Osten. Ein unwahrscheinliches Ergebnis eines Falls des saudischen Königshauses wäre das jedenfalls nicht. Auf der anderen Seite ist es natürlich durchaus möglich, dass die Repression der Saudis weiterhin erfolgreich ist und sie sich halten. In dem Fall ist natürlich auch das Beliefern der Diktatur mit Waffen weiterhin eine vernünftige Businessstrategie für Deutschland, wenn man - wie das ja seit Jahrzehnten erfolgreich geschieht - den moralischen Aspekt einfach ausblenden kann. Aber auch die USA dürften in der Rückschau inzwischen nicht mehr so sicher sein, ob die kurzfristigen taktischen Vorteile eines solchen "Freundes" oder Kunden die strategischen Nachteile im Falle seines Sturzes aufwiegen.

9) The big conservative lie on "voter fraud"
It's hard to know if Republicans are lying to the country or themselves with their incessant harping on the supposed epidemic of voter fraud. But they are clearly doing one or the other — because voter fraud is nowhere near a significant problem in this country, and to the extent that it's a problem at all, it's a miniscule one. Continually hyping the supposed voter fraud crisis is thus either a collective act of self-delusion or a cynical and flagrantly anti-democratic ploy to justify making it much harder for certain Americans (who just so happen to incline toward the Democrats) to vote. [...] We shouldn't be surprised by this. Most Republicans are notoriously quite comfortable with the many ways the U.S. Constitution stacks the deck in favor of the GOP — by, for example, giving voters in heavily Republican Wyoming the same representation in the Senate as voters in heavily Democratic California, despite the latter state having 68 times as many people as the former; and by giving individual voters in Wyoming three times the influence in allocating presidential electoral votes as individual voters in California; and by gerrymandering House districts to such an extent that Democrats may have to beat Republicans in total votes cast by 3, 4, 5, 6, or even 7 percentage points in next month's midterm elections in order to win a majority of the seats. But even with all of those structural advantages, Republicans still may not prevail. That’s because the Republican president (who lost the popular vote by a whopping 2.8 million votes) is incredibly unpopular, as is the Republican Congress, as is the Republican policy agenda, including the party's only major legislative accomplishment over the past two years, as well as its just-completed push to appoint a new justice to the Supreme Court. If the United States held a straight-up, majority-rules national referendum on the GOP's performance over the past two years, President Trump, Mitch McConnell, Paul Ryan, and the rest of them would promptly be booted out of power. [...] By continuing to treat voter fraud as a major problem and using it as an excuse to purge voter rolls and erect other obstacles to voting, Republicans demonstrate that they just don't care about (and may even be positively giddy about) the costs — because they will likely be borne by those unlikely to vote for Republicans anyway. Whether Republicans are lying to the country or themselves about the imaginary voter fraud problem, the consequences of combating it are the same: the GOP gets to continue and expand its minority rule of the United States. (The Week)
Dem obigen Artikel ist nur wenig hinzuzufügen. Die Republicans sind eine Minderheit, die Wahlen (auf Bundesebene betrachtet) ausschließlich gewinnt, weil sie sich undemokratischer Mittel bedient. Diese sind teils eine endlos lange Tradition, wie etwa die Bevorzugung leeren Lands gegenüber Gegenden wo tatsächlich Menschen wohnen, und lassen sich auch kaum mehr ändern. Teilweise sind sie aber dazu auch noch Wählerunterdrückung, etwa wo in großem Stil (wie aktuell in Georgia durch den republikanischen Gouverneurskandidaten) Wähler von den Wählerlisten gestrichen werden und sich umständlich neu registrieren müssten, wobei die Stichtage maximal ungünstig gelegt werden, oder wo Regeln für die Identifizierung festgelegt werden, die zum einen an der Willkür der (republikanisch dominierten) Wahllokale hängen und zum anderen von republikanischen Stammwählern ohnehin bereits erfüllt werden, während demokratische Wähler eher Probleme haben. Und dann haben wir noch nicht mal mit Gerrymandering angefangen. Fakt ist, dass die Republicans bei jeder Gelegenheit den demokratischen Prozess auszuhebeln versuchen. Dass sie dann ihre rassistisch aufgeladenen Lügen von voter fraud nutzen, um das Ganze zu legitimieren und die Lage maximal zu vernebeln, passt ins Bild.

10) Gender Studies und die Polemik um die "Polarisierung der Geschlechtscharaktere"
Die gegen­wär­tige Polemik gegen die Gender Studies, die an vielen Orten und Medien längst schon die Schwelle zur Bösar­tig­keit über­schritten hat, erweckt den Eindruck, als würden ein paar scheinbar amüsante Medien-stunts und Hoax-Juxe nur das Offen­sicht­lichste zeigen: Dass die wissen­schaft­liche Frage nach dem Geschlecht mit „rich­tiger“ Wissen­schaft nichts zu tun habe und besten­falls eine Mode­er­schei­nung sei. Die Entge­gen­set­zung von „wirk­li­cher“ Wissen­schaft und angeb­lich bloßem akade­mi­schem Geschwätz ist aller­dings ein alter Hut, der den Geis­tes­wis­sen­schaften immer wieder mal aufge­setzt wurde und wird, und der Vorwurf des Modi­schen lässt sich wohl prak­ti­scher Weise immer dann gebrau­chen, wenn man intel­lek­tuell nicht mehr ganz mitkommt. Wenn es dann noch um die Niede­rungen des Geschlecht­li­chen geht, ist der Spaß garan­tiert. Daher jetzt ernst­haft: Die Gender Studies, oder in meinem Fach die Geschlech­ter­ge­schichte, hat in ihrer langen akade­mi­schen Tradi­tion, die abge­sehen von Vorläu­fern in die 1970er Jahre zurück­reicht, einige Argu­mente entwi­ckelt und empi­ri­sche Belege beigebracht, an die zu erin­nern viel­leicht ganz hilf­reich sein könnte. Sie bewegen sich fern aller Aufge­regt­heiten, sind in keiner Weise „juicy“ – aber ziem­lich stark. Sie stellen wahr­schein­lich sogar die wich­tigste Inno­va­tion zumin­dest in der Geschichts­wis­sen­schaft seit einem halben Jahr­hun­dert dar, weil sie einen grund­sätz­lich neuen Gesichts­punkt, eine grund­sätz­lich neue Kate­gorie des Denkens in die Forschung einge­führt haben. [...] Wie hart­nä­ckig sich die Vorstel­lungen der „Geschlechts­cha­rak­tere“ auch heute noch hält, zeigen nicht zuletzt die Medien-stunts und Hoax-Juxe, die mit ihren Vorwürfen, die Gender Studies seien unwis­sen­schaft­lich und über­haupt ein unzu­läs­siges, weil poli­ti­sches Projekt, letzt­lich selbst noch in dieser Tradi­tion der „Disso­zia­tion“ der Geschlechter stehen: Wie können Frauen es wagen, Wissen­schaft­lich­keit in Anspruch zu nehmen, um über das Geschlecht und das Poli­ti­sche zu spre­chen…!? Allein, dass Geschlech­ter­rollen – man sagt heute: Gender – nichts „Natür­li­ches“ sind, hat schon Karin Hausen als eine der ersten Histo­ri­ke­rinnen über­zeu­gend am histo­ri­schen Mate­rial darge­legt. Das war zwar noch bei weitem nicht das letzte Wort in diesem Forschungs­feld. Aber es wäre gut, wenn all jene, die meinen, die Gender Studies kriti­sieren zu können, sich zumin­dest auf den Stand der Diskus­sion von 1976 bringen. Dann kann man sicher über das eine oder andere treff­lich streiten – aber das tun die Gender Studies auch selbst und schon lange. (Geschichte der Gegenwart)
Ich empfehle diesen längeren Artikel all denen zur Lektüre, die ständig die Behauptung verbreiten, Gender Studies seien reiner Hokus Pokus, keine Wissenschaft und was der ideologisch motivierten Ablehnung nicht noch mehr ist. Ich will an dieser Stelle noch einmal auf Ungarn hinweisen, wo die Regierung das Fach nun durch Dekret abgeschafft hat. Es ist ein direkter Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit, weil die Regierung ideologische Probleme damit hat. Egal, was man von dem Fach hält, sollte man das als liberal gesinnter Mensch für sehr bedenklich halten. Ich zitiere an der Stelle mal den Niemöller: "Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte." Genauso ist es heute: Da schweigen Leute, weil sie die Gender Studies nicht mögen. Aber genau die Leute, die heute unter dem Feixen der Konservativen abgeschafft werden, fehlen dann als Demonstranten, wenn es anderen Fachrichtungen, die den Machthabern nicht genehm sind, an den Kragen geht. Wer Prinzipien hat, muss für die auch dann eintreten, wenn sie seine Gegner betreffen.

11) China's coming financial crisis and the national security connection
China is more economically vulnerable to a confrontation with the United States than it likes to admit. However, that weakness is not driven primarily by a budding trade war with America. China’s export volume growth has begun to slow with all major trading partners, not just the United States. A decade of reckless domestic credit growth is the primary source of China’s vulnerability. [...] The biggest national security issues, however, arise from the unpredictable political impact of a recession in China. We learned this, or should have, during the 1997 to 1998 Asian crisis. China may have had a disguised recession or near recession in 1998, but it was in a much smaller economy. Apart from that one episode there is no collective memory of recession and how to deal with it. As such, China is now psychologically unprepared to deal with the challenges of a recession. China’s coming recession will be accompanied by a large uncontrolled devaluation of the RMB as foreign exchange reserves evaporate, so it will be impossible to conceal this time. All asset prices, including housing prices, will be hit. Combine the shock of an unexpected economic setback with tensions in a one party state where a single individual has been calling the shots, and political instability could set in. While Xi’s anti-corruption campaign has not eliminated corruption, it has created many enemies who are biding their time. [...] Any Chinese military adventurism is likely to be focused on Taiwan. China’s military is currently poorly equipped for an invasion of Taiwan, which has difficult geography and a substantial military, making an invasion of Taiwan unlikely to succeed. However, it is possible the Chinese leadership would miscalculate the risks, leaving it in a limited war with no clear resolution that would quickly draw in Japan and the United States. (War on the rocks)
Ich empfehle grundsätzlich, den interessanten und langen Artikel ganz zu lesen. Ich habe wenig beizusteuern außer der grundsätzlichen Erkenntnis, dass die Öffentlichkeit mehr Fokus auf China und die dortigen Geschehnisse legen sollte. Ich lese seit ungefähr einem halben Jahr deutlich mehr zum Thema, aber es ist vergleichsweise schwer, entsprechende Überblickswerke zu finden. China ist zwangsläufig der große aufsteigende Faktor der nächsten Dekaden, und welche Folgen und Ausprägungen dieser Aufstieg auch immer haben wird (und ich verbinde wenig Gutes damit), wir werden mit Sicherheit davon betroffen sein. Zusammen mit der globalen Erwärmung und der Digitalisierung dürfte der Aufstieg Chinas Teil der Top 3 sein, die in Deutschland gerade in geradezu frivoler Weise zugunsten von Nabelschau-Themen ignoriert werden.

Montag, 22. Oktober 2018

Hitler und VW in der New York Times, Lindner versagt am Armistice Day und zornige Paranoia ist beleidigt - Vermischtes 22.10.2018

Die Serie "Vermischtes" stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Die deutsche Autoindustrie muss sich von der Vergangenheit lösen
Eine ganz normale Auto-Woche im Oktober: Die Staatsanwaltschaft München verhängt ein 800-Millionen-Euro-Bußgeld gegen Audi, an den Opel-Standorten Rüsselsheim und Kaiserslautern rücken die Ermittler wegen des Verdachts auf Abgasbetrug an; es geht um den Rückruf von fast 100 000 Fahrzeugen. Und der VW-Konzern will Autos künftig verstärkt im Internet verkaufen sowie Fahrverbote in Städten und Nachrüstungen verhindern, indem er die Verschrottung alter Dieselfahrzeuge gegen Umtauschprämien von bis zu 10 000 Euro anbietet. [...] Die Manager hatten darauf gebaut, dass ihre Diesel-Strategie eine Ewigkeit halten würde. Statt auf Zukunftstechnologien wie Elektro- und Hybridantriebe setzten sie lieber in großem Stil auf Dieselmotoren. Und ja, wenn es gar nicht anders ging, auch auf Abgastricksereien. So vergingen kostbare Jahre, in denen man an Dieselmotoren herumschraubte, statt sich auf alternative Antriebe zu konzentrieren. Die Strategie ist krachend gescheitert und heute hängen die Unternehmen irgendwo zwischen verpufften Diesel-Träumen und den immer strengeren Grenzwerten der EU für Kohlendioxid-Emissionen (CO₂), zwischen Fahrverboten und einem Modellangebot, das zum großen Teil aus der Vergangenheit stammt. Erst allmählich wird ihnen klar, dass es um die Existenz geht: Der Druck steigt, Konkurrenten aus Asien oder Tesla könnten die deutschen Hersteller irgendwann verdrängen. [...] Für Elektroautos, sagte der langjährige VW-Patriarch Ferdinand Piëch noch im Jahr vor der Dieselaffäre, habe er in seiner "Garage keinen Platz". Ein Auto musste knattern, röhren, qualmen. Sonst war es kein Auto. Da war sehr viel Überheblichkeit im Spiel; die Arroganz der alten Garde, die, weil sie ja seit jeher die Szene beherrschte, keine neuen Spielregeln akzeptieren wollte. Da war wohl auch die Sorge, in der neuen Welt nicht mehr vorn mitspielen zu können. So hat man nicht nur seine Diesel-Kunden an der Nase herumgeführt, sondern auch sich selbst. Man blendete die Zukunft aus und hoffte, mit den Technologien der Vergangenheit schon irgendwie auch in Zukunft überleben zu können. Jetzt, wo der Diesel als Alternative wegbricht und Menschen auf Benziner umsteigen, macht sich Panik in der Branche breit. Ohne Diesel, das wissen die Manager, wird es ihnen noch schwerer fallen, die Kohlendioxid-Grenzwerte und damit die Klimaziele zu erreichen. Außer: Sie bauen radikaler und schneller um als bisher. (SZ)
Die Autoindustrie ist auch so eines dieser unintuitiven Felder, das mit der Krise der Männlichkeit verknüpft ist. Die durch jahrzehntelange Werbung geschaffene starke Assoziation von PS-starken Dreckschleudern mit Männlichkeit führt ja etwa zu so absurden Spektakeln wie einer amerikanischen Subkultur, in denen die Leute den SUVs die Katalysatoren ausbauen und Wettbewerbe abhalten, wessen Auto mehr Qualm ausstößt. Wie so oft schadet das Patriarchat hier mal wieder allen. Grundsätzlich aber ist die Rückwärtsgewandtheit gerade der deutschen Autobranche ein riesiges Problem gerade für die Wirtschaft unseres Landes selbst. Ich habe das schon einmal ausführlich beschrieben: eine Wirtschaft, die sich nur aufgrund staatlicher Regulierung und Subvention am Laufen hält, muss irgendwann crashen. Und wenn ein ganzes Land sich von diesem Wirtschaftszweig abhängig gemacht hat, wird das verheerende Konsequenzen auch für den Rest der Wirtschaft haben.

2) Will Kansas elect another Republican after the last one nearly destroyed the state?
Paul Krugman was tweeting about Kansas this morning, and now that Sam Brownback’s tenure as governor is over and we have pretty complete economic indicators for his entire disastrous governorship, I figured it was time to take a final look. I included California as a comparison since it’s a big fat liberal state that should be failing grievously, and then chose four good economic series. Everything starts in 1998 so you can get a good look at what the trends looked like before 2011, and they’re all shown in comparison to the US average. So how did Kansas do?
  • Median household income: It dropped during Brownback’s first few years but then picked up a bit, ending with approximately zero growth.
  • Coincident economic activity: This is an overall gauge of a state’s economy. It rose for the first three years Brownback was governor, but then withered and ended up 5 percent below the average US level.
  • Gross state product: Fell during Brownback’s entire governorship, ending 7 percent below the US average.
  • Total workforce: Ditto, ending 8 percent below the US average.
During this same time, California grew faster than the US average on every economic indicator. I don’t know how that’s possible given all our taxes and regulations and environmental voodoo, but somehow we did. (Mother Jones)
Yes they will. Identity politics helfen. Der Fall Kansas ist allerdings, wie Kevin Drum das durchaus richtig beschreibt, tatsächlich ein hervorragender Testfall für die ideologisch reine Version der konservativen Wirtschaftsideologie. Bar jeglicher Grundidee, die wirtschaftswissenschaftlich das Ganze einmal unterfütterte und radikal auf den dümmstmöglichen Nenner ausgerichtet richtete Brownback das Land zugrunde. Und trotzdem wählen sie den nächsten Vollhorst mit dem Programm "mehr davon". An den gewaltigen Erfolgen liegt es sicher nicht, das sind kulturelle Gründe. Aber die Nordrhein-Westfalen haben auch nicht jahrzehntelang die SPD gewählt, weil die den Strukturwandel so gut gemanagt hat, von daher...

3) Thread von David Roberts
"Concerned about turnout, Republicans turn to culture-war issues." Objective reporters can say this. "The most reliable way to activate the conservative base is through out-group hatred & discrimination." That straightforwardly follows from the first fact. Can they say that? "The conservative base is composed of people whose primary engagement with public life is via tribal resentments & punitive feelings toward out groups." Hm... still follows from the first, but starting to sound a little opinion-y. "The conservative base is composed of people who can reliably be activated by authoritarian politics." Hm ... getting a little 🔥 "The conservative base is primarily composed of proto-authoritarian bigots." Oops! I guess that's fully opinion now. Note that these are all basically different ways of describing the same state of affairs. But an "objective reporter" can only say it in the savvy, politics-as-a-game way, not in the here-are-the-obvious-implications ways.
Exakt das. Was ich bereits in den letzten Fundstücken anklingen ließ ist das Problem, dass in einer einseitig radikalisierten politischen Landschaft die scheinbare Neutralität der Reporter in Wahrheit einer Parteinahme entspricht, die letztlich nicht der Wahrheitsfindung dient. Roberts beschreibt das Problem hier ziemlich gut: in Fremdworte gepackte, distanzierte und entkernte Aussagen sind ok, die Schlussfolgerungen daraus nicht mehr, weil sie zu vielen Leuten nicht gefallen. So versteckt sich hinter scheinbarer Objektivität nur Feigheit.

4) Wasted lifes on Armistice Day
On November 11, 1918, Armistice Day, the American Expeditionary Forces (AEF) on the Western Front in France suffered more than thirty-five hundred casualties, although it had been known unofficially for two days that the fighting would end that day and known with absolute certainty as of 5 o’clock that morning that it would end at 11 a.m. [...] American forces weren’t alone in launching assaults on the last day. The British high command, still stinging from its retreat at Mons during the first days of the war in August 1914, judged that nothing could be more appropriate than to retake the city on the war’s final day. British Empire losses on November 11 totaled some twenty-four hundred. The French commander of the 80th Régiment d’Infanterie received two simultaneous orders that morning: one to launch an attack at 9 a.m., the other to cease fire at 11. Total French losses on the final day amounted to an estimated 1,170. [...] Indeed, Armistice Day exceeded the ten thousand casualties suffered by all sides on D-Day, with this difference: The men storming the Normandy beaches on June 6, 1944, were risking their lives to win a war. The men who fell on November 11, 1918, lost their lives in a war that the Allies had already won. Had Marshal Foch heeded the appeal of Matthias Erzberger on November 8 to stop hostilities while the talks went on, some sixty-six hundred lives would likely have been saved.In the end, Congress found no one culpable for the deaths that had occurred during the last day, even the last hours of World War I. The issue turned out much as General Sherburne predicted in his testimony. Soon, except among their families, the men who died for nothing when they might have known long life ‘would all be forgotten.’ (History Net)
Der Erste Weltkrieg ist schon ein besonders sinnloser Krieg, aber die Geschichte der letzten Offensiven am letzten Morgen des Krieges setzen dem Ganzen noch die Krone auf. Da werden noch einmal tausende von Leuten verheizt, um sinnlos irgendwelche Scharten auszuwetzen, die Militärs glauben noch zu haben. Leben, ausgelöscht für eine Gloire, an die sich niemand mehr erinnert (und wie der Artikel detailliert erklärt auch damals keinen gekümmert haben). Auf eine gewisse Art ist die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg deswegen auch wichtiger als an den Zweiten. Der wird zurecht dominiert von seiner Verbindung mit dem Holocaust, an den gar nicht oft genug zur Erinnerung gemahnt werden kann. Aber der Kampf gegen Nazi-Deutschland war ein gerechtfertigter Kampf, mit einem klaren Bösewicht auf einer Seite, der es bis heute auch ermöglicht, daraus immer neue Heldennarrative zu schnitzen (für die Alliierten, versteht sich). Der Erste Weltkrieg dagegen ist ein Betriebsunfall der Weltgeschichte, das wohl sinnloseste Morden in großem Maßstab, das es je gegeben hat - und diese letzten Attacken reproduzieren diese Sinnlosigkeit im Kleinen. Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg taugt daher immer auch als Mahnung, Vorsicht bei den heutigen Konflikten walten zu lassen. Eine Wiederholung dieses Konflikts wäre auf eine gewisse Art noch wesentlich schlimmer als die des zweiten.

5) Komm schon, Lindner!
Gescheitert ist das Polit-Abenteuer 2017 hauptsächlich an den Differenzen in der Energiefrage. Die Grünen verlangten einen schnellen Kohleausstieg, um die Klimaschutzziele 2020 zu erreichen. Um acht bis zehn Gigawatt wollte die Partei die Leistung der Kohlekraftwerke drosseln, rund 20 von ihnen schließen. Merkel schlug einen Kompromiss vor, man könne schließlich "Jamaika nicht an ein paar Gigawatt scheitern lassen". Doch die FDP sah das anders. Im Namen einer "realistischen Energiepolitik", wie es später aus der Führungsriege heißen sollte, grätschten die Liberalen dazwischen. Das kann man verstehen. Denn es ging eben nicht nur um ein paar Gigawatt, wie Merkel meinte, sondern symbolisch um die Energiefrage als solche. Und die ist für jede Gesellschaft entscheidend. [...] Die einstige Utopie der ökologischen Modernisierung ist zur gestaltbaren Wirklichkeit geworden. Doch bislang hat noch keine Partei aus dieser Tatsache politisch-strategische Konsequenzen gezogen. Die Liberalen könnten unter Christian Lindner damit beginnen. Sie müssten nur erkennen, dass die von den Grünen initiierte ökologische Modernisierung sich inzwischen von ihrer moralischen und lebensweltlichen Begründung gelöst und zum technischen Selbstläufer entwickelt hat. Als gerade anspringender Arbeitsplatzgenerator, der neue, von Jahr zu Jahr stärker nachgefragte Wirtschaftspotenziale erschließt, passt die ökologische Modernisierung perfekt zum liberalen Mantra von Fortschritt, Freiheit und Innovation. Cool rüberkommen kann man mit ihr auch. Die libertären Posterboys des Silicon Valley, von denen Teslas Elon Musk nur der bekannteste ist, machen längst vor, dass green tech eine formidable Disruption darstellen kann. Die fossilen Energieträger Kohle, Gas und Öl gehören nicht nur der ökologischen Vergangenheit an. Häufig werden sie auch von Staaten wie Russland, Katar oder Aserbaidschan geliefert, die für das Gegenteil liberaler Werte stehen. (ZEIT)
Die hier geäußerte Kritik ist absolut richtig. Die Energiewende mag, wie so viele der Rot-Grünen Reformprojekte, auf der policy-Seite nicht gerade ein Musterbeispiel wohldurchdachter und nachhaltiger policy sein. Aber es war ein Schritt in die richtige Richtung, den nachfolgende Parteien hätten weitergehen und verbessern müssen. Das ist einmal mehr genauz der Kernkompetenz der Konservativen und Liberalen: mit Maß und Markt Verbesserungen und Lösungen anbieten. Stattdessen baute man sich in der ideologischen Wagenburg ein und verschenkte über ein Jahrzehnt, verspielte den unter Rot-Grün teuer hergestellten Weltmarktführungsanspruch Deutschlands in den Erneuerbaren und sitzt spätestens seit 2011 auf dem Scherbenhaufen einer gescheiterten Ideologie, ohne jedes Konzept, aber wild entschlossen, die Energiewende scheiße zu finden. Dabei wäre gerade, wie etwa die Democrats in den USA beweisen, mit marktwirtschaftlichen Ansätzen einiges zu schaffen. Es wäre schön, wenn die FDP einmal mehr als nur altbackene Ideologie und Klientelpolitik zu bieten hätte. Mit dem 2017er Narrativ von der Notwendigkeit des Internetausbaus war zumindest rhetorisch etwas geschaffen; ohne die Flucht aus der Verantwortung vergangenen Herbst wäre hier vielleicht richtig etwas möglich gewesen. Hätte, wäre, könnte.

6) Paranoia and defense planning: why language matters when we talk about nuclear weapons
The U.S. ambassador to NATO has, when one thinks about it, just one job. No matter who holds the job, the U.S. ambassador to NATO has many priorities, as one would expect for a role that involves dealing with dozens of countries and trying to get them to agree on a coherent defense policy. But one would think that not provoking a nuclear war with Russia would be at the very top of the ambassador’s list of priorities. This seems like a no-brainer, but it helps to focus on the simple things. The United States has a special obligation to be the “adult in the room” and to keep the alliance focused on constructive responses to collective threats. [...] The United States has had good and bad ambassadors to NATO, but each managed, one after the other, to navigate disputes such as the Berlin and Euromissiles crises, and to extend the postwar peace through seven decades. Then, in early October, Kay Bailey Hutchison — the U.S. permanent representative to NATO and erstwhile senator from Texas — put that streak in jeopardy for no good reason, threatening to preemptively attack Russia before it deployed a new cruise missile in violation of the Intermediate Range Nuclear Forces Treaty (INF). [...] Perhaps that’s not what she meant, but it is what she said. Hutchison has now issued a clarification, so perhaps someone has reminded her that her job is no longer riling up voters, but engaging in diplomacy. Threatening a nuclear-armed power is not something to be done lightly. (War on the Rocks)
Der lange Artikel hat noch viele weitere interessante Ausführungen zum Thema Politik der Nuklearwaffen und der damit verbundenen Fallstricke. Gerade im Hinblick auf Fundstück 4 muss aber auch noch einmal betont werden, wie ungeheur fahrlässig die US-Politik aktuell mit dem ganzen Thema agiert. Die völligen Amateure und inkompetenten Angeber, die Trump auf so entscheidende Posten hievt, können jeden Tag eine internationale Krise auslösen. Unter diesem Aspekt war Obamas Maxime vom "don't do stupid shit" wahrlich ein Segen, den wir noch vermissen könnten. Die Renaissance der Atomwaffen in letzter Zeit ist ohnehin so etwas, bei dem einen mulmig wird. Nicht, weil die Wahrscheinlichkeit ihres Einsatzes übermäßig hoch ist, sondern weil bereits Bruchteile einer kleinen Wahrscheinlichkeit mehr sind, als wir eigentlich tolerieren sollten. Wenn jemals ein dummer Fehler, eine kleine Fehleinschätzung das Desaster auslöst, haben wir alle ein ernsthaftes Problem, und dann ist das alles nicht mehr fun and games wie gerade.

7) The contagion of rage
Anger has a peculiar power in democracies. Skillfully deployed before the right audience, it cuts straight to the heart of popular politics. It is attention-getting, drowning out the buzz of news cycles. It is inherently personal and thereby hard to refute with arguments of principle; it makes the political personal and the personal political. It feeds on raw emotions with a primal power: fear, pride, hate, humiliation. And it is contagious, investing the like-minded with a sense of holy cause. In recent weeks, it has grown increasingly ubiquitous in American politics. In Montana this past Thursday, President Trump praised Republican Representative Greg Gianforte, who pleaded guilty to assaulting Guardian reporter Ben Jacobs, saying, "Any guy who can do a body slam ... he's my guy." [...] Such is the dynamic of politics in the time of Trump. The politics of outrage is fast becoming a political norm, each flare-up lowering the bar of acceptable rhetoric and producing an upswing in belligerent posturing. But Trump didn't invent this emotion-laden mode of political warfare. He's certainly promoting it to an extreme degree, but it has a long and storied history that predates even that notorious poisoner of the political realm, Newt Gingrich. As tempting as it may be to assume that American politics has been an oasis of civility until the semi-recent past, at moments of intense polarization and strife throughout our nation's checkered history, politicians have appealed to our lowest common denominator, using the power of anger and intimidation to spread their message and get their way. (The Atlantic)
Wie im Fundstück 6 ist auch hier empfehlenswert, die ganze interessante Geschichte von Zorn und Gewalt in der amerikanischen Politik zu lesen. Mir war schon länger bekannt, wie einzelne Südstaatler zur Zeit der Sklaverei auch mit körperlicher Gewalt gegen ihre Gegner vorgingen und diese teilweise lebensgefährlich verletzten und/oder verkrüppelten. Unter den aktuellen Republicans kommt diese Gewalttätigkeit mehr und mehr zurück, und die AfD schickt sich ja auch an, das bei uns wieder stärker zu etablieren. Aber stattdessen fröhnt man im Geiste von Fundstück 3 lieber in nutzlosem Bothsiderism statt sich dem unangenehmen Fakt zu widmen, dass Teile der parlamentarisch vertretenen Politik den demokratischen Prozess mit Gewalt aus den Angeln heben wollen.

8) Trump's powerful theory of politics
President Trump has a coherent theory about American politics that can be summed up in one sentence: Republicans will always come home. Despite the craziness coming from the Oval Office on a daily basis, the president’s decisions and rhetoric have been remarkably consistent, tuned to appeal to his supporters. [...] Although critics like to paint the president as a television-addicted buffoon who acts according to his latest whim, Trump has absorbed the fact that America is a deeply polarized nation. Whereas other presidents, such as Barack Obama, have tried to push back against partisan divisions, Trump relishes them. In some ways, he sees our political world more clearly than the centrists and unifiers who wish it were different. [...] In the end, Trump was right; the pundits were wrong. There was very little movement in the electoral map. Although there was a small number of Democrats who voted for Trump in states like Wisconsin, Pennsylvania, and Michigan, the real key to Trump’s Electoral College victory was that in the final weeks of the campaign—using Hillary Clinton’s email scandal as a perfect foil and capitalizing on Russian social-media hijinks to stir division—Trump whipped up Republican energy behind the ticket. The red states did not turn blue. This was essential, or his approximately 78,000 vote-margin in swing states would not have mattered. Faced with the choice between Trump and Clinton on election day, Republicans came home. (The Atlantic)
Einmal mehr wird hier offenkundig, dass zwei Standards gepflegt werden: einer gegen Progressive und einer gegen Rechte. Ein zentristischer Democrat wie Obama, der permanent um den überparteilichen Ausgleich bemüht war - bis zur Selbstverleugnung und Selbstsabotage - wurde permanent vorgeworfen, ein parteilicher Hetzer zu sein, während das für Trump und die Republicans einfach akzeptiert und teils sogar geleugnet wird. Es ist zum Heulen. Dass das Ganze auch noch politisch erfolgreich zu sein scheint, füttert nur einmal mehr die von mir schon öfter ausgesprochene Befürchtung, dass die demokratische Linke irgendwann genug davon haben wird, immer die andere Wange hinzuhalten, und dass der ganze Kampf dann erst richtig eskaliert, mit unabwägbaren Folgen. In Deutschland ist es noch Zeit, dem Ganzen Einhalt zu gebieten, schon allein, weil hier mit CDU, Grünen und SPD wenigstens drei Parteien noch die Mitte halten. In den USA ist der Zug vermutlich, wie in so manch anderem europäischen Land, bereits abgefahren.

9) Tweet von Tiefseher
Dieser Tweet steht exemplarisch für ein Problem der Wahrnehmung, das eine Elitenblase von rechts ist (so wie aus der Ecke regelmäßig der Vorwurf an die Elitenblase von links kommt, man möge doch bitte weniger moralistisch sein). Ich erinnere an die massive Kritik an Hartz-IV seinerzeit, die Millionen von Menschen bewegt hat. Weder Schröder noch Merkel noch sonstwer haben diese Entscheidungen je bedauert, und sie sind dazu von der journalistischen Oberschicht auch nie aufgefordert worden. Die hatte damit auch nie ein Problem und ergab sich stattdessen in endlosen Leitartikeln darüber, dass der dumme Pöbel die objektive Notwendigkeit der Reformen nicht einsah. Bei einer Maßnahme, die sie selbst nicht unterstützen, wird stattdessen nachdrücklich darauf gepocht, dass dem Mehrheitsprinzip Geltung zu verschaffen sei. Da doch bitte konsequent, alles andere ist heuchlerisch.

10) Zehn Vorschläge zur Rettung der SPD
Die SPD ist unter den Parteien das, was Zeitungen innerhalb der Medien sind. Ziemlich alt, für die Zukunft vielleicht nicht mehr unbedingt erforderlich. Aber alle wären sehr bestürzt, wenn sie wirklich verschwindet. Was die SPD vielleicht retten kann.
1. Redet verständlich! [...]
2. Nichts ist gut, wenn Die Welt nette Kommentare über euch schreibt. [...] 3. Beerdigt die Agenda 2010! [...] 4. Werdet höflicher! [...] 5. Räumt Willy Brandt in die Ecke! [...] 6. Lest Nils Heisterhagen – und folgt ihm nicht! [...] 7. Mehr Machtbewusstsein! [...] 8. Schafft linke Symbole! [...] 9. Legt Euch mit den Eliten an! [...] 10. Raus aus der Großen Koalition! [...] (taz)
Zur Erklärung der Punkte muss man den Artikel lesen ;) Ich möchte in dieser Liste besonders die Punkte 2, 7, 8 und 9 hervorheben. Tatsächlich muss die SPD egal für welche Strategie sie sich am Ende entscheidet Konflikte suchen und sie ausfechten, daran führt kein Weg vorbei. Und ganz egal welche Strategie sie auswählt, wenn das Handelsblatt sie mag ist es die falsche. Um überhaupt ein Profil zu bekommen braucht es zwingend den öffentlichen Konflikt, und zwar am besten mit Eliten, nicht mit Hartz-IV-Empfängern. Dazu gehört auch zwingend eine offensive Koalitionspolitik. Ob die SPD einen neuen Anlauf für das Ampelbündnis nimmt (wie auch immer das bei den aktuellen Programmen und Wahlergebnissen gehen soll) oder sich endgültig auf Rot-Rot-Grün festlegt - hauptsache da passiert mal was.

11) You know who else was always impressing journalists with his newfound wisdom and maturity?
Every few weeks, someone writes an article introducing the world to a new Trump: older, wiser, and at long last, a statesman. Ten seconds later, New Trump milkshake-ducks his way back into disgrace, and everyone goes looking for another scrap of evidence to hang their hopes on. It’s such a pathological cycle that it seems like it might have happened before. It turns out it did! The 1930s were a decade during which Adolf Hitler, it is now generally agreed, did some bad things. Establishing a German dictatorship, murdering his political rivals, passing the Nuremberg Laws, rearming Germany, building a network of concentration camps, overseeing Kristallnacht, invading Poland, and executing disabled people look, in retrospect, like the actions of a bloodthirsty, racist madman. But wouldn’t it be prettier to think that a great nation like Germany would never consent to be led by someone so evil? Barring that, wouldn’t it be nice to believe that vague concepts like “the dignity and responsibility of public office” would have a civilizing influence, forcing even evil men to do good things? American journalists sure thought so! Here’s a brief anthology of press clippings in which the pundits of the day introduced their readers to a new Hitler, a statesmanlike Hitler, a “freewheeling, transactional poll who looks for wins.” [...] Whew! Good thing that Hitler fellow grew in office, or who knows what kind of mischief Germany might have caused. Now to take a big sip of Fanta and find out what happened in the 1940s! (Slate)
Ja, Nazi-Vergleiche sind immer billig und blöd. Aber ich kann nur empfehlen den Artikel zu lesen und sich die Zitate von damals anzuschauen. Der Vergleich hier ist deswegen besonders instruktiv, weil sich trotz 80 Jahre Abstand die Argumentation, teils sogar die Formulierungen, so sehr ähneln. Das heißt nicht, dass Trump der nächste Hitler ist und gleich einen Weltkrieg anfängt (er hat in seinem ganzen bemitleidenswerten geschmacklosen Pathos viel mehr Ähnlichkeit zum Westentaschendiktator Mussolini). Aber das Versagen sowohl vieler konservativer Eliten als auch Journalisten bei einer ähnlichen Herausforderung - ungewohnter Populismus von rechts, der sich teils mit den eigenen policy-Präferenzen deckt und den gemeinsamen Feind attackiert - ist mehr als nur beunruhigend.