Dienstag, 16. Oktober 2018

Vorhersagbare Crashs bei den Sozialisten zerstören das Klima und irren bei Einstellungen von Austeritätspolitikern - Vermischtes 16.10.2018

Die Serie "Vermischtes" stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Two cheers for socialism: why liberals need enemies on the left
For the moment, Americans who subscribe to his version of liberalism have an easy choice — or, put differently, no choice at all: They can vote for the Democrats, who have carried out the kind of rules-based open mixed economy he calls for. Frum’s argument for the Republican Party to move left requires that Democrats also move left. European democracies that have powerful socialist movements have also developed responsible right-of-center parties. Those parties have accepted the legitimacy of the state rather than clinging to simplistic anti-government bromides. They work with business, but they don’t turn over the regulation of air pollution to coal lobbyists. They believe in real budget math. In the United States these positions would place them squarely within the Democratic Party. The Democratic party’s moderation has enabled it to co-opt all the most viable liberal Republican policies. Cap and trade, Romneycare, the Earned Income Tax Credit – every humane and practical idea that liberal Republicans have come up with has found its way into the Democratic program. And the logic of partisan competition has helped push Republicans away from all these ideas, to denounce them as socialist. And so the American equivalents of Emmanuel Macron, Angela Merkel and David Cameron all find their home in the Democratic party. But it is very weird to have a party that brings together Michael Bloomberg and Bernie Sanders. A functional two-party system would have liberal elements in both parties. Liberal arguments with socialism — I have plenty — would be easier to work through in a world where a bloated far right didn’t cram us all into the same party. The Democratic party might eventually go too far left, and the Republican party too far right. But a tug of war between a party favoring too much government, and another too little, might wind up in just the right spot, from the liberal standpoint. (New York Magazine)
Dieser sehr lange Feature-Artikel aus dem aktuellen New York Magazine vom moderaten Standpunkt Jonathan Chaits lohnt die ausführliche Lektüre. Man kann Chait nicht gerade unterstellen, ein Freund der populistischen Linken zu sein. Er ist weder für Medicare for All, noch ein Fan von Bernie Sanders und schreibt ständig gegen die Ideen, die aus diesem Dunstkreis kommen. Seine Sicht auf die positive Korrektivfunktion der radikalen Linken ist daher interessant, ebenso wie Andrew Sullivans Artikel zum Thema warum (echte) Konservative eine gute Korrektivfunktion haben, den ich vor einiger Zeit verlinkte, es hatte. Ich habe wenig zuzufügen.

Now seems like the right time to offer an after-the-fact explanation in great detail and with complete and utter certainty of what just occurred in the markets, and why. Hindsight bias permitting, the factors that led to this sudden and unexpected decrease in share prices are just so obvious. Simple, compelling language describing cause and effect is both comforting and reassuring. The alternative to this soothing narrative is an unimaginable world of random disconcerting events. This stands in stark contrast to how we prefer to see the world around us: orderly, predictable, subject to expert management and prediction. [...] Why did the market suddenly drop 3 percent on Wednesday? It is as obvious as the nose on your face that the Fed’s tightening of monetary policy by raising interest rates to curb financial risk-taking is to blame. But we’ve known about this for a while, haven’t we? As an alternative, maybe you’d like to blame elevated stock valuations, which surely is a valid point in the U.S., except that lagging emerging markets fell just as hard, and they are cheap, very cheap — certainly much less richly valued than U.S. and European markets. No, you’re all wrong: It’s the trade war started by President Donald Trump. Not only is the U.S. dollar too strong, but tariffs are crushing an already weakened China, which hurts all of its emerging-market suppliers. But we’ve known about this too for a while, haven’t we? Wrong again, say the partisan fire-breathers: It’s the Demon-Rats, and the possibility they will take control of the House of Representatives in the midterms, putting at risk all of the Trump pro-growth policies that are solely responsible for the healthy U.S. economy. Again, has anything changed in terms of the electoral outlook? (Bloomberg)
Diese Kritik am "hindsight bias" erinnert mich sofort an 2016. Da ist auch jeder total clever und kennt den einen Grund, an dem es liegt, der natürlich wie es der Zufall will immer mit der eigenen Meinung übereinstimmt. Das mag hilfreich im politischen Positionierungskampf sein, ist aber nicht sonderlich gewinnbringend. Ich versuche selbst, diesen Mechanismus für mich abzuwehren, aber es ist nicht leicht. Beispielsweise bin ich nicht sicher, wie Trumps Nordkorea-Flirts ausgehen werden, aber es wird sehr einfach sein, es immer schon gewusst zu haben, wenn die Sache schlecht ausgeht. Ich verlass mich da auf die Kommentatoren, um mich ehrlich zu halten ;) Ein letzter Aspekt ist der im Artikel angesprochene Faktor, dass solche Aktieneinbrüche ohnehin mit schöner Regelmäßigkeit vorkommen und meist völlig unklar bleibt, woher sie kommen. Wir Menschen haben ein psychologisches Problem mit Zufall und Unsicherheit. Dass etwas zufällig geschehen ist können und wollen wir nicht akzeptieren, weswegen diese ad-post-Erklärungen umso wichtiger werden - und dann ins ideologische Raster eingepflegt, das uns ja in einer komplexen Welt auch Halt gibt.

3) Was ist wichtiger: Treue oder Ehrlichkeit?
Politiker verschleiern illegale Spenden, Autohersteller bestreiten gesetzwidrige Manipulationen, Kleriker vertuschen sexuelle Übergriffe unter dem Dach der Kirche. Für Außenstehende unbegreiflich, doch die Beteiligten wähnen sich oft moralisch im Recht. Wie kann das sein? Das untersuchten zwei Managementforscher in einer Reihe von Experimenten, die sie jetzt im Fachblatt »Journal of Experimental Social Psychology« beschreiben. Ihr Fazit: Wenn es um die Interessen der eigenen Gruppe gehe, verändern sich die moralischen Maßstäbe; Loyalität zählt mehr als Ehrlichkeit. Schützt eine Lüge also unsere eigene Gruppe, so beurteilen wir sie deshalb als »moralischer«, als wenn wir uns ehrlich, aber illoyal verhalten. [...] Die Versuchspersonen veränderten ihre ethischen Standards, schlussfolgern Hildreth und Anderson. »Gruppen aller Art fordern Loyalität von ihren Mitgliedern, und allzu oft lassen diese sich davon zum Lügen oder Betrügen verleiten.« Entsprechend würden viele Politiker ihre Lügen zum Wohl der Partei womöglich wirklich für ethisch vertretbar halten, so das Schlusswort der Autoren. Doch unabhängige Beobachter orientierten sich eher an einer universellen Moral, »sie stimmen mit dieser Einschätzung nicht überein«. (Spektrum)
Wir hatten in den Kommentaren letzthin erst die Auseinandersetzung darüber, mit welcher Motivation Parteien bestimmte Dinge machen, und ich habe dafür argumentiert, die Politiker in ihren erklärten Motiven etwas mehr beim Wort zu nehmen. Die glauben häufig genug tatsächlich daran, dass sie das Richtige tun, auch wenn das für uns außenstehende oder gar ihnen gegenüber kritisch eingestellte Beobachter nicht immer klar ersichtlich ist. Das ändert natürlich im Zweifel wenig - ob Kohl und Schäuble Schmiergelder annahmen, weil sie ernsthaft überzeugt waren, dass es im besten Interesse der CDU war, oder weil sie einfach persönlich korrupt sind, ändert am straffähigen Tatbestand nichts. Die Erkenntnis, dass die Leute glauben, im Interesse der res publica zu handeln (oder der res parteica), hilft aber, diesen überall bestehenden und toxischen Zynismus gegenüber der Politik ("die da oben", "alles Lügner", etc.) etwas zu reduzieren. Kleine Seitenbemerkung: Deswegen kann ich auch Serien wie "House of Cards" nicht leiden, die diesen Dauerzynismus weiter befeuern. Da lieber "The West Wing".

4) Mythos Ostpolitik
Und die Vorstellung eines "Wandels durch Annäherung" ist letztlich eine Illusion. Sie war es im Kalten Krieg, und sie ist es heute. Die Sicht auf diese Erkenntnis wird allerdings durch einen Mythos verstellt, der mit der historischen Wirklichkeit nur bedingt in Einklang zu bringen ist. Die deutsche Ostpolitik entstand im Kalten Krieg. Brandts sozial-liberale Koalition versuchte, der globalen Auseinandersetzung die Schärfe zu nehmen. Bonn war bereit, die Ordnung von Jalta anzuerkennen, um Entspannung zu erzielen. Die Verträge mit Moskau, Warschau und Ost-Berlin schufen das Fundament für halbwegs normale Beziehungen zu den kommunistischen Staaten. Doch sie zementierten zugleich Moskaus Hegemonie östlich der Elbe. Nach anfänglicher Kontroverse bewertete die deutsche Öffentlichkeit die Ostverträge als Zeichen der Vernunft. Mit seiner Ostpolitik verfügte Bonn über ein Instrument, das den Kalten Krieg beherrschbar machte – so schien es zumindest. Doch bereits Ende der 1970er Jahre zeigten sich die Grenzen dieser Politik: Der vielbeschworene Wandel aus dem Schlagwort "Wandel durch Annäherung" fand nicht statt. Im Gegenteil: Im sowjetischen Machtbereich verstärkten sich die Repressionen, die Sowjetunion rüstete weiter auf. Es blieben der kurze Draht Bonns nach Moskau, lukrative Geschäfte sowie die innerdeutsche Entspannung. Sicher war das verdienstvoll. Doch historisch richtig ist auch: Zum Ende des Kalten Krieges hat die Ostpolitik nicht maßgeblich beigetragen. Die Perestroika in Moskau entsprang vielmehr der Erkenntnis der sowjetischen Eliten, dass ihr System nicht mehr konkurrenz- und überlebensfähig war. Diese Tatsache hat die Protagonisten der Ostpolitik nicht daran gehindert, nach 1990 den "Wandel durch Annäherung" als entscheidenden Beitrag zum friedlichen Systemwechsel in sowjetischen Machtbereich zu feiern. (Zeit)
Die obigen Einschätzungen scheinen inzwischen ziemlich Konsens unter Historikern geworden zu sein. Das ist eine neue Entwicklung, die zu meiner Studienzeit schon angefangen hat aber noch nicht so weit fortgeschritten war. Ich habe mich für meine eigene Abschlussarbeit noch stark auf Historiker wie Arnulf Baring oder Gregor Schöllgen gestützt, deren Nähe zur sozialliberalen Koalition sicherlich das ihrige dazu beigetragen hat, das Bild entsprechend zu färben. Zudem war es ein politisch willkommenes Narrativ, das allen Beteiligten ihren Anteil an der Wiedervereinigung erlaubte und die alten Streits (Hallsteindoktrin, Ostpolitik) beerdigte. Dazu kommt, dass diverse Archive und Akten natürlich erst in jüngerer Zeit einsehbar sind, das betrifft vor allem die russischen Archive, die (wenig überraschend) vor 1991 völlig und seither überwiegend für westliche Forscher verschlossen sind. Der Diskurs um die Ostpolitik ist deswegen auch ein schönes Beispiel für die Entwicklung von Historikerdebatten. Das Bild, das sich so ergibt, ist ziemlich schwammig. Die Ostpolitik war sicherlich nicht, wie es die Kritiker damals mit Schaum vor dem Mund verkündeten, ein Ausverkauf deutscher Interessen und der Ostdeutschen. Sie war aber auch offensichtlich nicht der Einstieg in eine neue, friedliche Welt. Sie hat einige positive Effekte gehabt, vor allem für die persönlich Betroffenen (über die "persönlichen Erleichterungen", die etwa Familienbesuche über den Eisernen Vorhang ermöglichten), hat aber die Politik wenig beeinflusst. Um den Rahmen zurück zur Historikerdebatte zu schlagen: Ich glaube, ein Gutteil dieser geänderten Sichtweise liegt daran, dass deutsche Historiker inzwischen - anders als (pars pro toto) Baring und Schöllgen seinerzeit - nicht mehr einen so deutschlandzentrierten Blick haben. Der ist bedauerlicherweise in den Bildungsplänen immer noch sehr lebendig, aber in der Forschung nicht mehr. Wenn man aus deutscher Perspektive schaut, sind sowohl Hallstein-Doktrin als auch Ostpolitik entscheidende Meilensteine und definieren die Beziehungen des Ost-West-Konflikts; weitet man den Blick, muss man feststellen, dass sie sich in einen größeren internationalen Kontext einfügen: Die scharfe erste Phase des Kalten Kriegs, in der eine SPD auch mit absoluter Mehrheit Probleme gehabt hätte, eine Ostpolitik zu fahren, und die Phase der Entspannung ("détènte") nach der Kubakrise, in der eine CDU auch mit absoluter Mehrheit große Mühe gehabt hätte (und hatte!), die Hallsteindoktrin aufrechtzuerhalten. Aber im Geiste von Fundstück 2 mögen wir ja lieber das Narrativ, in dem die Entscheidungen in Berlin klar gezeichnete Konsequenzen haben, die wir überblicken können...

5) A new solution: the climate club
An illustrative calculation will show why. Suppose that, as the US government estimates, the total global cost of CO2 emissions (called the “global social cost of carbon” or SCC) is $40 per ton. This is calculated from models that trace the impact on all countries of higher carbon emissions on the climate, in the rise of sea levels, in agricultural production, health, storms, and many other factors. In other words, the $40 is the sum of the different national social costs per ton of carbon. Perhaps the national numbers might be $4 per ton for the US, $7 per ton for China, and $1 per ton for Japan. The $40 estimate is uncertain, but the exact number does not matter for this discussion. A policy to optimize the global benefits of emissions reductions would require a universal carbon price of $40 per ton. Under this policy, countries might set a carbon tax of $40 per ton on all carbon-emitting activities. This would lead to significant reductions in emissions, perhaps 30 percent on average relative to the emissions that would take place if there were no policy. Contrast the globally optimal policy I have just described with a free-riding policy. Suppose Japan decides to invest in abatement of CO2 emissions to optimize its own national interest. It would reduce emissions only to the point where the cost would be justified by its national benefits; on this basis, the cost would be no more than its social cost of $1 per ton reduced. It might have a carbon tax of $1 per ton. This would produce far smaller investments than would be justified if Japan had global interests in mind, where it would invest up to a cost of $40 per ton reduced. If the same logic based on national interest is followed by all countries, then the average level of abatement would be only a tiny fraction of what would be involved in the global policy. Economic models suggest that the average carbon tax based on national interest would be closer to $4 than $40. In other words, when countries look only to their national interest in setting their climate policies, the level of abatement will be close to zero. And this is approximately where we are today. (NY Books)
Die ganze deprimierende Logik der Handlungsunfähigkeit im angesicht der nahenden Klimakatastrophe ist im obigen Absatz gut zusammengefasst. Vor diesem Hintergrund ist der Aufstieg der Klimawandelleugner auf Seiten der populistischen Rechten (und im Gegensatz zu vielen anderen Phänomen wie Fremdenfeindlichkeit findet sich dieser spezielle Unsinn auch ausschließlich dort) auch besonders erschreckend. In den USA hat dieses Phänomen ja schon längst katastrophale Ausmaße angenommen, wo nur noch eine Seite des Parteienspektrums überhaupt für wissenschaftliche Fakten zugänglich ist und die andere Seite diese einfach rundheraus ableugnet. Wenn man bedenkt, dass Cap+Trade - genau wie Obamacare - früher eine konservative Politik war, die inzwischen der progressiven Seite übernommen wurde und aus rein ideologischer Verblendung mittlerweile abgelehnt wird...es ist zum Heulen. Wie im Fundstück 1 beschrieben ist gerade Cap+Trade eigentlich eines der Musterbeispiele eines fruchtbaren Austauschs zwischen der Linken und Rechten, zwischen Progressivismus und Konservatismus. Die Linken erkennen früher ein Problem, und die Rechten haben eine verträgliche, pragmatische Lösung. Eigentlich tipp topp, aber die Selbstradikalisierung der Konservativen in vielen Ländern Europas und Amerikas verhindert entsprechende Maßnahmen. In Deutschland scheint mir das Problem eher in der Unfähigkeit der Linken zu liegen; die SPD tat sich mit dem Umweltthema immer schwer, und die LINKE sowieso, und die Grünen haben ja oft genug auch Anflüge, in denen solche pragmatischen Kompromisse es dann schwer haben. An der CDU hängt es jedenfalls weniger, die ist nur in der aktuellen Inaktivität schön eingerichtet - denn das ist die Gegenseite dieser Rechts-Links-Dynamik: ohne den Anstoß von links versinkt die Rechte gerne in der Stagnation, wie die Linke ohne das Korrektiv von rechts sich gerne in Phantasien verliert.

6) Resisting the juristocracy
Instead of terrorizing the court into moving through various court-packing schemes, it is a much better and bolder choice for the left to stand up for reforms that will take the last word from it. Jurisdiction-stripping statutes, tools to bar the judiciary from considering cases on certain topics such as abortion or affirmative action, are not clearly unconstitutional even under current legal doctrine. Indeed, the right has used such statutes for years to limit access to courts for immigrants and prisoners. Other changes in customs and precedent could also weaken judicial supremacy. For example, by choice under pressure or compulsion through law, the Supreme Court could evolve into an advisory body, especially when the justices disagree. Such steps would force progressives to take their case to the people to win majorities for their policies, including in places across the country they have given up for lost. The United States still looks to the higher judiciary to act on behalf of the country’s principles and values, even when basic study proves that judges are partisan and that partisanship only increases when they are given the power to decide the highest stakes questions. The mythology of constitutional law dies hard. The notion that empowering judges would serve progressive outcomes is a flickering star that collapsed long ago, and it is long since time to accept the dying of the light. A legal culture less oriented to the judiciary and more to public service in obtaining and using democratic power in legislatures at all levels is the sole path to progress now. In fact, it always has been. (Boston Review)
Ich sage schon seit geraumer Zeit (und nicht erst seit der konservativen Dominanz im Supreme Court) dass die herausgehobene Stellung der Verfassungsgerichte problematisch ist. Das ist auch kein amerikanisches Problem; seit Längerem läuft hier in Deutschland ja auch die Debatte zum Bundesverfassungsgericht als "Ersatzgesetzgeber". Die Funktion der obersten Verfassungsgerichte wird durch Verantwortungsflucht der Politik befeuert: anstatt Probleme im Parlament zu lösen, indem politische Mehrheiten organisiert und Verantwortungen übernommen werden, wartet man auf die verordnete Lösung von oben, und der Wähler liebt es zu allem Überfluss auch noch (die Verfassungsgerichte haben gigantische Zustimmungsraten, wie jedes nicht gewählte Organ; eines der Grundparadoxien der Demokratie). Wir konnten das beispielsweise bei der Griechenland"rettung" beobachten, wo man sich nur allzugern von BVerfG, EU und IWF auf einen Kurs verpflichten ließ, statt selbst einen zu schaffen. Man konnte es bei der Debatte ums Wahlrecht sehen, wo bis zum letztmöglichen Moment die Kompromissfindung verschleppt und durch schlampige Gesetzgebung in letzter Minute gleich wieder das BVerfG bemüht wurde, wie ein Schüler, der pro forma etwas auf die Seite rotzt, damit der Lehrer es als Anlass zum Vormachen an der Tafel nimmt. Und es wäre beinahe bei der Homoehe so gekommen (und war ja schon mehrere Jahre lang von Beobachtern so erwartet worden), hätte nicht Martin Schulz das Thema als Wahlkampfschlager entdeckt und Merkel es mit untrüglichem Instinkt im Parlament neutralisiert. Das Problem ist, dass auf diese Art und Weise die Politik zwar eine Arena für den Streit über die Themen bleibt - mit all der Unbeliebtheit, den dieser Streit beim Wähler verursacht - aber die Lösungen selbst entstehen bei scheinbar neutralen Arbitern, so dass am Ende alle und keiner für das Ergebnis verantwortlich sind und der Eindruck von "denen da oben", die "eh machen was sie wollen", nur umso mehr verhärtet, anstatt dass man vernünftig die fiese Regierungskoalition verantwortlich zeichnen kann. Zugespitzt könnte man sagen: wir brauchen mehr Dosenpfand statt ESM. Über das eine kann man sich wenigstens ordentlich aufregen und Verantwortliche benennen.

7) Preis zahlen
Eine abrupte Einführung der Katalysator-Technik würde unvermeidlich zu hoher Arbeitslosigkeit in der Autobranche führen, argumentieren Manager der Industrie wie Beamte aus Bonn. Das "Gefährdungspotential", heißt es in einem internen Bericht des Innenministeriums, liege allein in der Automobilindustrie bei 30 000 Arbeitsplätzen. Hinzu kämen noch die Stellenverluste bei den Zulieferern. Die Angst vor Absatzverlusten der deutschen Automobilindustrie ist nicht technisch begründet. Für den Export in die USA bauen Mercedes, VW, BMW, Audi und Porsche schon heute Autos, die den künftigen Abgasanforderungen gerecht werden. Am Dienstag voriger Woche konnte Zimmermanns Staatssekretär Carl-Dieter Spranger im EG-Ministerrat den Franzosen in zwanzigstündiger Verhandlung nicht das geringste Zugeständnis abringen. Allein die Manager von Ford und Opel behaupten, den Zeitplan aus technischen Gründen nicht einhalten zu können. Bestünde Bonn auf dem Datum des 1. Januar 1986, dann, so die Warnung, müßten diese beiden Firmen Motoren von den Konzernmüttern im Ausland importieren - zu Lasten der inländischen Produktion. Ford-Chef Daniel Goeudevert zu Zimmermann: "Das kann ich meinen Betriebsräten nicht erklären." (SPIEGEL von 1983)
Dieses vom Twitter-Account "Verrückte Geschichte" ausgegrabene Fundstück ist auch symptomatisch für die Beziehung zwischen Autoherstellern und Staat in Deutschland. Die überproportionale Rolle, die die Industrie im wirtschaftlichen Gefüge hat, erlaubt ihnen durch ausgezeichnete Verbindungen eine unheuere Bremsfunktion zu spielen, die keinerlei Sachzwängen gehorcht. Wir haben das in der letzten Zeit am Dieselskandal und der langen Weigerung, in E-Mobilität zu investieren, gesehen. Wie 1983 standen alternative Technologien durchaus zur Verfügung, waren aber aufgrund der für die Unternehmen günstigen rechtlichen Lage in Deutschland nur im Export notwendig. Das hält die entsprechenden Manager natürlich nicht davon ab, den Knüppel der Bedrohung von Arbeitsplätzen auszupacken, wenn Standards für den deutschen Markt angewandt werden müssen, die für große Teile der restlichen Welt längst Standard sind. Dass selbst heute noch viele Unmwelt- und Klimaschutz als Luxusthema begreifen, das man sich sozusagen "leistet", und nicht als existenzielle Bedrohung und Jahrhundertaufgabe, ist in dem Zusammenhang auch wenig hilfreich.

8) Nicht einmal Facebook versteht Facebook
Soziale Gravitation bedeutet dabei: Die größte Plattform hat die größte Definitionsmacht darüber, wie ganze Bevölkerungen die Welt wahrnehmen - leider ohne sie präzise kontrollieren zu können. Nicht einmal Facebook hat Facebook verstanden. Google hat Facebook und soziale Medien insgesamt offensichtlich auch nicht verstanden. Auch bei YouTube ist zu beobachten, wie eine Plattform die Gesellschaft auf eine schwer einschätzbare und sehr problematische Weise prägen kann, dort vor allem durch toxische Verschwörungstheorien. Solche Social-Media-Monokulturen, die direkte Folge der sozialen Gravitation, skalieren und verstärken die negativen Effekte auf die Gesellschaft. Niemand kann heute verlässlich einschätzen, welche Probleme dadurch auf uns zukommen, es ist wie ein Autorennen im Nebel. Die im Moment bestimmende Generation hat ihre Kinder jahrelang gewarnt, sie sollten nicht alles glauben, was sie im Netz sehen. Und nach dem ersten, intensiven Kontakt mit sozialen Medien macht ein guter Teil von ihnen genau diesen Fehler selbst und stürzt sich kopfüber in die Social-Media-Realität. Ein aus meiner Sicht wichtiger Grund für den autoritären Backlash ist, wie wenig die Gesellschaft auf die Wirkmacht der sozialen Medien vorbereitet war. Auf die ständige Überdosis Weltgeschehen, empörfertig emotionalisiert. [...] Deshalb bleibt die große Hoffnung, dass kommende Generationen das Netz klüger verwenden, oder dass wir Älteren bereit sind, von den Jüngeren zu lernen. Millennials etwa betrachten soziale Medien nicht als Monokultur, sondern nutzen neugierig mehrere verschiedene Plattformen - wodurch die Macht und die Missbrauchbarkeit einzelner Unternehmen fast automatisch geringer wird. Immerhin. Aber bis diese digital etwas aufgeklärtere Lebensweise flächendeckend wirksam wird, vergeht noch viel Zeit. Der Stand heute: Trump gewählt, Brexit ebenso, Autoritäre weltweit auf dem Vormarsch, alles mithilfe sozialer Medien. Die Realität ist social geworden - leider bevor wir einen sinnvollen Umgang mit sozialen Medien entwickeln konnten. (SpiegelOnline)
Ich stimme der These, dass es sich bei vielen der heute beobachteten negativen Effekte von Sozialen Netzwerken effektiv um Kinderkrankheiten einer neuen Technologie handelt grundsätzlich zu. Einiges dürfte verschwinden, sobald die Menschen sich daran gewöhnt haben, dass diese Technologie im Alltag ständig verfügbar ist und neue Mechanismen entwickelt haben, wie damit umzugehen ist (ich habe das ja am Beispiel Smartphone im Unterricht thematisiert). Da darf man sich auf jeden Fall Besserung erwarten. Aber: die neue Realität wird bleiben. Soziale Netzwerke und mobiles Internet werden die Gesellschaft genauso einprägend verändern wie es das Fernsehen und davor das Radio und davor die Zeitung getan haben. In all diesen Fällen änderte sich der Nachrichtenkonsum der Menschen entscheidend, wurden alte Meinungshoheiten untergraben und rückten neue mediale Eliten auf. Politik wandelte sich, während sich die Bedeutung vom geschrieben zum gesprochenen zum performten Wort verschob. Jedes Mal wurde händeringend der Verfall des Niveaus beklagt und das dräuende Ende der Demokratie beschworen. Die Gesellschaft muss sich an die neuen Gegebenheiten gewöhnen - und sie wird das auch.

9) Almost no one is falsely accused of rape
One commonly cited figure holds that 5 percent of rape allegations are found to be false, but that figure paints a very incomplete picture, says Belknap. Typically, this figure comes from studies done on college students, an estimated 95 percent of whom do not report their assaults to police. Overall, an estimated 8 to 10 percent of women are thought to report their rapes to the police, which means that — at the very highest — we can infer that 90 percent of rapes go unreported, says Belknap. Obviously, only those rapes that are reported in the first place can be considered falsely reported, so that 5 percent figure only applies to 10 percent (at most) of rapes that occur. This puts the actual false allegation figure closer to 0.5 percent. Of course, these figures are estimates, and Belknap doesn’t doubt they’re imperfect — we can’t count what isn’t being counted. But her research suggests that, if anything, we underestimate the number of rapes that go unreported. [...] Police might also deem an accusation “false” if there are details they find incriminating on the part of the accuser. Belknap described one story she heard from a rape crisis counselor, who’d spoken with a survivor whose assault was deemed “false” because she’d allowed her eventual rapist to remove her ski boots for her after skiing. “Just because the police say something is an unfounded rape, because they don’t think it happened, that doesn’t mean it didn’t happen,” says Belknap. [...] To put that data into perspective, Newman consulted data on wrongful murder convictions. “It seems to be extremely rare for anyone to be wrongfully convicted as a result of a false accusation of rape,” she says. “I was only able to find 52 cases in 25 years where a conviction was later overturned after a wrongful conviction based on false rape allegations. In the same period, there were 790 cases where people were found to be wrongfully convicted of murder.” For what it’s worth, 790 divided by 52 is 15.2, meaning that by Newman’s data, you were 15 times likelier in that 25-year period to be wrongfully convicted of murder than of rape. And, let’s keep in mind, rape allegations resulting in convictions are already vanishingly rare: Newman cites a study that found that, of 216 assault complaints classified as false, only six led to arrest, and only two led to actual charges. (And even then, they were eventually deemed false.) (The Cut)
Diese Zahlen wären grundsätzlich dazu angetan, etwas Realitätsbezug in eine völlig wirre Debatte zu bringen. In einem atemlosen Artikel nach dem anderen darf man gerade lesen, wie ungeheur gefährlich #Metoo doch ist, weil es Falschbeschuldigungen gegen Männer Tür und Tor öffnet. Und ja, der Hinweis auf diese Gefahren ist durchaus richtig und wichtig. Nur wird keinerlei Verhältnis gewahrt, weil die aktuellen Missstände demgegenüber völlig ins Hintertreffen geraten und teilweise sogar implizit geleugnet werden (wo das dann zu einem ideologischen Kreuzzug gegen Unschuldige wird). Anstatt dass es zu einer Debatte und Aufarbeitung der systemischen Ursachen kommt, dreht sich alles nur noch um die Frage, ob man die Debatte überhaupt führen soll und "darf" - immer die sicherste Methode, sie zu ersticken. Es wäre von daher gut, einmal innezuhalten und Maß zu nehmen. Und dann könnten wir vielleicht auch sachlich über die Frage sprechen, wie weit das verbreitet ist und wie wir einem Generalverdacht für alle Männer aus dem Weg gehen können. Und nun auf in die Kommentare, ich geb schon mal Stichworte vor: feministische Ideologie, Gutmensch, Hypermoralist. Go!

Amazon.com Inc’s (AMZN.O) machine-learning specialists uncovered a big problem: their new recruiting engine did not like women. The team had been building computer programs since 2014 to review job applicants’ resumes with the aim of mechanizing the search for top talent, five people familiar with the effort told Reuters. Automation has been key to Amazon’s e-commerce dominance, be it inside warehouses or driving pricing decisions. The company’s experimental hiring tool used artificial intelligence to give job candidates scores ranging from one to five stars - much like shoppers rate products on Amazon, some of the people said. “Everyone wanted this holy grail,” one of the people said. “They literally wanted it to be an engine where I’m going to give you 100 resumes, it will spit out the top five, and we’ll hire those.” But by 2015, the company realized its new system was not rating candidates for software developer jobs and other technical posts in a gender-neutral way. That is because Amazon’s computer models were trained to vet applicants by observing patterns in resumes submitted to the company over a 10-year period. Most came from men, a reflection of male dominance across the tech industry. In effect, Amazon’s system taught itself that male candidates were preferable. It penalized resumes that included the word “women’s,” as in “women’s chess club captain.” And it downgraded graduates of two all-women’s colleges, according to people familiar with the matter. They did not specify the names of the schools. (Reuters)
Diese Nachricht ist ein weiterer Teil meiner persönlichen Spaß-Reihe "Wenn Informatiker auf Realität treffen". Die Machbarkeitsideologie des Silicon Valley gibt immer wieder Anlass zu Erheiterung, Kopfschütteln oder Zorn, wenn diese Leute meinen, sie könnten Menschen einfach per Algorithmus vermessen und in Systeme zwängen. Stattdessen prallen diese Systeme wieder und wieder auf die Komplexität der Realität. Warum die Informatiker nicht stärker mit den Sozialwissenschaften zusammenarbeiten, bleibt mit schleierhaft. Zum anderen ist diese Episode aber natürlich ein weiteres Beispiel für den tief verwurzelten strukturellen Sexismus in der Gesellschaft, der entgegen anderslautender, lautstarker Proteste gerade auch hier im Blog eben doch existiert und alle Ebenen durchdringt. Die impliziten Annahmen bestimmen die Ergebnisse, und das beharrliche Leugnen der Existenz dieser Annahmen sorgt dafür, dass sie weiterhin bestehen bleiben. Die Geschichte erinnert mich auch ein wenig an den Twitter-Bot, den Microsoft programmiert hat. Es war eine künstliche Intelligenz, die auf Twitter wie ein Mensch kommunizieren und lernen sollte. Innerhalb von 24 Stunden klopfte die KI frauenfeindliche Sprüche und leugnete den Holocaust. Die Naivität der Informatiker, die glaubten sie könnten ihre eigene Ideologie vom ideologiefreien Netz (auch so ein Paradoxon) einfach per Fiat durchsetzen, geriet da auch sehr schnell an ihre Grenzen. Aber wie im Fundstück 8 beschrieben wirkt das Soziale Netz auf alle Menschen, sowohl in die eine wie die andere Richtung.

Though Britain’s budget deficit peaked at £153bn (9.9 per cent of GDP) in 2009-10, the degree of austerity imposed (and the emphasis on spending cuts over tax rises) was always a matter of choice, rather than necessity. For Britain – with its own currency, independent central bank and low borrowing costs – alternatives were available. Rather than stimulating growth, austerity has depressed it. Even the IMF, a former cheerleader for cuts, concluded in 2016 that they did more harm than good. Partly owing to the slowest economic recovery in history, Britain’s national debt has increased from £1trn in 2009-10 to £1.8trn (or from 64.3 per cent of GDP to 84.3 per cent). Future generations will, after all, inherit a debt burden as well as an enfeebled public realm. Far from the age of “big government” being over, voters now long for its return. The 2018 British Social Attitudes survey found that 60 per cent favour higher taxes and spending (the highest level in 15 years), 33 per cent support present levels and a mere 4 per cent wish to further roll back the state (libertarianism is, by some distance, the loneliest ideology in British politics). To meaningfully end austerity, May will have to give the people what they want: tax rises. Her commitment to reduce the national debt as a share of GDP means that borrowing alone will not suffice. To end cuts in all areas, while delivering promised spending increases for health and defence, the government will need to find an additional £20bn by the end of this parliament – without a reliable Commons majority. (The New Statesman)
Wir hatten hier jüngst in den Kommentaren die Debatte, dass die Leute in der Theorie immer gegen Steuern sind, aber nicht in der Praxis. In einem Land wie Großbritannien, das ja nicht eben in Verdacht steht jeden Moment dem Sozialismus anheim zu fallen, fordern die Leute Steuererhöhungen, wenn sie in der Realität eines Landes leben müssen, das kein Hochsteuerstaat ist. Denn bei allem Meckern über hohe Abgaben: die Menschen mögen die Leistungen, die sie mit ihren Steuern und Abgaben bekommen. Deswegen scheitern die FDP und ihre Parteigänger auch immer. Und keine Schuldenbremse der Welt wird etwas daran ändern. Die macht es dann nur umso teurer, die Trümmer der Austeritätsideologie wegzuräumen, wenn der unvermeidliche Zusammenbruch der kaputtgesparten Infrastruktur vom Wähler nicht mehr gouttiert wird. Da mag dann auch keiner mehr Schwarze Nullen, weder im Haushalt noch im Ministerium.

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