Freitag, 31. Dezember 2021

Bücherliste Dezember 2021

 

Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt.

Diesen Monat in Büchern: 1989, Leviathan, Noten, Eiserner Vorhang, Kaiserreich

Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: -

Montag, 27. Dezember 2021

Christian Lindner bekämpft in der Schule die Gruppe Wagner und verteidigt den Ruf linker Politiker*innen in der ungleichen Polizei von DC - Vermischtes 27.12.2021

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Schulden? Mach ich!

In dieser Woche hat Lindner seinen ersten Haushalt als Finanzminister vorgelegt – und tut nun genau das, was er kritisiert hat. Lindner nutzt bestehende Kreditermächtigungen, um einen Vorrat anzulegen. In Höhe von immerhin 60 Milliarden Euro. Nur dass genau das auf einmal seriös sein soll. Meint Lindner. [...] Andererseits hat das Regieren schon bei so manchem Politiker den Blick für die Realitäten geschärft. Auffällig ist jedenfalls, dass führende Liberale neuerdings lieber über Investitionen reden als über Sparprogramme und Lindner sein Ministerium als ein "Ermöglichungsministerium" verstanden wissen will. Das hätte so auch Kevin Kühnert sagen können. Im angelsächsischen Sprachgebrauch gibt es den Ausspruch Only Nixon could go to China. Er bezieht sich auf einen Peking-Besuch des damaligen amerikanischen Präsidenten Richard Nixon in den Siebzigerjahren. Gemeint ist: Nur ein antikommunistischer Hardliner wie Nixon konnte eine solche Reise unternehmen, ohne in den Verdacht zu geraten, dem ideologischen Gegner in die Hände zu spielen. Vielleicht wird man irgendwann einmal sagen, dass nur jemand wie Lindner es mit Blick auf die Schuldenbremse ein wenig lockerer angehen konnte. (Mark Schieritz, ZEIT)

Ich hoffe wirklich, dass Lindner im Finanzministerium ein "Only Nixon can go to China"-Moment wird, in dem ein lange aus politischen Gründen blockierter Pfad plötzlich frei wird, weil sich die bisher in der Opposition befindliche Partei plötzlich in der Pflicht sieht und sich so das vorherige Schreckgespenst, mit dem man die Regierungspartei lähmte, nicht mehr aufrechterhalten lässt. Wo der selbstinzenierte harte Kalte Krieger Nixon der einzige war, der den seit 1949 (!) bestehenden Stillstand in den amerikanisch-chinesischen Beziehungen beenden und die Fiktion von Taiwan als Hauptstadt Chinas ad acta legen konnte; wo "the first black president" Bill Clinton es war, der eine große Sozialstaatsreform durchdrücken konnte (oder Schröder oder Blair); so könnte Lindner derjenige sein, der das Feigenblatt bereitstellt, einen der größten policy-Missgriffe der bundesdeutschen Geschichte zu beseitigen.

Das ist für die FDP natürlich eine gefährliche Lage. So sehr gerade im konservativ-liberalen Lager die SPD für die Agenda2010 gelobt wird, so sehr ist doch allen bewusst, welche Konsequenzen diese für die Partei hatte. Und weder konnte die SPD vom Lob des BDA sich etwas kaufen, noch wird die FDP sonderlich davon profitieren, wenn die Rosa-Luxemburg-Stiftung sie lobt. Aber manchmal ist es eben notwendig, solche Schritte zu gehen. Hoffen wir, dass Lindner den Mut und die Durchsetzungskraft hat, das zu tun.

2) Wie real ist das Schreckgespenst der „Lohn-Preis-Spirale“?

Allerdings scheint es den meisten Apologeten der Lohn-Preis-Spirale ohnehin weniger um die Belange der Beschäftigten zu gehen als um die Kritik an einer – aus ihrer Sicht – seit Langem fehlgeleiteten Geldpolitik der Europäischen Zentralbank. [...] Wie so oft wird hier eine theoretische Möglichkeit in der Zukunft als ein gleichsam unumstößlicher „So wird es kommen“-Tatbestand ausformuliert. Aber Sinn macht am Ende seines Beitrags auch deutlich, um was es ihm und anderen Vertretern dieses einen Lagers in der Volkswirtschaftslehre wirklich geht: Es muss „den Staaten Europas und der EZB jetzt ein eindeutiges Haltesignal für weitere mit der Druckerpresse finanzierte Verschuldungsorgien gesetzt werden“. [...] Erfreulicherweise scheinen allerdings die Zeiten, in denen die Angst vor einer galoppierenden Inflation weitestgehend unwidersprochen in deutschen Medien verbreitet werden durfte, vorbei zu sein. So gab es in den letzten Wochen eine Vielzahl von Berichten, in denen die andere Seite der Debatte hervorgehoben wird. [...] Wie auch immer sich die Inflation in Zukunft also entwickeln wird, klar ist, dass sie auch eine sozialpolitische Komponente hat, die es in den Diskussionen über die Preisentwicklung immer zu berücksichtigen gilt – und zwar unabhängig davon, ob man die gegenwärtige Debatte nun für ein Schlossgespenst hält oder nicht. (Stefan Sell, Makroökonom)

Ich habe bereits in einem eigenen Artikel darüber geschrieben, dass wir einen Paradigmenwechsel haben. Allein das Raunen über Inflationsgefahren hätte vor wenigen Jahren noch dazu gereicht, sämtliche Politiker*innen in ihre Löcher zu schicken. Inzwischen ist es zu einem stumpfen Schwert geworden. Übrigens: Adam Tooze gibt im Chartbook viel Hintergrundanalyse zum Wechsel an der Bundesbankspitze im Speziellen und der Rolle der Bundesbank im Allgemeinen, für die, die das interessiert.

3) Mehr Realität wagen

Für einen Protagonisten der Berliner Politik hat sich Rolf Mützenich auf besondere Weise das Weltbild seiner Jugend bewahrt. Nach einem in der Nachkriegszeit präzedenzlosen russischen Aufmarsch gegen die Ukraine und einer Kaskade von Drohungen aus Moskau forderte er tatsächlich am Montag beide Seiten zur Deeskalation auf. Das ist so absurd, dass wir trotz der ernsten Lage darüber kurz schmunzeln dürfen. Mützenich gibt den pazifistischen Alleinunterhalter. Hinter seiner Forderung steht jedoch eine tiefer liegende Problematik. Die deutsche Außenpolitik operiert immer wieder mit Grundannahmen, mit denen man sicher einstmals in Seminaren der „kritischen Friedensforschung“ reüssieren konnte, die sich aber in der osteuropäischen Wirklichkeit nicht wiederfinden. Dazu gehört die Überzeugung, dass stets beide Seiten ein gleiches Maß an Verantwortung für einen diplomatischen Konflikt tragen. Der Fall, dass ein Aggressor einen anderen Staat aus reiner Machtgier überfällt, ist leider nicht vorgesehen. [...] Tatsächlich schreibt diese deutsche Position die russische militärische Überlegenheit fort – sie bedeutet also, dass Berlin explizit für Moskau Partei ergreift, weil es der Ukraine Verteidigungswaffen verweigert. Das Embargo stärkt die Position des Aggressors und macht – mangels Abschreckung – einen militärischen Konflikt wahrscheinlicher. Doch dieser Realität verweigert sich die Ampel. (Christian Behrends, Salonkolumnisten)

Die außenpolitische Positionierung der SPD ist echt unterirdisch. Wenn man solche Aussagen von Mützenich liest, kann man ja echt froh sein, dass nicht der "profilierte Verteidigungspolitiker", sondern die unbeleckte Christine Lamprecht Verteidigungsministerin wurde. Ich würde schwer vermuten, dass gerade so harsche Positionierungen (und auch die Attacken gegen den Koalitionspartner) mit ein Grund sind, warum Mützenich das Ministeramt, das er so offensichtlich wollte, nicht bekommen hat.

Dabei könnte Deutschland durchaus eine konstruktive Rolle auf der diplomatischen Ebene spielen. Man nehme nur diese amerikanische Perspektive, die sich durch geradezu absurde Naivität bezüglich der zentralen Blockadehaltung Deutschlands auszeichnet. Wäre Deutschland nicht so ein Blockierer, was das angeht, und würde sein außenpolitisches Gewicht verantwortungsvoller nutzen, wäre tatsächlich mehr möglich als jetzt. So aber?

4) Wo wir die Demokratie verlernen? In der Schule!

Dabei wird den Schulen (zu recht!) eine entscheidende Rolle zugesprochen, uns politisch zu bilden. Deshalb ist die erste Forderung nach jedem brennenden Heim für Geflüchtete, jedem Angriff auf gewählte Politiker:innen, jedem unerwartet guten Abschneiden der AfD: Wir brauchen mehr Demokratiebildung in den Schulen! Das sichert zustimmendes Kopfnicken von allen Seiten (außer von rechts). Die Forderung ist natürlich richtig. Das Problem: Kaum etwas in deutschen Schulen ist so verlogen wie unser halbherziger Versuch, den Jugendlichen Demokratie beizubringen. Die gute Nachricht: Es braucht keine großen Reformen oder Unmengen an Geld – die Schulen könnten sofort anfangen, das zu ändern. Als ich die Schule verlassen habe, war mein Wissen um unsere Demokratie in erster Linie: sehr theoretisch. Im Politikunterricht habe ich gelernt, wie unser politisches System funktioniert, wie sich der Bundestag zusammensetzt, wer wen wählen darf, welche Kontrollinstanzen es gibt, wie das Parteiensystem funktioniert, und ich hoffe, du bist jetzt nicht direkt eingeschlafen. Politikunterricht kann ganz schön langweilig sein. Aber Demokratie kann man nicht auswendig lernen. Ich kann alles über das demokratische System wissen und trotzdem davon überzeugt sein, dass meine eigene Stimme nichts verändern kann. Echte Demokratiebildung findet deshalb nicht in einem Fach statt, sondern in allen Fächern, und nicht nur theoretisch, sondern durchs Machen. (Brent Freiwald, Krautreporter)

Vollkommen korrekte Sicht der Dinge. Die SMV und Schulkonferenzen wurden in den 1970er Jahren mit hohen Hoffnungen gestartet ("Mehr Demokratie wagen", wir erinnern uns), aber leider wurde auf diesem Fundament nie weiter aufgebaut. Stattdessen blieb man beim absoluten vom Gesetz festgeschriebenen Minimum und ließ zu, dass diese Institutionen in der Bedeutungslosigkeit verschwanden (was übrigens auf Astas und andere Studierendenvertretungen ebenso zutrifft, die zwar eine Spielwiese von Nachwuchspolitiker*innen und solchen, die sich dafür halten, sind, aber wenig realen Einfluss aufweisen und mit Wahlbeteiligungen im einstelligen Bereich umherdümpeln). Demokratie kann man nur durchs Machen lernen, und da ist leider sehr wenig Spielraum.

5) The Fallen Mercenaries in Russia’s Dark Army

Wagner’s mercenaries have been fighting on the side of the separatists in eastern Ukraine, propping up Bashar al-Assad’s dictatorship in Syria and backing the warlord Gen. Khalifa Haftar in Libya, as well as fighting anti-government rebels in the CAR. They have also been deployed to Sudan, initially in support of since-ousted dictator Omar al-Bashir, and Mozambique, where they mounted a disastrous and swiftly abandoned offensive against Islamist insurgents. [...] Svetlana received the news of her son’s death more than a month after it happened. She was working at the time in Poland. She says she doesn’t have any recollection of what happened next or how she traveled back to Odessa and from there to Rostov to visit the grave. In Rostov she was allowed just 24 hours to pay her respects. “If you want to remain on good terms with us, don’t ask us any questions,” she says she was told. If she kept asking questions, she was told, she wouldn’t ever be able to cross the Russian border again to visit her son’s grave. [...] All of them are men, most lacking more than a meager education; age ranges vary between 18 and 50, but most fighters are ages 25 to 30. They come from unstable home lives in which steady or reliable role models are often absent. They prefer isolation to company and tend not to trust other people. They find it hard to create or maintain friendships or start families. “Another unifying element is a lack of empathy,” Turuta says. “They are unable to control their emotions, and they are cold in communicating. That is the main reason why these people are able to kill.” [...] “If they need to recruit 100 people tomorrow to do something illegal in Europe, these people will fly in dressed in civilian clothes in groups of two to five men. They will assemble, put on uniforms and take up arms. One small group can very quickly destabilize the situation in any country. That is the real danger of Wagner.” (Michael Weiss/Holger Roonemaa/Mattias Carlsson/Liliana Botnariuc/Pierre Vaux, New Line)

Die Gruppe Wagner wird in letzter Zeit immer wieder genannt. Ob in Libyen oder Syrien, in der Ukraine oder Tschetschenien, wo im Auftrag des Kreml völkerrechtswidrig Gewalt angewendet werden soll, sind sie dabei. Die Folgen für die Betroffenen, wie sie in der Reportage eindringlich geschildert werden, sind erschütternd. Besonders aber die letzten hier zitierten Zeilen sind aufällig: der Kreml nutzt die Söldnertruppe als leicht zu leugnendes Element in Konflikten, in denen destabilisiert werden soll. Das sieht man in unmittelbar europäischer Nachbarschaft vor allem in der Ukraine, in der Wagner ein großes Element der "Separatisten" stellt, die gegen die Regierungstruppen kämpfen.

6) DC Police Tried to Fire 24 Current Officers for ‘Criminal Offenses.’ A Powerful Panel Blocked Nearly Every One, Documents Show.

Internal records show that MPD’s Disciplinary Review Division sought to terminate at least 24 officers currently on the force for criminal misconduct from 2009 to 2019. In all but three of those cases, the records show, the Adverse Action Panel blocked the termination and instead issued much lighter punishment – an average of a 29-day suspension without pay. These officers amassed disciplinary records for domestic violence, DUIs, indecent exposure, sexual solicitation, stalking and more. In several instances, they fled the scenes of their crimes. The disciplinary files, obtained by Reveal from The Center for Investigative Reporting and WAMU/DCist, provide a rare glimpse into how police officers avoid accountability and remain on the force, even after the department’s own internal affairs investigators have determined they committed crimes. The records have never before been made public. [...] The department did not seek to terminate the other 40 officers, more than half of whom the Internal Affairs Division believed had been driving either drunk or recklessly. Other criminal conduct the department did not try to fire current officers for included recklessly handling a firearm, harassment, property damage, stalking and theft. [...] Other personnel files show that an internal investigation concluded that Officer Steven Ferris was arrested for simple assault in 2012 after Internal Affairs reported he confessed that he punched his wife so hard that he fractured a bone around her eye socket. Another officer, Jonathan Goodman, allegedly hit two women at a restaurant in 2010; when one of them said she was calling the cops, he pulled out his badge and replied, “Bitch, I am the police,” according to the files. (Dhruv Mehrotra, Jenny Gathright and Martin Austermuhle, Reveal News)

Eines der leider unzähligen Beispiele für die Dysfunktionalität der meisten amerikanischen Polizeien. Die Strukturen schützen systematisch Straftäter und verschaffen den Beamt*innen eine Aura der Immunität, die zu mehr Straftaten führt. So schlecht die Überprüfung und Rechenschaft bei der deutschen Polizei auch ist, sie kommt nicht annähernd an die Zustände in den USA heran, wo die Leute in Blau einen regelrechten Staat im Staat darstellen, der zunehmend mit der republikanischen Partei verbandelt ist (man denke nur an die "Blue Lives Matter"-Bewegung).

7) Sascha Lobo: "Auf den Datenschutz bin ich gerade etwas wütend"

Was meinst Du mit "Dysfunktionalität Deutschlands"?

Wir haben eine komplette Überbürokratisierung und unglaublich lange Zyklen von Erneuerung. Wir haben – nicht nur, aber auch – aus Altersgründen gegenüber bestimmten digitalen Entwicklungen eine gewisse Abwehrhaltung weiter Teile der Bevölkerung. Wir haben eine Dysfunktionalität bezüglich komplett versaubeutelter Langzeit-Bauprojekte, die zwischen Bürokratisierung, mangelnder Digitalisierung und mangelnder Einsicht ganzer Teile der Verwaltung und Administration entsteht. Das sind alles Mechanismen, die ich als ein Fundament der Dysfunktionalität dieses Landes betrachte. Das ist ein Amalgam aus "wir können nicht", "wir wollen nicht" und "wir haben auch keine Lust, das zu ändern". Und diese Dysfunktionalität wird jetzt während der Pandemie extrem deutlich. [...]

Ein solches Vorgehen hätte in Deutschland vermutlich die Datenschützer auf den Plan gerufen.

Das ist eine Verhinderungsbürokratie. Alle Datenschützer springen ständig aus dem Busch und sagen: "Nee, wir haben nichts verhindert im Coronabereich." Das halte ich einfach für Bullshit. Die Drohkulisse, die im Datenschutzkontext aufgebaut worden ist, hat dazu geführt, dass in den Behörden lieber nichts gemacht wurde. Dann einfach das Fax weiterbenutzen, weil das ja datenschutzkonform ist, was übrigens so nicht mehr stimmt. Die Bremer Datenschutzbeauftragte hat in diesem Jahr nämlich festgestellt, dass das Fax heute eben nicht mehr datenschutzkonform ist. Ich wünschte, ich würde mir das alles ausdenken, was aber leider nicht so ist. Aber lass uns nicht über Datenschutz sprechen, da bin ich einfach gerade etwas wütend.

Welche Rolle hat Angela Merkel für das Scheitern der Digitalisierung in Deutschland gespielt?

Angela Merkel hat radikal auf Stabilität gesetzt, obwohl man eigentlich den Wandel hätte provozieren, begleiten und ausgestalten müssen – und zwar nicht nur im Bereich der Digitalisierung. Irgendwann ist der Wandeldruck so groß, dass Stabilität dann nur noch eine Art "Tanz um sich selbst" ist. Und nur wenn man das Digitale nicht wertschätzt und die Funktion des Digitalen nicht auch als mögliche Weiterentwicklung begreift, nur dann lässt sich diese Merkel’sche Definition von Stabilität überhaupt weiter aufrechterhalten. Ich habe nichts gegen Stabilität, aber: Stabilität braucht dringend ein Update. (Luca Caracciolo, Heise)

Ich bin zu 100% bei Lobo. Der deutsche Datenschutz ist vollkommen übersteuert, und mehr noch: Er hat mittlerweile eine mystische Qualität angenommen. Es weiß längst niemand mehr, was eigentlich im Datenschutz überhaupt geregelt ist, aber jede*r hat eine grobe Vorstellung, was einen Datenschutzverstoß darstellen KÖNNTE und benimmt sich entsprechend. Was durch diese Schere im Kopf alles verhindert wird, geht auf keine Kuhhaut. "Können wir nicht machen wegen Datenschutz" ist eine Phrase, die man praktisch wöchentlich hört, ob es stimmt oder nicht. Das ist ein Ausmaß an versemmelter Kommunikation, da kommt allenfalls die Pandemiepolitik mit.

Auch Merkels Rolle in dem Drama der blockierten - von "verschlafen" kann man wirklich nicht mehr reden, da steckt Absicht dahinter - Digitalisierung Deutschlands arbeitet Lobo vollkommen korrekt heraus. 16 Jahre Stillstand betreffen nicht nur diesen Sektor, aber zusammen mit der Klimawandel fällt es hier am stärksten auf. Auch die Überbürokratisierung mancher Vorgänge ruft keinen Widerspruch hervor. Hier liegt DAS Betätigungsfeld der FDP, und ich hoffe wirklich, dass sie es nutzen können.

8) Ökonomen unterschätzen systematisch das Problem der Ungleichheit

Ökonomen des Internationalen Währungsfonds (IWF) beschäftigen sich seit Jahren zunehmend kritisch mit den Auswirkungen von Ungleichheit. So sorgte etwa eine IWF-Studie für Aufsehen, wonach geringere Einkommensungleichheit mit höherem Wirtschaftswachstum im Zusammenhang steht. Umverteilung sei hinsichtlich ihrer Wachstumswirkungen weitgehend unbedenklich, lautete die Schlussfolgerung Deutschland ist global das einzige große Land, das seit vielen Jahren dauerhafte, exzessive Leistungsbilanzüberschüsse aufweist – und das hängt ganz wesentlich mit hoher Ungleichheit zusammen, wie IWF-Forschung zeigt. Steigende Unternehmensgewinne bei hoher Vermögenskonzentration seien für 90 Prozent des Anstiegs der privaten Sparquote und für ein Drittel des Anstiegs des Leistungsbilanzüberschusses verantwortlich. Es ist gut, dass Ungleichheit mittlerweile einen Stammplatz in der Forschung von Makroökonomen hat - aus Sorge um Wachstum, Beschäftigung und wegen Ungleichgewichten und Finanzmarktentwicklungen. Doch die Politik muss daneben auch beachten, dass Ungleichheit weitere Problemdimensionen hat, etwa wegen reduzierter Chancengleichheit und sinkender demokratischer Partizipation von Menschen am unteren Rand der Einkommens- und Vermögensverteilung. (Philipp Heimberger, Handelsblatt)

Das ist eine dieser vielen Debatten, in denen eine Konsensfindung mittlerweile praktisch unmöglich ist. Beide Seiten können jederzeit mit Studien und Expertisen aufwarten, die jeweils das genaue Gegenteil der anderen Seite belegen. Hier sieht man einmal mehr den Paradigmenwechsel, denn noch vor zehn Jahren war das Bild da deutlich einseitiger.

Ich bin, wenig überraschend, eher auf der Seite derjenigen, die dafür argumentieren, dass Ungleichheit sehr wohl ein Problem in Deutschland ist, aber überzeugende Belege kann ich dafür leider nicht offerieren, schon gar nicht für diejenigen, die vom Gegenteil überzeugt sind. Letztlich ist das aber auch irrelevant. Entscheidend sind die politischen Mehrheitsverhältnisse, denn genauso wie bei Virolog*innen werden wissenschaftliche Erkenntnisse zwar gerne zitiert, wenn sie in den eigenen Kram passen, aber Politik macht man dann am Ende doch nach anderen Kriterien.

Maurice Höfgen erklärt übrigens zur Thematik, quasi als Komplementärstück, dass Linke dafür systematisch die Rolle der Vollbeschäftigung unterschätzten. Ich bin mir etwas unsicher, was er damit meint, vielleicht hat ja jemand in den Kommentaren eine Idee.

9) Kooperation mit AfD? Merz droht mit Parteiausschluss

Der designierte CDU-Vorsitzende Friedrich Merz will eine Kooperation seiner Partei mit der AfD verhindern. "Mit mir wird es eine Brandmauer zur AfD geben", sagte Merz dem "Spiegel". "Die Landesverbände, vor allem im Osten, bekommen von uns eine glasklare Ansage: Wenn irgendjemand von uns die Hand hebt, um mit der AfD zusammenzuarbeiten, dann steht am nächsten Tag ein Parteiausschlussverfahren an." Er werde im Verhältnis zur AfD von Anfang an sehr konsequent sein. "Wir sind nicht die XYZ-Partei, die mit jedem kann. Wir sind die CDU." Franz-Josef Strauß habe mal gesagt, dass eine Jacke, die man einmal falsch zuknöpfe, sich oben nicht mehr korrigieren ließe. "Da hatte er recht." (rtr, T-Online)

Ein weiterer "Only Nixon can go to China"-Moment, den wir hier sehen. Es ist ohnehin atemberaubend, wie Merz sich gerade als CDU-Vorsitzender neu erfindet (Stichwort Adoptionsrecht für Homosexuelle). Genauso wie bei Lindner ist das eine positive Überraschung, und ich nehme den gewandelten Merz jederzeit vor dem randständigen Feuerspucker. Auffällig finde ich, dass Merz hier en passant eine wesentlich schärfere Politik rausgibt als Annegret Kramp-Karrenbauer. Die stürzte seinerzeit darüber, dass sie versuchte, die Thüringer CDU von der Zusammenarbeit mit der AfD abzubringen, was als inakzeptabler Eingriff in die Autonomie des Landesverbandes galt. Merz verkündet jetzt einfach so den Parteiausschluss, und keine Wimper zuckt. Nixon went to China, indeed. Und nebenbei: ich verstehe die Jackenmetapher nicht. Ich kann die Jacke doch jederzeit wieder aufknöpfen und richtig zumachen?

10) Biden Won Big With a Bad Hand

Relative to its strength in Congress, the Biden administration has proved outstandingly successful. In 11 months, Biden has done more with 50 Democratic senators than Barack Obama did with 57. He signed a $1.9 trillion COVID-relief bill in March 2021: $1,400-per-person direct payments, $350 billion in aid to state and local governments, an extension of supplemental unemployment-insurance benefits and subsidies under the Affordable Care Act. He signed a $1 trillion infrastructure bill in November. He signed some 75 executive orders, many of them advancing liberal immigration goals. He’s also won confirmation for some 40 federal judges, more than any first-year president since Ronald Reagan, and twice as many as Donald Trump confirmed in his first year with a 54-vote Senate majority. Indeed, from a progressive point of view, it’s a miracle that he did not bump into those constraints even sooner than he did. Had Trump accepted defeat in November with any kind of grace or decency, Republicans would surely have held at least one of the two Georgia Senate seats, and President Biden would have had to negotiate his agenda past Senate Majority Leader Mitch McConnell. It’s bad psychology and worse political science to use electoral outcomes to make grand pronouncements about public opinion. But if we should be very careful in our statements about what voters wanted, we can easily see what the electoral system delivered. That system delivered a decisive repudiation of the Trump presidency in the presidential election in November, then a repudiation of the Trump post-presidency in Georgia in January. Beyond that, however, the system did not deliver the opportunity for progressive change that it delivered in 2008, let alone in 1964 or 1932. (David Frum, The Atlantic)

Mir geht diese doom&gloom-Berichterstattung aus demokratischen Kreisen auch reichlich auf den Zeiger. Die Partei hat immens viel erreicht, genauso wie 2009 auch schon. (Wer weitere Quellen in diese Richtung will: Kevin Drum stößt in dasselbe Horn, ebenso Matthew Winkler von Bloomberg.) Damals haben sie auch alles zerredet. Die Republicans würden in der gleichen Lage auf den Dächern tanzen. Niemand kann so gut Wahlkampf gegen die Democrats machen wie die Democrats.

Jonathan Chait hat das Phänomen der Unzufriedenheit mit den eigenen Präsidenten schon 2011 beschrieben. Leider hat sich daran seither wenig verbessert. Dieser Drang, alles ganz furchtbar zu finden, ist etwas sehr linkenspezifisches. Ich habe das (witzigerweise ebenfalls 2011) auch schon analysiert, in einem Artikel, der mir, zusammen mit meiner Liebeserklärung an Amerika, die bleibende Feindschaft der damaligen Spiegelfechter-Community eingebracht hat. Denn wenn Linke etwas lieben, neben dem Schlechtreden der eigenen Erfolge, dann das Exkommunzieren vermeintlicher Ketzer*innen. Aber ich schweife ab.

11) The myth of the greatest generation

Even so, the project strikes a blow against the sanitized version of World War II promoted by media figures like news anchor Tom Brokaw, who popularized the term "greatest generation." In a provocative recent book, historian Elizabeth D. Samet argues that nostalgia for a glorious national effort in defense of worldwide freedom and democracy has distorted American politics for at least half a century. In pursuit of the cohesion and purpose that we think we enjoyed between 1941 and 1945, we translate every problem, foreign or domestic, into the idiom of the Second World War. That's led to mixed and sometimes disastrous results in both real and metaphorical conflicts, including this century's War on Terror. The problem isn't just that specific historical analogies don't work (not every foreign policy dispute is another Munich, not every strongman ruler is another Hitler). It's that the mythology of collective redemption through violent struggle sets expectations that can never be realized, encouraging a cycle of idealistic overreach followed by disappointed pessimism. [...] Partly inspired by genuine historical interest, immersion in the "good war" of the past could also be a compensation for uncertainty and upheaval younger Americans wrongly believed was specific to the second half of the 20th century. That's why the 1990s saw an explosion of World War II-themed popular culture, much of it produced by and for men in late middle age. (Samuel Goldman, The Week)

Diese Obsession mit der "Greatest Generation" ist ein amerikanisches Ding, und sie wird hier im Artikel ziemlich gut auseinandergenommen. Ich würde an der Stelle noch darauf hinweisen, dass alle am Krieg beteiligten Staaten ähnliche Narrative pflegen. In Großbritannien ist es weniger eine Generationenfrage als eine gesamtgesellschaftliche Verklärung: man hat gemeinsam alles durchgestanden, Klassenunterschiede überwunden und mit plucky Britishness den Blitz überstanden. Nichts davon ist wahr, und als politisches Narrativ richtete es mindestens schon so viel Schaden an wie die "Greatest Generation". In Russland wird die Identität der anderen Sowjetrepubliken vollkommen ausradiert (obwohl die Mehrzahl der sowjetischen Kriegstoten nicht russisch war) und jede Individualität gegenüber einem kollektiven Heldengedenken ausradiert, dem man sich nicht in den Weg stellen darf. In Frankreich waren alle im Widerstand, in Deutschland wussten alle von nichts. Und so weiter und so fort.

Mittwoch, 22. Dezember 2021

Der Papierkram-Putsch

 

Zu Beginn des Jahres schrieb ich in einem Artikel, dass wir den Putschversuch der Republicans beobachten konnten. Seither sind fast 12 Monate vergangen. Mittlerweile sind mehrere dutzend Verfahren gegen die Aufständischen des 6. Januar am Laufen, und ein Untersuchungsausschuss des Kongresses versucht, die Geschehnisse zu rekonstruieren. Die Reaktion zahlreicher Beobachtender darauf ließ mich an einen Monolog aus "A Song of Ice and Fire" denken:

"It's treason, I warned them, Robert has two sons, and Renly has an older brother, how can he possibly have any claim to that ugly iron chair? Tut-tut, says my son, don't you want your sweetling to be queen? [...] A lion is not a lap cat, I told him, and he gives me a 'tut-tut-Mother.' There is entirely too much tut-tutting in this realm, if you ask me. All these kings would do a deal better if they would put down their swords and listen to their mothers." (A Storm of Swords, Sansa I)

Tut-Tut, heißt es allenthalben, was soll denn das Gerede von Autoritarismus, von Versuchen der Zerstörung der Demokratie, von Putsch? Nur, mit tut-tut kann man sich selbst zwar sehr erhaben und weise fühlen, aber das Verdrängen und Sich-Erheben über ein Problem hat es noch nie gelöst. Und was unter der Oberfläche gerade passiert, ist mehr als beunruhigend.

Am 6. Januar stürmte eine Horde aufgehetzter MAGA-Anhänger das Kapitol, um die Zertifizierung des Wahlergebnisses zu verhindern und so doch noch Donald Trump an der Macht zu halten. Als taktisches Manöver war der Sturm auf das Kapitol in etwa so erfolgversprechend wie der Sturm auf den Reichstag durch einige radikale Querdenker*innen im Sommer 2020. Aber das ist nicht der relevante Aspekt. Denn man stelle sich vor, die Reichstagsstürmer vom Sommer 2020 wären von Politiker*innen der CDU und AfD aufgehetzt und geradezu eingeladen worden. Man stelle sich vor, PRO7 und RTL hätten dazu aufgerufen, die Vorbereitungen wohlwollend begleitet und in der Live-Berichterstattung gelogen. Man stelle sich vor, dass anschließend 40% der Bevölkerung der Überzeugung gewesen wären, das sei eine gute Idee und dass es sich um Helden handle. Das ist die Situation in den USA.

Der abgewählte Präsident Donald Trump versuchte mit illegalen Mitteln, sich an der Macht zu halten. Was ihn abhielt war seine eigene Inkompetenz und die Integrität ausreichender Teile republikanischer Offizieller. Doch bereits im (symbolischen) Impeachment gegen Trump im Januar verweigerte diem überwiegende Mehrheit der republikanischen Abgeordneten sich dem Votum gegen den Mann, der offen die Verfassung brach und den Putsch wünschte. Das ließ nichts Gutes für die Zukunft erhoffen.

Seither findet, weitgehend unter dem Radar der Öffentlichkeit, ein wesentlich planvolleres Vorgehen als der trypisch Trump'sche Aufstand vom 6. Januar statt. Weit entfernt von der im Januar verbreiteten Hoffnung, Trump und seine Unterstützer*innen in der Partei seien erledigt und es finde nun eine Normalisierung der Republicans statt beobachten wir stattdessen eine große Säuberung in der Partei. Sämtliche Kandidat*innen wie der floridianische Gouverneur deSantis, die sich gerade für die Vorwahlen 2023/24 in Stellung bringen, sind komplett auf die trumpistische Linie eingeschwenkt, auch wenn sie nicht alle notwendigerweise Befürworter*innen des ehemaligen Präsidenten sind.

Was ist die trumpistische Linie? Genau wie 2016 behauptet er, die Wahl gewonnen zu haben. Nur was 2016 noch scheinbar irrelevante Eitelkeit war - die entscheidende Mehrheit des electoral college hatte er ja, was tat es dazu, ob er das popular vote auch gewonnen hatte? - ist jetzt "The Big Lie", wie sie mittlerweile genannt wird: die Vorstellung, 2020 habe ein Wahlbetrug von präzedenzlosem Ausmaß stattgefunden, dass Trump in Wahrheit gesiegt habe. Wer sich dieser "Big Lie" verschließt, wird abgeschossen. Das betrifft gerade solche Leute wie Gabriel Sterling, der in seiner viral gegangenen "it has to stop"-Rede maßgeblich dazu beitrug, den Blick auf die Manöver der damals noch Interimsregierung Trumps zu lenken.

2020/21 verweigerten sich an den entscheidenden Schaltstellen republikanische Offizielle, die Lüge mitzutragen. Seither arbeitet die Partei hart daran, diese Leute durch Loyalisten zu ersetzen. Kein einziger Kandidat der Republicans für das Amt des Gouverneurs von Wyoming etwa war bereit, das Wahlergebnis von 2020 anzuerkennen. Gleiches gilt für praktisch jede andere Wahl seither, inklusive der (für die Democrats) desaströsen Gouverneurswahl von Virginia. Trump, being Trump, fordert die Loyalitätsbeweise auch öffentlich ein. So hat etwa George Perdue, einer der aussichtsreichsten Kandidaten für das Gouverneursamt in Georgia (wo die Republicans bereits 2018 nur mit Wahlunterdrückung an der Macht bleiben konnten), mehrmals öffentlich erklärt, dass er, anders als der amtierende Kemp, die Wahl 2020 nicht zertifiziert hätte. Zahlreiche andere Gouverneure und Kandidat*innen haben gleichlautende Erklärungen gemacht.

Doch diese Säuberung innerhalb der Partei beschränkt sich gerade nicht nur auf die Kandidat*innen für die Top-Jobs, sondern auch die Ebenen darunter. Mit einem Machtinstinkt, von dem die Democrats nicht einmal träumen können, versucht die GOP, entscheidende Stellen im Zertifizierungsprozess unter Kontrolle zu bekommen und die örtlichen Wahlgesetze zu ändern. Wo immer sie kann werden weitere Hürden für das Wählen errichtet und Gesetze verabschiedet, die eine Zertifizierung unter Kontrolle der GOP bringen.

Das Ziel dieser Operationen ist eindeutig: Eine sauberere, erfolgversprechendere Variante des Putschversuches, den Trump 2020/21 dilettantisch gestartet hat. Anstatt ihre Absichten in alle Öffentlichkeit hinauszuposaunen und Widerstand zu provozieren, anstatt sich auf Idioten wie Rudy Giuliani und die MAGA-Meute vom 6. Januar zu verlassen, bauen die republikanischen Strippenzieher auf Heerscharen professioneller und wohlbezahler Politikberater*innen und Anwält*innen. Der zweite Putschversuch ist kein bescheuerter Sturm auf das Kapitol, sondern ein Papierkram-Putsch: nominell im Rahmen bestehender Gesetze, demokratische Verfahren nutzend, um die Demokratie auszuhebeln. Man kennt dieses Vorgehen von anderen Zerstörern der Demokratie.

Auch andere Felder, auf denen Trump mit seinem trampfelhaften Vorgehen wenig Erfolge erzielen konnte - etwa die Einbindung des Militärs in sein Möchtegern-Autokraten-Regime - schreiten munter voran, so weit, dass es Warnungen vor der Beteiligung von Militärs an einem künfigen Putsch seitens anderer Militärs gibt. Und wer ernsthafte Zweifel daran hat, dass der Supreme Court eine sauberere Attacke auf das Wahlergebnis als Trump sie 2020/21 zustandebrachte (erneut: wer kann auch glauben, dass Giuliani das hinkriegt...) abschmettern und nicht mit wehenden Fahnen annehmen und so mit höchstrichterlichem Segen die Zerstörung der Demokratie begleiten würde, hat die letzten Jahre unter einem Stein verbracht.

Es scheint nicht so, als ob hinreichend klar wäre, was hier vor sich geht. Die Democrats schaffen es nicht, ihre "moderaten" Ausleger davon zu überzeugen, dass Gesetze zum Schutz der Demokratie verabschiedet werden müssen. Auch die Medien weigern sich mit Ausnahme der im progressiven Lager stehenden Organe, deren Marktanteil, höflich ausgedrückt, überschaubar ist (etwa Washington Monthly oder MSNBC), zu benennen, was vor ihren Augen passiert. Zwar gibt es einen sehr geringen Anlass zur Hoffnung, dass die Republicans mit der Big Lie und ihrer Corona-Hetze den Bogen überspannt haben. Aber ich bin sehr skeptisch. Mein Vertrauen in die Fähigkeit der Leitmedien, verantwortungsvoll zu handeln, ist eher gering.

Man sollte sich auch vor der Versuchung hüten zu glauben, das alles sei unwahrscheinlich. Trump hat bei der Frage einer hypothetischen Präsidentschaftskandidatur 2024 die mit Abstand höchsten Zustimmungswerte. Das ist alles noch weit weg, aber es besteht eine sehr realistische Aussicht, dass die Republicans 2022 das Repräsentatenhaus und den Senat zurückgewinnen und dann Trump 2024 Präsident wird. Ich schreibe bewusst nicht: die Wahl gewinnen, die Aussichten dafür sind gering. Aber die GOP trägt gerade Sorge dafür, dass das auch nicht notwendig sein wird.

Auf die Wählendenschaft kann man jedenfalls nicht bauen. Über 60% der GOP-Wählenden sind felsenfest überzeugt, dass die Big Lie der Wahrheit entspricht und Trump die Wahl 2020 gewonnen hat. 60%! Die rechtsradikale Medienblase um OAN und FOX verbreitet diese Botschaft ebenfalls nonstop. Wenn die eine Hälfte des Landes von ihren exklusiv konsumierten Medien die Botschaft erhalten wird, dass ihr Kandidat die Wahl gewonnen hat; wenn das oberste Gericht des Landes seinen Segen dazu gibt; wenn republikanisch regierte Bundesstaaten sich weigern, das Ergebnis zu zertifizieren; wenn dieselben Bundesstaaten die Nationalgarde mobilisieren, um den Wahlprozess durchzuführen (was bereits gefordert wird) - dann wird der Papierkram-Putsch plötzlich Ernst. Aber bis dahin war er natürlich, anders als der idiotische Sturm aufs Kapitol, etwas, worüber man leicht tut-tut sagen konnte. Es war ja alles so kompliziert und sah so normal aus.

Ich gebe das Schlusswort an Jon Snow, um den Bogen zum "Lied von Eis und Feuer" zu schließen, und hoffe, dass man mir den popkulturellen Ausflug verzeihen möge:

Montag, 20. Dezember 2021

Totgesagte leben länger

 

Nun also im dritten Anlauf. Friedrich Merz ist CDU-Vorsitzender. Hat die Union nun endlich das Licht gesehen und die einzige Person gewählt, die sie noch vom Schicksal der SPD bewahren kann? Oder hat sie einfach nur das Ende der Fahnenstange erreicht und jeder Widerstand ist so weit zermürbt, dass Merz als einziger übrig blieb? Diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Genauso schwer ist es, eine vernünftige Prognose darüber abzugeben, ob Merz nun der Heilsbringer der CDU wird, ob er die Partei vollends in die Bedeutungslosigkeit führt oder ob sich insgesamt wenig ändern wird. Ich möchte die Gelegenheit seiner Wahl nutzen, um einige dieser Fragen zu diskutieren - eine Beantwortung wird wohl noch Jahre brauchen.

Merz ist die Durchsetzung gegen gleich zwei Konkurrenten gelungen: Norbert Röttgen, der sich als Modernisierer inszenierte und mit Themen wie Außenpolitik und Klimawandel zu punkten versuchte (wobei ich mir bei seinen beiden Kandidaturen immer im Unklaren bin, ob das nicht eher ausführliche Bewerbungsportfolios für ein Ministeramt waren) und Helge Braun, Kanzleramtsminister unter Angela Merkel, dessen Kandidatur gegen Merz derart unplausibel und dessen Rolle als Merkels rechte Hand ihn so singulär ungeeignet für die Kandidatur machen, dass man sich fragen muss, was in seinem Kopf vorging. Kurz: kein CDU-Schwergewicht wagte sich gegen Merz heran. Seine 60% im ersten Wahlgang sind folgerichtig; die Mehrheit der Partei steht, ob aus Überzeugung oder Verzweiflung, hinter ihm.

Damit ist ein parteiinterner Machtkampf vorläufig entschieden. Nachdem sowohl Merkels bevorzugte Nachfolgerin Kramp-Karrenbauer als auch der "Merkelismus mit rheinischem Antlitz" gescheitert sind, darf es nun doch Merz mit seiner Anti-Establishment-Plattform versuchen. Er übernimmt, um eine ausgelutschte Journalist*innenphrase zu verwenden, den Vorsitz über eine zerrissene Partei. Denn der tiefe Graben, der sich durch die Spitzenwahlkämpfe 2018 und 2020 zog, ist vielleicht verdeckt, aber nicht geschlossen. Genauso, wie bei der SPD der Sieg eines Peer Steinbrück oder Franz-Walter Steinmeier die parteiinternen Richtungskämpfen nur kurz unterdrückte schwelt der Konflikt zwischen "Merkelianern" und der "Restauratoren" (in Ermangelung besserer Worte) fort. Wo die Merkelianer den Kurs der Öffnung der Partei weit ins sozialdemokratische und liberale Milieu hinein als alternativlos sehen, betrachten die Restauratoren gerade diese Öffnung ob der Verwischung des "konservativen Profils" der Partei als die Ursünde. Mit einer endgültigen Entscheidung dieses Streits ist genauso wenig zu rechnen wie bei der Auflösung des Konflikts zwischen den Teilen der SPD, die die Agenda2010 für die Ursünde und denjenigen, die sie für ein notwendiges Übel hielten.

Soviel zu den Hintergründen der Wahl. Damit kommen wir zu Auswirkungen.

Das Kalkül der Merz-Befürworter*innen ist, dass dieser enttäuschte Wählendengruppen wieder zurück in die Arme der Union bringt. Woher würden diese kommen? Sicherlich nicht von SPD und Grünen. Für diese ist, wie ich weiter unten noch aufzeigen werde, Merz eine hervorragende Feindfigur. Es ist vorstellbar, eine Angela Merkel zu wählen, wenn man sonst das Herz auf der linken Brustseite schlagen hat, nicht aber einen Merz. Wäre es anders, wäre das ganze Rational für seine Wahl beim Teufel. Die LINKE scheidet ohnehin aus. Bleiben AfD und FDP.

In den vergangenen Jahren kaprizierte sich die Debatte stets auf die AfD. Deren Wählende galten zumindest zu einem guten Teil als "Fleisch vom Fleisch" der CDU, eine Argumentation, wie sie aus den Wählendenwanderungen sowohl von der SPD zu den Grünen in den 1980er Jahren als auch zur LINKEn in den 2000er Jahren bekannt vorkommt. Allein, je weiter man sich von der hysterischen Stimmung des 2017er Wahlkampfs entfernte, desto deutlicher wurde, dass die AfD und ihre Wählendenschaft wesentlich weniger bürgerlich ist, als man sich das gerne vorgestellt hat. Sicher, man kann dort einige Wählenden abzuwerben versuchen. Aber wir reden von zwei Prozent, vielleicht drei. Von was wir sicherlich nicht reden ist, die AfD unter die 5%-Hürde zu drücken. Auch wenn es noch fast niemand offen sagt, hat die Republik weitgehend ihren Frieden damit gemacht, dass zehn Prozent der Wählenden die Demokratie ablehnen und verachten und nun eine Repräsentation im Parlament haben.

Das Ziel der Übernahmeversuche kann daher nur die FDP sein, und das macht auch absolut Sinn. Die Wählendenschaft der beiden bürgerlichen Parteien war schon immer ein System kommunzierender Röhren, mit einem fluiden Anteil, der frei zwischen beiden hin- und herwechseln konnte, gerne aus taktischen Überlegungen (wie etwa 2009, als die FDP als Gegengewicht zur CDU ihr bestes Ergebnis aller Zeiten einfuhr). Dadurch, dass die FDP jetzt in einer Ampel-Koalition ist und dadurch zwangsläufig nach links rutscht (wie viel, bleibt abzuwarten, aber auch mit Kosmetik lässt sich Wahlkampf machen), ist sie ein hervorragendes Ziel für eine gleichzeitig nach rechts rutschende (dito) CDU. Weder Merz noch der Rest der Union macht aus dieser Strategie ein Geheimnis; man wirbt offen und aggressiv um FDP-Wählende und attackiert vor allem die Liberalen, wo im Wahlkampf noch die Grünen der Gegner Nummer 1 gewesen waren.

So weit, so offensichtlich. Die Basis der CDU liebt Merz; man hofft, dass seine Strahlwirkung weit in die FDP reichen und vielleicht auch die Außenschicht der AfD penetrieren möge. Auf diese Art hätte man ein Wählendenpotenzial von rund 30%, fast gleichauf mit der SPD (die zwar in der Theorie auf fast 50% kommt, aber dieses Potenzial kaum realisieren können wird - das wäre aber ein eigener Artikel). Merz ist zudem ein polarisierender Politiker, der von der Basis geliebt und von den Funktionär*innen...nicht geliebt wird. Aber, wie Frank Lübberding zu Recht festgestellt hat:


Allein, dasselbe trifft auch Kevin Kühnert zu. Die Jusos mussten auch einen Vorsitzenden wählenden, der sie überzeugt; die SPD braucht einen Generalsekretär und stellvertretenden Parteivorsitzenden, der die SPD-Mitglieder überzeugt. Dass die Basis einer Partei überzeugt ist, schützt selbige Partei aber nicht vor einem Backlash. Warum diese völlig offensichtliche Dynamik zwar jederzeit breit bei linken Kandidat*innen diskutiert wird, aber scheinbar für CDU-Vorsitzende nicht zu gelten hat, erschließt sich mir sehr viel weniger. Dass die CDU-Basis Friedrich Merz mag, war noch nie die Frage. Die Frage war, ob er Wahlen gewinnen kann.

Warum sollte er das nicht können? Weil "Parteibasis" auch nur ein Synonym für Stammwählende ist. Diese Leute wählen die Partei eh schon. Nur, mit den Stimmen der Basis allein hat noch keiner die Wahl gewonnen. Es braucht die Stimmen mindestens einer von zwei Gruppen: erstens diejenigen, die sich umstimmen lassen, und zweitens diejenigen, die sich mobilisieren lassen. Die SPD gewann diese Wahl vor allem in Gruppe 1. Die AfD dagegen gewann etwa 2017 vor allem in Gruppe 2. Wahre Tausendsassas des Wahlkampfs schaffen es, beide Gruppen an die Wahlurne zu bewegen (man denke Konrad Adenauer 1957, Willy Brandt 1972, Obama 2008, etc.). Ich bin etwas skeptisch, dass Merz in diese illustre Reihe gehört.

Und wie das Beispiel mit Kevin Kühnert klargemacht haben sollte, hat jede*r Politiker*in auch eine Reaktion auf die Gegenseite. Merkel war vor allem erfolgreich, weil sie diese Gegenreaktion bis zum Nullpunkt neutralisiert hat - Stichwort "asymmetrische Demobilisierung". Niemand war unglücklich mit Merkel (bis 2015 zumindest), sie war so erträglich, dass man sich nicht zu schlecht fühlen musste, wenn man als Soze der Wahl dieses Mal fernblieb und den Sonntag lieber vor dem Fernseher verbrachte. Unter einem Merz ist das wenig vorstellbar. Die große Gefahr für eine Merz-CDU ist daher, dass die Gewinne, die man durch sein schärferes konservatives Profil einfährt, auf der anderen Seite durch Gewinne bei SPD, Grünen und LINKEn relativiert werden, die gegen den Gottseibeiuns mobilisieren können. Und es ist nicht so, als wäre es allzu schwierig, Merz im Wahlkampf als herzlosen, abgehobenen konservativen Knochen hinzustellen. Der Mann liefert genug Vorlagen dafür.

Allein, wenn 2021 etwas gezeigt hat, dann, dass die genauen Prozentzahlen irrelevant sind. Scholz' Wahlkampf war bei praktisch gleichen Prozenten wie Peer Steinbrücks krachender Niederlage 2013 ein triumphaler Sieg. Die Grünen erreichten das beste Ergebnis ihrer Geschichte und erlitten gleichzeitig eine ihrer größten Niederlagen. Es ist alles eine Frage der Perspektive und, vor allem, der Machtoptionen. Denn die Geschichte der Wahlen seit 2005 zeigt zum Beispiel, dass man zwar gerne die Anteile von SPD, Grünen und LINKEn zusammenrechnen kann, dies aber auf die realen Koalitionsoptionen wenig Einfluss hat. Das Ziel Merz' ist nicht, 45% der Stimmen zu gewinnen.

Stattdessen hat die CDU genau zwei Ziele, die sie 2025 erfüllen muss. Sie muss die stärkste Partei werden, um das Kanzleramt beanspruchen zu können, und sie muss die Ampelkoalition unter 51% halten. Verfehlt sie eines dieser beiden Ziele, scheitert sie. Das mag jetzt erst einmal wenig spannend wirken, aber in diesem Dualismus verbirgt sich ein gewaltiger Sprengstoff. Merkel nämlich musste bei all ihren Wahlen nur das erste Ziel erfüllen: stärkste Partei sein. Gegen Merkel waren keine Koalitionen möglich. Sie wählte ihre Koalitionspartner nach Lage am Wahltag und war dabei die Konstante.

Wenn aber die Ampel 2025 gemeinsam für eine Wiederwahl antritt - und aktuell gibt es wenig Grund, daran zu zweifeln - hat die CDU keinen Koalitionspartner. Der steht nur dann zur Verfügung, wenn es für die Ampel nicht reicht. Die CDU kann 40% haben, solange die Ampel zusammen auf 51% kommt, kann Scholz sich trotzdem erneut zum Kanzler wählen lassen. Das ist nichts Neues: die CDU kennt diese Dynamik von den Wahlen 1969, 1976, 1980 und 2002. In all diesen Fällen war sie stärker als die SPD, aber was half es ihr? Ohne Koalitionspartner waren das nur so viele Hinterbänkler*innen zusätzlich.

Die CDU muss also der FDP Stimmen nehmen - weil diese das beste Ziel sowohl für eigene Stärke als auch die Schwächung der Ampel ist - aber gleichzeitig eine Machtoption offenhalten, die nach Lage der Dinge nur Schwarz-Rot oder Jamaika sein kann. Ist sie aber zu erfolgreich gegen die FDP - sagen wir, weil sie sie unter die 5%-Hürde drückt, um ein bewusst krasses Beispiel zu nehmen - schafft sie unter Umständen genau jene gefürchtete Linkskoalition, vor der sie gebetsmühlenartig warnt, weil kaum vorstellbar ist, dass aus dem Kanzleramt heraus eine Juniorpartnerschaft unter Merz einer Kanzlerschaft mit der LINKEn vorgezogen wird (wobei man nie die politische Dummheit der LINKEn unterschätzen sollte). Merz steht ein schwieriger Eiertanz bevor.

Das alles ist soweit eine Analyse der Lage und der grundlegenden Dynamiken. Vier Jahre sind eine lange Zeit, in der sich vieles ändern kann. Wir haben im Wahlkampf 2021 gesehen, dass in der Politik auch zwei Monate eine Ewigkeit sein können. Für nichts gibt es eine Garantie. Merz könnte die CDU zurück an die 40% führen, bei der nächsten Wahl mit 15% als drittstärkste Partei hinter SPD und Grünen liegen oder einfach das Ergebnis von 2021 reproduzieren. Nichts ist in Stein gemeißelt. Letztlich fliegen alle blind.

Ich wage daher nur eine äußerst rudimentäre Prognose. Merz wird die CDU in den Umfragen wieder an die 30% heranführen. Was auch immer man über ihn sagen mag, er ist nicht Armin Laschet, und das Ergebnis von 2021 beinhaltete so viele Anti-CDU-Proteststimmen, die ich für nicht permanent halte, dass ein gewisses Zurückspringen fast unausweichlich scheint. Die Ampel wird irgendwelche Krisen und Skandale haben.

Wesentlich schwerer einzuschätzen ist die Stabilität der Koalition. Wenn Lindner irgendwann erklärt, dass er das "Projekt" 2025 beendet sieht, werden alle Karten neu gemischt. Wie bereits in den Koalitionsverhandlungen hat er das stärkste Blatt, und er weiß es. Im Gegensatz zu den Vorsitzenden einer großen Klimaschutzpartei, die ich nennen könnte, ist Lindner ein gewiefter Vorsitzender und Stratege. Ich gehe davon aus, er wird sich die Optionen offenhalten und sehen, was bis 2025 passiert.

So oder so, Politik wird in Deutschland spannend bleiben. Ich bin gespannt, wann wir den ersten Artikel lesen werden, der nostalgisch von der Langeweile und öden, berechenbar-biederen Merkelzeit schwärmt. Meine Wette ist: noch 2022.

Dienstag, 14. Dezember 2021

Julian Reichelt stellt Donald Trump als Dienstboten an und verspricht mit Baerbock einen Weltkrieg in Westasien zu verhindern - Vermischtes 14.12.2021

 

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Herr Reichelt, können Sie ohne "Bild" leben? "'Bild' war Julian Reichelt" (Interview mit Julian Reichelt)

ZEIT: "Vögeln, feuern, fördern" stand da – mit diesen Worten soll ein Springer-Mitarbeiter Ihren Umgang mit Kolleginnen beschrieben haben.

Reichelt: Abgesehen davon, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass ein Kollege das gesagt haben soll, weil es vollkommener Unsinn ist, wissen wir alle, dass ein anonymes Zitat nie in die Überschrift gehört. Es verstößt gegen alle journalistischen Standards. Dieser Artikel über mich ist ja dann auch gerichtlich verboten worden. Von der ersten Zeile, sprich der Überschrift, bis zur allerletzten. Ich habe den Eindruck, es ging gar nicht wirklich um mich als Mensch, sondern um die Vernichtung und Auslöschung politischer Gegner. Daran waren sehr viele Medien beteiligt. Die Tagesthemen haben sich für meinen öffentlich-rechtlich-kritischen Kurs gerächt und einen Aufmacher und auch noch einen Kommentar gefüllt mit Vorwürfen gegen mich, die so diffus erhoben wurden, dass man nicht mal genau erfuhr, was mir eigentlich vorgeworfen wird. Die Tagesthemen, die nur sehr ungern mit islamistischen Terroristen in Deutschland aufmachen, machen auf einmal mit mir auf, ohne überhaupt konkrete Vorwürfe zu nennen. Da wird ein neues Gesellschaftsbild mit erschaffen, das einer politischen Agenda dient. [...]

ZEIT: Man kann als Journalist durchaus auch die Existenz Israels anerkennen, ohne sich dazu vertraglich verpflichtet zu haben. Diese Klausel gibt es bei keiner anderen deutschen Zeitung.

Reichelt: Die Personalabteilung von Springer warb für "Respekt" und "Diversity" mit Plakaten, auf denen Menschen mit eindeutig islamistischer Kleidung und Gesinnung abgebildet sind. Das ist alles einem schrecklichen Zeitgeist geschuldet, der leider auch bei Springer Einzug gehalten hat. Da gab es auch intern Menschen, die mich weghaben wollten, weil sie harten Boulevard nicht mögen, sondern eine Gesellschaft der totalen Achtsamkeit wollen. [...]

ZEIT: Es hieß immer, Mathias Döpfner und Sie würden sich nahestehen – auch politisch.

Reichelt: Mathias hat ja oft öffentlich gesagt, dass er Bild als Bollwerk gegen manchen Zeitgeist empfindet. Und das stimmt. Deshalb empfinde ich es fast als tragisch, wie sich das nun dreht, weil ich ihn als großen freiheitlichen Geist kennengelernt und sogar verehrt habe. Und weil ich das Gefühl habe, dass ein solcher freiheitlicher Geist in unserer Gesellschaft derzeit massiv zurückgedrängt wird. [...]

ZEIT: Der Springer-Verlag gehört nun zum großen Teil Amerikanern. Bei Chefs mit Affären im Unternehmen kennen sie keine Gnade. Wenn sich nun die Unternehmenskultur ändert, muss dann auch Bild sich ändern?

Reichelt: Das wäre Irrsinn. Und deswegen halte ich es für eine Fehlentscheidung, mich abzuschießen. Das war Appeasement gegenüber Gruppen, die seit Jahren ganz intensiv meinen Kopf wollten. Das wird jetzt aber nicht aufhören. Die Angriffe gegen Bild, Springer und Mathias werden sich noch verschärfen. Es ist jetzt Blut im Wasser. [...]

ZEIT: Würden Sie eine zweite Agentur wie Storymachine gründen, nach dem Vorbild Ihres ebenfalls geschassten Bild-Vorgängers Kai Diekmann?

Reichelt: Nein, ich möchte keine PR machen, sondern Journalismus für die Massen. Ich liebe es, Millionen Menschen eine starke Stimme zu geben. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Woke-Wahnsinnigen, die wir gerade erleben, läuft ziemlich genau entlang der infamen Frage: War Winston Churchill ein Held oder ein Verbrecher? Für mich ist die Antwort klar: Held. Und in diesem Geiste sage ich: Never surrender! (Cathrin Gilbert, ZEIT)

Das ganze Interview mit Reichelt ist sehr lang und ausführlich und beschäftigt sich auch noch mit seiner Kündigung und der sexuellen Belästigung seiner Untergebenen sowie der Unternehmenskultur bei Springer. Die Highlights: Er hat nichts falsch gemacht, Frauen finden ihn einfach natürlich attraktiv, er ist das Opfer einer Schmierkampagne der diesen Mainstreampresse, die Unternehmenskultur bei Springer hat er "demokratisiert", die BILD würde niemals die Privatsphäre von anderen Leuten verletzen, niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten. The usual.

Die Zitate, die ich hier rausgesucht habe, möchte ich vor allem deswegen hervorheben, weil sie eine unglaublich gefährliche Radikalisierung aufzeigen, die weit über die Person Julian Reichelt hinausgeht. Der Mann spricht die Sprache eines Bürgerkriegs. Er teilt die Welt in Freund und Feind: hier diejenigen, die loyal zu ihm und seinen Ansichten stehen, und dort die anderen, der "woke Mob" und diejenigen, die zu feige sind, sich ihm entgegenzustellen. Es ist die Sprache von jemand, der den demokratischen Diskurs bereits verlassen hat, auch wenn er sich in genau dessen Erscheinungsbild zu gewanden versucht. Man täte gut daran, das zu sehen und Reichelt nicht für einen Exponenten der "bürgerlichen Mitte" zu halten. Das ist weder bürgerlich noch Mitte. Das ist Rand.

2) Angela Merkel’s most important legacy: her civility

Merkel bequeaths Germany a complex legacy – she was a capable crisis manager but a poor strategist, a canny tactician but also a source of complacency and stasis. That is all up for debate by commentators and historians over the coming years. Yet what seems certain is that she has left the way in which most of her country’s politics is conducted in a state that some other parts of the democratic world, including the UK and US, have reason to envy; a state that it is to be hoped her successors can preserve. Civility does not impede effectiveness, and arguably can improve it. Nor is it a superfluous nicety. Quite the contrary: it is in many ways the very foundation of a successful democracy, where rival perspectives and visions can stake their claim to power, and those who wield it can do so with legitimacy and maturity. Civility should not be taken for granted. To remain polite, civil and decent, as Merkel did over 16 years as the leader of one of the world’s biggest economies in the heat of successive crises, is more than a footnote. It is something fundamental: a laudable commitment to the ethos that sustains democracy and with it free and prosperous societies. (Jeremy Cliffe, The New Statesman)

Wir werden an Merkel-Nachrufen und Merkel-Analysen sicher in der nächsten Zeit noch mehr sehen, aber ich glaube, eine Sache die völlig unbestritten stehen kann, unabhängig davon wie man politisch zu ihr steht, ist die Anerkennung, dass sie die wohl charakterlich integerste Kanzlerin war (an der Stelle gibt es leider keine Option, das vernünftig zu gendern; Männer sind natürlich mitgemeint). Ich stehe einem Willy Brandt politisch wesentlich näher als Merkel, aber sein Verhalten gegenüber seiner Familie, seine permanente Fremdgeherei - so was macht eine Merkel nicht. Von ihr wäre auch keine cholerische Herabkanzelei und ständige Herabsetzung der Untergebenen wie von einem mir ebenfalls näherstehenden Helmut Schmidt bekannt, von den Bestechungsskandalen eines Kohl einmal abgesehen.

Was man sich damit kaufen kann, steht natürlich auf einem anderen Blatt. Merkel hat viel für die Gesundheit des demokratischen Diskurses getan, indem sie die "civility" hochgehalten hat; ihr Politikstil hat auf der anderen Seite auch viel Schaden am demokratischen Diskurs angerichtet, weil die asymmetrische Demobilisierung und ihr "alternativlos" nicht eben dazu angetan waren, fruchtbare Debatten zu befördern. Ich denke aber, es ist absolut fair eines stehen zu lassen: sie war kein schlechter Mensch.

3) "Die Mittelschicht braucht Dienstboten" (Interview mit Oliver Nachtwey)

ZEIT ONLINE: An wen denken Sie, wenn Sie von Dienstboten sprechen?

Nachtwey: Die Mittelklasse kann ihr Mittelklassedasein in der Form nur praktizieren, weil sie von einer Reihe von Dienstboten abgesichert wird: Man hat eine Nanny, eine Zugehfrau, Hemden und Hosen gibt man zum Bügeln ab, das Essen wird bis an die Haustür geliefert.

ZEIT ONLINE: Sollte die Mittelklasse ein schlechtes Gewissen haben, weil sie andere ausbeutet, um ihren eigenen Wohlstand zu halten?

Nachtwey: Wenn man Tariflöhne zahlt und einen fairen Umgang pflegt – nicht unbedingt. Diese Form der Mittelklassenexistenz ist auch ein Resultat der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Die Emanzipation aus der Hausfrauenehe macht es für Familien und vor allem für Frauen unmöglich, Care-Tätigkeiten und gleichzeitig Erwerbsarbeit nachzukommen. Der Druck ist jetzt schon enorm. Wenn die Mittelklasse aufhören würde, Tätigkeiten zu delegieren, wäre sie nicht mehr konkurrenzfähig. Man kann sich aber fragen: Will ich so leben? Oder noch besser: Sollten wir alle so leben? Individuelle Auswege sind kaum möglich, nur kollektiv würde das gehen. Etwa durch eine radikale Verkürzung der Arbeitszeit – dann bräuchte es auch diese Form der Arbeitsteilung nicht mehr. 

ZEIT ONLINE: In Ihrem Buch wird sehr deutlich, dass es hierzulande eine Klassengesellschaft gibt – nur redet niemand darüber. Warum nicht?

Nachtwey: In Deutschland leugnen viele Menschen die Existenz einer Klassengesellschaft, gerade in der Mittelklasse. Einfach aus dem Grund, weil man sich gerne von den damit verbundenen Schuldgefühlen oder der Selbstkritik fernhalten möchte. Deshalb versuchen die Leute, legitime Gründe für ihren Wohlstand zu finden oder man schweigt einfach darüber. Wir schweigen ja über unser Einkommen. Das führt dazu, dass Politiker, die Privatjets haben und immer wieder CDU-Vorsitzender werden möchten, sich als Teil der Mittelklasse bezeichnen, obwohl sie zur Oberklasse gehören. Es ist keine Gesellschaftsleugnung, sondern eine Klassengesellschaftsleugnung, die da stattfindet. (Jana Gioia Burmann, ZEIT)

Insgesamt ist das ein sehr spannendes Interview, das zur Gänze empfohlen sei. Ich habe an dieser Stelle einige Anmerkungen.

Nachtwey spricht davon, dass in Deutschland die Klassenfrage generell völlig verleugnet wird, im Gegensatz zu anderen Ländern. Der Mythos der "nivellierten Mittelschichtsgesellschaft" hält sich, obgleich mannigfaltig widerlegt, hartnäckig in Deutschland, gehört geradezu in den größeren Komplex der Gründungsmythen rund ums Wirtschaftswunder. Aber das zu leugnen heißt nicht, dass es das nicht gäbe. Und dass in Deutschland die soziale Mobilität katastrophal niedrig ist, wissen wir seit mittlerweile zwei Jahrzehnten, ohne dass viel dagegen getan würde.

Die Bedeutung der Gleichberechtigung, die Nachtwey hervorhebt, habe ich auch schon öfter beschrieben. Die Frauenvollzeiterwerbstätigkeit hat die deutsche Gesellschaft nachhaltig verändert, und die Konsequenzen wurden auf vielen Feldern immer noch nicht gezogen. Hier ist besonders viel Reformpotenzial von der Ampel zu erwarten, weil sowohl Grünen als auch FDP das ideologische Festhalten der CDU am klassischen Familienmodell fehlt.

Eine kritische Anmerkung: Nachtweys Beschreibung von der Abhängigkeit von Dienstboten kann ich an mir selbst und den mir bekannten Mittelschichtenfamilien nicht erkennen. Obwohl wir zu den 15-20% der obersten Einkommensgruppe zählen (auch ein trauriges Statement), haben wir weder eine Nanny, noch eine Zugehfrau (was ist das überhaupt?), noch ordern wir Essen, noch nutzen wir professionelle Reinigungsservices für unsere Wäsche. Dafür scheint man mir nochmal weiter hochrutschen zu müssen, in den sechsstelligen Gehaltsbereich, und ob man da noch guten Gewissens von "der Mittelschicht" sprechen kann, sei mal dahingestellt.

4) Inside Trump's hunt for "disloyal" Republicans

Donald Trump and his associates are systematically reshaping the Republican Party, working to install hand-picked loyalists across federal and state governments and destroy those he feels have been disloyal, sources close to the former president tell Axios. [...] Trump is tapping his national network of allies to identify Republicans who were "weak" in 2020 because they refused to go along with his efforts to overturn the election. No office has proven too small. His apparatus touches everything from unseating governors, members of Congress, state legislators and secretaries of state, to formulating policy and influencing local school boards. One common thread with many of the candidates he's backed so far: They all support his efforts to overturn Joe Biden's victory. [...] Sources who have spent time with Trump at his Florida estate Mar-a-Lago say it's impossible to carry out an extended conversation with him that isn't interrupted by his fixations on the 2020 election. [...] Trump has called for bills instituting reforms some of his advisers say would have kept him in power. Republicans in state legislatures enacted dozens of voting laws this year — many designed in direct response to Trump's post-election pressure. Trump cheered on Georgia's sweeping voting bill, saying the GOP legislators "learned from the travesty of the 2020 Presidential Election." He added, "Too bad these changes could not have been done sooner!" At least 10 bills introduced at the state level — none yet passed — would allow partisan actors to overturn election results. [...] Trump's relentless messaging has forged an alternate reality for his followers: 58% of Republicans in an Axios/Ipsos poll last month said there was enough fraud to change the outcome of the 2020 election. Now he's harnessing that energy. (Jonathan Swan/Andrew Solender, Axios)

Die amerikanische Republik steht vor dem Fall. Wie noch irgendjemand das bezweifeln kann, ist mir völlig schleierhaft. Die Republicans werden versuchen, mittels Wahlbetrugs zu gewinnen, wenn sie nicht ohnehin eine Mehrheit der Wahlleute und der Distrikte für sich gewinnen (eine Mehrheit in der Bevölkerung ist völlig illusorisch). Ob Trump antritt oder nicht ist da mittlerweile gar nicht mehr so bedeutsam, denn in der Partei gibt keine Personen mehr, die eine Aussicht auf die Nominierung oder irgendwelche Machtpositionen hätten und der Demokratie verpflichtet sind. Stattdessen haben in der Partei offene Faschisten die Macht übernommen. Natürlich wird 2024 nicht von einem Moment auf den anderen die Demokratie aufhören, aber das hat sie in Polen und Ungarn auch nicht. Es ist ein inkrementeller Prozess, aber da die Democrats unfähig sind, ihn aufzuhalten - mangels Mehrheit im Senat - gibt es auch nichts, das diesen Trend noch brechen könnte. Ich bin sehr, sehr pessimistisch.

Ein weiterer Lestipp ist Kevin Drums Versuch, das Ganze aus Sicht der Republicans zu sehen.

5) Versprochen, gebrochen

Eine Gesellschaft kann ohne Versprechen nicht funktionieren, aber deren rhetorische Statik ist zerbrechlich: Um ein Versprechen als gebrochen zu empfinden, muss man voraussetzen können, dass es gehalten werden wird, kann dies aber nie garantieren – sonst wäre das Versprechen ohnehin überflüssig. Und jetzt ist genau dies eingetreten, eine Situation, in der ein Wort nicht gehalten werden kann, weil sich die Umstände zu sehr verändert haben. Denn jedes Versprechen ist auch eine Haltung auf Grundlage eines Wissens über eine erhoffte Zukunft. [...] Gerade in der Pandemie ergibt sich bei jedem getätigten Versprechen das Problem der »Diktatur der Dringlichkeit«, wie es der Autor Gilles Finchelstein formuliert. Es wird von politischen Ansprachen eine glaubwürdige Gegenwärtigkeit eingefordert, die während einer Krisensituation schlicht nicht einlösbar ist. Das anzuerkennen und zu vermitteln, wäre die Aufgabe derjenigen gewesen, die damals verkündeten, dass es keine Impfpflicht geben werde. Lindner, Söder, Habeck hätten dies anders kommunizieren müssen. »Real talk« statt »Wenn ihr brav seid, gibt’s keine Impfpflicht«. Mit ihrer damaligen Absolutheit wollten sie das Sicherheitsempfinden in einer unsteten Lage erhöhen – womit rückblickend genau das Gegenteil bewirkt wurde und für zukünftige Aussagen nun eine große Verunsicherung hinsichtlich der Glaubwürdigkeit nachvollziehbar ist. Wir haben es also tatsächlich mit einem Wortbruch zu tun. An dem die Wirklichkeit mitgehämmert hat, da die Optionen ausgehen: Entweder eine morbide Realität aus Tod und Verlust zwingt die Menschen dazu, sich impfen zu lassen – oder der Staat verpflichtet sie dazu. [...] Den eigentlichen Wortbruch sehe ich jedoch an ganz anderer Stelle: nicht alles Erdenkliche getan zu haben, um das Eintreten dieser Situation zu verhindern. Denn das Versprechen, es werde keine Impfpflicht geben, zu brechen, ergab sich ja aus der Misere, dass nicht das Erhoffte eingetreten war, auf dessen Grundlage das Versprechen in erster Linie überhaupt gegeben wurde. Also: Man versprach keine Impfpflicht, mit sicherer Hoffnung auf eine ausreichende Impfquote. Im Grunde war der Satz »Es wird keine Impfpflicht geben« eine Vertrauensgeste, weil er im Subtext sich fortsetzen lässt mit: »…weil wir keine brauchen werden, weil wir Sie alle für vernünftig genug halten«. Die Wirklichkeit hat ihren Teil der Vereinbarung nicht eingehalten – aber die Regierung hat eben auch nicht genügend dabei geholfen, das zu verhindern. Mein Vorwurf ist also nicht, dass ein Wort gebrochen wurde, sondern, dass sich nicht mehr Mühe gemacht wurde, es zu halten. (Samira El Ouassil, SpiegelOnline)

Ein hervorragender Artikel. Der Hinweis, dass Politiker*innen aufpassen müssen, was für absolute Aussagen sie machen - die so genannten "Versprechen" - ist völlig richtig. Ich bin bekanntlich kein Fan des Begriffs "Wahlversprechen", aber den braucht es dafür auch gar nicht. Stattdessen relevant ist die Frage, ob eine Absichtsbekundung absolut ist oder nicht. Denn eigentlich kann niemand ernsthaft wollen, dass einmal abgegebene Absichtsbekundungen für die Ewigkeit feststehen. Was die Politik getrieben hat, in der Corona-Krise wieder und wieder markige Dinge rauszuhauen, von denen absehbar war dass sie zumindest mit einer höheren Wahrscheinlichkeit umgeworfen werden müssen und deren Flurschäden für die politische Kommunikation klar absehbar waren - ich weiß es nicht.

6) Explaining the Republican Victory in the Virginia Gubernatorial Election: Conversion or Mobilization?

The assumption underlying such analyses of the 2021 contests is that most of the shift between 2020 and 2021 was due to conversion: 2020 Democratic voters moving into the GOP column in 2021. There is another possible explanation for Republican gains in 2021, however — disproportionate partisan mobilization. According to the partisan mobilization hypothesis, off-year elections often produce a shift in turnout in favor of the party that does not control the White House. While turnout drops for supporters of both parties compared to a presidential election year, out-party voters are more motivated to turn out to express their discontent with the leadership of the newly elected or reelected president. [...] The reasons for the Republican tilt of the 2021 Virginia electorate are clear in Table 1, which compares the demographic characteristics and candidate preferences of the 2020 and 2021 Virginia electorates based on exit poll data from the two elections. The data in this table show that the 2021 Virginia electorate was substantially older, Whiter, and more rural than the 2020 Virginia electorate. The most dramatic difference between the 2020 and 2021 electorates involved their age distribution. Not only were the 2021 voters considerably older, but those young voters who did turn out in 2021 were far more Republican in their preferences than the much larger group that turned out in 2020. (Alan Abramowitz, Crystal Ball)

So viel zur Theorie, die Democrats hätten mit zu viel Gerede von Critical Race Theory die Mittelschicht verloren. Es waren die Republicans, die mit strategischem Dauer-Reden über CRT ihre eigene Basis mobilisiert haben. Die Geschichte ist ziemlich unspannend, eigentlich: die eigene Partei ist nicht sonderlich motiviert, weil sie das Weiße Haus hat, der regierende Gouverneur gibt keine sonderlich glückliche Figur ab und die Opposition hat ein tolles Narrativ. Man denke mal an Roland Kochs Unterschriftenkampagne gegen Ausländer 1999, mit der er Hessen eroberte. Gleiches Prinzip.

7) "Man macht dieselben Fehler wie bei Pegida" (Interview mit Miro Dittrich)

Dittrich: Man hätte bei den ersten Demonstrationen eingreifen müssen. Aber das hat man nicht getan – weil die Leute dort angeblich so bürgerlich aufgetreten sind. Für mich ist es so frustrierend, dass sich alle Fehler wiederholen, die schon bei der Pegida-Bewegung passiert sind. Die Verantwortlichen haben argumentiert, dass sie auf die Sorgen der Bürger hören wollen – aber man hat nicht ernst genommen, was da eigentlich gefordert wurde, nämlich der Umsturz des Systems. Es hätte viel früher Strafverfolgung geben müssen, zum Beispiel, als es die ersten Mordaufrufe in Telegram-Gruppen gab. Es hat sehr lange gebraucht, bis die Sicherheitsbehörden verstanden haben, was dort passiert.

ZEIT ONLINE: Und wann war das?

Dittrich: Ein wichtiger Punkt war der Sturm auf den Reichstag. Das war eine echte Blamage für die Sicherheitsbehörden: Es gab ja eine Telegram-Gruppe namens "Sturm auf den Reichstag", in der genau angekündigt worden war, was dann passierte. Das zeigte der Polizei wieder einmal, dass das nicht nur ein paar Spinner aus dem Internet sind. Und dann gab es noch den Mord von Idar-Oberstein. Aber trotzdem hat es in Sachsen erst einen Fackelmarsch vor dem Haus einer Politikerin gebraucht, um die Demos vor Ort zu stoppen. So ganz ist das Problem noch immer nicht angekommen.

ZEIT ONLINE: Befürchten Sie, dass es weitere Gewalttaten aus der Gruppierung geben könnte?

Dittrich: Es gibt sehr viel Druck in der Szene – und eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass es zu Gewalt kommt. Was sollen die Leute auch anderes machen? Sie haben demonstriert, sie haben das Internet vollgeschrieben, aber der gefühlte Untergang steht immer noch bevor. Viele Gruppen haben sich online gefunden und wollen sich jetzt offline treffen – weil sie zum Beispiel planen, den sächsischen Ministerpräsidenten zu erschießen. Es wird auch mehr Affekthandlungen geben, also ungeplante Übergriffe, weil die Leute sich in ihren apokalyptischen Welten nach einem Befreiungsschlag sehnen – und nach Applaus aus der eigenen Community.

ZEIT ONLINE: Der Bundestag will demnächst über eine allgemeine Impfpflicht beraten. Gegner dieser Maßnahme argumentieren, dass das die Szene noch stärker radikalisieren könnte. Teilen Sie diese Befürchtung? 

Dittrich: Ich halte das für sehr wahrscheinlich. Aber es wäre falsch, wenn wir uns davon erpressen lassen. Die Entscheidung über eine Impfpflicht sollte auf wissenschaftlichen Grundlagen beruhen. Und dann müssen wir uns fragen: Wie können wir stärker gegen die radikale Szene vorgehen – und wie können wir uns vor Übergriffen schützen? Der Staat könnte zum Beispiel Impfzentren besser absichern. Oder Geschäfte dabei unterstützen, die Kontrollen der Corona-Maßnahmen durchzuführen. Und es ist wichtig, daran zu erinnern, dass es sich nur um eine kleine Minderheit handelt, die gerade durchdreht. Es gibt eine große Mehrheit, die eine klare Position zur Pandemie hat und sich deshalb an die Regeln hält. Es ist nicht "das Volk", das auf der Straße steht. (Rebecca Wiese, ZEIT)

Ich fühle mich diesbezüglich ziemlich bestätigt. Genauso wie bei Pegida - ich bin für den Vergleich seitens Dittrich hier wirklich dankbar - war das "die sehen aus wie wir" der wichtigste Grund, warum man den Extremismus laufen ließ. Ich erinnere mich noch an Sigmar Gabriels blödsinnige Tour nach Ostdeutschland, wo er mit den Leuten reden wollte. Genauso wie jetzt bei den Schwurblern war diese Bewegung schon immer, als was sie jetzt erscheint. Die Behauptung, sie habe sich radikalisiert, ist eine Schutzbehauptung, um Gesicht wahren zu können - damals war es sinnvoll zu reden, damals war es die Mitte der Gesellschaft, jetzt haben sie sich radikalisiert. Aber das ist nicht wahr. Die waren schon immer genau das, was sie sind.

Glücklicherweise hat Dittrich auch Recht damit, dass es eine kleine Splittergruppe ist. Und wenn die Obsession damit, diese Leute als die Hälfte der Gesellschaft oder gar eine schweigende Mehrheit darzustellen endlich aufhören könnte - durch die ganze Pandemie hinweg haben konstant 60-70% der Bevölkerung die bestehenden Maßnahmen ODER HÄRTERE befürwortet! -, wäre viel gewonnen. Ständig Extremist*innen zu normalisieren ist kein guter Ansatz.

Mein größter Kritikpunkt mit dem Interview ist der Satz, die Impfpflicht solle auf wissenschaftlichen Grundlagen beruhen. Das ist ein Irrtum. Die Sicherheit von Impfungen, die entsprechenden Freigaben, all das kann auf wissenschaftlicher Grundlage beruhen. Die Impfpflicht aber ist eine politische Entscheidung. Man muss der ohnehin weit verbreiteten Tendenze der Politik, sich hinter "der Wissenschaft" zu verstecken und die Verantwortung aus der Hand zu geben (siehe auch: Schuldenbremse, die), nicht noch Vorschub leisten. Kein Wissenschaftler kann auf empirischer Basis sagen, ob die Impfpflicht kommen muss. Das ist eine politische Entscheidung, Kern von Regierungshandeln.

8) Kommt Trump zurück?

Als ausländischer Beobachter ist es mir im Grunde egal, ob die Demokratenoder die Republikaner hier die Wahlen gewinnen. Es gab in der Vergangenheit in beiden Parteien immer gute und integre Leute, und es gab ein zumindest weitgehend funktionierendes System von "checks and balances" - die Institutionen sorgten dafür, dass die regierende Partei im Rahmen des immerhin halbwegs Erlaubten blieb. Ein Problem ist, dass es die Republikaner, die Grand Old Party, wie wir sie kannten, nicht mehr gibt. Trump hat diese Partei gekapert und in eine Höllenmaschine verwandelt. Die Demokraten, wie wir sie kannten, gibt es auch nicht mehr. Die Partei umfasst zu viele Strömungen und Positionen, sie wird ihre inneren Spannungen auf Dauer nicht aushalten. [...] Was meines Erachtens in diesem Zusammenhang zu wenig Aufmerksamkeit erfährt, sind drei Faktoren. Erstens: Die Republikaner sind derzeit dabei, in von ihnen kontrollierten Bezirken und Bundesstaaten die Wahlkreise so neu zuzuschneiden, dass sie auf absehbare Zeit nicht mehr verlieren können, selbst wenn sie weniger Stimmen erhalten. Klingt absurd? Ist absurd. Das sogenannte "gerrymandering", das Zuschneiden der Wahlbezirke, ist eine Kunst, die die Republikaner in Perfektion beherrschen. Die Demokraten sind da auch alles andere als unschuldig, aber zum einen sind die Republikaner skrupelloser, zum anderen kontrollieren sie viel mehr Bundesstaaten. Zweitens: das Wahlsystem. [...] Die Republikaner haben es komplizierter gemacht, sich ins Wählerregister einzutragen. Sie haben die Zahl der Wahllokale verringert, insbesondere in Gegenden, in denen eher Minderheiten leben. Sie versuchen, die Briefwahl massiv einzuschränken. [...] Kommen wir zum brutalen Teil: Sollte Trump im Jahr 2024 nicht - mehr oder weniger legal - zum Präsidenten gewählt werden, wird der 6. Januar 2021 im Vergleich zu dem, was dann passiert, wie ein Bildungsausflug von interessierten Bürgern zum Kapitolshügel aussehen. Dann wird sich Gewalt Bahn brechen. Es würde vermutlich, hoffentlich, kein Bürgerkrieg, aber wir würden das erleben, was man "bürgerkriegsähnliche Zustände" nennt. Dass in den USA zu viele Menschen bewaffnet sind, ist bekannt, aber ich glaube, es ist in Europa vielen Leuten nicht bewusst, welche Mengen an Waffen es in diesem Land gibt, und welche kulturelle Rolle sie hier spielen. [...] Die Demokraten in den USA umfassen, wenn man es mit Deutschland vergleicht, heute alles vom linken Rand der Linkspartei bis zu Friedrich Merz. Das kann keine Partei aushalten. Deshalb verzettelt sie sich in ziellosen Diskussionen und kriegt kaum was auf die Reihe. Selbst jetzt nicht, da sie das Weiße Haus besetzt und in beiden Kammern des Kongresses die Mehrheit hält. Zugleich tragen viele Demokraten ihre vermeintliche moralische Überlegenheit in unerträglicher Arroganz vor sich her. Ihre Selbstgerechtigkeit ist oft atemberaubend, und dass die Demokraten in der Mitte des Landes kein Bein auf den Boden kriegen, liegt daran, dass sie absolut keine Ahnung davon haben, was die Menschen dort bewegt. (Christian Zaschke, SZ)

Ich fand diesen Artikel grauenhaft. Nicht so sehr wegen des Inhalts; wer meine eigene Analyse der aktuellen Aussichten der Democrats gelesen hat, weiß, dass weder die Gefahr für die Demokratie durch die Republicans noch die destruktiven Flügel der Democrats Argumente sind, die mir fremd sind. Was mich massiv stört ist die Attitüde. Da ist auf der einen Seite die geradezu absurde Vorstellung, dass es für uns irrelevant wäre, ob Faschisten in den USA die Macht übernehmen; als wäre das eine rein innenpolitische Frage von bestenfalls akademischem Interesse.

Auf der anderen Seite noch viel abstoßender aber ist für mich die Arroganz und Überheblichkeit von Zaschkes Haltung. Der distanzierte Bothsiderismus, in dem, neben der bereits erwähnten Distanz, eine Performance von Objektivität und analytischer Schärfe mitschwingt. Diese aber bleibt Performance. Und die erwähnte Arroganz wird nirgendwo so deutlich wie in der Idee, dass die komplette demokratische Partei "keine Ahnung hat, was die Menschen in der Mitte des Landes bewegt", er aber, der Korrespondent in Washington, schon. Dieses "nothing matters", die Weigerung, für Meinungsfreiheit und Demokratie Partei zu ergreifen, nur um sich selbst besser zu fühlen, dieses Moralisieren im Gewand einer Analyse, wird uns noch alle in den Untergang führen.

9) Abschied von Bullerbü: Baerbocks Start in die Weltpolitik

Deutschland wird in Kürze Farbe bekennen müssen, vor allem gegenüber Moskau. Aus der SPD heißt es zwar weiterhin, wie einst unter Gerhard Schröder, es könne in Europa keine Friedensordnung ohne Russland geben. Dieser alte Satz ist zwar richtig. Doch leider gilt, was Omid Nouripour, Kandidat für den Bundesvorsitz der Grünen, an diesem Wochenende festhielt: Zu einer europäischen Friedensordnung gehöre „auch guter Wille in Moskau - und der ist gerade nicht sichtbar“. [...] Das „Gebundensein durch Verantwortung“, von dem Robert Habeck zu Recht spricht, hat in keinem Feld so große Bedeutung wie in der Außenpolitik. Kanzleramt und Auswärtiges Amt müssen daran arbeiten, gegen die doppelte autoritäre Bedrohung durch Russland und China einen breiten politischen Zusammenhalt herzustellen: in Berlin, in Europa und vor allem über den Atlantik hinweg. Die Grünen gewinnen jetzt damit Profil, dass sie zumindest als erste in der Regierung sehr offen reden über die neuen außenpolitischen Herausforderungen und das damit verbundene Dilemma. Vielleicht erweisen sie sich am Ende sogar als Wegweiser für den Rest der rot-gelb-grünen Koalition. (Matthias Koch, Redaktionsnetzwerk Deutschland)

Während der "Abschied von Bullerbü" für Teile der grünen Basis sicherlich zutreffend ist, sind die Aussagen Kochs eigentlich für den Großteil des deutschen Parteiensystems passender als die Grünen, die, wie vielfach bemerkt, im Wahlkampf den schärfsten Kurs gegen China und Russland fuhren und die noch den klarsten Blick hatten (was auch nur der einäugige König unter den Blinden der deutschen Außenpolitik ist). Am schlimmsten ist eigentlich die SPD, gefolgt, merkwürdigerweise, von der CDU. Aber so oder so ist es gut zu sehen, dass sich da etwas bewegt, und wenn Baerbock es schafft, die Autonomie ihres Ministeriums vor den bereits ziemlich unumwundenen Zugriffsversuchen des Koalitionspartners zu retten ("Außenpolitik wird im Kanzleramt gemacht", Mützenich).

10) Chartbook #57: 1914, the Urkatastrophe of the 20th century

A clash of Empires, for sure. How could it have been anything else? After all, all the great powers at the time were one or other type of empire. To add any value we need to be more precise in defining the historical conjuncture. 1914 was not simply a clash of Empires. The war was a product of a distinct conjuncture, well-labeled as the ‘age of imperialism’ . This conjuncture was defined not simply by empires butting up against each other, as they had for centuries. It was a new epoch defined by a new blend of expansive geopolitical claims, empires dynamized by nation-state mobilization at their core and the imbrication of those states with the interests of the latest generation of capitalist accumulation. All of this took place against the backdrop of a vision of history and global geography that was both grand and claustrophobic. The global frontier closed in the 1890s. The stage was set for the great play of world history to begin in earnest. [...] Economic forces continue to play a key role in any plausible interpretation of World War I - in the form of Russia’s looming development and the costs of the arms race between the major power. But whereas under the sign of imperialism theory the link from geopolitical ambition to economic interests was made scandalously explicit, in more recent work the underlying economic dynamics are no longer foregrounded . The tight connection between the outbreak of war, imperial expansionism and capitalist competition has unravelled. [...] The firewall drawn between “1914” and the story of the first globalization is ideological. But it is also a weak form of ideology - a silence rather than a strong thesis. Mainstream historical accounts of the July crisis in 1914 are, in fact, based, more often than not, on a modernization theory that dare not speak its name. Accounts such as Chris Clark’s Sleepwalkers rank Western European Empires and the scrappy Balkan protagonists in developmental terms. Meanwhile, economic accounts of the late 19th century that give a civilian-socio-economic analysis of the stresses of globalization and treat 1914 as exogenous, result not just in a whitewashing of global economic development, but in strange and counterfactual history of the early twentieth century. (Adam Tooze, Chartbook)

Es ist absolut faszinierend, wie diese Epoche immer wieder neu interpretiert wird. Gerade Adam Tooze (aber auch Niall Ferguson) haben hier unglaublich wertvolle Arbeit geleistet. Die obigen Ausschnitte sind nur kleine Teile des ersten Teils einer Kurzfassung eines Essays von Tooze zu Thema, und ich kann interessierten Lesenden nur die Lektüre anraten, genauso wie die seines Buches "Sintflut". Eine Aussicht, die mich mit einem mulmigen Gefühl im Bauch zurücklässt, ist, dass die Periode der 1930er und 1940er Jahre in spätestens zwei bis drei Jahrzehnten vermutlich ebenfalls einer Revisionismuswelle ausgesetzt sein dürfte, und ich bin nicht sicher, ob das gut sein wird. Aber es wohl unvermeidlich.

11) Chartbook #56: The West Asian Polycrisis - From Afghanistan to Lebanon

Regions of polycrisis might be defined succinctly as zones in which the collective trouble is worse than the sum of its parts. Think of a region where climate change brings drought or a historic hurricane that crosses borders, creating misery and refugee flows, with no safe place to go. Think of regions wracked by geopolitical tensions and local rivalries. Alongside Latin America, another region that might be thought of in these terms, is the region that Fred Halliday once dubbed Western Asia, a region that stretches by way of Pakistan and Afghanistan, to Iran, Iraq, Syria, Lebanon and Turkey (figures refer to population estimates). [...] State borders in this region are some of the most arbitrary in the world. The Kurdish population of 40 million stretches across Turkey, Syria, Iraq and Iran. Millions of displaced people from Afghanistan, Syria and Iraq lived in improvised camps. The economies are interconnected through the use of multiple currencies, trade and infrastructure connections, particularly for energy. Climate change has inflicted simultaneous drought on Iraq, Iran and Afghanistan. Altogether, the region presents a landscape of crisis more intense than anywhere else in the world. (Adam Tooze, Chartbook)

Die westasiatische Region (ein passenderer Name als "Naher Osten", irgendwie) ist so etwas wie die Welthauptstadt der schlechten Nachrichten. Die Instabilität ist gerade in Fällen wie Türkei oder Iran wegen deren Rolle im internationalen Staatensystem sehr gefährlich, während sie in Fällen wie Afghanistan vor allem für die Nachbarn ein Problem darstellt - und mittelfristig auch für uns, etwa durch verstärkte Flüchtlingsströme. Was man dagegen tun sollte, ist mir völlig schleierhaft. "Fluchtursachen bekämpfen" ist eine Nullformel, ohne jeden Inhalt. Auf die Türkei ist man, wie eklig es auch sein mag, dank der Flüchtlingspolitik angewiesen. Auf den Iran hat kaum jemand Einfluss. Und so weiter. Man kann nur mit gerunzelter Stirn hinschauen und Sorge tragen.