Montag, 20. Dezember 2021

Totgesagte leben länger

 

Nun also im dritten Anlauf. Friedrich Merz ist CDU-Vorsitzender. Hat die Union nun endlich das Licht gesehen und die einzige Person gewählt, die sie noch vom Schicksal der SPD bewahren kann? Oder hat sie einfach nur das Ende der Fahnenstange erreicht und jeder Widerstand ist so weit zermürbt, dass Merz als einziger übrig blieb? Diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Genauso schwer ist es, eine vernünftige Prognose darüber abzugeben, ob Merz nun der Heilsbringer der CDU wird, ob er die Partei vollends in die Bedeutungslosigkeit führt oder ob sich insgesamt wenig ändern wird. Ich möchte die Gelegenheit seiner Wahl nutzen, um einige dieser Fragen zu diskutieren - eine Beantwortung wird wohl noch Jahre brauchen.

Merz ist die Durchsetzung gegen gleich zwei Konkurrenten gelungen: Norbert Röttgen, der sich als Modernisierer inszenierte und mit Themen wie Außenpolitik und Klimawandel zu punkten versuchte (wobei ich mir bei seinen beiden Kandidaturen immer im Unklaren bin, ob das nicht eher ausführliche Bewerbungsportfolios für ein Ministeramt waren) und Helge Braun, Kanzleramtsminister unter Angela Merkel, dessen Kandidatur gegen Merz derart unplausibel und dessen Rolle als Merkels rechte Hand ihn so singulär ungeeignet für die Kandidatur machen, dass man sich fragen muss, was in seinem Kopf vorging. Kurz: kein CDU-Schwergewicht wagte sich gegen Merz heran. Seine 60% im ersten Wahlgang sind folgerichtig; die Mehrheit der Partei steht, ob aus Überzeugung oder Verzweiflung, hinter ihm.

Damit ist ein parteiinterner Machtkampf vorläufig entschieden. Nachdem sowohl Merkels bevorzugte Nachfolgerin Kramp-Karrenbauer als auch der "Merkelismus mit rheinischem Antlitz" gescheitert sind, darf es nun doch Merz mit seiner Anti-Establishment-Plattform versuchen. Er übernimmt, um eine ausgelutschte Journalist*innenphrase zu verwenden, den Vorsitz über eine zerrissene Partei. Denn der tiefe Graben, der sich durch die Spitzenwahlkämpfe 2018 und 2020 zog, ist vielleicht verdeckt, aber nicht geschlossen. Genauso, wie bei der SPD der Sieg eines Peer Steinbrück oder Franz-Walter Steinmeier die parteiinternen Richtungskämpfen nur kurz unterdrückte schwelt der Konflikt zwischen "Merkelianern" und der "Restauratoren" (in Ermangelung besserer Worte) fort. Wo die Merkelianer den Kurs der Öffnung der Partei weit ins sozialdemokratische und liberale Milieu hinein als alternativlos sehen, betrachten die Restauratoren gerade diese Öffnung ob der Verwischung des "konservativen Profils" der Partei als die Ursünde. Mit einer endgültigen Entscheidung dieses Streits ist genauso wenig zu rechnen wie bei der Auflösung des Konflikts zwischen den Teilen der SPD, die die Agenda2010 für die Ursünde und denjenigen, die sie für ein notwendiges Übel hielten.

Soviel zu den Hintergründen der Wahl. Damit kommen wir zu Auswirkungen.

Das Kalkül der Merz-Befürworter*innen ist, dass dieser enttäuschte Wählendengruppen wieder zurück in die Arme der Union bringt. Woher würden diese kommen? Sicherlich nicht von SPD und Grünen. Für diese ist, wie ich weiter unten noch aufzeigen werde, Merz eine hervorragende Feindfigur. Es ist vorstellbar, eine Angela Merkel zu wählen, wenn man sonst das Herz auf der linken Brustseite schlagen hat, nicht aber einen Merz. Wäre es anders, wäre das ganze Rational für seine Wahl beim Teufel. Die LINKE scheidet ohnehin aus. Bleiben AfD und FDP.

In den vergangenen Jahren kaprizierte sich die Debatte stets auf die AfD. Deren Wählende galten zumindest zu einem guten Teil als "Fleisch vom Fleisch" der CDU, eine Argumentation, wie sie aus den Wählendenwanderungen sowohl von der SPD zu den Grünen in den 1980er Jahren als auch zur LINKEn in den 2000er Jahren bekannt vorkommt. Allein, je weiter man sich von der hysterischen Stimmung des 2017er Wahlkampfs entfernte, desto deutlicher wurde, dass die AfD und ihre Wählendenschaft wesentlich weniger bürgerlich ist, als man sich das gerne vorgestellt hat. Sicher, man kann dort einige Wählenden abzuwerben versuchen. Aber wir reden von zwei Prozent, vielleicht drei. Von was wir sicherlich nicht reden ist, die AfD unter die 5%-Hürde zu drücken. Auch wenn es noch fast niemand offen sagt, hat die Republik weitgehend ihren Frieden damit gemacht, dass zehn Prozent der Wählenden die Demokratie ablehnen und verachten und nun eine Repräsentation im Parlament haben.

Das Ziel der Übernahmeversuche kann daher nur die FDP sein, und das macht auch absolut Sinn. Die Wählendenschaft der beiden bürgerlichen Parteien war schon immer ein System kommunzierender Röhren, mit einem fluiden Anteil, der frei zwischen beiden hin- und herwechseln konnte, gerne aus taktischen Überlegungen (wie etwa 2009, als die FDP als Gegengewicht zur CDU ihr bestes Ergebnis aller Zeiten einfuhr). Dadurch, dass die FDP jetzt in einer Ampel-Koalition ist und dadurch zwangsläufig nach links rutscht (wie viel, bleibt abzuwarten, aber auch mit Kosmetik lässt sich Wahlkampf machen), ist sie ein hervorragendes Ziel für eine gleichzeitig nach rechts rutschende (dito) CDU. Weder Merz noch der Rest der Union macht aus dieser Strategie ein Geheimnis; man wirbt offen und aggressiv um FDP-Wählende und attackiert vor allem die Liberalen, wo im Wahlkampf noch die Grünen der Gegner Nummer 1 gewesen waren.

So weit, so offensichtlich. Die Basis der CDU liebt Merz; man hofft, dass seine Strahlwirkung weit in die FDP reichen und vielleicht auch die Außenschicht der AfD penetrieren möge. Auf diese Art hätte man ein Wählendenpotenzial von rund 30%, fast gleichauf mit der SPD (die zwar in der Theorie auf fast 50% kommt, aber dieses Potenzial kaum realisieren können wird - das wäre aber ein eigener Artikel). Merz ist zudem ein polarisierender Politiker, der von der Basis geliebt und von den Funktionär*innen...nicht geliebt wird. Aber, wie Frank Lübberding zu Recht festgestellt hat:


Allein, dasselbe trifft auch Kevin Kühnert zu. Die Jusos mussten auch einen Vorsitzenden wählenden, der sie überzeugt; die SPD braucht einen Generalsekretär und stellvertretenden Parteivorsitzenden, der die SPD-Mitglieder überzeugt. Dass die Basis einer Partei überzeugt ist, schützt selbige Partei aber nicht vor einem Backlash. Warum diese völlig offensichtliche Dynamik zwar jederzeit breit bei linken Kandidat*innen diskutiert wird, aber scheinbar für CDU-Vorsitzende nicht zu gelten hat, erschließt sich mir sehr viel weniger. Dass die CDU-Basis Friedrich Merz mag, war noch nie die Frage. Die Frage war, ob er Wahlen gewinnen kann.

Warum sollte er das nicht können? Weil "Parteibasis" auch nur ein Synonym für Stammwählende ist. Diese Leute wählen die Partei eh schon. Nur, mit den Stimmen der Basis allein hat noch keiner die Wahl gewonnen. Es braucht die Stimmen mindestens einer von zwei Gruppen: erstens diejenigen, die sich umstimmen lassen, und zweitens diejenigen, die sich mobilisieren lassen. Die SPD gewann diese Wahl vor allem in Gruppe 1. Die AfD dagegen gewann etwa 2017 vor allem in Gruppe 2. Wahre Tausendsassas des Wahlkampfs schaffen es, beide Gruppen an die Wahlurne zu bewegen (man denke Konrad Adenauer 1957, Willy Brandt 1972, Obama 2008, etc.). Ich bin etwas skeptisch, dass Merz in diese illustre Reihe gehört.

Und wie das Beispiel mit Kevin Kühnert klargemacht haben sollte, hat jede*r Politiker*in auch eine Reaktion auf die Gegenseite. Merkel war vor allem erfolgreich, weil sie diese Gegenreaktion bis zum Nullpunkt neutralisiert hat - Stichwort "asymmetrische Demobilisierung". Niemand war unglücklich mit Merkel (bis 2015 zumindest), sie war so erträglich, dass man sich nicht zu schlecht fühlen musste, wenn man als Soze der Wahl dieses Mal fernblieb und den Sonntag lieber vor dem Fernseher verbrachte. Unter einem Merz ist das wenig vorstellbar. Die große Gefahr für eine Merz-CDU ist daher, dass die Gewinne, die man durch sein schärferes konservatives Profil einfährt, auf der anderen Seite durch Gewinne bei SPD, Grünen und LINKEn relativiert werden, die gegen den Gottseibeiuns mobilisieren können. Und es ist nicht so, als wäre es allzu schwierig, Merz im Wahlkampf als herzlosen, abgehobenen konservativen Knochen hinzustellen. Der Mann liefert genug Vorlagen dafür.

Allein, wenn 2021 etwas gezeigt hat, dann, dass die genauen Prozentzahlen irrelevant sind. Scholz' Wahlkampf war bei praktisch gleichen Prozenten wie Peer Steinbrücks krachender Niederlage 2013 ein triumphaler Sieg. Die Grünen erreichten das beste Ergebnis ihrer Geschichte und erlitten gleichzeitig eine ihrer größten Niederlagen. Es ist alles eine Frage der Perspektive und, vor allem, der Machtoptionen. Denn die Geschichte der Wahlen seit 2005 zeigt zum Beispiel, dass man zwar gerne die Anteile von SPD, Grünen und LINKEn zusammenrechnen kann, dies aber auf die realen Koalitionsoptionen wenig Einfluss hat. Das Ziel Merz' ist nicht, 45% der Stimmen zu gewinnen.

Stattdessen hat die CDU genau zwei Ziele, die sie 2025 erfüllen muss. Sie muss die stärkste Partei werden, um das Kanzleramt beanspruchen zu können, und sie muss die Ampelkoalition unter 51% halten. Verfehlt sie eines dieser beiden Ziele, scheitert sie. Das mag jetzt erst einmal wenig spannend wirken, aber in diesem Dualismus verbirgt sich ein gewaltiger Sprengstoff. Merkel nämlich musste bei all ihren Wahlen nur das erste Ziel erfüllen: stärkste Partei sein. Gegen Merkel waren keine Koalitionen möglich. Sie wählte ihre Koalitionspartner nach Lage am Wahltag und war dabei die Konstante.

Wenn aber die Ampel 2025 gemeinsam für eine Wiederwahl antritt - und aktuell gibt es wenig Grund, daran zu zweifeln - hat die CDU keinen Koalitionspartner. Der steht nur dann zur Verfügung, wenn es für die Ampel nicht reicht. Die CDU kann 40% haben, solange die Ampel zusammen auf 51% kommt, kann Scholz sich trotzdem erneut zum Kanzler wählen lassen. Das ist nichts Neues: die CDU kennt diese Dynamik von den Wahlen 1969, 1976, 1980 und 2002. In all diesen Fällen war sie stärker als die SPD, aber was half es ihr? Ohne Koalitionspartner waren das nur so viele Hinterbänkler*innen zusätzlich.

Die CDU muss also der FDP Stimmen nehmen - weil diese das beste Ziel sowohl für eigene Stärke als auch die Schwächung der Ampel ist - aber gleichzeitig eine Machtoption offenhalten, die nach Lage der Dinge nur Schwarz-Rot oder Jamaika sein kann. Ist sie aber zu erfolgreich gegen die FDP - sagen wir, weil sie sie unter die 5%-Hürde drückt, um ein bewusst krasses Beispiel zu nehmen - schafft sie unter Umständen genau jene gefürchtete Linkskoalition, vor der sie gebetsmühlenartig warnt, weil kaum vorstellbar ist, dass aus dem Kanzleramt heraus eine Juniorpartnerschaft unter Merz einer Kanzlerschaft mit der LINKEn vorgezogen wird (wobei man nie die politische Dummheit der LINKEn unterschätzen sollte). Merz steht ein schwieriger Eiertanz bevor.

Das alles ist soweit eine Analyse der Lage und der grundlegenden Dynamiken. Vier Jahre sind eine lange Zeit, in der sich vieles ändern kann. Wir haben im Wahlkampf 2021 gesehen, dass in der Politik auch zwei Monate eine Ewigkeit sein können. Für nichts gibt es eine Garantie. Merz könnte die CDU zurück an die 40% führen, bei der nächsten Wahl mit 15% als drittstärkste Partei hinter SPD und Grünen liegen oder einfach das Ergebnis von 2021 reproduzieren. Nichts ist in Stein gemeißelt. Letztlich fliegen alle blind.

Ich wage daher nur eine äußerst rudimentäre Prognose. Merz wird die CDU in den Umfragen wieder an die 30% heranführen. Was auch immer man über ihn sagen mag, er ist nicht Armin Laschet, und das Ergebnis von 2021 beinhaltete so viele Anti-CDU-Proteststimmen, die ich für nicht permanent halte, dass ein gewisses Zurückspringen fast unausweichlich scheint. Die Ampel wird irgendwelche Krisen und Skandale haben.

Wesentlich schwerer einzuschätzen ist die Stabilität der Koalition. Wenn Lindner irgendwann erklärt, dass er das "Projekt" 2025 beendet sieht, werden alle Karten neu gemischt. Wie bereits in den Koalitionsverhandlungen hat er das stärkste Blatt, und er weiß es. Im Gegensatz zu den Vorsitzenden einer großen Klimaschutzpartei, die ich nennen könnte, ist Lindner ein gewiefter Vorsitzender und Stratege. Ich gehe davon aus, er wird sich die Optionen offenhalten und sehen, was bis 2025 passiert.

So oder so, Politik wird in Deutschland spannend bleiben. Ich bin gespannt, wann wir den ersten Artikel lesen werden, der nostalgisch von der Langeweile und öden, berechenbar-biederen Merkelzeit schwärmt. Meine Wette ist: noch 2022.

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