Montag, 27. Dezember 2021

Christian Lindner bekämpft in der Schule die Gruppe Wagner und verteidigt den Ruf linker Politiker*innen in der ungleichen Polizei von DC - Vermischtes 27.12.2021

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Schulden? Mach ich!

In dieser Woche hat Lindner seinen ersten Haushalt als Finanzminister vorgelegt – und tut nun genau das, was er kritisiert hat. Lindner nutzt bestehende Kreditermächtigungen, um einen Vorrat anzulegen. In Höhe von immerhin 60 Milliarden Euro. Nur dass genau das auf einmal seriös sein soll. Meint Lindner. [...] Andererseits hat das Regieren schon bei so manchem Politiker den Blick für die Realitäten geschärft. Auffällig ist jedenfalls, dass führende Liberale neuerdings lieber über Investitionen reden als über Sparprogramme und Lindner sein Ministerium als ein "Ermöglichungsministerium" verstanden wissen will. Das hätte so auch Kevin Kühnert sagen können. Im angelsächsischen Sprachgebrauch gibt es den Ausspruch Only Nixon could go to China. Er bezieht sich auf einen Peking-Besuch des damaligen amerikanischen Präsidenten Richard Nixon in den Siebzigerjahren. Gemeint ist: Nur ein antikommunistischer Hardliner wie Nixon konnte eine solche Reise unternehmen, ohne in den Verdacht zu geraten, dem ideologischen Gegner in die Hände zu spielen. Vielleicht wird man irgendwann einmal sagen, dass nur jemand wie Lindner es mit Blick auf die Schuldenbremse ein wenig lockerer angehen konnte. (Mark Schieritz, ZEIT)

Ich hoffe wirklich, dass Lindner im Finanzministerium ein "Only Nixon can go to China"-Moment wird, in dem ein lange aus politischen Gründen blockierter Pfad plötzlich frei wird, weil sich die bisher in der Opposition befindliche Partei plötzlich in der Pflicht sieht und sich so das vorherige Schreckgespenst, mit dem man die Regierungspartei lähmte, nicht mehr aufrechterhalten lässt. Wo der selbstinzenierte harte Kalte Krieger Nixon der einzige war, der den seit 1949 (!) bestehenden Stillstand in den amerikanisch-chinesischen Beziehungen beenden und die Fiktion von Taiwan als Hauptstadt Chinas ad acta legen konnte; wo "the first black president" Bill Clinton es war, der eine große Sozialstaatsreform durchdrücken konnte (oder Schröder oder Blair); so könnte Lindner derjenige sein, der das Feigenblatt bereitstellt, einen der größten policy-Missgriffe der bundesdeutschen Geschichte zu beseitigen.

Das ist für die FDP natürlich eine gefährliche Lage. So sehr gerade im konservativ-liberalen Lager die SPD für die Agenda2010 gelobt wird, so sehr ist doch allen bewusst, welche Konsequenzen diese für die Partei hatte. Und weder konnte die SPD vom Lob des BDA sich etwas kaufen, noch wird die FDP sonderlich davon profitieren, wenn die Rosa-Luxemburg-Stiftung sie lobt. Aber manchmal ist es eben notwendig, solche Schritte zu gehen. Hoffen wir, dass Lindner den Mut und die Durchsetzungskraft hat, das zu tun.

2) Wie real ist das Schreckgespenst der „Lohn-Preis-Spirale“?

Allerdings scheint es den meisten Apologeten der Lohn-Preis-Spirale ohnehin weniger um die Belange der Beschäftigten zu gehen als um die Kritik an einer – aus ihrer Sicht – seit Langem fehlgeleiteten Geldpolitik der Europäischen Zentralbank. [...] Wie so oft wird hier eine theoretische Möglichkeit in der Zukunft als ein gleichsam unumstößlicher „So wird es kommen“-Tatbestand ausformuliert. Aber Sinn macht am Ende seines Beitrags auch deutlich, um was es ihm und anderen Vertretern dieses einen Lagers in der Volkswirtschaftslehre wirklich geht: Es muss „den Staaten Europas und der EZB jetzt ein eindeutiges Haltesignal für weitere mit der Druckerpresse finanzierte Verschuldungsorgien gesetzt werden“. [...] Erfreulicherweise scheinen allerdings die Zeiten, in denen die Angst vor einer galoppierenden Inflation weitestgehend unwidersprochen in deutschen Medien verbreitet werden durfte, vorbei zu sein. So gab es in den letzten Wochen eine Vielzahl von Berichten, in denen die andere Seite der Debatte hervorgehoben wird. [...] Wie auch immer sich die Inflation in Zukunft also entwickeln wird, klar ist, dass sie auch eine sozialpolitische Komponente hat, die es in den Diskussionen über die Preisentwicklung immer zu berücksichtigen gilt – und zwar unabhängig davon, ob man die gegenwärtige Debatte nun für ein Schlossgespenst hält oder nicht. (Stefan Sell, Makroökonom)

Ich habe bereits in einem eigenen Artikel darüber geschrieben, dass wir einen Paradigmenwechsel haben. Allein das Raunen über Inflationsgefahren hätte vor wenigen Jahren noch dazu gereicht, sämtliche Politiker*innen in ihre Löcher zu schicken. Inzwischen ist es zu einem stumpfen Schwert geworden. Übrigens: Adam Tooze gibt im Chartbook viel Hintergrundanalyse zum Wechsel an der Bundesbankspitze im Speziellen und der Rolle der Bundesbank im Allgemeinen, für die, die das interessiert.

3) Mehr Realität wagen

Für einen Protagonisten der Berliner Politik hat sich Rolf Mützenich auf besondere Weise das Weltbild seiner Jugend bewahrt. Nach einem in der Nachkriegszeit präzedenzlosen russischen Aufmarsch gegen die Ukraine und einer Kaskade von Drohungen aus Moskau forderte er tatsächlich am Montag beide Seiten zur Deeskalation auf. Das ist so absurd, dass wir trotz der ernsten Lage darüber kurz schmunzeln dürfen. Mützenich gibt den pazifistischen Alleinunterhalter. Hinter seiner Forderung steht jedoch eine tiefer liegende Problematik. Die deutsche Außenpolitik operiert immer wieder mit Grundannahmen, mit denen man sicher einstmals in Seminaren der „kritischen Friedensforschung“ reüssieren konnte, die sich aber in der osteuropäischen Wirklichkeit nicht wiederfinden. Dazu gehört die Überzeugung, dass stets beide Seiten ein gleiches Maß an Verantwortung für einen diplomatischen Konflikt tragen. Der Fall, dass ein Aggressor einen anderen Staat aus reiner Machtgier überfällt, ist leider nicht vorgesehen. [...] Tatsächlich schreibt diese deutsche Position die russische militärische Überlegenheit fort – sie bedeutet also, dass Berlin explizit für Moskau Partei ergreift, weil es der Ukraine Verteidigungswaffen verweigert. Das Embargo stärkt die Position des Aggressors und macht – mangels Abschreckung – einen militärischen Konflikt wahrscheinlicher. Doch dieser Realität verweigert sich die Ampel. (Christian Behrends, Salonkolumnisten)

Die außenpolitische Positionierung der SPD ist echt unterirdisch. Wenn man solche Aussagen von Mützenich liest, kann man ja echt froh sein, dass nicht der "profilierte Verteidigungspolitiker", sondern die unbeleckte Christine Lamprecht Verteidigungsministerin wurde. Ich würde schwer vermuten, dass gerade so harsche Positionierungen (und auch die Attacken gegen den Koalitionspartner) mit ein Grund sind, warum Mützenich das Ministeramt, das er so offensichtlich wollte, nicht bekommen hat.

Dabei könnte Deutschland durchaus eine konstruktive Rolle auf der diplomatischen Ebene spielen. Man nehme nur diese amerikanische Perspektive, die sich durch geradezu absurde Naivität bezüglich der zentralen Blockadehaltung Deutschlands auszeichnet. Wäre Deutschland nicht so ein Blockierer, was das angeht, und würde sein außenpolitisches Gewicht verantwortungsvoller nutzen, wäre tatsächlich mehr möglich als jetzt. So aber?

4) Wo wir die Demokratie verlernen? In der Schule!

Dabei wird den Schulen (zu recht!) eine entscheidende Rolle zugesprochen, uns politisch zu bilden. Deshalb ist die erste Forderung nach jedem brennenden Heim für Geflüchtete, jedem Angriff auf gewählte Politiker:innen, jedem unerwartet guten Abschneiden der AfD: Wir brauchen mehr Demokratiebildung in den Schulen! Das sichert zustimmendes Kopfnicken von allen Seiten (außer von rechts). Die Forderung ist natürlich richtig. Das Problem: Kaum etwas in deutschen Schulen ist so verlogen wie unser halbherziger Versuch, den Jugendlichen Demokratie beizubringen. Die gute Nachricht: Es braucht keine großen Reformen oder Unmengen an Geld – die Schulen könnten sofort anfangen, das zu ändern. Als ich die Schule verlassen habe, war mein Wissen um unsere Demokratie in erster Linie: sehr theoretisch. Im Politikunterricht habe ich gelernt, wie unser politisches System funktioniert, wie sich der Bundestag zusammensetzt, wer wen wählen darf, welche Kontrollinstanzen es gibt, wie das Parteiensystem funktioniert, und ich hoffe, du bist jetzt nicht direkt eingeschlafen. Politikunterricht kann ganz schön langweilig sein. Aber Demokratie kann man nicht auswendig lernen. Ich kann alles über das demokratische System wissen und trotzdem davon überzeugt sein, dass meine eigene Stimme nichts verändern kann. Echte Demokratiebildung findet deshalb nicht in einem Fach statt, sondern in allen Fächern, und nicht nur theoretisch, sondern durchs Machen. (Brent Freiwald, Krautreporter)

Vollkommen korrekte Sicht der Dinge. Die SMV und Schulkonferenzen wurden in den 1970er Jahren mit hohen Hoffnungen gestartet ("Mehr Demokratie wagen", wir erinnern uns), aber leider wurde auf diesem Fundament nie weiter aufgebaut. Stattdessen blieb man beim absoluten vom Gesetz festgeschriebenen Minimum und ließ zu, dass diese Institutionen in der Bedeutungslosigkeit verschwanden (was übrigens auf Astas und andere Studierendenvertretungen ebenso zutrifft, die zwar eine Spielwiese von Nachwuchspolitiker*innen und solchen, die sich dafür halten, sind, aber wenig realen Einfluss aufweisen und mit Wahlbeteiligungen im einstelligen Bereich umherdümpeln). Demokratie kann man nur durchs Machen lernen, und da ist leider sehr wenig Spielraum.

5) The Fallen Mercenaries in Russia’s Dark Army

Wagner’s mercenaries have been fighting on the side of the separatists in eastern Ukraine, propping up Bashar al-Assad’s dictatorship in Syria and backing the warlord Gen. Khalifa Haftar in Libya, as well as fighting anti-government rebels in the CAR. They have also been deployed to Sudan, initially in support of since-ousted dictator Omar al-Bashir, and Mozambique, where they mounted a disastrous and swiftly abandoned offensive against Islamist insurgents. [...] Svetlana received the news of her son’s death more than a month after it happened. She was working at the time in Poland. She says she doesn’t have any recollection of what happened next or how she traveled back to Odessa and from there to Rostov to visit the grave. In Rostov she was allowed just 24 hours to pay her respects. “If you want to remain on good terms with us, don’t ask us any questions,” she says she was told. If she kept asking questions, she was told, she wouldn’t ever be able to cross the Russian border again to visit her son’s grave. [...] All of them are men, most lacking more than a meager education; age ranges vary between 18 and 50, but most fighters are ages 25 to 30. They come from unstable home lives in which steady or reliable role models are often absent. They prefer isolation to company and tend not to trust other people. They find it hard to create or maintain friendships or start families. “Another unifying element is a lack of empathy,” Turuta says. “They are unable to control their emotions, and they are cold in communicating. That is the main reason why these people are able to kill.” [...] “If they need to recruit 100 people tomorrow to do something illegal in Europe, these people will fly in dressed in civilian clothes in groups of two to five men. They will assemble, put on uniforms and take up arms. One small group can very quickly destabilize the situation in any country. That is the real danger of Wagner.” (Michael Weiss/Holger Roonemaa/Mattias Carlsson/Liliana Botnariuc/Pierre Vaux, New Line)

Die Gruppe Wagner wird in letzter Zeit immer wieder genannt. Ob in Libyen oder Syrien, in der Ukraine oder Tschetschenien, wo im Auftrag des Kreml völkerrechtswidrig Gewalt angewendet werden soll, sind sie dabei. Die Folgen für die Betroffenen, wie sie in der Reportage eindringlich geschildert werden, sind erschütternd. Besonders aber die letzten hier zitierten Zeilen sind aufällig: der Kreml nutzt die Söldnertruppe als leicht zu leugnendes Element in Konflikten, in denen destabilisiert werden soll. Das sieht man in unmittelbar europäischer Nachbarschaft vor allem in der Ukraine, in der Wagner ein großes Element der "Separatisten" stellt, die gegen die Regierungstruppen kämpfen.

6) DC Police Tried to Fire 24 Current Officers for ‘Criminal Offenses.’ A Powerful Panel Blocked Nearly Every One, Documents Show.

Internal records show that MPD’s Disciplinary Review Division sought to terminate at least 24 officers currently on the force for criminal misconduct from 2009 to 2019. In all but three of those cases, the records show, the Adverse Action Panel blocked the termination and instead issued much lighter punishment – an average of a 29-day suspension without pay. These officers amassed disciplinary records for domestic violence, DUIs, indecent exposure, sexual solicitation, stalking and more. In several instances, they fled the scenes of their crimes. The disciplinary files, obtained by Reveal from The Center for Investigative Reporting and WAMU/DCist, provide a rare glimpse into how police officers avoid accountability and remain on the force, even after the department’s own internal affairs investigators have determined they committed crimes. The records have never before been made public. [...] The department did not seek to terminate the other 40 officers, more than half of whom the Internal Affairs Division believed had been driving either drunk or recklessly. Other criminal conduct the department did not try to fire current officers for included recklessly handling a firearm, harassment, property damage, stalking and theft. [...] Other personnel files show that an internal investigation concluded that Officer Steven Ferris was arrested for simple assault in 2012 after Internal Affairs reported he confessed that he punched his wife so hard that he fractured a bone around her eye socket. Another officer, Jonathan Goodman, allegedly hit two women at a restaurant in 2010; when one of them said she was calling the cops, he pulled out his badge and replied, “Bitch, I am the police,” according to the files. (Dhruv Mehrotra, Jenny Gathright and Martin Austermuhle, Reveal News)

Eines der leider unzähligen Beispiele für die Dysfunktionalität der meisten amerikanischen Polizeien. Die Strukturen schützen systematisch Straftäter und verschaffen den Beamt*innen eine Aura der Immunität, die zu mehr Straftaten führt. So schlecht die Überprüfung und Rechenschaft bei der deutschen Polizei auch ist, sie kommt nicht annähernd an die Zustände in den USA heran, wo die Leute in Blau einen regelrechten Staat im Staat darstellen, der zunehmend mit der republikanischen Partei verbandelt ist (man denke nur an die "Blue Lives Matter"-Bewegung).

7) Sascha Lobo: "Auf den Datenschutz bin ich gerade etwas wütend"

Was meinst Du mit "Dysfunktionalität Deutschlands"?

Wir haben eine komplette Überbürokratisierung und unglaublich lange Zyklen von Erneuerung. Wir haben – nicht nur, aber auch – aus Altersgründen gegenüber bestimmten digitalen Entwicklungen eine gewisse Abwehrhaltung weiter Teile der Bevölkerung. Wir haben eine Dysfunktionalität bezüglich komplett versaubeutelter Langzeit-Bauprojekte, die zwischen Bürokratisierung, mangelnder Digitalisierung und mangelnder Einsicht ganzer Teile der Verwaltung und Administration entsteht. Das sind alles Mechanismen, die ich als ein Fundament der Dysfunktionalität dieses Landes betrachte. Das ist ein Amalgam aus "wir können nicht", "wir wollen nicht" und "wir haben auch keine Lust, das zu ändern". Und diese Dysfunktionalität wird jetzt während der Pandemie extrem deutlich. [...]

Ein solches Vorgehen hätte in Deutschland vermutlich die Datenschützer auf den Plan gerufen.

Das ist eine Verhinderungsbürokratie. Alle Datenschützer springen ständig aus dem Busch und sagen: "Nee, wir haben nichts verhindert im Coronabereich." Das halte ich einfach für Bullshit. Die Drohkulisse, die im Datenschutzkontext aufgebaut worden ist, hat dazu geführt, dass in den Behörden lieber nichts gemacht wurde. Dann einfach das Fax weiterbenutzen, weil das ja datenschutzkonform ist, was übrigens so nicht mehr stimmt. Die Bremer Datenschutzbeauftragte hat in diesem Jahr nämlich festgestellt, dass das Fax heute eben nicht mehr datenschutzkonform ist. Ich wünschte, ich würde mir das alles ausdenken, was aber leider nicht so ist. Aber lass uns nicht über Datenschutz sprechen, da bin ich einfach gerade etwas wütend.

Welche Rolle hat Angela Merkel für das Scheitern der Digitalisierung in Deutschland gespielt?

Angela Merkel hat radikal auf Stabilität gesetzt, obwohl man eigentlich den Wandel hätte provozieren, begleiten und ausgestalten müssen – und zwar nicht nur im Bereich der Digitalisierung. Irgendwann ist der Wandeldruck so groß, dass Stabilität dann nur noch eine Art "Tanz um sich selbst" ist. Und nur wenn man das Digitale nicht wertschätzt und die Funktion des Digitalen nicht auch als mögliche Weiterentwicklung begreift, nur dann lässt sich diese Merkel’sche Definition von Stabilität überhaupt weiter aufrechterhalten. Ich habe nichts gegen Stabilität, aber: Stabilität braucht dringend ein Update. (Luca Caracciolo, Heise)

Ich bin zu 100% bei Lobo. Der deutsche Datenschutz ist vollkommen übersteuert, und mehr noch: Er hat mittlerweile eine mystische Qualität angenommen. Es weiß längst niemand mehr, was eigentlich im Datenschutz überhaupt geregelt ist, aber jede*r hat eine grobe Vorstellung, was einen Datenschutzverstoß darstellen KÖNNTE und benimmt sich entsprechend. Was durch diese Schere im Kopf alles verhindert wird, geht auf keine Kuhhaut. "Können wir nicht machen wegen Datenschutz" ist eine Phrase, die man praktisch wöchentlich hört, ob es stimmt oder nicht. Das ist ein Ausmaß an versemmelter Kommunikation, da kommt allenfalls die Pandemiepolitik mit.

Auch Merkels Rolle in dem Drama der blockierten - von "verschlafen" kann man wirklich nicht mehr reden, da steckt Absicht dahinter - Digitalisierung Deutschlands arbeitet Lobo vollkommen korrekt heraus. 16 Jahre Stillstand betreffen nicht nur diesen Sektor, aber zusammen mit der Klimawandel fällt es hier am stärksten auf. Auch die Überbürokratisierung mancher Vorgänge ruft keinen Widerspruch hervor. Hier liegt DAS Betätigungsfeld der FDP, und ich hoffe wirklich, dass sie es nutzen können.

8) Ökonomen unterschätzen systematisch das Problem der Ungleichheit

Ökonomen des Internationalen Währungsfonds (IWF) beschäftigen sich seit Jahren zunehmend kritisch mit den Auswirkungen von Ungleichheit. So sorgte etwa eine IWF-Studie für Aufsehen, wonach geringere Einkommensungleichheit mit höherem Wirtschaftswachstum im Zusammenhang steht. Umverteilung sei hinsichtlich ihrer Wachstumswirkungen weitgehend unbedenklich, lautete die Schlussfolgerung Deutschland ist global das einzige große Land, das seit vielen Jahren dauerhafte, exzessive Leistungsbilanzüberschüsse aufweist – und das hängt ganz wesentlich mit hoher Ungleichheit zusammen, wie IWF-Forschung zeigt. Steigende Unternehmensgewinne bei hoher Vermögenskonzentration seien für 90 Prozent des Anstiegs der privaten Sparquote und für ein Drittel des Anstiegs des Leistungsbilanzüberschusses verantwortlich. Es ist gut, dass Ungleichheit mittlerweile einen Stammplatz in der Forschung von Makroökonomen hat - aus Sorge um Wachstum, Beschäftigung und wegen Ungleichgewichten und Finanzmarktentwicklungen. Doch die Politik muss daneben auch beachten, dass Ungleichheit weitere Problemdimensionen hat, etwa wegen reduzierter Chancengleichheit und sinkender demokratischer Partizipation von Menschen am unteren Rand der Einkommens- und Vermögensverteilung. (Philipp Heimberger, Handelsblatt)

Das ist eine dieser vielen Debatten, in denen eine Konsensfindung mittlerweile praktisch unmöglich ist. Beide Seiten können jederzeit mit Studien und Expertisen aufwarten, die jeweils das genaue Gegenteil der anderen Seite belegen. Hier sieht man einmal mehr den Paradigmenwechsel, denn noch vor zehn Jahren war das Bild da deutlich einseitiger.

Ich bin, wenig überraschend, eher auf der Seite derjenigen, die dafür argumentieren, dass Ungleichheit sehr wohl ein Problem in Deutschland ist, aber überzeugende Belege kann ich dafür leider nicht offerieren, schon gar nicht für diejenigen, die vom Gegenteil überzeugt sind. Letztlich ist das aber auch irrelevant. Entscheidend sind die politischen Mehrheitsverhältnisse, denn genauso wie bei Virolog*innen werden wissenschaftliche Erkenntnisse zwar gerne zitiert, wenn sie in den eigenen Kram passen, aber Politik macht man dann am Ende doch nach anderen Kriterien.

Maurice Höfgen erklärt übrigens zur Thematik, quasi als Komplementärstück, dass Linke dafür systematisch die Rolle der Vollbeschäftigung unterschätzten. Ich bin mir etwas unsicher, was er damit meint, vielleicht hat ja jemand in den Kommentaren eine Idee.

9) Kooperation mit AfD? Merz droht mit Parteiausschluss

Der designierte CDU-Vorsitzende Friedrich Merz will eine Kooperation seiner Partei mit der AfD verhindern. "Mit mir wird es eine Brandmauer zur AfD geben", sagte Merz dem "Spiegel". "Die Landesverbände, vor allem im Osten, bekommen von uns eine glasklare Ansage: Wenn irgendjemand von uns die Hand hebt, um mit der AfD zusammenzuarbeiten, dann steht am nächsten Tag ein Parteiausschlussverfahren an." Er werde im Verhältnis zur AfD von Anfang an sehr konsequent sein. "Wir sind nicht die XYZ-Partei, die mit jedem kann. Wir sind die CDU." Franz-Josef Strauß habe mal gesagt, dass eine Jacke, die man einmal falsch zuknöpfe, sich oben nicht mehr korrigieren ließe. "Da hatte er recht." (rtr, T-Online)

Ein weiterer "Only Nixon can go to China"-Moment, den wir hier sehen. Es ist ohnehin atemberaubend, wie Merz sich gerade als CDU-Vorsitzender neu erfindet (Stichwort Adoptionsrecht für Homosexuelle). Genauso wie bei Lindner ist das eine positive Überraschung, und ich nehme den gewandelten Merz jederzeit vor dem randständigen Feuerspucker. Auffällig finde ich, dass Merz hier en passant eine wesentlich schärfere Politik rausgibt als Annegret Kramp-Karrenbauer. Die stürzte seinerzeit darüber, dass sie versuchte, die Thüringer CDU von der Zusammenarbeit mit der AfD abzubringen, was als inakzeptabler Eingriff in die Autonomie des Landesverbandes galt. Merz verkündet jetzt einfach so den Parteiausschluss, und keine Wimper zuckt. Nixon went to China, indeed. Und nebenbei: ich verstehe die Jackenmetapher nicht. Ich kann die Jacke doch jederzeit wieder aufknöpfen und richtig zumachen?

10) Biden Won Big With a Bad Hand

Relative to its strength in Congress, the Biden administration has proved outstandingly successful. In 11 months, Biden has done more with 50 Democratic senators than Barack Obama did with 57. He signed a $1.9 trillion COVID-relief bill in March 2021: $1,400-per-person direct payments, $350 billion in aid to state and local governments, an extension of supplemental unemployment-insurance benefits and subsidies under the Affordable Care Act. He signed a $1 trillion infrastructure bill in November. He signed some 75 executive orders, many of them advancing liberal immigration goals. He’s also won confirmation for some 40 federal judges, more than any first-year president since Ronald Reagan, and twice as many as Donald Trump confirmed in his first year with a 54-vote Senate majority. Indeed, from a progressive point of view, it’s a miracle that he did not bump into those constraints even sooner than he did. Had Trump accepted defeat in November with any kind of grace or decency, Republicans would surely have held at least one of the two Georgia Senate seats, and President Biden would have had to negotiate his agenda past Senate Majority Leader Mitch McConnell. It’s bad psychology and worse political science to use electoral outcomes to make grand pronouncements about public opinion. But if we should be very careful in our statements about what voters wanted, we can easily see what the electoral system delivered. That system delivered a decisive repudiation of the Trump presidency in the presidential election in November, then a repudiation of the Trump post-presidency in Georgia in January. Beyond that, however, the system did not deliver the opportunity for progressive change that it delivered in 2008, let alone in 1964 or 1932. (David Frum, The Atlantic)

Mir geht diese doom&gloom-Berichterstattung aus demokratischen Kreisen auch reichlich auf den Zeiger. Die Partei hat immens viel erreicht, genauso wie 2009 auch schon. (Wer weitere Quellen in diese Richtung will: Kevin Drum stößt in dasselbe Horn, ebenso Matthew Winkler von Bloomberg.) Damals haben sie auch alles zerredet. Die Republicans würden in der gleichen Lage auf den Dächern tanzen. Niemand kann so gut Wahlkampf gegen die Democrats machen wie die Democrats.

Jonathan Chait hat das Phänomen der Unzufriedenheit mit den eigenen Präsidenten schon 2011 beschrieben. Leider hat sich daran seither wenig verbessert. Dieser Drang, alles ganz furchtbar zu finden, ist etwas sehr linkenspezifisches. Ich habe das (witzigerweise ebenfalls 2011) auch schon analysiert, in einem Artikel, der mir, zusammen mit meiner Liebeserklärung an Amerika, die bleibende Feindschaft der damaligen Spiegelfechter-Community eingebracht hat. Denn wenn Linke etwas lieben, neben dem Schlechtreden der eigenen Erfolge, dann das Exkommunzieren vermeintlicher Ketzer*innen. Aber ich schweife ab.

11) The myth of the greatest generation

Even so, the project strikes a blow against the sanitized version of World War II promoted by media figures like news anchor Tom Brokaw, who popularized the term "greatest generation." In a provocative recent book, historian Elizabeth D. Samet argues that nostalgia for a glorious national effort in defense of worldwide freedom and democracy has distorted American politics for at least half a century. In pursuit of the cohesion and purpose that we think we enjoyed between 1941 and 1945, we translate every problem, foreign or domestic, into the idiom of the Second World War. That's led to mixed and sometimes disastrous results in both real and metaphorical conflicts, including this century's War on Terror. The problem isn't just that specific historical analogies don't work (not every foreign policy dispute is another Munich, not every strongman ruler is another Hitler). It's that the mythology of collective redemption through violent struggle sets expectations that can never be realized, encouraging a cycle of idealistic overreach followed by disappointed pessimism. [...] Partly inspired by genuine historical interest, immersion in the "good war" of the past could also be a compensation for uncertainty and upheaval younger Americans wrongly believed was specific to the second half of the 20th century. That's why the 1990s saw an explosion of World War II-themed popular culture, much of it produced by and for men in late middle age. (Samuel Goldman, The Week)

Diese Obsession mit der "Greatest Generation" ist ein amerikanisches Ding, und sie wird hier im Artikel ziemlich gut auseinandergenommen. Ich würde an der Stelle noch darauf hinweisen, dass alle am Krieg beteiligten Staaten ähnliche Narrative pflegen. In Großbritannien ist es weniger eine Generationenfrage als eine gesamtgesellschaftliche Verklärung: man hat gemeinsam alles durchgestanden, Klassenunterschiede überwunden und mit plucky Britishness den Blitz überstanden. Nichts davon ist wahr, und als politisches Narrativ richtete es mindestens schon so viel Schaden an wie die "Greatest Generation". In Russland wird die Identität der anderen Sowjetrepubliken vollkommen ausradiert (obwohl die Mehrzahl der sowjetischen Kriegstoten nicht russisch war) und jede Individualität gegenüber einem kollektiven Heldengedenken ausradiert, dem man sich nicht in den Weg stellen darf. In Frankreich waren alle im Widerstand, in Deutschland wussten alle von nichts. Und so weiter und so fort.

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