Freitag, 18. Dezember 2015

Die Kandidaten 2016: Ted Cruz

Bevor Donald Trump im Juni 2015 die Bühne betrat, war für alle Beobachter vor allem eine Sache klar: der totale Außenseiter, der Scharfmacher, der Radikale, derjenige, der Dinge sagt, die sonst niemand sagen würde, das war Ted Cruz. Cruz, ein Senator aus Texas, hatte Anfang 2015 ungefähr so gute Chancen auf die Nominierung wie Chris Christie. Dass Cruz inzwischen einer der aussichtsreichsten Kandidaten ist und Christie tatsächlich eine wenngleich geringe Chance hat zeigt, wie chaotisch der bisherige Verlauf des Wahlkampfs war. Wer aber ist Ted Cruz?

2012 trat der damalige Senator von Ost-Texas, Kay Hutchinson, nicht mehr zur Wahl an. Der republikanische Kandidat für den Posten David Dewhurst, der Vize-Gouverneur des Bundesstaates. Cruz forderte ihn in den primaries heraus, obwohl Dewhurst die Unterstützung des Establishments und deutlich mehr Geld zur Verfügung hatte (etwa drei Dollar für jeden von Cruz). Cruz gewann die endorsements von Sarah Palin und Rick Santorum, beides Darlinge der evangelikalen Rechten zur damaligen Zeit, des "Club for Growth", einem rechten Think-Tank, von Erick Erickson, einem einflussreichen rechten Blogger, sowie diversen anderen Figuren der Tea-Party-Bewegung. Cruz gewann die primaries und die folgende Wahl gegen den Kandidaten der Democrats. Dabei gewann er 6 Prozentpunkte mehr Unterstützung unter den Hispanics als Mitt Romney, aber immer noch rund 20 Prozentpunkte weniger als der Kandidat der Democrats.


Im Senat fiel der junge Abgeordnete (Cruz ist erst 45) schnell durch seine aggressive Rhetorik auf. Diese richtete er nicht nur gegen Obama und die Democrats - obwohl er sich da wahrlich nicht zurückhielt und auf keine Hyperbel verzichtete, wenn sie sich ihm bot - sondern auch gegen seine Kollegen. Im Shutdown von 2013 (für eine Erklärung siehe hier) machte er zum ersten Mal nationale Schlagzeilen, denn er war eine treibende Kraft hinter dem Tea-Party-Block, der die Republicans in den ultimativ desaströsen Shutdown trieb. Damit machte er sich bei seinen Kollegen im Senat alles andere als beliebt, denn im Vergleich zum House of Representatives sind die Republicans dort deutlich pragmatischer; Cruz passte mit seinem konfrontativen Stil nicht wirklich hinein und tat auch in der Folgezeit alles dafür, sich deutlich von ihnen abzuheben und einen Ruf als Querschütze zu erwerben und damit trotz seiner Mitgliedschaft im Kongress nicht mit "Washington" assoziiert zu werden. So bezeichnete er etwa die Republicans, die mit Obama zusammenarbeiteten (eine deutliche Mehrheit) als surrender caucus, warf dem Sprecher des Senats Mitch McDonnel öffentlich Lügen vor und kritisierte seine Kollegen beständig dafür, nicht konservativ genug zu sein.

Diese revanchierten sich entsprechend, indem sie seine Gesetzesintiativen nicht unterstützten, ihm keine Redezeit jenseits dessen gönnten auf was er Anspruch hat und verwehrten ihm sogar einen so genannten roll call, eine rein prozedurale Abstimmung, die sich die Senatoren für gewöhnlich über Parteigrenzen hinweg als Höflichkeitsgeste gewähren. Senator McCain nannte Cruz einen wacko bird. Trotz dieser Feindschaft im Kongress - oder gerade deswegen - ist Cruz' Senatssitz sicher, denn seine Wähler lieben die klare Anti-Establishment-Haltung. Es ist jedoch einsichtig, warum Cruz' Kandidatur zur Präsidentschaft - die er als erster der großen Kandidaten im März verkündete - auf eine gewisse Skepsis stieß. Der Mann ist im Kongress fast unbeliebter als Obama.


Doch auch abgesehen von der schmutzigen Wäsche des Kongresses schleppt Ted Cruz eine ganze Menge an Ballast mit. Der Mann ist ein Rechtsaußen in einer Partei, die spätestens seit dem Sieg der Tea-Party-Bewegung selbst kaum mehr als Mitte bezeichnet werden kann. Er ist kategorisch gegen Abtreibungen, steht jeglicher Reform der Einwanderungsgesetze feindlich gegenüber (außer natürlich Verschärfungen), will das Budget krass zusammenstreichen, Waffengesetze liberalisieren und was sich noch so auf dem Wunschzettel der Fundamentalisten findet. Zudem ist er der Überzeugung, dass Muslime eigentlich keine guten Amerikaner sein können und dass die passende Antwort auf den ISIS-Terror ein Flächenbombardement syrischer Städte ist.


Wie also konnte es passieren, dass Cruz jetzt plötzlich als ernsthafte Alternative gilt? Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe. Einer davon ist tatsächlich Cruz zuzuschreiben, der andere liegt völlig jenseits seiner Kontrolle.


Beginnnen wir mit Letzterem, denn er lässt sich in zwei Worte zusammenfassen: Donald Trump. Trumps Einstieg ins Rennen im Juni 2015 verschob die ideologische Achse der Republicans sofort merklich. Seine extremistischen Äußerungen zur Einwanderung (“When Mexico sends its people, they’re not sending their best. They’re not sending you. They’re not sending you. They’re sending people that have lots of problems, and they’re bringing those problems with us. They’re bringing drugs. They’re bringing crime. They’re rapists. And some, I assume, are good people.”) lassen jede noch so radikale Ansicht eines Ted Cruz geradezu moderat erscheinen, denn trotz all seiner Reibereien mit dem Kongress ist Cruz schließlich Politiker: er kann sich so ausdrücken, dass es nicht sofort als klare Beleidigung erkennbar ist. Cruz erscheint dadurch deutlich wählbarer, als er tatsächlich ist. Seine Kandidatur dürfte in Clintons Hauptquartier das Best-Case-Szenario sein, und Umfragen zeigen deutlich, dass in diesem Fall ein erdrutschartiger Sieg Clintons wahrscheinlich ist.


Der andere Grund für Cruz' dominante Stellung in denar primaries beruht auf seinem eigenen Erfolg. Wie andere evangelikale Kandidaten vor ihm baut er auf einen Sieg in Iowa, dem ersten caucus-Staat (siehe Erklärung zum Vorwahlsystem), in dem evangelikale Wähler eine überproportionale Rolle spielen. Zu diesem Zweck baut er bereits seit über einem Jahr unter großem Einsatz eine gewaltige Operation im Buckeye-State aus, die an Dichte die aller anderen Kandidaten übertrifft - vor allem aber, und das könnte entscheidend sein, die des Establishment-Darlings Marco Rubio, dessen Maßnahmen in Iowa geraderzu verdächtig unzureichend sind. Diese detaillierte Vorbereitung und Organisationsdichte zahlt sich jetzt aus: Cruz sammelt die Wähler von Carsons implodierendem Wahlkampf ebenso ein wie einen Teil von ehemaligen Scott-Walker-Fans, und er ist von allen Kandidaten am besten aufgestellt, bei einer eventuellen Implosion Trumps Wählerreservoir einzufangen.


Um zu verstehen, warum das so ist, hilft ein Blick in die Vergangenheit. In den Vorwahlen 1972 hatten die Democrats ein ähnliches Problem wie die Republicans heute: ein radikaler, xenophober Kandidat fing die Proteststimmen ein. Dieser Mann war George Wallace, und fast alle anderen Kandidaten versuchten, sich von ihm zu distanzieren. Wie Trump heute baute Wallace vor allem auf schiere Provokation und hatte wenig echte Organisation. Als Wallace in Iowa gut abschnitt, war ein Konkurrent nicht bei den anderen dabei, ihn zu kritisieren: der Populist George McGovern, der (damals) deutlich linkere Positionen als der demokratische Mainstream vertrat. McGovern zeigte Verständnis für den Unmut der Wähler und bot sich als Alternative an - und konnte dank überlegener Organisation in den späteren Staaten des primary-Kalenders die Wähler der implodierenden Wallace-Kampagne einfangen und die Nominierung sichern. Dass er danach 48 der 50 Staaten an Nixon verlor, sollte Clinton im Falle Cruz deutlich Hoffnung geben.


Cruz scheint eine ähnliche Strategie zu fahren. Statt Trump direkt anzugreifen, umarmt er ihn, statt seine Wähler zu demobilisieren tut er alles, sich in ihren Augen nicht zu diskreditieren. Auch Trump scheint das erkannt zu haben, und nachdem er ihn vor zwei Wochen noch als maniac bezeichnet hatte, erklärte er in der fünften TV-Debatte überraschend, dass er Cruz eigentlich total toll findet und tätschelte ihm auf offener Bühne die Schulter.


Und das führt direkt in die aktuelle paradoxe Situation, dass der anti-Trump, der gerade am besten aufgestellt ist, die primaries gegen den Immobilienmogul zu gewinnen, die Hassfigur des Establishments schlechthin ist. Wenn Rubio seinen Wahlkampf nicht bald zum Laufen bringt, könnte genau dieses Albtraumszenario für die Republicans Wirklichkeit werden.

Mittwoch, 16. Dezember 2015

Was in Vegas passiert bleibt nicht in Vegas

Gestern Abend hatten die Republicans ihre letzte Debatte des Jahres 2015 in Las Vegas. Um gleich eventuellen Missverständnissen vorzubeugen: Substanzielles wurde dabei nicht gesagt, policy wonks dürften die Veranstaltung eher unbefriedigt verlassen haben. Aber das war vermutlich auch nie die Erwartungshaltung für diese Art von Veranstaltungen, denn in rund 100 Minuten bei 9 Kandidaten ernsthafte Diskussionen zu erwarten hieße doch, dem Optimismus etwas viel Raum einzuräumen. So, what's new? 

Wir sollten zuerst kurz innehalten und über die Rahmenbedingungen der Debatte nachdenken. Sheldon Adelson, ein Immobilienhai aus Las Vegas, stellte für die Debatte sein Hotel zur Verfügung (moderiert wurde sie von CNN) und bestimmte damit auch diverse andere Rahmenbedingungen - vor allem die Zusammensetzung eines Publikums, das, im Gegensatz zu den Debatten im Sommer und Herbst mit Obama, buhen darf. Adelson ist unter anderem der Überzeugung, dass die Palästinenser ein "erfundenes Volk" seien und unterstützt die Politik der israelischen Rechten bedingungslos; gleichzeitig ist er einer der größten Geldgeber der Republicans und unterstützte Mitt Romney massiv. Da der Schwerpunkt der Debatte auf der Außenpolitik lag, besteht hier bereits ein leichter Interessenkonflikt. Eine Selbstbeschränkung der Kandidaten dürfte an dieser Stelle kaum überraschen.

Dass dies kein großes Thema war dürfte wohl auch daran liegen, dass die Kandidaten wenig Ermunterung durch Milliardärsspender brauchen, um eine aggressive Außenpolitik im Nahen Osten zu vertreten. Und damit sind wir auch gleich bei der Crux der Debatte gestern, denn hauptsächlich drehte sich alles um die eine Frage, wer der größte Falke unter den Raubvögeln sei. Dabei zeigten sich hauptsächlich vier Konstellationen:

Erste Konstellation: Cruz vs. Rubio. Marco Rubio und Ted Cruz gingen konstant aufeinander los. Beide sind jedoch Profis darin, entschlossen in die Kamera zu blicken und harte, kernige Sätze aufzusagen. Auffällig war, dass Rubio trotz einiger erkennbarer Schwächen Cruz nicht in der Lage war, diesen vor Publikum zu exponieren. Trotz seiner martialischen Rhetorik betonte Cruz, dass er nicht für eine bedingungslose Überwachung durch die NSA war und den Krieg in Syrien auf Luftschläge begrenzen wollte. Dies führte zu der eher ungewöhnlichen Paarung mit Rand Paul, der ebenfalls schwer mit Rubio ins Gericht ging. Schädlich dürfte der Schlagabtausch dabei für keinen der Beteiligten gewesen sein; hilfreich allerdings auch nicht. Es wird spannend bleiben abzuwarten, ob Rubio oder Cruz den Puls des Wählers richtig abtasten: wollen diese eine erneute Invasion des Irak mit Bodentruppen, wofür Rubio steht, oder doch lieber darauf verzichten, was Cruz' (und Pauls, aber wer interessiert sich noch für Paul?) Position ist.

Zweite Konstellation: Trump vs. Bush. Jeb Bush, der in den Umfragen schon seit Wochen nicht vom Fleck kommt, entschied sich dafür, den Abend durch seine Angriffe auf Donald Trump zu definieren. Außenpolitisch war er mit der Überlegteste aus dem Rudel, was weniger für ihn als gegen seine Mitbewerber spricht - schließlich beschränkt er sich auch hauptsächlich darauf, eine erneute Invasion des Irak zu fordern. Seine Entscheidung, sich durch Angriffe auf Trump zu profilieren, ist etwas merkwürdig, denn hier machte er bereits in der Vergangenheit keine gute Figur. Es gelang ihm auch dieses Mal nicht, entscheidende Treffer zu landen, aber immerhin konnte er Trump einige Male verunsichern und leistete sich keine offensichtlichen Schwächen wie die Forderung nach der Entschuldigung für seine Ehefrau (die Trump damals ablehnte) mehr. Unabhängig von Bush sorgte Trump für die einzige substanzielle Überraschung des Abends: er schloss kategorisch aus, als Independent bei den Wahlen anzutreten. Im Gegensatz zu von vor zwei Monaten hat diese Aussage dieses Mal Gewicht, weil Trump beginnen müsste, Vorbereitungen dafür zu treffen, wenn er sich die Option offenhalten würde - was er bislang nicht getan hat. Reince Priebus vom RNC dürfte an dieser Stelle ein Stein vom Herzen gefallen sein.

Dritte Konstellation: Trump, Fiorina und Carson. Trump selbst bewies erneut, dass er nicht die geringste Ahnung von Außenpolitik hat und versuchte, dies mit einer Reihe kerniger Aussagen zu kaschieren. Auf typische Art und Weise ergab das, was er sagte, insgesamt praktisch keinen Sinn (I think, for me, nuclear is just the power, the devastation is very important to me), aber wahrscheinlich wird dies für ihn wie immer keinen echten Nachteil darstellen. Schließlich wird er das, wenn er erst einmal Präsident ist, nach eigener Aussage so schnell lernen, dass unsere Köpfe sich drehen werden. Noch schlimmer war es bei Carson und Fiorina: beide hatten exakt null Sachkenntnis, aber Fiorina versuchte es mit hollywoodtauglichen One-Linern zu überspielen, während Carson schlichtweg ahnungslos und wie ein Betrunkener auf der Bühne wirkte. Angesichts dessen, dass die Evangelikalen mit Cruz einen neuen Standartenträger gefunden haben, dürfte Carsons als Kandidatur getarnte Buch-Tour nun hoffentlich bald ein Ende finden. Wer diese Performance gesehen hat, kann eigentlich nur mit Grauen auf die Vorstellung reagieren, dass dieser Mensch Entscheidungsgewalt über irgendetwas hat, aber das hat die Wähler der Republicans bisher auch nicht aufgehalten.

Vierte Konstellation: Christie, Kasich, Fiorina. Während Rubio und Cruz ihre Debatte mit zahllosen Details führten und damit ein ganz neues Level an Unverständlichkeit erreichten, versuchten Christie, Kasich und Fiorina hauptsächlich, sich gegenseitig in ihrer Bereitschaft, einen neuen Krieg anzufangen, zu übertreffen. Dabei ging es weniger um irgendwelche Details. Christie etwa verkündete - in so many words - dass er sich nicht sonderlich um den Kongress und all diese dummen Gesetze machte, die ein ordentliches Durchgreifen verhinderten. Wer braucht auch so was wie die Verfassung? In ein vergleichbares Horn stießen auch Kasich und Fiorina, aber im Gegensatz zu Christie sind deren Chancen auf die Nominierung absolut unterirdisch.

Was also bleibt von der Debatte? Faszinierend ist, wie ungeheuer jingoistisch die Kandidaten mit Ausnahme Rand Pauls sind. Rund die Hälfte von ihnen macht dazu den Eindruck, als würde sie die Länder, in die sie einmarschieren will, nicht einmal auf der Karte finden. Dass diese Positionen überhaupt ernsthaft diskutiert werden können ist der Beleg dafür, wie weit die republikanische Partei abgedriftet ist. Sie befindet sich im Griff von Radikalen - wer dafür noch immer Belege brauchte, konnte gestern Abend fündig werden.

Samstag, 5. Dezember 2015

Bücherliste 2014/2015

Bücher sind der Schlüssel zur Welt, und es gibt praktisch unendlich viele davon auf der Welt, und jedes Jahr kommen neue hinzu. Da das Leben kurz ist, möchte man nicht unbedingt mehrere Bücher anfangen und irgendwann feststellen, dass sie Mist sind und man bisher seine Zeit verschwendet hat. Andererseits ist es oft schwer, an gute Ideen für neue Bücher heranzukommen, wenn man sie nicht gerade durch Zufall findet. Ich stelle daher hier meine Bücherliste 2014/15 vor, die zwar nicht alle Bücher enthält, die ich in diesem Zeitraum gelesen habe, aber alle, die ich guten Gewissens weiterempfehlen kann. Vielleicht findet ja jemand etwas Interessantes darin. Die meisten Bücher habe ich auf Englisch gelesen; wo vorhanden, habe ich Links auf die deutschen Versionen beigefügt.  Alle Links führen direkt zu Amazon, und wer die Bücher über diese Links bestellt sorgt dafür, dass ein kleiner Teil des Preises von Amazon an mich geht. Kapitalismus!

Adam Tooze - The Deluge (bisher nur auf Englisch) In diesem Buch beschreibt der Historiker Adam Tooze, der durch sein Buch über die Kriegswirtschaft des Dritten Reiches "The Wages of Destruction" bekannt geworden ist (und das ich uneingeschränkt empfehlen kann), wie sich zwischen 1916 und 1931 eine neue Weltordnung herauskristallisierte, die die alte imperialistische Aufteilung der Welt durch die europäischen Staaten ablösen konnte. Hierbei untersucht er vor besonders, welche Rolle dabei den USA zukam und analysiert die Außenpolitik Woodrow Wilsons sehr detailliert. Der alteingesessenen Vorstellung, dass Wilson ein hoffnungsloser Idealist gewesen sei, kann er dabei wenig abgewinnen. Detailliert zeichnet er die zugrundeliegende Logik der neuen amerikanischen Politik, der 14 Punkte und der Haltung zu Versailles nach. Allein in diesem Abschnitt finden sich so viele herausfordernde und inspirierende Gedanken, dass das Buch jedem einschlägig Interessierten anempfohlen werden muss. Doch auch die Zeit zwischen 1919 und 1931 weiß Tooze unter dem Betrachtungswinkel dieser neuen Weltordnung zu analysieren und reißt gerade uns Deutsche aus unserem bequemen, deutsch-zentrischen Blick auf die Geschehnisse. Die Reparationskrise hatte eine internationale Dimension über das Ruhrgebiet hinaus. Gleichzeitig zeigt Tooze aber auch, wie sich Japan zur gleichen Zeit von einem liberal-demokratischen Musterschüler zu der Militärdiktatur entwickelt, die 1941 den USA in einem Anfall verzweifelter Hybris den Krieg erklären wird. Toozes Werk ist unabdingbar, will man diese Periode verstehen und sie globaler einordnen. (Einen Kurzabriss der wichtigsten Thesen habe ich auf dem Geschichtsblog zu einem Artikel verarbeitet)

Anselm-Doering Manteuffel - Die Entmündigung des Staates Für nur 2,49€ bekommt man gerade diesen Essay des Tübinger Historikers Doering-Manteuffel, in dem er sich mit der schleichenden Entmündigung des Staates seit den 1980er Jahren beschäftigt. Dabei wird natürlich ein starkes Gewicht auf die neoliberale Revolution gelegt, aber auch ein Schlaglicht auf die zunehmende Machtkonzentration der Judikative (Stichwort Bundesverfassungsgericht) und die Verflechtung von Politik und Wirtschaft sowie die immer weiter voranschreitende Desillusionierung der Bevölkerung mit der Politik geworfen. Diese Thesen sind Lesern dieses Blogs inhaltlich vermutlich inhaltlich bereits bekannt, aber die Einordnung durch einen distanzierten Historikerblick mag sich für den einen oder anderen trotzdem lohnen.

Carl Sagan - Pale Blue Dot (dt: Blauer Punkt im All)
Eine ganz andere Thematik bedient Carl Sagans Klassiker aus den 1990er Jahren. Der profilierte Astronom und NASA-Ingenieur nimmt den Leser auf eine Reise durch das Sonnensystem und diskutiert dabei auch philosophierend über den Platz der Menschen im Univerum und die Zukunft der Raumfahrt. Zwar bemerkt der einschlägig interessierte Leser das Alter des Buchs mittlerweile (so sind Sagans - korrekte - Spekulationen über die Atmsophäre des Saturn-Monds Titan mittlerweile bestätigt und Pluto ist kein Planet mehr), aber die ungeheuer ausdrucksstarke Prosa hat nichts von ihrer Sprachgewalt verloren. Wer sich davon einen Eindruck verschaffen möchte, kann dies hier auf Youtube in Sagans nicht minder eindrücklicher Stimme tun.

Kim Stanley Robinson - Red Mars (dt. Roter Mars)
Ein weiterer Klassiker, dieses mal aus der Science-Fiction-Bellitristik, ist Kim Stanley Robinsons "Red Mars". Der Roman ist der erste Band der Mars-Trilogie, die sich mit der Kolonisierung des Mars durch die Menschheit, ca. 2030, befasst. Robinsons Romane zeichnen sich dabei stets durch ungeheure Faktenkenntnis und Realismus aus, was sie zu recht schwergängiger Kost macht. Robinson beschreibt, beinahe schon Tolkien-esque, ausführlich die verschiedenen Marslandschaften und ihre Änderung unter dem Terraforming. Die Kolonisten, die als Charaktere nicht übermäßig interessant sind, sind eher Vehikel für verschiedene philisophische und politische Ideen, die im Verlauf des Romans ausführlich diskutiert werden. Lange Rede, kurzer Sinn: die Marstrilogie ist eher speziell. Ich habe im zweiten Band aufgegeben, aber der erste war es trotzdem wert.

Philipp Matyzak - Als Legionär in der römischen Armee: Ein Karriereführer
Wiederum ein völlig anderes Genre bedient Philipp Matyzak in seinem Karriereführer für die imperial-römische Armee. In locker-leichtem Ton führt er von der Anwerbung bis zur Entlassung (oder dem Tod) durch das Alltagsleben der römischen Legionäre, immer garniert mit hilfreichen Tipps (Tunika-Farbe: rot, Helmverstärkung: in Thrakien ja, in Nubien nein), was einen deutlich verständlicheren Zugang zu dem Alltagsleben des Legionärs gibt als jede andere Abhandlung, die ich bisher gelesen habe. Das Buch ist recht kurz, hat einen guten Zug in seiner Prosa und ist durchweg unterhaltsam. Es passiert selten, dass man oft laut auflacht, während man die Schwächen der römischen Kavallerie aufgelistet bekommt (jeder potenzielle Gegner hat bessere) oder erfährt, wie man um den Wachdienst im Lager herumkommt (einige Jobs befreien einen davon, aber dafür muss man den Optio bestechen). Absolut empfehlenswert.

Randall Munroe - What If? (bisher nur auf Englisch)
 Den meisten Internetbewohnern als Betreiber des Webcomics xkdc ein Begriff. Philophische, naturwissenschaftliche oder informatische Themen (und gelegentlich historische oder politische) werden hier unterhaltsam verpackt näher gebracht. Gleichzeitig unterhält Munroe eine große Rubrik namens "What If?", für die Leser hypothetische Fragen einsenden, die Munroe dann nachrecherchiert und wissenschaftlich fundiert beantwortet. So erfährt man unter anderem, eine wie große Population von Tyrannosaurus Rex von New York ernährt werden könnte, was mit einem U-Boot passiert, das in den Jupiter stürzt, welche Auswirkungen es hätte, wenn die Erde plötzlich aufhörte sich zu drehen, was geschehen würde, wenn man den Mond komplett durch die gleiche Masse Neutronen ersetzen würde und vieles mehr. Die meisten Szenarien enden auf unterhaltsame Weise mit dem Untergang der Welt und der Menschheit, aber nebenbei lernt man einige Grundregeln der Physik, was auch etwas wert ist.

Sascha Lobo/Christopher Lauer - Aufstieg und Niedergang der Piratenpartei
Die Autoren sind hier etwas unter PR-Gesichtspunkten aufgelistet: der Löwenanteil des Buches stammt von Christopher Lauer und besteht aus einem (stark editierten) Transkript mehrerer Gespräche mit Lobo. Lauer reflektiert dabei über seinen eigenen Weg in der Piratenpartei, über die Gründe des Erfolgs und ihres Niedergangs. Er begleicht dabei mehr als nur eine offene Rechnung mit seinen parteiinternen Gegnern, spart aber auch nicht mit Selbstkritik, was das Ganze erträglich hält. Zwischendrin offeriert Lobo seine eigenen, deutlich nüchterneren Analysen über die Gründe und kommentiert, bei weitem nicht immer zustimmend, Lauers Ausführungen. Wer sich (immer noch) für die Piraten interessiert, sollte nachsehen, ob er 3,99 Euro im Geldbeutel übrig hat. Im Interesse der Transparenz: die folgenden Bücher habe ich als ungekürzte Hörbücher angehört und nicht gelesen. Ich denke zwar nicht, dass das für die Bewertung ernsthafte Unterschiede macht, aber ich wollte es gesagt haben.

Dean Baker - The Conservative Nanny State (bisher nur auf Englisch)
Der Vorwurf, einen all-umfassenden und jedes Risiko wegbezahlenden Nanny-State zu wollen, wird gerne von Konservativen und Libertären an Progressive gerichtet. Dean Baker zeigt in seinem kleinen Büchlein, wie man den Spieß umdrehen kann. Er argumentiert für unapologetisch für eine freie Marktwirtschaft und dafür, den konservativen Nanny-State zusammenzukürzen. Was versteht er darunter? Baker weißt etwa darauf hin, dass zwar in den letzten 30 Jahren alle möglichen Hindernisse abgeschafft wurden, um Migranten die Arbeit in Produktion und prekärem Dienstleistungsgewerbe und den Unternehmen das Outsourcing zu ermöglichen, gleichzeitig aber den bisherigen Wohlstandsgewinnern zahlreiche Schutzvorschriften zugesprochen werden. Anwälte, Ärzte und Notare etwa brauchen eine aufwändige und teure Akkreditierung und können nur in den USA konsultiert werden. Warum kann ich meine Urkunde nicht über das Internet in Indien notariell beglaubigen lassen? Bakers Antwort ist klar: der konservative Nanny-State. Das Buch ist weniger wegen seiner konkreten Handlungsansweisungen empfehlenswert als vielmehr durch den Perspektivenwechsel, den es gerade Linken aufzwingt, da Baker für mehr Markt und Wettbewerb argumentiert, um eine Umverteilung in der Gesellschaft zu ermöglichen.

Ernst Jünger - In Stahlgewittern
Spätestens seit Dan Carlins großartiger Podcastserie "Blueprint for Armageddon" konnte ich die Lektüre dieses nicht gerade unumstrittenen Klassikers von Ernst Jünger nicht weiter aufschieben. Jüngers Werk ist keine leichte Kost, denn seine Perspektive auf den Krieg ist uns heutzutage ungeheuer fremd. Gleichzeitig ist sein Schreibstil aber einnehmend, und seine Perspektive und seine Erlebnisse sind so faszinierend, dass man innerhalb kürzester Zeit durch das Buch geht. Man hat zwar vom vielen Kopfschütteln irgendwann Nackenstarre, aber immerhin ist es danach etwas besser möglich, die Mentalität eines Menschen zu verstehen, der aus dem Ersten Weltkrieg nicht à la Erich Maria Remarque die Konsequenz zieht, dass es nie wieder Krieg geben darf, sondern der das Erlebnis als positiv empfand - auch nach drei Jahren Schützengraben.

Francis Fukuyama - The Origins of Political Order (bisher nur auf Englisch)
Francis Fukuyama ist uns vor allem durch seine viel-zitierte Aussage vom "Ende der Geschichte" her bekannt, ein weitgehend missverstandenes und viel verbreitetes Bonmot, das mich auch erst einmal davon abgehalten hat mich mit ihm zu beschäftigen. Nachdem ich die Hürde übersprungen hatte, öffnete sich mir in seinem Werk über den Ursprung politischer Ordnung aber eine ungeheuer vielfältige und vor allem global angelegte Betrachtung. Fukuyama durchbricht bewusst die Eurozentrik seiner Wissenschaft und vergleicht das chinesische Kaiserreich, die indischen Maharadschas, den Aufstieg und der arabischen Welt und natürlich auch Europa miteinander. Er entdeckt Gemeinsamkeiten und Unterschiede und versucht diese in einer neuen, allumfassenenden Theorie zu erklären. Seine gesamte Fragestellung steht unter dem Schlagwort: "How to get to Denmark?", womit er meint: warum schaffen es nur so wenige Staaten, eine stabile, liberale und wohlhabende Demokratie zu schaffen? Seine Antworten sind in jedem Falle denkwürdig, selbst wenn man ihnen am Ende nicht zustimmen sollte.

Francis Fukuyama - Political Order and Policial Decay (bisher nur auf Englisch)
 Im zweiten Band seiner Betrachtung politischer Ordnung wendet sich Fukuyama dann dem 19. und 20. Jahrhundert zu und versucht zu erklären, warum Staaten, die eine bestimmte Stabilität und Wohlstand erreicht haben, wieder zusammenbrechen oder doch wenigstens stagnieren. Er untersucht hier auch genauer den Aufstieg der USA und des deutschen Kaiserreichs und versucht dabei zu erklären, wie so unterschiedliche Staaten doch ungefähr gleichzeitig in die Moderne aufbrauchen. Dabei skizziert er auch die Gefahren, die heutigen Staatswesen drohen und entwickelt ein weiteres Theoriegebäude, das es ermöglicht, weltweit Analysen anzustellen. Weitere Themen befassen sich etwa mit den Problemen des Nationbuilding, worüber Fukuyama ja bereits ein eigenes Buch geschrieben hat. Unbedingt ebenfalls empfehlenswert.

Sasha Issenberg - The Victory Lab (bisher nur auf Englisch)
Dieses Buch bedient wiederum eine eher spezielle Zielgruppe. Sasha Issenberg beschreibt in seinem Werk ausführlich aktuelle Trends und Entwicklungen in Wahlkämpfen und unterfüttert diese Erkenntnisse mit allerlei Zahlenmaterial und politischen Theorien. Spannend, wenn man sich für dieses Thema interessiert, todlangweilig, wenn nicht

Richard J. Evans - The Coming of the Third Reich (dt: Das Dritte Reich - Aufstieg)
Richard J. Evans - The Third Reich in Power (dt: Das Dritte Reich - Diktatur)
Richard J. Evans - The Third Reich at War (dt: Das Dritte Reich - Krieg)
Die Historikerzunft leider wahrlich nicht an einem Mangel an Büchern aber das Dritte Reich, aber kurioserweise gibt es nicht besonders viele Überblickswerke. Richard J. Evans, Historiker aus England und Experte für deutsche Geschichte, legt in seiner Third-Reich-Trilogie ein solches vor. Interessant für den interessierten Leser ist es vor allem aus zwei Gründen. Zum einen sind die Bücher noch relativ neu und daher auf einem verhältnismäßig aktuellen Stand der Wissenschaft. Zum anderen ist Evans als Brite ein etwas distanzierterer Beobachter und kann einen anderen blick liefern, als man das von deutschen Autoren gewohnt ist. Er hat seine Bücher auch explizit für ein nicht-deutsches Publikum geschrieben, das bisher nur wenig über das Dritte Reich weiß (was ihn nicht davon abhält, ein knackiges Niveau zu bieten). So übersetzt er etwa kontextabhängig sämtliche Begriffe ("Volk" ist etwa je nach Kontext "nation" oder "people"), statt sie direkt zu übernehmen. Für den deutschen Leser seien daher die Übersetzungen empfohlen. Evans setzt seine Schwerpunkte dabei nach dem aktuellen Wissenschaftsdiskurs. Besonders auffällig ist dies im dritten Band, "Krieg", wo er nur sehr am Rande auf die militärischen Geschehnisse und etwa Taktik und Strategie eingeht, sich aber eingängig mit der Nazi-Vernichtungspolitik, der Besatzungspolitik und den sich wandelnden Herrschaftsmechanismen befasst. Dem Leser muss auch klar sein, dass der Titel wörtlich zu nehmen ist - die Darstellung beschränkt sich auf den Nazi-Staat und kümmert sich praktisch gar nicht um den Pazifik und streift die anderen Länder nur insoweit, wie sie für das Verständnis der deutschen Geschichte notwendig sind.

Steven Pinker - The Better Angels of Our Nature (dt: Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit)
Dieses Buch möchte ich unbedingt und uneingeschränkt empfehlen. Der Psychologe Steven Pinker legt in einem ambitionierten Rundumschlag dar, warum Gewalt unter Menschen sich auch dem Rückzug befindet. Es ist nicht unbedingt intuitiv wenn Pinker behauptet, es gebe einen generellen Trend durch die Menschheitsgeschichte, dass Gewalt (vor allem tödliche Gewalt) konstant abnehmen, und dass dies auch für das 20. Jahrhundert gelte. Seine Betrachtung verschiedener Phasen der Menschheitsgeschichte vom neolithischen Zeitalter bis heute weiß aber durch analytische Brillanz zu überzeugen. Der Leser erfährt so etwa, warum wir Menschen die rechte Hand zur Begrüßung geben und welche Bedeutung Tischsitten für die Abnahme der Gewalt haben. Besonders beeindruckend ist die Lektüre aber dadurch, dass Pinkers These so widersprüchlich zu der von uns täglich wahrgenommenen Realität zu sein scheint. Herrschen nicht überall Krieg und Gewalt auf der Welt? Pinker fordert auf jeder Seite seine Leser heraus, bisherige Axiome auf den Prüfstand zu stellen, und wie bei Fukuyama auch kommt es gar nicht so sehr darauf an, ob man diese These am Ende teilt oder nicht - allein dass man auf einer so fundamentalen Ebene intellektuell herausgefordert wird ist genug, um das Buch unbedingt zu empfehlen. Zudem sticht es unter den politische Bereiche besprechenden Werken dadurch hervor, dass es einen positiven, fast schon optimistischen Grundton hat. Das ist manchmal auch ganz schön.

Tony Judt - Postwar (dt: Geschichte Europas 1945-1990)
 Ein weiteres Standardwerk, das ich aber erst kürzlich lesen konnte, ist Tony Judts "Postwar". Judt beschreibt darin die Geschichte Europas nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion aus dem Blickwinkel der 2000er Jahre. Er zeichnet darin Entwicklungslinien nach und nimmt eine konstant europäische Perspektive ein, immer wieder in die Innenpolitik der verschiedensten Staaten abtauchend und mit trügerischer Leichtigkeit alles zu einem stimmigen, multipolaren Gesamtbild verwebend. Es ist überraschend, dass es keine ernstzunehmenden Alternativen zu diesem Buch gibt, aber die meisten Abhandlungen über den Kalten Krieg befassen sich vor allem mit dem Konflikt von USA und Sowjetunion und betrachten Europa als einen Schauplatz dieses Krieges. Judt macht es genau umgekehrt: er betrachtet die europäische Geschichte jener Zeit, und dass Europa dabei territorial durch den Eisernen Vorhang getrennt und immer wieder Spielball der Supermächte ist, scheint mehr eine Laune der Geschichte. Es ist eine Perspektive, die altgewohnte Blickwinkel herausfordert und für das Verständnis unserer heutigen Epoche wahrscheinlich fruchtbarer ist als die klassische bipolare Sichtweise.

Freitag, 4. Dezember 2015

Rubikon

Seit Jahren beherrscht vor allem ein Thema die Republicans: Obamacare. Kein Kandidat kann heute mehr ernsthaft antreten ohne anzukündigen, für eine vollständige Abschaffung des Gesetzes zu stimmen (repeal). 67 Mal stimmten die Republicans im House of Representatives für die Abschaffung des Gesetzes, 67 mal scheiterten sie im Senat. Heute starteten sie den 68. Versuch - und zum ersten Mal passierte das Gesetz den Senat und wird nun, wenn die Republicans im House nicht doch noch einen Rückzieher machen, Obama zur Unterschrift vorgelegt - der das Gesetz garantiert vetoen wird. Und ja, vetoen ist ein Verb, bevor jemand fragt. Viel wichtiger dagegen scheinen allerdings zwei Fragen: warum versuchten sie es 67mal fruchtlos, und warum klappte es dieses Mal? Und, natürlich, drittens, wird dies irgendwelche Konsequenzen haben? Die letzte Frage lässt sich mit einem entschiedenen Jein beantworten und führt, natürlich, direkt in die Irrungen und Wirrungen des Wahlkampfs.


Die Republicans befinden sich in einem Dilemma. Der repeal war noch eine ernsthafte Möglichkeit, bevor das Gesetz in Kraft trat und damit die Menschen direkt damit in Berührung brachte, und bevor Obamas Wiederwahl 2012 ein präsidiales Veto garantierte. Seit Obamacare 2013 offiziell in Kraft etreten ist, müssen die republikanischen Politiker zwar weiterhin ihre unversöhnliche Gegnerschaft zu dem Gesetz unter Beweis stellen, um die eigene Basis zu befriedigen, sich aber gleichzeitig auch mit der Masse der Betroffenen auseinandersetzen. Denn hier treffen zwei Effekte die Republicans, die sich jeweils negativ für sie auswirken.

Der erste Effekt ist, dass es wesentlich leichter ist, etwas abzuschaffen, dass noch nicht existiert als etwas, das Menschen greifbare Vorteile bringt. Seit Millionen von Menschen plötzlich über bezahlbare Versicherungspolicen verfügen, verschieben sich deren Prioritäten: anstatt der reinen Lehre der Partei zu folgen, sehen sie deutlich, dass ihre Situation deutlich schlechter wird, wenn die Republicans ihren Willen bekommen. Daher verkünden die Spitzenpolitiker der Partei auch stets, dass sie natürlich eine eigene, viel bessere Version schaffen würden (repeal and replace) - ohne irgendwelche Details bekanntzugeben, wie das funktionieren soll. Trotzdem ist dies eine problematische Version. Die Republicans haben dasselbe Problem mit Medicare, einer staatlichen Krankenversicherung für alle Amerikaner über 65 Jahre, die deutlich günstiger und effizienter ist als die meisten Konkurrenzprodukte auf dem Markt. Gerne würden sie es abschaffen, weil es jeglicher republikanischer Ideologie zuwiederläuft. Gleichzeitig aber will kein Rentner, aus deren Reihen sich viele republikanische Stammwähler rekrutieren, seine Krankenversicherung verlieren, weswegen sich jeder Republican stets bemüht, bei allen Kürzungsplänen herauszustellen, dass Medicare nicht angetastet wird.


Damit verknüpft ist ein zweites Problem: viele Amerikaner erklären sich in der Theorie für die republikanischen Positionen, sind aber in der Praxis dagegen. Diese kognitive Dissonanz lässt sich relativ leicht erklären: im Grundsatz ist jeder für weniger Steuern und einen schlanken Staat, aber geht man in die Details stellt man schnell fest, dass die Leute die meisten Regierungsprogramme gerne haben. Das Bonmot des wütenden Republican wählenden und gegen Sozialleistungen wetternden Rentners, der fordert, dass der Staat die Finger von seinem Medicare lassen solle, ohne zu realisieren, dass Medicare eine staatliche Unterstützungsleistung ist, ist inzwischen legendär. Die Republicans konnten diese kognitive Dissonanz am praktischen Beispiel in Kansas erfahren. Anstatt im Wahlkampf utopische Kürzungen zu versprechen und diese danach stillschweigend zu vergessen, machte Governeur Sam Brownback ernst und kürzte die staatlichen Budgets radikal. Die Folge war nicht der versprochene Aufschwung, sondern eine tiefe Rezession und explodierende Staatsschulden, die dazu führten, dass teilweise monatelang die Schulen geschlossen werden mussten, weil das Geld für ihren Unterhalt fehlte. Inzwischen hat der Gouverneur in einem Staat, der schon fast klischeehaft republikanisch ist, eine Zustimmungsrate (approval rating) von 18% - satte zehn Prozent weniger als der nicht gerade gern gelittene Obama.


Die Aussicht, einen erfolgreichen repeal zu verabschieden, war für die republikanischen Strategen daher immer schon ein zweischneidiges Schwert. Bisher war es aber auch keine Perspektive - die Democrats im Senat verhinderten mit der filibuster-Drohung stets, dass das Gesetz Obama zur Unterschrift vorgelegt wird - was Obama den offenen Konflikt und Republicans eben dieses Dilemma ersparte. Nun jedoch verabschiedete der Senat das Gesetz durch einige prozedurale Tricks ohne die filibuster-Mehrheit - und Obama muss den Veto-Stift bemühen.

Warum also nutzen die Republicans diese Tricks jetzt und nicht schon vor einem Jahr, oder im Februar, als sie den letzten Versuch eines repeal unternahmen? So sehr das Thema natürlich die eigene, hartgesottene Basis begeistert, mit dieser Basis alleine lassen sich keine Wahlen gewinnen, und die obigen Mechanismen könnten dafür sorgen, dass einige eher mittig orientierte Wähler, um ihre Policen fürchtend, den republikanischen Kandidaten nicht unterstützen. Gleichzeitig schafft der repeal natürlich ein Wahlkampfthema für die Democrats, die sich damit klar positionieren können, denn so unpopulär Obamacare bei der republikanischen Basis ist, so populär ist er bei der demokratischen. Die Kalkulation der Republicans ist, dass in dem Mittelfeld der Wähler mehr Leute Obamacare ablehnen als befürworten (oder dem indifferent gegenüberstehen). Ob diese Rechnung aufgeht, ist fraglich, aber nicht ausgeschlossen. Es spricht allerdings Bände über die Einschätzung der Republicans über ihre Wahlchancen, dass sie glauben, ihre eigene Basis so radikal mobilisieren zu müssen. Das ist, als ob die Democrats eine Zerschlagung der Großbanken der Wallstreet fordern würden. Mit diesem Zug haben die Republicans den Rubikon überschritten, die Würfel geworden und was mehr sich an geeigneten Metaphern finden lässt. Die nächsten Monate werden zeigen, ob die Rechnung aufgeht.