Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.
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Mittwoch, 30. September 2020
Montag, 28. September 2020
Wenn Identitätspolitik in die Schule umschlägt
Im Jahr 2019 veröffentlichte die New York Times ein gewaltiges Essay-Projekt verschiedenster Autoren mit aktivistischem, wissenschaftlichem und journalistischem Hintergrund. Der Name des Projekts war schlicht "1619", und die Essays wurden durch eine einzige, große thematische Linie verbunden: Dass die Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika nicht mit der Unabhängigkeitserklärung von 1776 oder den Unruhen in den Jahren zuvor beginnt, sondern vielmehr im Jahr 1619, mit der Ankunft der ersten Sklaven in der Neuen Welt. Das Projekt wurde in der progressiven Seite des Spektrums mit viel Enthusiasmus aufgenommen und fand, in der polarisierten Gesellschaft der gegenwärtigen USA, wenig überraschend kaum Gegenliebe oder auch nur Rezeption im eher konservativen Spektrum. Dies hat sich geändert; die unerbittliche Dynamik der Identitätspolitik hat dafür gesorgt, dass das 1619-Projekt nun zu einem Glaubenssatz der Rechten geworden ist. Ungewöhnlicherweise hat dieser Streit allerdings seinen Weg in die Schulen gefunden - wo er nun wirklich gar nichts verloren hat.
Mittwoch, 23. September 2020
Die FDP führt zusammen mit der chinesischen Polizei Krieg gegen Putins Forschungshaushalt - Vermischtes 23.09.2020
Sonntag, 20. September 2020
Kulminationspunkt - Zu Ruth Bader Ginsburgs Tod und der amerikanischen Verfassungskrise
Gestern Nacht starb die Verfassungsrichterin Ruth Bader Ginsburg im Alter von 87 Jahren. Ginsburg war eine Ikone der Progressiven in den USA, ein Urgestein der Frauenrechtsbewegung und mit gewaltigem Einfluss auf die Rechtsprechung in den USA und darüber hinaus. Doch aktuell steht weniger ihr Lebenswerk im Fokus der Aufmerksamkeit als die Folgen ihres Todes. Man mag das makaber finden, aber Ginsburg selbst hatte wenige Wochen vor ihrem Tod ihrer Enkelin ein Statement gewidmet, indem sie als letzten Wunsch formulierte, nicht von Trump in dessen erster Amtszeit ersetzt zu werden. Man kann also sagen, dass der Gedanke selbst ihr der Wichtigste war. Wir wollen uns daher genau dieser Frage widmen, denn Ginsburgs Tod ist der Kulminationspunkt einer seit mittlerweile sechs Jahren schwelenden Verfassungskrise in den USA, der das Zeug dazu hat, diese zum vollen Ausbruch zu bringen.
Ein Blick zurück
Worum geht es? Um die volle Bedeutung der Krise überblicken zu können, müssen wir zwei vorherige Ereignisse in den Blick nehmen. Das erste ist eher buchhalterischer Natur: in den Midterms 2014 verloren die Democrats die Mehrheit im Senat an die Republicans; Mitch McConnell wurde dort zum Mehrheitsführer. McConnell ist der Architekt der zerstörerischen GOP-Agenda; berühmt-berüchtigt ist sein Statement 2008, dass das vordringlichste Ziel der Partei sein müsse, Obama zu einem "one-term president" zu machen, ein Ziel, für das er nur allzu bereit war, eine gigantische Wirtschaftskrise in Kauf zu nehmen (ganz im Gegensatz zu den Democrats, die Trump während der Covid-induzierten Rezession geradezu anflehten, etwas gegen die Wirtschaftskrise zu unternehmen, obwohl ihnen das politisch nur schaden konnte).
McConnell ist die wohl immer noch meist unterschätzte Person des amerikanischen Politbetriebs. Es handelt sich um einen ungemein effizienten Machtpolitiker, amoralisch bis ins Mark, ohne jede Skrupel und von gerade zu hollywood-esker Bösartigkeit. Niemand hatte auch nur annähernd eine so zerstörerische Wirkung auf das Gefüge der amerikanischen Republik wie er. Ich habe darüber hier im Blog immer wieder geschrieben. Das ist das eine.
Das andere Ereignis ist der März 2016, als Verfassungsrichter Antonin Scalia überraschend verstarb. Zu diesem Zeitpunkt besaß der Verfassungsgerichtshof (Supreme Court of the United States, SCOTUS) eine konservative Mehrheit von 5:4. Es war sofort klar, was das bedeutete: Obama hatte noch die Chance, einen ausgeglichenen SCOTUS zu schaffen.
Warum ausgeglichen und nicht einen mit 5:4-Mehrheit für die Progressiven? Die US-Verfassung gibt dem Präsidenten das Recht, neue Verfassungsrichter zu nominieren, aber diese müssen mit einfacher Mehrheit vom Senat bestätigt werden - in dem die Republicans unter Demokratie-Verächter McConnell seit 2014 die Mehrheit besaßen. JedeR KandidatIn, die Obama vorbrachte, musste daher extrem mittig sein, um eine Chance zu haben. Das entsprach aber ohnehin Obamas Naturell; entsprechend nominierte er bald darauf den Bundesrichter Merrick Garland, der weithin gerühmte überparteiliche Meriten hatte. Der Vorsitzende des Justizausschusses, Chuck Grassley, hatte damals vor der Nominierung gehöhnt, er werde sofort für jemanden wie Garland stimmen, aber Obama werde das ja nie tun. Andere republikanische Senatoren äußerten sich ähnlich.
Die Peinlichkeit, ihre gerade geäußerten Worte sofort wieder der Lüge strafen zu müssen, wurde ihnen von McConnell abgenommen. Dieser brach, wie schon so oft davor, sämtliche demokratischen Normen und Werte und verkündete, er werde keine Abstimmung im Senat über irgendeineN KandidateN Obamas erlauben - auch hier bevor Obama überhaupt jemanden nominiert hatte. Obama würde keinen SCOTUS-Sitz besetzen, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch zehn Monate seiner Amtszeit übrig waren.
Zur Begründung erfand McConnell die neue Regel, dass ein Präsident im Wahljahr nicht einen neuen SCOTUS-Sitz bestimmen solle, sondern dass "das Volk" diese Wahl haben sollte - sprich, ein neu gewählter Präsident im November 2016. Erstaunlich wenig Journalisten fragten McConnell damals, ob das bedeute, dass er im (wahrscheinlichen) Szenario einer Clinton-Präsidentschaft bei republikanischem Senat die Garland-Nominierung zur Abstimmung zuließe. McConnell, seiner Position ebenso sicher wie der Mechanismen der Presse, verneinte dies direkt. Er werde den Sitz offen halten, bis ein republikanischer Präsident an die Macht käme, und wenn es bis 2024 dauere. Er steuerte bewusst und mit vollem Einsatz auf die Verfassungskrise zu.
Dank Comeys Eingreifen wurde diese Krise auf Eis gelegt. Trump gewann überraschend die Wahl, und der Dieb konnte sein Diebesgut behalten. 2017 nominierte Trump Neil Gorsuch, einen jungen und erzkonservativen Richter, und der republikanische Senat bestätigte ihn umgehend im Amt. Die Democrats segneten den Diebstahl ab und verzichteten auf eine filibuster gegen Gorsuch. Wieder einmal hatte McConnell mit seinen offensichtlichen Lügen und Normenbrüchen Erfolg gehabt.
Die Agenda
Aber warum ist der Sitz im Verfassungsgericht für McConnell überhaupt so wichtig? Dies hat zwei Ursachen. Die erste ist die starke Stellung, die sich der SCOTUS mittlerweile und unabhängig vom Text der US-Verfassung mittlerweile in der Rechtsprechung erarbeitet hat.
Um in der Lage zu sein, irgendwelche Gesetzesvorhaben durchzubringen, muss eine Partei in den USA nämlich nicht nur die trifecta erobern - Präsidentschaft, Senat und Repräsentantenhaus - was äußerst selten ist und praktisch nie für länger als einen Midterm anhält. Sie braucht auch eine Mehrheit im SCOTUS, weil der Gerichtshof - anders als etwa in Deutschland - zumindest bei großen Themen komplett der Logik des Parteienkonflikts unterliegt. Von den Democrats ernannte Richter stimmen im Sinne der Democrats, von den Republicans ernannte Richter stimmen im Sinne der Republicans.
Nur, die Richter des SCOTUS sind auf Lebenszeit ernannt. Das heißt, dass die Mehrheitsverhältnisse dort für sehr lange Zeit festgeschrieben sein können. Neil Gorsuch etwa hat eine gute Chance, für die nächsten 30 Jahre die Geschicke des Landes mitzubestimmen. Auch Bret Kavanaugh, der umstrittene zweite Trump-Richter, ist noch keine 60 und wird vermutlich sehr lange Zeit auf der Richterbank sitzen. Diese Bedeutung der SCOTUS-Ernennungen ist das eine.
Das andere aber ist, dass der Supreme Court, wie jedes Verfassungsgericht, eine strukturell konservative Institution ist. Obwohl die Fälle der "Ersatzgesetzgebung" sowohl in den USA wie auch Deutschland notorisch sind, sind die Gerichtshöfe in der überwiegenden Mehrheit der Fälle Bewahrer des Status Quo. Das ist im kompletten Justizsystem angelegt, dessen Aufgabe ja die Wahrung von Recht und Ordnung ist - mithin also des Status Quo Ante, und damit gerade Nicht-Veränderung.
McConnell hat das längst erkannt. Ihm sind Mehrheiten im Repräsentantenhaus daher vergleichsweise egal. Er braucht den Senat, um Ernennungen beeinflussen zu können, und er braucht die Gerichte, um alles zu blockieren. Denn McConnell will nichts gestalten. Was er will sind Steuerkürzungen - die hat er erreicht - und das Blockieren progressiver Gesetzesvorhaben. Und da reichen die Gerichte. Diese sind sogar deutlich besser als der Kongress, weil sie keinen demokratischen Wahlen unterliegen, sondern auf Lebenszeit bestimmt werden. Und ein Viertel (!) aller US-Bundesrichter ist aktuell bereits von Trump ernannt worden, ein Anteil, der in einer zweiten Amtszeit gut und gern auf die Hälfte steigen und die Rechtsradikalen für eine Generation in den Gerichten verankern könnte.
Die Krise
Nun hat die Präsidentschaft Trumps diesem ohnehin seit Jahren schwelenden Verfassungskonflikt, in dem Mitch McConnell praktisch federführend, aber stets unter der willigen Mitarbeit des GOP-Personals, ständig Kohlen nachgelegt. Weder die Partei noch die Regierung besitzen die Zustimmung einer Mehrheit des amerikanischen Volkes. Das ist institutionell erst einmal kein Problem; wie die Republicans nicht zu betonen müde werden, sei Amerika keine Demokratie, sondern eine Republik. Mehrheiten des Volkes standen bei den Wahlen nie zur Debatte. Das Electoral College steht mit seinem absurden Anachronismus der "Wahlleute" häufig stellvertretend im Rampenlicht, aber undemokratische Wahlverfahren kennt das US-System auf praktisch jeder Ebene.
Für die Republicans gilt das Ausdruck der Weisheit der Gründerväter, die Checks and Balances gegen einen allzu schrankenlos waltenden Volkswillen und damit die Tyrannei der Mehrheit eingebaut haben, und wie jedes gute Legitimationskonstrukt verbirgt sich dahinter ein wahrer Kern. Die Tyrannei der Mehrheit entspricht Demokratie im Endeffekt genauso wenig wie der Aufbau des US-Senats. Über viele Jahrzehnte war diese Argumentationslinie auch in beiden Parteien und durch alle juristischen und politischen Experten hindurch akzeptiert.
Nur: Diese Argumentationslinie funktioniert nur, wenn man die historischen Wurzeln des US-Systems ignoriert, und damit seine strukturell rassistische Ausrichtung. Denn das gesamte amerikanische System richtete sich neben der Herrschaftssicherung der reichen (weißen, männlichen, protestantischen) Oberschicht auf die Unterdrückung der Schwarzen und anderer Minderheiten. Die Gewährung des allgemeinen Wahlrechts für schwarze Männer etwa bestand für ein sattes Jahrhundert nur auf dem Papier und ist immer noch nicht im gesamten Land durchgesetzt. Seit einigen Jahrzehnten, vor allem aber in der letzten Dekade, ist das Bewusstsein hierfür nicht nur unter den unterdrückten Minderheiten selbst (Stichwort: #BlackLivesMatter) gewachsen, sondern auch in der Partei der Democrats und ihrer Wählerschaft.
Seit nunmehr 30 Jahren haben die Republicans es bei Präsidentschaftswahlen nur ein einziges Mal geschafft, eine Mehrheit des Volkes hinter sich zu bringen, aber drei dieser Wahlen zu gewinnen. Wird Trump diesen November gewinnen, so wird er dies (Stand heute) fast sicherlich mit einer noch größeren Stimmendifferenz tun als 2016, als Hillary Clinton mehr als drei Millionen mehr WählerInnen hinter sich vereinte als Trump. Als Politiklehrer kann ich das problemlos erklären, denn das Electoral College, in dem der Präsident gewählt wird, schert sich nun mal einen Dreck um Wähler, sondern nur um Wahlleute der (im republikanischen Fall krass überrepräsentierten) Bundesstaaten.
Aber dieses Missverhältnis wurde nur solange akzeptiert, wie es ein Ausnahmefall, ein Zufallsprodukt war, und kann auch nur solange akzeptiert werden. Es ist mittlerweile aber offensichtlich strukturelle Regel und anerkannte Wahlkampfstrategie der Republicans geworden. Und das zerstört seine Legitimität an den Grundfesten. Solche Prozesse dauern ihre Zeit, aber deswegen bezeichne ich sie als schwelend.
In den letzten Wochen wurde vermehrt darüber diskutiert (auch hier im Blog), dass nicht nur eine Nicht-Anerkennung des Wahlergebnisses im November durch die Republicans eine Gefahr darstellen könnte, sondern auch durch die Democrats. Ich habe das eher skeptisch gesehen, weil es bislang abgesehen vom Rand der aktivistischsten Parteibasis wenig Signale in diese Richtung kamen. Aber der Tod Ginsburgs und McConnells eiserne Entschlossenheit, sich diesen höchsten Triumph seiner Amtszeit nicht durch Lappen gehen zu lassen, treiben die schwelende Verfassungskrise aus den Gipfel.
Ich möchte noch einmal betonen, dass nichts von dem, was gerade geschieht, gegen die Verfassung verstößt. Alles verläuft seinen Gang. Aber das Gleiche galt auch für die Machtübernahme Orbans in Ungarn, die von Chavez in Venezuela, die von Erdogan in der Türkei. Ob etwas auf dem Papier verfassungsgemäß ist wird rapide irrelevant, wenn es keiner demokratischer Legitimität unterliegt. Das ist ein Rezept für Systemzusammenbrüche bis hin zum Bürgerkrieg. So weit sind die USA noch nicht, sicherlich, aber sie kennen ein ähnliches Phänomen aus ihrer Geschichte. Auch die Sklaverei verlor immer mehr Legitimität, bis die undemokratischen Methoden der Südstaaten, sie zu schützen, nicht mehr ausreichten und im Krieg mündeten.
Heuchelei, Lügen und Wahlkampf - Die Republicans
Erneut, so weit ist es nicht. Aber die Republicans agieren definitiv auf schwankender legitimatorischer Basis. Denn der Diebstahl von Neil Gorsuchs aktuellem Sitz 2016 ging mit zahllosen, wohl dokumentierten Beteuerungen der Senatoren, die nicht Mitch McConnell heißen, einher, dass man in einem wiederholten Falle garantiert das eigens aufgestellte Prinzip achten und keine Besetzung vornehmen werde. Nun, kaum 40 Tage vor der Wahl, brechen die republikanischen Senatoren natürlich alle reihenweise ihr Wort, allen voran Lindsey Graham, dessen Verstrickung in sein eigenes Lügengebäude besonders augenfällig ist.
Natürlich gibt es nichts, was die Republicans abhalten könnte, irgendwelche dummen Begründungen zu finden, warum nun doch alles anders ist. Warum Obamas Nominierung zu stehlen in Ordnung war, weil man ja "dem Volk" die Wahl überlassen wollte, nun aber - kaum einen Monat vor dem Urnengang - diese Regel plötzlich nicht mehr gelten sollte. Beobachtende, die wie ich ohnehin keine hohe Meinung von der Integrität der Republicans haben, um es milde auszudrücken, haben genau diese Entwicklung natürlich erwartet. Es war von Anfang an ein transparentes Manöver, rein machtpolitisch motiviert und im Übrigen machtpolitisch auch verständlich. Ein Sitz im SCOTUS ist wegen der oben beschriebenen institutionellen Dynamiken ein Preis, den man nicht einfach ausschlägt, vor allem nicht dann, wenn die gesamte Karriere wie im Fall Mitch McConnells auf diesen einen Moment hinausläuft, in dem eine reaktionäre Super-Mehrheit installiert werden kann, wie sie seit der Gilded Age nicht mehr existierte - und die Gilded Age ist nicht eben für ihre progressive Gesetzgebung bekannt.
Trotzdem ist es nicht völlig unmöglich, dass McConnell bis Januar 2021 den Platz nicht besetzen kann. Dazu müssten vier republikanische SenatorInnen gegen die Nominierung stimmen. Die Wahrscheinlichkeit ist nicht groß, aber sie ist auch nicht gleich null. Der Grund dafür liegt hauptsächlich darin, dass Wahlen anstehen. Sehen wir uns daher die wahrscheinlichsten Wackelkandidaten einmal an.
Da wäre zum einen Lindsay Graham. Der Senator aus South Carolina hat in seinem ganzen Leben noch keine Wahl bestehen müssen, die auch nur ansatzweise kompetitiv war - und steht in aktuellen Umfragen mit seinem Herausforderer Jaime Harrison Kopf an Kopf. Graham hat dieses Wochenende bereits bestätigt, für Trumps Kandidatin stimmen zu wollen - völlig kohärent mit seiner sonstigen, rückgratlosen politischen Laufbahn - aber auf sein Wort ist ungefähr so viel Verlass wie auf das eines Kleinkinds, weswegen sich das je nach Lage des Wahlkampfs ändern könnte.
Zum anderen wäre da Lisa Murkowski aus Alaska. Sie ist eine der Senatorinnen, die Trumps und McConnells Politik gelegentlich öffentlich kritisieren, um sie dann doch mitzutragen (mit der bemerkenswerten Ausnahme von Obamacare) und hat bereits angekündigt, Trumps Kandidatin ablehnen zu wollen. Sofern sie standhaft bleibt, haben die Democrats also bereits eine Stimme.
Da wäre außerdem Susan Collins (Maine). Sie hat das Genre des "besorgt sein und trotzdem für Trump stimmen" perfektioniert, aber ihr Sitz steht dieses Jahr zur Wahl, Maine entschied sich 2016 knapp für Clinton und steht in Umfragen aktuell für Biden. Sie kann es sich nicht leisten, die Mehrheit der WählerInnen - die, das sei noch einmal betont, die GOP und Trump ablehnen - zu verärgern und hat daher angekündigt, mit "Nein" stimmen zu wollen. Das sind zwei Stimmen.
Zum vierten haben wir Chuck Grassley aus Iowa. Der Vorsitzende des Justizausschusses, der 2016/2017 keinerlei Probleme damit hatte seine vorherigen Aussagen zu Merrick Garland zu vergessen und sich der Parteilinie zu unterwerfen, ist auch dieses Jahr keine große Stimme des Widerstands. Er versucht gerade auf beiden Hochzeiten zu tanzen und erklärte öffentlich, Anhörungen vor der Wahl "nicht zu empfehlen". Aber er ist ein politischer Veteran, und nichts von dem was er sagt bedeutet eine Nein-Stimme: Er empfiehlt keine Anhörungen, aber wenn sie von McConnell angesetzt werden, kann er trotzdem teilnehmen und abstimmen - ob vor oder nach der Wahl. Er kann ja nichts dafür, wenn McConnell seinen Rat ignoriert, nicht?
Martha McSally aus Arizona wird zwar gelegentlich genannt, aber sie liegt in den Umfragen so weit hinter ihrem Herausforderer Mark Kelly, dass sie hauptsächlich an ihre Nach-Wahl-Karriere denken muss - und da ist republikanische Linientreue die Voraussetzung, um im großen Betrugskarussell der rechtsradikalen Medienlandschaft irgendeine Rolle zu spielen (anders als bei den Democrats, wo die umgekehrte Dynamik gilt und Abweichungen von der Parteilinie belohnt werden, was genauso beknackt ist).
Und zuletzt wäre da Mitt Romney aus Utah. Der ehemalige Präsidentschaftskandidat gilt als etwas wie das Gewissen des republikanischen Caucus, und wenngleich ich diese Zuschreibung für übertrieben halte, so ist ohne seine Nein-Stimme kaum vorstellbar, dass eine Mehrheit gegen Trumps Kandidatin zustandekommen wird.
Aber: McConnell und die republikanischen SenatorInnen haben noch ein anderes Problem, und das ist gerade der Wahlkampf. Denn wenn McConnell die Abstimmung noch vor der Wahl durchpauken will, dann kostet das die SenatorInnen wertvolle Zeit - Zeit, die sie wesentlich lieber mit Wahlkämpfen verbringen würden statt in einem harten Nominierungskampf in Washington, bei dem sie nur schlecht aussehen können. Ein Indiz dafür, wie es tatsächlich um die Stimmen steht, dürfte daher in der Terminierung sein. Setzt McConnell die Abstimmung VOR die Wahl im November, dann ist es eng. Setzt er sie auf die lame duck session danach, ist er zuversichtlich.
Dass er die Abstimmung abhalten wird, steht dagegen praktisch außer Frage.
Normen, Traditionen und eine wütende Parteibasis: Die Democrats
Aber die Wahrscheinlichkeit ist enorm hoch, dass McConnells Manöver erfolgreich sein und den SCOTUS auf eine republikanische 6:3-Mehrheit mit mindestens vier Rechtsradikalen bringen wird. Damit wird urplötzlich das Recht auf Abtreibung kurz vor dem Wahlkampf wieder zur Disposition gestellt, erübrigt sich praktisch jede Überlegung weitreichender Reformen selbst beim unwahrscheinlichen Erringen der trifecta im November. Und wenn es nicht ausreicht, alle demokratischen Wahlen eines Jahres mit einem Vorsprung von 5-8% zu gewinnen (den dieses Szenario voraussetzt), um überhaupt Politik machen zu können, dann ist das System im Ungleichgewicht. Und dann verliert es rapide Legitimität.
Dieser Vorgang hat sich an der linken Parteibasis bereits vollzogen. Die demokratischen Abgeordneten und KandidatInnen selbst, die Funktionärselite der Partei und ihre Berater, sie alle sind immer noch den alten Normen und Traditionen verhaftet. Aber Ginsburgs Tod und die Übernahme ihres Sitzes durch eine Rechtsradikale nur Tage vor der Wahl kann gut und gern der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt und die Parteiorganisation mit einem Ruck mit ihrer Parteibasis in Gleichklang bringt.
Und das bedeutet, dass Joe Biden dann plötzlich für eine Agenda stehen würde, die bislang nur von eben dieser radikalen Parteibasis gefordert wird:
- Die Erweiterung des SCOTUS (court packing). Die Verfassung legt die Größe des SCOTUS nicht fest; das ist alleine vom Kongress zu bestimmen, wie im Übrigen auch die Länge seiner Amtszeiten (siehe unten). Zuletzt versuchte Franklin D. Roosevelt in einer ähnlichen Situation, in der die reaktionären Verfassungsrichter aus parteiideologischen Motiven jede politische Maßnahme sabotierten, durch court packing eine genehmere Mehrheit zu erreichen. Das Manöver schlug seinerzeit zwar fehl, aber die Verfassungsrichter erkannten, dass sie ihre Hand überspielt hatten und traten überwiegend in den folgenden Jahren zurück - und machten den Weg frei für den New Deal und die beispiellose Prosperität der Nachkriegsjahre. Eine ähnliche Drohung, glaubhaft vorgebracht, könnte auch Mitch McConnell zu denken geben - und den RichterInnen des SCOTUS.
- Die Reform des SCOTUS. Da die Verfassung Mitgliederzahl und Zusammensetzung sowie Amtszeiten der RichterInnen nicht vorschreibt, gibt es diverse Konzepte, das Gremium insgesamt demokratischer (kleines d) zu machen. Eine Variante, von der ich allerdings reichlich wenig halte, ist seine Erweiterung auf fünfzehn Mitglieder, von denen immer fünf aus den beiden Parteien und weitere fünf unabhängig sein sollen. Ein anderes Szenario ist die Einführung von gestaffelten Amtszeiten, so dass jedeR PräsidentIn pro Amtszeit zwei neue RichterInnen benennen könnte. Solche Vorschläge hätten den Vorteil, dass sie den Gerichtshof tatsächlich demokratischer machen und nicht nur die Mehrheitsverhältnisse ändern, was eine zukünftige republikanische Administration ja auch wieder tun könnte.
- Die Staatenwerdung von Puerto Rico und Washington, D.C. Puerto Rico ist ein Territorium der USA; seine Einwohner sind zwar US-Staatsbürger, haben aber nicht das Wahlrecht. Ähnliches gilt für Washington, D.C.: Die Einwohner der Hauptstadt dürfen weder Kongress noch PräsidentIn noch ihreN eigenen BürgermeisterIn wählen. Es ist eine der vielen undemokratischen Strukturen der USA, und die Staatenwerdung dieser beiden Gebiete würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in vier zusätzlichen SenatorInnen für die Democrats und damit der Verschiebung der Mehrheitsverhältnisse enden.
- Die Veränderung des Wahlrechts. Auch das Wahlrecht wird von der US-Verfassung nicht vorgeschrieben, weswegen es ja so lange möglich war, signifikante Gruppen davon auszuschließen. Bereits jetzt gibt es Ansätze vieler demokratischer (großes D) Bundesstaaten, den Gewinn des popular vote zur Bedingung der Präsidentschaftswahl zu machen - was tatsächlich relativ leicht möglich wäre. Auch eine generelle Änderung des Wahlrechts zu einem einfachen Mehrheitswahlrecht auf Fläche des gesamten Landes wäre prinzipiell möglich. Die Elektoren können nämlich einfach verpflichtet werden, diesem zu folgen und würden damit zu reinem Ornament.
- Absichtliche Sezession. Deutlich radikaler ist die Idee, etwa Kalifornien in mehrere Staaten zu spalten. Auch hier würden die Democrats mehrere Senatoren und Repräsentaten hinzugewinnen, weil die US-Verfassung bei der Vergabe von Kongresssitzen das Land bevorzugt - je mehr Menschen in einem Staat wohnen, desto weniger Repräsentation haben sie, ein Problem, das übrigens auch das EU-Parlament plagt.
Es mangelt also offensichtlich nicht an ziemlich durchgreifenden Ideen. Dazu kommt, dass eine solche Radikalisierung der Democrats auch bedeuten würde, dass die asymmetrische Machtausübung, die die letzten zwanzig Jahre kennzeichnete, an ihr Ende kommen würde. Gemeint ist, dass die Republicans eine Norm nach der anderen brechen, die Gesetze bestenfalls dem Text, aber nicht dem Geist nach befolgen und so weiter - das wurde hier im Blog lang und breit thematisiert. Fangen die Democrats auch damit an, würde der Ton wesentlich rauer und wäre die Demokratie in ihren Grundfesten gefährdet. Deswegen haben sie sich bisher in biblischer Geduld zurückgehalten und stets die andere Wange hingehalten. Aber auch hier könnte Ginsburgs SCOTUS-Sitz der Tropfen zu viel sein.
Fazit
Der Wahlkampf 2020 hat eine völlig neue, unvorhergesehene Dynamik bekommen, die das gesamte Gefüge durcheinanderbringen könnte. Mehr noch als die Frage, wer im November die Präsidentschaftswahl gewinnt, könnte sie über die langfristige Zukunft der USA und die demokratische Verfasstheit des Landes entscheiden.
Donnerstag, 17. September 2020
Japanische Flüchtlinge lesen Keynes in Moria und demonstrieren gegen Klimawandel - Vermischtes 17.09.2020
Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.
1) Das Unfassbare wird immer normaler
Der Satz hängt mir zum Hals raus. Aber leider gibt es ständig neue Anlässe. Manchmal täglich, wenn's gut läuft, nur wöchentlich. Die Präsidentschaft von Donald Trump ist eine Abfolge immer neuer Tiefpunkte. Ein Pfad in den moralischen Abgrund. [...] Das Unfassbare wird immer normaler. [...] Vor zwei Wochen dachte ich wieder, gefährlicher könne es nicht mehr werden. Da hatte Trump gerade erklärt, er könne die Wahl im November nur verlieren, wenn sie manipuliert sei. Dass Amtsinhaber bereit sind, ihre Wahlniederlage anzuerkennen, hat Demokratien bislang von Diktaturen unterschieden. Trump aber lässt bewusst offen, ob er dazu bereit ist. [...] Doch immer, wenn man denkt, alles über Trump zu wissen, offenbart er eine neue Facette seiner Ruchlosigkeit. Wie er dieser Tage berechtigte Proteste gegen rassistisch motivierte Gewalt der Polizei zum inländischen Terrorismus erklärt, während er selbst rechtsextreme Gruppen zum Handeln aufstachelt, ist der jüngste Tiefpunkt. Trump ignoriert schwarze Opfer wie Jacob Blake, der in Wisconsin von einem weißen Polizisten niedergeschossen wurde, und nimmt zugleich einen Weißen in Schutz, der bei Protesten zwei Demonstranten getötet haben soll. Er behauptet, dass die Stadt Portland "komplett in Flammen" stehe, obwohl das Blödsinn ist. Er eskaliert einen Konflikt von oben, schürt Ängste und vertieft bewusst die Spaltung der Gesellschaft. Er redet bürgerkriegsähnliche Verhältnisse herbei, um seine Anhängerschaft wenige Wochen vor der Wahl maximal zu mobilisieren. [...] Ich weiß, abgebrühte Menschen finden diese Empörung über Trumps immer neue Tiefpunkte langweilig. Das wisse man doch. Sei nichts Neues, nicht originell. Aber wenn es um Menschenwürde, Demokratie und den Frieden einer Gesellschaft geht, möchte ich gar nicht originell sein. Wer die Fähigkeit verliert, sich aufzuregen, kapituliert vor Menschen wie Donald Trump, der den Aufstand der Anständigen auch mit der Macht der Gewohnheit zu unterdrücken versucht. Zu den Komplizen der Radikalen zählt nämlich auch die Ermüdung. (Markus Feldenkirchen, SpiegelOnline)
Mir hängt das auch zum Hals heraus, aber aus anderen Gründen als bei Feldenkirchen. "Immer wenn man glaubt alles zu wissen, offenbart er eine neue Facette seiner Ruchlosigkeit"? Sorry. Nichts davon ist neu. Nur dass es immer wieder Leute gibt, die endlich für sich selbst anerkennen, dass sie sich bisher selbst belogen haben, was die Natur dieses Menschen angeht. Aber Trump tut nichts, was er nicht bereits 2015 gesagt oder getan hätte. Der Horror ist permanent, und die Abstumpfung ihm gegenüber, seine fast völlige Folgenlosigkeit, ist das was wütend macht. Und die liegt eben unter anderem daran, dass viel zu lange so getan wurde, als ob die Warnungen völlig übertrieben gewesen wären.
Dazu kommt der Effekt der Gewöhnung. Trump hat sich bereits in den primaries 2015/16 normalisiert. Vorher völlig unsagbare Dinge wurden gesagt, und es zeigte sich, dass sie eben doch sagbar waren (das ganze Händewringen aus der Mitte des politischen Spektrums über die Gefahr von Sprechverboten von links wird dadurch übrigens auch ad absurdum geführt). Tabus dessen, was diskutierbar ist - das Overton-Fenster - sind Produkt eines permanenten, ständig im Fluss befindlichen gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses. Trump hat diese Grenzen in vollem Lauf eingerissen, und jeder Versuch, neue Pflöcke einzurammen, wurde sofort zunichte gemacht. Die Folge war jedes Mal: Null. Egal, was diese Bande macht, sie kommen damit durch. Vor diesem Hintergrund sind nicht die aktuellen Auswüchse bei linken Protesten verwunderlich, sondern dass diese völlige Enthemmung nicht auf der anderen Seite des Spektrums ihre Entsprechung gefunden hat.
2) Tweet
Es wäre so witzig. Wenn die Überschrift nur nicht so sinnbildlich wäre - für die Aufgeschlossenheit mit der die Politik die Klimakrise angeht. #Fck2038 https://t.co/mtvHP1adN5
— Luisa Neubauer (@Luisamneubauer) September 6, 2020
Es ist wirklich Realsatire. Diese im rechtsdemokratischen Spektrum weit verbreitete Haltung gegenüber dem Klimawandel ist im Jahr 2020 eigentlich kaum zu glauben. Aber die pro-Forma-Anerkennung des Faktums Klimawandel hat eben keinerlei daraus erwachsende Konsequenzen. Nirgendwo wird das so deutlich wie in Merkel-Adlatus Altmaier, der gerade wieder verkündet hat, dass seine Strategie zur Begegnung des Klimawandels in "Vertrauen in die Genialität der Ingenieure (alle männlich, natürlich)" bestehe, was auch nur eine leichte thematische Abwandlung des Lindner-Mantras ist, dass irgendwelche coolen Start-ups ohne jegliche staatlichen Anreize es lösen werden. Es ist das Äquivalent von "es wird schon wieder kühler". Das ist keine Klimawandelleugnung per se, aber es läuft auf etwas sehr Ähnliches hinaus: Augen zu und durch. Wird schon gut gehen. Wird es aber nicht. Und je länger Lösungsversuche aufgeschoben und auf solche Luftschlösser gebaut wird, desto schmerzhafter und heftiger wird der Anpassungsprozess am Ende werden. Das ist übrigens eine Argumentation, die Konservativen wie Liberalen vertraut sein sollte, schließlich haben sie sie jahrzehntelang bezüglich dem Sozialstaat verwendet.
3) Wie die Idee der Untertanen aus der Schule vertrieben wurde
Bleibe die Erziehung so "preußisch", könne man nicht darauf hoffen, dass die Deutschen sich vom "Führerprinzip" abwenden würden. Demokratie werde dann nur eine "leere Schale" bleiben. In die Familien einzugreifen, erschien den Autoren des Berichts problematisch. Von einer demokratischen Reform der Schulen hingegen erhofften sie sich viel. [...] Neue Formen des Dialogs zu wagen und Schüler zu kritischem Denken zu erziehen, waren Leitmotive des anglo-amerikanischen Demokratisierungsgedankens. Nur so ist zu verstehen, welch erstaunliches Spektrum von Maßnahmen US-Amerikaner und Briten initiierten – Maßnahmen, deren Folgen das deutsche Schulsystem bis heute prägen. [...] Die westdeutsche Entwicklung war demnach keine Annäherung an den "Westen", sondern wies eine ganze eigene Dynamik auf. Nicht weniger wichtig als der alliierte Input war die wachsende Überzeugung vieler deutscher Schulpolitiker und Lehrerinnen, dass Diskussionen, kritische Meinungsbildung und politische Debatten notwendige Aspekte einer Erziehung zur Demokratie seien. Sie galten auch ihnen als Instrumente, um sich von der nationalsozialistischen Vergangenheit zu lösen. Das enge Zusammendenken von Erziehung und Demokratie lässt sich vielleicht sogar als bundesrepublikanischer Sonderweg bezeichnen. Zwar war es Produkt eines transatlantischen Ideentransfers, zugleich aber entfaltete es in Westdeutschland eine ganz eigene Wirkung. [...] War der Wandel der deutschen Schulen demnach eine demokratische Erfolgsgeschichte – und eine vorbildliche Aufarbeitung der Vergangenheit? Das zu konstatieren, wäre zu einfach. [...] Manches allerdings geriet in der Fixierung der deutschen Debatten auf den Abbau "autoritärer Strukturen" aus dem Blick. Wenn Pädagogen und Politiker (noch selten waren es Pädagoginnen und Politikerinnen) in den Sechzigerjahren über politische Bildung sprachen, hatten sie meist einen jungen Mann bildungsbürgerlichen Hintergrunds im Kopf. Mädchen zu fördern, machten sie sich kaum zum Anliegen. So dauerte es, bis auch Schülerinnen in den Redaktionen der Schülerzeitungen zu Wort kamen. Erst spät begann eine Debatte über Bildungschancen, noch viel später eine Diskussion über Migration und Bildung. Abitur machten in den Sechzigerjahren noch wenige: 1968 waren es knapp zehn Prozent eines Jahrgangs. (Sonja Levsen, ZEIT)
Das deutsche Schulsystem ist, trotz aller seiner offensichtlichen Schwächen, wesentlich besser als sein Ruf. Die durch die PISA-Studie seinerzeit aufgedeckten und bis heute nicht überwundenen Schwächen im MINT-Bereich und bei der sozialen Selektivität mal beiseite gelassen ist nicht nur die historisch-politische Bildung klasse (nebenbei bemerkt auch der Religionsunterricht), sondern auch der Sprachenunterricht (das vergleichsweise hohe Fremdsprachenniveau des deutschen Schulsystems kommt von einem qualitativ hohen Unterricht). Das darf man ruhig mal anerkennen. Deutsche Schulabschlüsse gehören außerdem zu den härtesten weltweit, im Sinne einer Währung.
Ein anderer im obigen Artikel auftauchender Punkt ist die Funktion der Schule als Wandelstätte. Ich habe im Rahmen des seinerzeit kontrovers diskutierten GEW-Unterrichtsmodells zur Homosexualität über das Thema geschrieben (da konnte man schon Pegida und AfD wetterleuchten sehen, rückwirkend betrachtet). Schule und Bildungspläne, Methodik und Pädagogik haben großen Einfluss auf die Jugendlichen. Die Rechtsextremen wissen schon, warum sie das Schulsystem so hart angreifen, es ist nach wie vor eine Schmiede und Verteidigerin der Demokratie, wesentlich mehr als etwa die Presse.
Zuletzt zum im Artikel hauptsächlich besprochenen Politikunterricht beziehungsweise der Offenheit: ganz zentral ist die Generation jener Lehrkräfte, die in den 1970er und 1980er Jahren in den Schuldienst gekommen sind, zumindest hier in BaWü. Die brachten einen unglaublichen Aufbruchsgeist und tausende von neuen Ideen mit, gründeten (im Rahmen der Bildungsexpansion) ganze Schulen neu und etablierten damals neue Konzepte, vom Gruppenarbeiten zum Projektarbeiten zum Sprachlabor. Ich hatte als Schüler diese Generation, als sie gerade in die letzte Dekade ihres Schuldiensts ging; als ich mein Referendariat gemacht habe, standen die alle kurz vor der Pension oder waren schon weg. Die 1990er und 2000er Jahre haben keinen vergleichbaren Umschwung erlebt, weil im Rahmen des Schweinezyklus' nur wenig Leute eingestellt wurden. Deswegen werden gerade sehr viele Leute meiner Generation eingestellt. Das ist typisch für deutsche Lehrerzimmer; eine Generation wird praktisch ausgelassen.
Moria auf der griechischen Insel Lesbos war nicht irgendein Camp. Hier wollte die Europäische Union ihre Flüchtlingspolitik neu erfinden. [...] Statt die Gesuche von Asylbewerbern schnell zu bearbeiten, hielten die griechischen und europäischen Behörden die Schutzsuchenden über Monate, zum Teil über Jahre auf der Insel fest. Kaum ein Flüchtling wurde in die Türkei zurückgebracht, aber auch kaum jemand durfte weiterreisen nach Nordeuropa. Das Ergebnis ist, dass sich Lesbos und andere griechische Inseln in Freiluftgefängnisse verwandelt haben. Im Camp Moria, das für 3000 Menschen ausgelegt ist, hausten zuletzt fast 13.000 Schutzsuchende. [...] Es liegt der Verdacht nahe, dass Athen Moria nicht nur aus Ignoranz vernachlässigt hat. Sondern dass man das Elend bewusst in Kauf genommen hat, um mögliche Neuankömmlinge abzuschrecken. Und auch die EU hat nichts getan, um die Situation zu verbessern - dabei war Moria ihr Projekt. [...] Es ist eigentlich klar, was die EU nun zu tun hat: Sie muss die Inseln evakuieren. Die Flüchtlinge müssen in Europa umgesiedelt werden, so, wie es Expertinnen und Experten seit Monaten fordern. Und dann müssen sich die Europäer, endlich, endlich, auf ein gemeinsames Asylsystem einigen, dass die Schutzsuchenden fair über den gesamten Kontinent verteilt. Trotzdem ist fraglich, ob es dazu kommen wird. [...] Die EU nimmt für sich in Anspruch, nicht nur eine wirtschaftliche und politische, sondern auch eine moralische Macht zu sein. Auf Lesbos hat sie jede moralische Autorität eingebüßt. (Maximilian Popp, SpiegelOnline)
Moria ist quasi der Kulminationspunkt eines unlösbaren Problems. Eine Umverteilung der Flüchtlinge auf ganz Europa ist politisch unmöglich. Nationale Alleingänge à la 2015 sind es aktuell auch. Ohne diese beiden Lösungen bleibt einzig und allein die menschenrechtswidrige Abwehr von Flüchtlingen und die rechtswidrige Massenabschiebung. Für Länder wie Griechenland ist das keine Option, die ihnen Bauchschmerzen bereiten würde. Ein Nicht-Handeln der EU und Deutschlands wird dazu führen, das das so entstandene Machtvakuum durch die Peripherieländer gefüllt wird - indem sie genau das tun. Sie werden die Menschenrechte verletzen, die Grenzen schließen, die Flüchtlinge so schlecht wie möglich behandeln und das Problem dadurch regionalisieren und auf kleiner Flamme brennen lassen. Bei uns kommt es allenfalls periodisch an, wir empören uns, holen ein paar Kinder, fühlen uns gut und vergessen es wieder. So wird das ewig weiter vertagt und auf illegale Weise gelöst, aber niemand hat ein Interesse an einer Lösung oder an einer Anklage der Menschenrechtsverletzungen. Das ist seit Jahren absehbar; Merkel hat das mit ihrem Türkei-Deal ja zur offiziellen Regierungspolitik gemacht. JedeR schwarz-rote PolitikerIn die jetzt über Moria entsetzt ist heuchelt, und die meisten anderen ebenfalls - es ist schließlich seit einer halben Dekade offenkundig, was da passiert und welche politische Dynamik am Werk ist. Man muss es nur wissen wollen.
But the more fundamental reason for scepticism about future government policy is that public officials and their economic advisers still subscribe to models that assume economies normally do best without government help. Stimulus measures can be justified in an emergency, but they are not seen as part of the policy framework, any more than keeping people in intensive care is seen as a prescription for healthy living. As the Chicago economist Robert Lucas once observed, all governments are “Keynesians in the fox hole”. The fact the stimulus measures advocated by JM Keynes – such as higher public spending and tax cuts – are expected to be for emergencies only reflects the damage the neoclassical (or free-market) economics of the 1980s and 1990s inflicted on his theory: damage has never been repaired. [...] One result of the discrediting of Keynesian theory has been the collapse of state investment: the UK government’s share of total investment fell from an average of 47.3 per cent in 1948-76 to 18.4 per cent in 1977-2007. This left the economy much more dependent on the variable expectations of the business community. More pertinently for today, it left the public health services denuded of capacity to cope with the pandemic, and unduly reliant on foreign supply chains for essential medical equipment. A sound principle in today’s world is that all the goods and services necessary to maintain the health and security of the nation should be produced within its own borders, or those of its close political allies. If that means curtailment of market-led globalisation, so be it. [...] Keynes was convinced that if democracies failed to tackle mass unemployment, people would turn to dictatorships. He gave democracies a programme of action. We must build on it today. The economics profession has a special responsibility to show the way, which it has shamefully shirked. (Robert Skidelsky, The New Statesman)
Wenig überraschend stimme ich der Grundthese des Artikels, dass die Austerität zu Instabilität, Ineffizienz, Abhängigkeit und schlechten Leistungen geführt hat, zu. Gleiches gilt für die These von den "Keynesians in the fox hole". Bisher hat noch jede Regierung, ob sozialdemokratisch, linkspopulistisch, rechtspopulistisch, liberal oder konservativ, in der Krise zu massiven Ausgabeausweitungen gegriffen. Es ist einfach alternativlos, wenn man den demokratischen Staat erhalten will. In fast allen Fällen braucht es nicht mal Krise oder foxhole dazu; Konservative wie Liberale finden immer gute Gründe für massive Transferleistungen wenn sie selbst an der Regierung sind. Das ist normal; Linke werfen ja auch immer genügend eigene unantastbare Grundsätze über Bord sobald sie selbst an der Verantwortung sind. Dieses Phänomen wird zwar gerne kritisiert, ist aber das Schmiermittel der Demokratie. Regierungen, die ihre Prinzipien behalten wollen, sind fundamental instabil und halten nicht lange, wenn sie überhaupt je an die Regierung kommen. Es ist kein Zufall, dass die Sanders' und Corbyns dieser Welt als Protestfiguren viel erfolgreicher sind als als tatsächliche Anführer.
Gleichzeitig halte ich es für super wichtig, was im Schluss des Artikels über die Erweiterung der Diskussion steht. Ich schrieb schon über die Öffnung des Overton-Fensters, und wenn Linke ihre Politik umsetzen wollen, müssen sie aus den Narrativen ihrer politischen Gegner raus. Da führt kein Weg dran vorbei. Solange SPD und Grüne überzeugt sind, den ausgeglichenen Staatshaushalt als Goldenes Kalb betrachten zu müssen, werden sie niemals eine wirklich eigenständige Politik treiben können. Dasselbe Phänomen erlebt die CDU ja auch seit Jahren, weswegen man da ja auch am rechten Rand so stinkig auf Merkel ist. Wenn man das Narrativ der Gegner übernimmt, von Menschen- und Bürgerrechten für alle etwa, kann man schlecht die radikaleren Positionen der Parteibasis umsetzen und muss ständig Kompromisse auf dem Feld machen. Schmiermittel der Demokratie und so.
Den Bürgerinnen und Bürgern ist ihr Land unheimlich geworden. Die Französinnen und Franzosen möchten Macron vielleicht gern glauben, wenn er von der Einheit spricht. Aber je öfter er sich wiederholt, desto stärker werden die Zweifel, aus denen Frankreich nicht mehr herausfindet. [...] Wer ist Opfer, wer ist Täter - darauf ist die Hebdo-Debatte in Frankreich im Moment reduziert, ein perfektes Setting, um sich jahrelang im Kreis zu drehen. Denn wirklich erforscht, aufgeklärt und gelehrt werden die Geschichte des Kolonialismus, des Algerienkriegs, der Beziehungen zu Afrika nicht. Eine große, populäre Ausstellung über Verstrickungen, Versprechen, Migration und Propaganda in den Beziehungen Frankreichs zum Maghreb und Schwarzafrika fehlt dringend. Wirklich zu Wort kommen auch die Bewohner der Vorstädte nicht. Das Attentat auf "Charlie Hebdo" wurde als Anschlag von außen, als Tat fremder Mächte gewertet - das war aber nur ein Teil der Wahrheit. [...] Die einen sehen überall eine unaufgearbeitete koloniale Vergangenheit, die anderen sind davon überzeugt, der große Bevölkerungsaustausch gehe vonstatten, in dem die alteingesessenen Gallier durch Menschen aus Afrika ersetzt werden. [...] In Frankreich bricht sich etwas Grundlegendes Bahn, ein Ringen um Zivilisation und Identität. Wie stiftet man Vertrauen und überwindet das Beschweigen? Welche Extreme vergiften den Diskurs, statt ihn zu befördern? Wer ist Charlie? (Nils Minkmar, SpiegelOnline)
Für Frankreich und Großbritannien gilt in viel größerem Maße als für Deutschland: Ohne Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit wird es keine Integration geben. Diese Länder haben nie mit ihrer kolonialen Vergangenheit abgerechnet, und auch wenn sie integrierende nationale Erzählungen entworfen haben - Commonwealth hier, Francophonie dort - blieben diese hohl, weil sie außer der weißen Mehrheitsgesellschaft niemand anderen respektiert oder ernst genommen haben. Es ist wie die Integrationsdebatte in Deutschland auch unglaublich einseitig. Niemand interessiert sich für die Kultur von Türken, Syrern oder sonstwem, außer, wo sie als defizitär wahrgenommen wird. Bei uns ist die Kolonialvergangenheit kein so großes Thema, weil wir keine großen Minderheiten aus den ehemaligen Kolonien haben; ihre aktuelle Halb-Prominenz verdankt sie eher den BLM-Protesten und Jürgen Zimmerers Aktivismus. Heißt nicht dass die Diskussion nicht gut wäre, nur erklärt das die weniger hervorgehobene Stellung.
7) Klimawandel: Europa und USA fast allein für Klimakatastrophe verantwortlich
Schlimmster CO2-Sünder sind der Analyse zufolge erwartungsgemäß die USA. Eigentlich dürfte das Land insgesamt nur 41,5 Gigatonnen CO2 ausstoßen, 2015 seien es aber schon 420,4 Gigatonnen gewesen. Das sei nicht nur das Zehnfache des Budgets, sondern auch 40 Prozent der übermäßigen CO2-Emissionen insgesamt. Auf dem zweiten Platz folgt Russland (105 statt 27 Gigatonnen) vor Deutschland. Mit 91,3 statt 18,4 Gigatonnen CO2 haben die deutschen Staaten fast das fünffache ihres Budgets ausgestoßen und landen bezüglich der Gesamtmenge an zu viel ausgestoßenem CO2 sogar vor dem Mutterland der Industrialisierung Großbritannien. [...] Insgesamt kommt Hickel zu dem Ergebnis, dass die EU-Staaten (inklusive Großbritannien) für 29 Prozent des zu viel ausgestoßenen CO2 verantwortlich sind, der Rest Europas für weitere 13 Prozent. Zusammen mit dem Anteil der USA sind das 82 Prozent des übermäßigen CO2. Die anderen Staaten des globalen Nordens – also laut Hickel noch Kanada, Israel, Australien, Neuseeland und Japan – kommt auf 10 Prozent. Der gesamte Rest der Welt steckt demnach lediglich hinter 8 Prozent des zu viel ausgestoßenen CO2 und den dadurch ausgelösten Klima-Zusammenbruchs. Hickel meint, man könne von atmosphärischer Kolonisierung sprechen, denn die reichsten Staaten hätten die Atmosphäre weit stärker verschmutzt als ihnen zusteht, während der globale Süden von den Folgen überproportional betroffen ist und sein wird. (Martin Holland, heise.de)
Deutschland war mal führend beim Thema Klimawandel. Nur ist das 20 Jahre her. Seither ist es vor allem ein bequemes Narrativ, während andere Länder und Regionen längst an uns vorbeigezogen sind, während wir von der Substanz gelebt und unter Merkels Regierung zahlreiche Programme abgebrochen haben (etwa die Energiewende). Letztlich ist Merkels Kanzlerschaft eine einzige Periode verlorener Zeit, was den Kampf gegen den Klimawandel angeht, und wir werden die Folgen und Kosten davon noch sehr lange zu tragen haben - vorausgesetzt, es passiert endlich was, was angesichts der extrem hohen Wahrscheinlichkeit einer fortgesetzten CDU-Kanzlerschaft eher unwahrscheinlich ist.
Die Migration ist so umstritten wie kaum ein anderes Politikfeld. In einem Punkt jedoch sind sich fast alle Lager einig: 2015 dürfe sich nicht wiederholen, heißt es von der CDU über die SPD bis hin zur Linken. Der Sommer, in dem mehrere Hunderttausend Flüchtlinge nach Deutschland kamen, wird heute vor allem mit Begriffen wie "Kontrollverlust" oder "Staatsversagen" assoziiert. [...] Es ist ein Erfolg der Rechten, diese Interpretation durchgesetzt zu haben. Es müsste nicht so sein. 2015 könnte auch als ein Moment verstanden werden, in dem viele Bürgerinnen und Bürger in Deutschland über sich hinausgewachsen sind, in dem sie sich entschieden, empathisch zu sein statt engherzig, ein Moment, der das Land, das kann man fünf Jahre später durchaus so festhalten, offener und vielfältiger gemacht hat. [...] Wer auf eine europäische Lösung pocht, will in Wahrheit überhaupt keine Lösung, denn längst ist klar, dass sich die 27 EU-Staaten niemals auf eine gemeinsame Asylpolitik einigen werden. Wenn aber eine Mehrheit der EU-Staaten einfach hinnimmt, dass eines ihrer Mitglieder Flüchtlingen jeglichen Schutz verwehrt, so wie das 2015 in Ungarn der Fall war und so wie es nun in Griechenland der Fall ist, dann ist ein nationaler Alleingang kein Irrweg - sondern eine Notwendigkeit. (Maximilian Popp, SpiegelOnline)
Ich finde es absolut wertvoll darauf hinzuweisen, wie stark die ganze Flüchtlingsdebatte im Allgemeinen und die Krise 2015/16 im Speziellen von Mediennarrativen geprägt ist. Für ein halbes Jahr war der Tenor des #RefugeesWelcome unglaublich dominant, was zahlreiche eher konservativ oder rechts schlagende Herzen sehr befremdet hat. Dann kam ein radikaler Umschwung, und der Wahlkampf 2017 wurde im Zeichen einer unglaublich toxischen Debatte geführt (ich erinnere an das unsägliche Kanzlerduell und damit einhergehende Totalversagen der Leitmedien). Aber das ist ja kein Naturzustand. Die überwiegende Mehrheit der Deutschen ist weiterhin für eine flüchtlingsfeindliche Politik nicht zu haben (nur, siehe Fundstück 4, auch nicht für eine Neuauflage von #RefugeesWelcome; aktuelle Meinungsumfragen sehen einen 40:40:10 Split in Deutschland für Aufnahme, Aufnahme nur EU-weit und keine Aufnahme).
Besonders spannend finde ich in dem Zusammenhang auch, dass das Vertrauen der Deutschen insgesamt sowohl in die Medien als auch in die Regierung seit 2015 konstant gestiegen ist. Obwohl permanent von Regierungsversagen und Misstrauen gegen die Medien gesprochen wird, ist der Glauben an beides gerade in dieser Zeit eklatant zurückgegangen. Total merkwürdig; möglicherweise eine Variante von el-Mafalaanis "Integrationsparadox".
9) Democrats must bow to the Electoral College
But now Shadi Hamid at The Atlantic has written a column of his own in which he treats this latter scenario as the one most likely to push the country into full-on democratic breakdown and civil unrest. That's because it's the Democrats, Hamid claims, who may find it impossible to concede the election if Trump manages to win by carrying the Electoral College. [...] I have no idea if Hamid is right about this, and very much hope we never get to test the prediction. But a glance at the political militancy of left-wing protesters on the streets of American cities this summer, not to mention the conspiracy-addled speculations and hyperbolic warnings of incipient fascism emanating from self-described members of the "resistance" on cable news and social media, shows that the scenario is at least plausible, if not exactly likely. [...] The Democrats' problems are contingent, not systematic. [...] This points toward a way for the party to improve its likelihood of winning — by trading some of those wasted votes for votes it needs far more in other (more culturally conservative) regions of the country. They could do this by soft-peddling positions on the left side of the culture-war, finding, for example, 21st-century equivalents to Bill Clinton's pledge to make abortion "safe, legal, and rare." That is a winning path forward for the Democrats within the current system. And indeed, Joe Biden's record of moderation and capacity to appeal to more culturally conservative voters than Hillary Clinton managed to do four years ago could well turn out to be key to a Democratic victory in November. (Damon Linker, The Week)
Gleich vorweg sei bemerkt, dass das Erheben einer solchen Forderung natürlich immer sehr leicht fällt, wenn du die Position eh teilst. Damon Linker gehört eher zum rechten Flügel der Democrats, wenn man ihn der Partei überhaupt zuordnen will (The Week ist kein linkes Medium wie etwa Washington Monthly oder Vox). Ich bin immer sehr skeptisch, wenn Leute einer Partei zur Lösung eines Problems genau das empfehlen, was sie schon immer geglaubt haben, ob das jetzt ein "weniger Identitätspolitik" von Linker ist oder ein "höhere Steuern und Medicare for All" von den Bernie-Leuten. Seiner grundsätzlichen Analyse stimme ich aber zu, und Biden fährt ja ziemlich offensichtlich einen Wahlkampf genau unter diesen Prämissen.
Noch eine Seitenbemerkung zum Szenario der Nicht-Akzeptanz des Wahlergebnisses: Ja, vor allem auf der radikaleren Basis-Seite bestehen solche Tendenzen schon, aber es erfordert extrem viele Annahmen und Reifen, durch die das Argument springen muss, um diese als sonderlich realistisch zu sehen. Die Democrats sind nicht die Gefahr, sondern die Republicans. Anders als jedeR PolitikerIn der Democrats muss ich bei denen nicht irgendwelche Annahmen bemühen, dass sie das Ergebnis vielleicht nicht anerkennen könnten, wenn A, B und C passieren. Sie sagen völlig offen, dass sie ein nachteiliges Ergebnis nicht akzeptieren wollen und dass sie die Wahl manipulieren. Hier muss man mit Bothsiderismus schon extrem vorsichtig sein.
10) How the 1970s Changed the U.S. Economy
Oil had represented a big improvement over coal. It was much cheaper to extract and transport and had a higher energy density. That permitted vast and rapid improvements in transportation technologies such as airplanes, internal combustion cars, and so on. But after 1973, that energy bonanza was no longer a sure thing. The smooth progress of industrial technology toward bigger, faster, and more powerful machines, already in trouble due to the failure of nuclear power to supplant oil, crashed to a halt in 1973. Instead of finding new ways to use ever-more-abundant energy, manufacturers shifted toward finding ways to do more with less. Manufacturing productivity kept increasing, but the sector became less and less important to the economy [...] So the oil shock must be the prime suspect in the economic shift that began in the early 1970s. Of course, there are other potential culprits. One is shrinking union membership, which probably reduced workers’ bargaining power: [...] But even here, the oil crisis could have exacerbated the trend, by shrinking heavily unionized manufacturing and mining industries and by weakening labor’s bargaining power via the Volcker recessions. [...] If the end of the age of cheap oil was truly responsible for many of these negative structural shifts in the U.S. economy, then one obvious remedy is to find an energy source better than oil. That alternative may already be available: Solar power is becoming startlingly cheap. But to truly replace oil, solar energy will have to be not just cheap to gather but easy to transport from place to place. That means we need much more progress in batteries or other storage technologies. Governments should push hard to make big leaps in these technologies, so that the era of cheap energy can return — and with it, hopefully, widely shared prosperity. (Noah Smith, Bloomberg)
Die 1970er Jahre sind tatsächlich wahnsinnig interessant, weil sich in diesem Jahrzehnt so viel verändert hat. Smiths These hier, dass die steigenden Ölpreise zu einem Abwürgen von Innovation geführt haben, ist sehr interessant. Denn wenn Computer etwas nicht brauchen - arguably DIE Innovation nach 1980 - dann ist das Öl. Von daher ist das zumindest als Hypothese nicht völlig abwegig. Mir fehlt das Fachwissen, um das beurteilen zu können; KommentatorInnen vor. Aber das Fazit des Artikels kann ich auf jeden Fall unterstützen. Es ist ziemlich offensichtlich, dass wenn wir super billige Energie hätten, das sich positiv auf die Innovationskraft auswirken würde - auch im Hinblick auf den Klimawandel. Ob die Lösung durch Solarenergie kommen wird weiß ich nicht, aber Kohle und Atomstrom sind es sicherlich nicht. So teuer und ineffizient wie die zwei sind....
11) After Abe: How Japan’s new prime minister should handle diplomacy
So, what are the implications of Suga’s victory? The Suga administration will bring continuity and stability to Japanese politics, and will most likely set the national political agenda. As the longest-serving chief cabinet secretary in Japan’s history, Suga has dedicated his life to running the Abe government and has been significantly involved in all its major domestic and international policies. Unlike Abe, Suga has navigated the world of Japanese politics without the privileges that come with membership of a political dynasty or, until now, strong backing from a party faction. He excelled under the Abe administration partly because he has kept a tight hold on the nation’s bureaucracy. Suga has successfully coordinated domestic affairs (including through several scandals that struck the Abe administration) and overseen crisis management at home. Domestically, his priority is to tackle the effects of the covid-19 pandemic and to decide what to do about the Tokyo Olympics. The Japanese economy has been deeply affected by the crisis. Consumption, international trade, and other forms of economic activity have declined. The biggest challenge for Suga is to spark an economic revival that leads to sustained growth. His government is likely to adopt an enhanced version of “Abenomics”(a concept based upon the “three arrows” of monetary easing, fiscal stimulus, and structural reform), and to pursue a proactive fiscal policy that includes stimulus packages until the pandemic is under control. In addition, Suga promised during his campaign to introduce measures to protect jobs, create vibrant regional economies, and build a reliable social security system suited to a rapidly ageing society. (Elli Pohlkamp, European Council on Foreign Relations)
Ich habe aus dem Artikel die innenpolitischen Punkte herausgepickt, weil ich kurz noch einmal darauf hinweisen will, wie transformativ Abes lange Amtszeit war. Nicht nur hat er für japanische Verhältnisse ungewöhnlich lange regiert, er scheint auch zumindest ansatzweise einen Weg aus dem langen Dilemma japanischer Wirtschafts- und Währungspolitik gefunden haben. Abe hat sich zudem massiv für eine Ausweitung der Frauenerwerbstätigkeit eingesetzt, die in Japan auf einem für Industrieländer absurd niedrigen Niveau ist und sowohl Produktivität als auch Gleichberechtigung hemmt. Er hat sich außerdem deutlich gegen den Kult der familienzerstörenden langen Arbeitszeiten ausgesprochen, der in Japan seit Jahrzehnten prävalent ist (wie auch in den USA übrigens).
Auch in der Sicherheitspolitik hat Abe einen massiven Umschwung bewirkt und eine fast 60jährige Tradition beendet; wie in der Bundesrepublik versucht Japan gerade, seine Verteidigungspolitik und Armee grundsätzlich zu reformieren und kämpft da natürlich mit massiven Problemen und Umsetzungsschwierigkeiten. Generell spannend zu beobachten, was in Nippon passiert, auch wenn das natürlich wegen Entfernungen und kultureller Fremdheit für uns hier nur mittelbar von Belang ist.