Gestern Nacht starb die Verfassungsrichterin Ruth Bader Ginsburg im Alter von 87 Jahren. Ginsburg war eine Ikone der Progressiven in den USA, ein Urgestein der Frauenrechtsbewegung und mit gewaltigem Einfluss auf die Rechtsprechung in den USA und darüber hinaus. Doch aktuell steht weniger ihr Lebenswerk im Fokus der Aufmerksamkeit als die Folgen ihres Todes. Man mag das makaber finden, aber Ginsburg selbst hatte wenige Wochen vor ihrem Tod ihrer Enkelin ein Statement gewidmet, indem sie als letzten Wunsch formulierte, nicht von Trump in dessen erster Amtszeit ersetzt zu werden. Man kann also sagen, dass der Gedanke selbst ihr der Wichtigste war. Wir wollen uns daher genau dieser Frage widmen, denn Ginsburgs Tod ist der Kulminationspunkt einer seit mittlerweile sechs Jahren schwelenden Verfassungskrise in den USA, der das Zeug dazu hat, diese zum vollen Ausbruch zu bringen.
Ein Blick zurück
Worum geht es? Um die volle Bedeutung der Krise überblicken zu können, müssen wir zwei vorherige Ereignisse in den Blick nehmen. Das erste ist eher buchhalterischer Natur: in den Midterms 2014 verloren die Democrats die Mehrheit im Senat an die Republicans; Mitch McConnell wurde dort zum Mehrheitsführer. McConnell ist der Architekt der zerstörerischen GOP-Agenda; berühmt-berüchtigt ist sein Statement 2008, dass das vordringlichste Ziel der Partei sein müsse, Obama zu einem "one-term president" zu machen, ein Ziel, für das er nur allzu bereit war, eine gigantische Wirtschaftskrise in Kauf zu nehmen (ganz im Gegensatz zu den Democrats, die Trump während der Covid-induzierten Rezession geradezu anflehten, etwas gegen die Wirtschaftskrise zu unternehmen, obwohl ihnen das politisch nur schaden konnte).
McConnell ist die wohl immer noch meist unterschätzte Person des amerikanischen Politbetriebs. Es handelt sich um einen ungemein effizienten Machtpolitiker, amoralisch bis ins Mark, ohne jede Skrupel und von gerade zu hollywood-esker Bösartigkeit. Niemand hatte auch nur annähernd eine so zerstörerische Wirkung auf das Gefüge der amerikanischen Republik wie er. Ich habe darüber hier im Blog immer wieder geschrieben. Das ist das eine.
Das andere Ereignis ist der März 2016, als Verfassungsrichter Antonin Scalia überraschend verstarb. Zu diesem Zeitpunkt besaß der Verfassungsgerichtshof (Supreme Court of the United States, SCOTUS) eine konservative Mehrheit von 5:4. Es war sofort klar, was das bedeutete: Obama hatte noch die Chance, einen ausgeglichenen SCOTUS zu schaffen.
Warum ausgeglichen und nicht einen mit 5:4-Mehrheit für die Progressiven? Die US-Verfassung gibt dem Präsidenten das Recht, neue Verfassungsrichter zu nominieren, aber diese müssen mit einfacher Mehrheit vom Senat bestätigt werden - in dem die Republicans unter Demokratie-Verächter McConnell seit 2014 die Mehrheit besaßen. JedeR KandidatIn, die Obama vorbrachte, musste daher extrem mittig sein, um eine Chance zu haben. Das entsprach aber ohnehin Obamas Naturell; entsprechend nominierte er bald darauf den Bundesrichter Merrick Garland, der weithin gerühmte überparteiliche Meriten hatte. Der Vorsitzende des Justizausschusses, Chuck Grassley, hatte damals vor der Nominierung gehöhnt, er werde sofort für jemanden wie Garland stimmen, aber Obama werde das ja nie tun. Andere republikanische Senatoren äußerten sich ähnlich.
Die Peinlichkeit, ihre gerade geäußerten Worte sofort wieder der Lüge strafen zu müssen, wurde ihnen von McConnell abgenommen. Dieser brach, wie schon so oft davor, sämtliche demokratischen Normen und Werte und verkündete, er werde keine Abstimmung im Senat über irgendeineN KandidateN Obamas erlauben - auch hier bevor Obama überhaupt jemanden nominiert hatte. Obama würde keinen SCOTUS-Sitz besetzen, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch zehn Monate seiner Amtszeit übrig waren.
Zur Begründung erfand McConnell die neue Regel, dass ein Präsident im Wahljahr nicht einen neuen SCOTUS-Sitz bestimmen solle, sondern dass "das Volk" diese Wahl haben sollte - sprich, ein neu gewählter Präsident im November 2016. Erstaunlich wenig Journalisten fragten McConnell damals, ob das bedeute, dass er im (wahrscheinlichen) Szenario einer Clinton-Präsidentschaft bei republikanischem Senat die Garland-Nominierung zur Abstimmung zuließe. McConnell, seiner Position ebenso sicher wie der Mechanismen der Presse, verneinte dies direkt. Er werde den Sitz offen halten, bis ein republikanischer Präsident an die Macht käme, und wenn es bis 2024 dauere. Er steuerte bewusst und mit vollem Einsatz auf die Verfassungskrise zu.
Dank Comeys Eingreifen wurde diese Krise auf Eis gelegt. Trump gewann überraschend die Wahl, und der Dieb konnte sein Diebesgut behalten. 2017 nominierte Trump Neil Gorsuch, einen jungen und erzkonservativen Richter, und der republikanische Senat bestätigte ihn umgehend im Amt. Die Democrats segneten den Diebstahl ab und verzichteten auf eine filibuster gegen Gorsuch. Wieder einmal hatte McConnell mit seinen offensichtlichen Lügen und Normenbrüchen Erfolg gehabt.
Die Agenda
Aber warum ist der Sitz im Verfassungsgericht für McConnell überhaupt so wichtig? Dies hat zwei Ursachen. Die erste ist die starke Stellung, die sich der SCOTUS mittlerweile und unabhängig vom Text der US-Verfassung mittlerweile in der Rechtsprechung erarbeitet hat.
Um in der Lage zu sein, irgendwelche Gesetzesvorhaben durchzubringen, muss eine Partei in den USA nämlich nicht nur die trifecta erobern - Präsidentschaft, Senat und Repräsentantenhaus - was äußerst selten ist und praktisch nie für länger als einen Midterm anhält. Sie braucht auch eine Mehrheit im SCOTUS, weil der Gerichtshof - anders als etwa in Deutschland - zumindest bei großen Themen komplett der Logik des Parteienkonflikts unterliegt. Von den Democrats ernannte Richter stimmen im Sinne der Democrats, von den Republicans ernannte Richter stimmen im Sinne der Republicans.
Nur, die Richter des SCOTUS sind auf Lebenszeit ernannt. Das heißt, dass die Mehrheitsverhältnisse dort für sehr lange Zeit festgeschrieben sein können. Neil Gorsuch etwa hat eine gute Chance, für die nächsten 30 Jahre die Geschicke des Landes mitzubestimmen. Auch Bret Kavanaugh, der umstrittene zweite Trump-Richter, ist noch keine 60 und wird vermutlich sehr lange Zeit auf der Richterbank sitzen. Diese Bedeutung der SCOTUS-Ernennungen ist das eine.
Das andere aber ist, dass der Supreme Court, wie jedes Verfassungsgericht, eine strukturell konservative Institution ist. Obwohl die Fälle der "Ersatzgesetzgebung" sowohl in den USA wie auch Deutschland notorisch sind, sind die Gerichtshöfe in der überwiegenden Mehrheit der Fälle Bewahrer des Status Quo. Das ist im kompletten Justizsystem angelegt, dessen Aufgabe ja die Wahrung von Recht und Ordnung ist - mithin also des Status Quo Ante, und damit gerade Nicht-Veränderung.
McConnell hat das längst erkannt. Ihm sind Mehrheiten im Repräsentantenhaus daher vergleichsweise egal. Er braucht den Senat, um Ernennungen beeinflussen zu können, und er braucht die Gerichte, um alles zu blockieren. Denn McConnell will nichts gestalten. Was er will sind Steuerkürzungen - die hat er erreicht - und das Blockieren progressiver Gesetzesvorhaben. Und da reichen die Gerichte. Diese sind sogar deutlich besser als der Kongress, weil sie keinen demokratischen Wahlen unterliegen, sondern auf Lebenszeit bestimmt werden. Und ein Viertel (!) aller US-Bundesrichter ist aktuell bereits von Trump ernannt worden, ein Anteil, der in einer zweiten Amtszeit gut und gern auf die Hälfte steigen und die Rechtsradikalen für eine Generation in den Gerichten verankern könnte.
Die Krise
Nun hat die Präsidentschaft Trumps diesem ohnehin seit Jahren schwelenden Verfassungskonflikt, in dem Mitch McConnell praktisch federführend, aber stets unter der willigen Mitarbeit des GOP-Personals, ständig Kohlen nachgelegt. Weder die Partei noch die Regierung besitzen die Zustimmung einer Mehrheit des amerikanischen Volkes. Das ist institutionell erst einmal kein Problem; wie die Republicans nicht zu betonen müde werden, sei Amerika keine Demokratie, sondern eine Republik. Mehrheiten des Volkes standen bei den Wahlen nie zur Debatte. Das Electoral College steht mit seinem absurden Anachronismus der "Wahlleute" häufig stellvertretend im Rampenlicht, aber undemokratische Wahlverfahren kennt das US-System auf praktisch jeder Ebene.
Für die Republicans gilt das Ausdruck der Weisheit der Gründerväter, die Checks and Balances gegen einen allzu schrankenlos waltenden Volkswillen und damit die Tyrannei der Mehrheit eingebaut haben, und wie jedes gute Legitimationskonstrukt verbirgt sich dahinter ein wahrer Kern. Die Tyrannei der Mehrheit entspricht Demokratie im Endeffekt genauso wenig wie der Aufbau des US-Senats. Über viele Jahrzehnte war diese Argumentationslinie auch in beiden Parteien und durch alle juristischen und politischen Experten hindurch akzeptiert.
Nur: Diese Argumentationslinie funktioniert nur, wenn man die historischen Wurzeln des US-Systems ignoriert, und damit seine strukturell rassistische Ausrichtung. Denn das gesamte amerikanische System richtete sich neben der Herrschaftssicherung der reichen (weißen, männlichen, protestantischen) Oberschicht auf die Unterdrückung der Schwarzen und anderer Minderheiten. Die Gewährung des allgemeinen Wahlrechts für schwarze Männer etwa bestand für ein sattes Jahrhundert nur auf dem Papier und ist immer noch nicht im gesamten Land durchgesetzt. Seit einigen Jahrzehnten, vor allem aber in der letzten Dekade, ist das Bewusstsein hierfür nicht nur unter den unterdrückten Minderheiten selbst (Stichwort: #BlackLivesMatter) gewachsen, sondern auch in der Partei der Democrats und ihrer Wählerschaft.
Seit nunmehr 30 Jahren haben die Republicans es bei Präsidentschaftswahlen nur ein einziges Mal geschafft, eine Mehrheit des Volkes hinter sich zu bringen, aber drei dieser Wahlen zu gewinnen. Wird Trump diesen November gewinnen, so wird er dies (Stand heute) fast sicherlich mit einer noch größeren Stimmendifferenz tun als 2016, als Hillary Clinton mehr als drei Millionen mehr WählerInnen hinter sich vereinte als Trump. Als Politiklehrer kann ich das problemlos erklären, denn das Electoral College, in dem der Präsident gewählt wird, schert sich nun mal einen Dreck um Wähler, sondern nur um Wahlleute der (im republikanischen Fall krass überrepräsentierten) Bundesstaaten.
Aber dieses Missverhältnis wurde nur solange akzeptiert, wie es ein Ausnahmefall, ein Zufallsprodukt war, und kann auch nur solange akzeptiert werden. Es ist mittlerweile aber offensichtlich strukturelle Regel und anerkannte Wahlkampfstrategie der Republicans geworden. Und das zerstört seine Legitimität an den Grundfesten. Solche Prozesse dauern ihre Zeit, aber deswegen bezeichne ich sie als schwelend.
In den letzten Wochen wurde vermehrt darüber diskutiert (auch hier im Blog), dass nicht nur eine Nicht-Anerkennung des Wahlergebnisses im November durch die Republicans eine Gefahr darstellen könnte, sondern auch durch die Democrats. Ich habe das eher skeptisch gesehen, weil es bislang abgesehen vom Rand der aktivistischsten Parteibasis wenig Signale in diese Richtung kamen. Aber der Tod Ginsburgs und McConnells eiserne Entschlossenheit, sich diesen höchsten Triumph seiner Amtszeit nicht durch Lappen gehen zu lassen, treiben die schwelende Verfassungskrise aus den Gipfel.
Ich möchte noch einmal betonen, dass nichts von dem, was gerade geschieht, gegen die Verfassung verstößt. Alles verläuft seinen Gang. Aber das Gleiche galt auch für die Machtübernahme Orbans in Ungarn, die von Chavez in Venezuela, die von Erdogan in der Türkei. Ob etwas auf dem Papier verfassungsgemäß ist wird rapide irrelevant, wenn es keiner demokratischer Legitimität unterliegt. Das ist ein Rezept für Systemzusammenbrüche bis hin zum Bürgerkrieg. So weit sind die USA noch nicht, sicherlich, aber sie kennen ein ähnliches Phänomen aus ihrer Geschichte. Auch die Sklaverei verlor immer mehr Legitimität, bis die undemokratischen Methoden der Südstaaten, sie zu schützen, nicht mehr ausreichten und im Krieg mündeten.
Heuchelei, Lügen und Wahlkampf - Die Republicans
Erneut, so weit ist es nicht. Aber die Republicans agieren definitiv auf schwankender legitimatorischer Basis. Denn der Diebstahl von Neil Gorsuchs aktuellem Sitz 2016 ging mit zahllosen, wohl dokumentierten Beteuerungen der Senatoren, die nicht Mitch McConnell heißen, einher, dass man in einem wiederholten Falle garantiert das eigens aufgestellte Prinzip achten und keine Besetzung vornehmen werde. Nun, kaum 40 Tage vor der Wahl, brechen die republikanischen Senatoren natürlich alle reihenweise ihr Wort, allen voran Lindsey Graham, dessen Verstrickung in sein eigenes Lügengebäude besonders augenfällig ist.
Natürlich gibt es nichts, was die Republicans abhalten könnte, irgendwelche dummen Begründungen zu finden, warum nun doch alles anders ist. Warum Obamas Nominierung zu stehlen in Ordnung war, weil man ja "dem Volk" die Wahl überlassen wollte, nun aber - kaum einen Monat vor dem Urnengang - diese Regel plötzlich nicht mehr gelten sollte. Beobachtende, die wie ich ohnehin keine hohe Meinung von der Integrität der Republicans haben, um es milde auszudrücken, haben genau diese Entwicklung natürlich erwartet. Es war von Anfang an ein transparentes Manöver, rein machtpolitisch motiviert und im Übrigen machtpolitisch auch verständlich. Ein Sitz im SCOTUS ist wegen der oben beschriebenen institutionellen Dynamiken ein Preis, den man nicht einfach ausschlägt, vor allem nicht dann, wenn die gesamte Karriere wie im Fall Mitch McConnells auf diesen einen Moment hinausläuft, in dem eine reaktionäre Super-Mehrheit installiert werden kann, wie sie seit der Gilded Age nicht mehr existierte - und die Gilded Age ist nicht eben für ihre progressive Gesetzgebung bekannt.
Trotzdem ist es nicht völlig unmöglich, dass McConnell bis Januar 2021 den Platz nicht besetzen kann. Dazu müssten vier republikanische SenatorInnen gegen die Nominierung stimmen. Die Wahrscheinlichkeit ist nicht groß, aber sie ist auch nicht gleich null. Der Grund dafür liegt hauptsächlich darin, dass Wahlen anstehen. Sehen wir uns daher die wahrscheinlichsten Wackelkandidaten einmal an.
Da wäre zum einen Lindsay Graham. Der Senator aus South Carolina hat in seinem ganzen Leben noch keine Wahl bestehen müssen, die auch nur ansatzweise kompetitiv war - und steht in aktuellen Umfragen mit seinem Herausforderer Jaime Harrison Kopf an Kopf. Graham hat dieses Wochenende bereits bestätigt, für Trumps Kandidatin stimmen zu wollen - völlig kohärent mit seiner sonstigen, rückgratlosen politischen Laufbahn - aber auf sein Wort ist ungefähr so viel Verlass wie auf das eines Kleinkinds, weswegen sich das je nach Lage des Wahlkampfs ändern könnte.
Zum anderen wäre da Lisa Murkowski aus Alaska. Sie ist eine der Senatorinnen, die Trumps und McConnells Politik gelegentlich öffentlich kritisieren, um sie dann doch mitzutragen (mit der bemerkenswerten Ausnahme von Obamacare) und hat bereits angekündigt, Trumps Kandidatin ablehnen zu wollen. Sofern sie standhaft bleibt, haben die Democrats also bereits eine Stimme.
Da wäre außerdem Susan Collins (Maine). Sie hat das Genre des "besorgt sein und trotzdem für Trump stimmen" perfektioniert, aber ihr Sitz steht dieses Jahr zur Wahl, Maine entschied sich 2016 knapp für Clinton und steht in Umfragen aktuell für Biden. Sie kann es sich nicht leisten, die Mehrheit der WählerInnen - die, das sei noch einmal betont, die GOP und Trump ablehnen - zu verärgern und hat daher angekündigt, mit "Nein" stimmen zu wollen. Das sind zwei Stimmen.
Zum vierten haben wir Chuck Grassley aus Iowa. Der Vorsitzende des Justizausschusses, der 2016/2017 keinerlei Probleme damit hatte seine vorherigen Aussagen zu Merrick Garland zu vergessen und sich der Parteilinie zu unterwerfen, ist auch dieses Jahr keine große Stimme des Widerstands. Er versucht gerade auf beiden Hochzeiten zu tanzen und erklärte öffentlich, Anhörungen vor der Wahl "nicht zu empfehlen". Aber er ist ein politischer Veteran, und nichts von dem was er sagt bedeutet eine Nein-Stimme: Er empfiehlt keine Anhörungen, aber wenn sie von McConnell angesetzt werden, kann er trotzdem teilnehmen und abstimmen - ob vor oder nach der Wahl. Er kann ja nichts dafür, wenn McConnell seinen Rat ignoriert, nicht?
Martha McSally aus Arizona wird zwar gelegentlich genannt, aber sie liegt in den Umfragen so weit hinter ihrem Herausforderer Mark Kelly, dass sie hauptsächlich an ihre Nach-Wahl-Karriere denken muss - und da ist republikanische Linientreue die Voraussetzung, um im großen Betrugskarussell der rechtsradikalen Medienlandschaft irgendeine Rolle zu spielen (anders als bei den Democrats, wo die umgekehrte Dynamik gilt und Abweichungen von der Parteilinie belohnt werden, was genauso beknackt ist).
Und zuletzt wäre da Mitt Romney aus Utah. Der ehemalige Präsidentschaftskandidat gilt als etwas wie das Gewissen des republikanischen Caucus, und wenngleich ich diese Zuschreibung für übertrieben halte, so ist ohne seine Nein-Stimme kaum vorstellbar, dass eine Mehrheit gegen Trumps Kandidatin zustandekommen wird.
Aber: McConnell und die republikanischen SenatorInnen haben noch ein anderes Problem, und das ist gerade der Wahlkampf. Denn wenn McConnell die Abstimmung noch vor der Wahl durchpauken will, dann kostet das die SenatorInnen wertvolle Zeit - Zeit, die sie wesentlich lieber mit Wahlkämpfen verbringen würden statt in einem harten Nominierungskampf in Washington, bei dem sie nur schlecht aussehen können. Ein Indiz dafür, wie es tatsächlich um die Stimmen steht, dürfte daher in der Terminierung sein. Setzt McConnell die Abstimmung VOR die Wahl im November, dann ist es eng. Setzt er sie auf die lame duck session danach, ist er zuversichtlich.
Dass er die Abstimmung abhalten wird, steht dagegen praktisch außer Frage.
Normen, Traditionen und eine wütende Parteibasis: Die Democrats
Aber die Wahrscheinlichkeit ist enorm hoch, dass McConnells Manöver erfolgreich sein und den SCOTUS auf eine republikanische 6:3-Mehrheit mit mindestens vier Rechtsradikalen bringen wird. Damit wird urplötzlich das Recht auf Abtreibung kurz vor dem Wahlkampf wieder zur Disposition gestellt, erübrigt sich praktisch jede Überlegung weitreichender Reformen selbst beim unwahrscheinlichen Erringen der trifecta im November. Und wenn es nicht ausreicht, alle demokratischen Wahlen eines Jahres mit einem Vorsprung von 5-8% zu gewinnen (den dieses Szenario voraussetzt), um überhaupt Politik machen zu können, dann ist das System im Ungleichgewicht. Und dann verliert es rapide Legitimität.
Dieser Vorgang hat sich an der linken Parteibasis bereits vollzogen. Die demokratischen Abgeordneten und KandidatInnen selbst, die Funktionärselite der Partei und ihre Berater, sie alle sind immer noch den alten Normen und Traditionen verhaftet. Aber Ginsburgs Tod und die Übernahme ihres Sitzes durch eine Rechtsradikale nur Tage vor der Wahl kann gut und gern der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt und die Parteiorganisation mit einem Ruck mit ihrer Parteibasis in Gleichklang bringt.
Und das bedeutet, dass Joe Biden dann plötzlich für eine Agenda stehen würde, die bislang nur von eben dieser radikalen Parteibasis gefordert wird:
- Die Erweiterung des SCOTUS (court packing). Die Verfassung legt die Größe des SCOTUS nicht fest; das ist alleine vom Kongress zu bestimmen, wie im Übrigen auch die Länge seiner Amtszeiten (siehe unten). Zuletzt versuchte Franklin D. Roosevelt in einer ähnlichen Situation, in der die reaktionären Verfassungsrichter aus parteiideologischen Motiven jede politische Maßnahme sabotierten, durch court packing eine genehmere Mehrheit zu erreichen. Das Manöver schlug seinerzeit zwar fehl, aber die Verfassungsrichter erkannten, dass sie ihre Hand überspielt hatten und traten überwiegend in den folgenden Jahren zurück - und machten den Weg frei für den New Deal und die beispiellose Prosperität der Nachkriegsjahre. Eine ähnliche Drohung, glaubhaft vorgebracht, könnte auch Mitch McConnell zu denken geben - und den RichterInnen des SCOTUS.
- Die Reform des SCOTUS. Da die Verfassung Mitgliederzahl und Zusammensetzung sowie Amtszeiten der RichterInnen nicht vorschreibt, gibt es diverse Konzepte, das Gremium insgesamt demokratischer (kleines d) zu machen. Eine Variante, von der ich allerdings reichlich wenig halte, ist seine Erweiterung auf fünfzehn Mitglieder, von denen immer fünf aus den beiden Parteien und weitere fünf unabhängig sein sollen. Ein anderes Szenario ist die Einführung von gestaffelten Amtszeiten, so dass jedeR PräsidentIn pro Amtszeit zwei neue RichterInnen benennen könnte. Solche Vorschläge hätten den Vorteil, dass sie den Gerichtshof tatsächlich demokratischer machen und nicht nur die Mehrheitsverhältnisse ändern, was eine zukünftige republikanische Administration ja auch wieder tun könnte.
- Die Staatenwerdung von Puerto Rico und Washington, D.C. Puerto Rico ist ein Territorium der USA; seine Einwohner sind zwar US-Staatsbürger, haben aber nicht das Wahlrecht. Ähnliches gilt für Washington, D.C.: Die Einwohner der Hauptstadt dürfen weder Kongress noch PräsidentIn noch ihreN eigenen BürgermeisterIn wählen. Es ist eine der vielen undemokratischen Strukturen der USA, und die Staatenwerdung dieser beiden Gebiete würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in vier zusätzlichen SenatorInnen für die Democrats und damit der Verschiebung der Mehrheitsverhältnisse enden.
- Die Veränderung des Wahlrechts. Auch das Wahlrecht wird von der US-Verfassung nicht vorgeschrieben, weswegen es ja so lange möglich war, signifikante Gruppen davon auszuschließen. Bereits jetzt gibt es Ansätze vieler demokratischer (großes D) Bundesstaaten, den Gewinn des popular vote zur Bedingung der Präsidentschaftswahl zu machen - was tatsächlich relativ leicht möglich wäre. Auch eine generelle Änderung des Wahlrechts zu einem einfachen Mehrheitswahlrecht auf Fläche des gesamten Landes wäre prinzipiell möglich. Die Elektoren können nämlich einfach verpflichtet werden, diesem zu folgen und würden damit zu reinem Ornament.
- Absichtliche Sezession. Deutlich radikaler ist die Idee, etwa Kalifornien in mehrere Staaten zu spalten. Auch hier würden die Democrats mehrere Senatoren und Repräsentaten hinzugewinnen, weil die US-Verfassung bei der Vergabe von Kongresssitzen das Land bevorzugt - je mehr Menschen in einem Staat wohnen, desto weniger Repräsentation haben sie, ein Problem, das übrigens auch das EU-Parlament plagt.
Es mangelt also offensichtlich nicht an ziemlich durchgreifenden Ideen. Dazu kommt, dass eine solche Radikalisierung der Democrats auch bedeuten würde, dass die asymmetrische Machtausübung, die die letzten zwanzig Jahre kennzeichnete, an ihr Ende kommen würde. Gemeint ist, dass die Republicans eine Norm nach der anderen brechen, die Gesetze bestenfalls dem Text, aber nicht dem Geist nach befolgen und so weiter - das wurde hier im Blog lang und breit thematisiert. Fangen die Democrats auch damit an, würde der Ton wesentlich rauer und wäre die Demokratie in ihren Grundfesten gefährdet. Deswegen haben sie sich bisher in biblischer Geduld zurückgehalten und stets die andere Wange hingehalten. Aber auch hier könnte Ginsburgs SCOTUS-Sitz der Tropfen zu viel sein.
Fazit
Der Wahlkampf 2020 hat eine völlig neue, unvorhergesehene Dynamik bekommen, die das gesamte Gefüge durcheinanderbringen könnte. Mehr noch als die Frage, wer im November die Präsidentschaftswahl gewinnt, könnte sie über die langfristige Zukunft der USA und die demokratische Verfasstheit des Landes entscheiden.
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