Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.
1) Das Unfassbare wird immer normaler
2) Tweet
Es wäre so witzig. Wenn die Überschrift nur nicht so sinnbildlich wäre - für die Aufgeschlossenheit mit der die Politik die Klimakrise angeht. #Fck2038 https://t.co/mtvHP1adN5
— Luisa Neubauer (@Luisamneubauer) September 6, 2020
Es ist wirklich Realsatire. Diese im rechtsdemokratischen Spektrum weit verbreitete Haltung gegenüber dem Klimawandel ist im Jahr 2020 eigentlich kaum zu glauben. Aber die pro-Forma-Anerkennung des Faktums Klimawandel hat eben keinerlei daraus erwachsende Konsequenzen. Nirgendwo wird das so deutlich wie in Merkel-Adlatus Altmaier, der gerade wieder verkündet hat, dass seine Strategie zur Begegnung des Klimawandels in "Vertrauen in die Genialität der Ingenieure (alle männlich, natürlich)" bestehe, was auch nur eine leichte thematische Abwandlung des Lindner-Mantras ist, dass irgendwelche coolen Start-ups ohne jegliche staatlichen Anreize es lösen werden. Es ist das Äquivalent von "es wird schon wieder kühler". Das ist keine Klimawandelleugnung per se, aber es läuft auf etwas sehr Ähnliches hinaus: Augen zu und durch. Wird schon gut gehen. Wird es aber nicht. Und je länger Lösungsversuche aufgeschoben und auf solche Luftschlösser gebaut wird, desto schmerzhafter und heftiger wird der Anpassungsprozess am Ende werden. Das ist übrigens eine Argumentation, die Konservativen wie Liberalen vertraut sein sollte, schließlich haben sie sie jahrzehntelang bezüglich dem Sozialstaat verwendet.
3) Wie die Idee der Untertanen aus der Schule vertrieben wurde
Bleibe die Erziehung so "preußisch", könne man nicht darauf hoffen, dass die Deutschen sich vom "Führerprinzip" abwenden würden. Demokratie werde dann nur eine "leere Schale" bleiben. In die Familien einzugreifen, erschien den Autoren des Berichts problematisch. Von einer demokratischen Reform der Schulen hingegen erhofften sie sich viel. [...] Neue Formen des Dialogs zu wagen und Schüler zu kritischem Denken zu erziehen, waren Leitmotive des anglo-amerikanischen Demokratisierungsgedankens. Nur so ist zu verstehen, welch erstaunliches Spektrum von Maßnahmen US-Amerikaner und Briten initiierten – Maßnahmen, deren Folgen das deutsche Schulsystem bis heute prägen. [...] Die westdeutsche Entwicklung war demnach keine Annäherung an den "Westen", sondern wies eine ganze eigene Dynamik auf. Nicht weniger wichtig als der alliierte Input war die wachsende Überzeugung vieler deutscher Schulpolitiker und Lehrerinnen, dass Diskussionen, kritische Meinungsbildung und politische Debatten notwendige Aspekte einer Erziehung zur Demokratie seien. Sie galten auch ihnen als Instrumente, um sich von der nationalsozialistischen Vergangenheit zu lösen. Das enge Zusammendenken von Erziehung und Demokratie lässt sich vielleicht sogar als bundesrepublikanischer Sonderweg bezeichnen. Zwar war es Produkt eines transatlantischen Ideentransfers, zugleich aber entfaltete es in Westdeutschland eine ganz eigene Wirkung. [...] War der Wandel der deutschen Schulen demnach eine demokratische Erfolgsgeschichte – und eine vorbildliche Aufarbeitung der Vergangenheit? Das zu konstatieren, wäre zu einfach. [...] Manches allerdings geriet in der Fixierung der deutschen Debatten auf den Abbau "autoritärer Strukturen" aus dem Blick. Wenn Pädagogen und Politiker (noch selten waren es Pädagoginnen und Politikerinnen) in den Sechzigerjahren über politische Bildung sprachen, hatten sie meist einen jungen Mann bildungsbürgerlichen Hintergrunds im Kopf. Mädchen zu fördern, machten sie sich kaum zum Anliegen. So dauerte es, bis auch Schülerinnen in den Redaktionen der Schülerzeitungen zu Wort kamen. Erst spät begann eine Debatte über Bildungschancen, noch viel später eine Diskussion über Migration und Bildung. Abitur machten in den Sechzigerjahren noch wenige: 1968 waren es knapp zehn Prozent eines Jahrgangs. (Sonja Levsen, ZEIT)
Das deutsche Schulsystem ist, trotz aller seiner offensichtlichen Schwächen, wesentlich besser als sein Ruf. Die durch die PISA-Studie seinerzeit aufgedeckten und bis heute nicht überwundenen Schwächen im MINT-Bereich und bei der sozialen Selektivität mal beiseite gelassen ist nicht nur die historisch-politische Bildung klasse (nebenbei bemerkt auch der Religionsunterricht), sondern auch der Sprachenunterricht (das vergleichsweise hohe Fremdsprachenniveau des deutschen Schulsystems kommt von einem qualitativ hohen Unterricht). Das darf man ruhig mal anerkennen. Deutsche Schulabschlüsse gehören außerdem zu den härtesten weltweit, im Sinne einer Währung.
Ein anderer im obigen Artikel auftauchender Punkt ist die Funktion der Schule als Wandelstätte. Ich habe im Rahmen des seinerzeit kontrovers diskutierten GEW-Unterrichtsmodells zur Homosexualität über das Thema geschrieben (da konnte man schon Pegida und AfD wetterleuchten sehen, rückwirkend betrachtet). Schule und Bildungspläne, Methodik und Pädagogik haben großen Einfluss auf die Jugendlichen. Die Rechtsextremen wissen schon, warum sie das Schulsystem so hart angreifen, es ist nach wie vor eine Schmiede und Verteidigerin der Demokratie, wesentlich mehr als etwa die Presse.
Zuletzt zum im Artikel hauptsächlich besprochenen Politikunterricht beziehungsweise der Offenheit: ganz zentral ist die Generation jener Lehrkräfte, die in den 1970er und 1980er Jahren in den Schuldienst gekommen sind, zumindest hier in BaWü. Die brachten einen unglaublichen Aufbruchsgeist und tausende von neuen Ideen mit, gründeten (im Rahmen der Bildungsexpansion) ganze Schulen neu und etablierten damals neue Konzepte, vom Gruppenarbeiten zum Projektarbeiten zum Sprachlabor. Ich hatte als Schüler diese Generation, als sie gerade in die letzte Dekade ihres Schuldiensts ging; als ich mein Referendariat gemacht habe, standen die alle kurz vor der Pension oder waren schon weg. Die 1990er und 2000er Jahre haben keinen vergleichbaren Umschwung erlebt, weil im Rahmen des Schweinezyklus' nur wenig Leute eingestellt wurden. Deswegen werden gerade sehr viele Leute meiner Generation eingestellt. Das ist typisch für deutsche Lehrerzimmer; eine Generation wird praktisch ausgelassen.
Moria auf der griechischen Insel Lesbos war nicht irgendein Camp. Hier wollte die Europäische Union ihre Flüchtlingspolitik neu erfinden. [...] Statt die Gesuche von Asylbewerbern schnell zu bearbeiten, hielten die griechischen und europäischen Behörden die Schutzsuchenden über Monate, zum Teil über Jahre auf der Insel fest. Kaum ein Flüchtling wurde in die Türkei zurückgebracht, aber auch kaum jemand durfte weiterreisen nach Nordeuropa. Das Ergebnis ist, dass sich Lesbos und andere griechische Inseln in Freiluftgefängnisse verwandelt haben. Im Camp Moria, das für 3000 Menschen ausgelegt ist, hausten zuletzt fast 13.000 Schutzsuchende. [...] Es liegt der Verdacht nahe, dass Athen Moria nicht nur aus Ignoranz vernachlässigt hat. Sondern dass man das Elend bewusst in Kauf genommen hat, um mögliche Neuankömmlinge abzuschrecken. Und auch die EU hat nichts getan, um die Situation zu verbessern - dabei war Moria ihr Projekt. [...] Es ist eigentlich klar, was die EU nun zu tun hat: Sie muss die Inseln evakuieren. Die Flüchtlinge müssen in Europa umgesiedelt werden, so, wie es Expertinnen und Experten seit Monaten fordern. Und dann müssen sich die Europäer, endlich, endlich, auf ein gemeinsames Asylsystem einigen, dass die Schutzsuchenden fair über den gesamten Kontinent verteilt. Trotzdem ist fraglich, ob es dazu kommen wird. [...] Die EU nimmt für sich in Anspruch, nicht nur eine wirtschaftliche und politische, sondern auch eine moralische Macht zu sein. Auf Lesbos hat sie jede moralische Autorität eingebüßt. (Maximilian Popp, SpiegelOnline)
Moria ist quasi der Kulminationspunkt eines unlösbaren Problems. Eine Umverteilung der Flüchtlinge auf ganz Europa ist politisch unmöglich. Nationale Alleingänge à la 2015 sind es aktuell auch. Ohne diese beiden Lösungen bleibt einzig und allein die menschenrechtswidrige Abwehr von Flüchtlingen und die rechtswidrige Massenabschiebung. Für Länder wie Griechenland ist das keine Option, die ihnen Bauchschmerzen bereiten würde. Ein Nicht-Handeln der EU und Deutschlands wird dazu führen, das das so entstandene Machtvakuum durch die Peripherieländer gefüllt wird - indem sie genau das tun. Sie werden die Menschenrechte verletzen, die Grenzen schließen, die Flüchtlinge so schlecht wie möglich behandeln und das Problem dadurch regionalisieren und auf kleiner Flamme brennen lassen. Bei uns kommt es allenfalls periodisch an, wir empören uns, holen ein paar Kinder, fühlen uns gut und vergessen es wieder. So wird das ewig weiter vertagt und auf illegale Weise gelöst, aber niemand hat ein Interesse an einer Lösung oder an einer Anklage der Menschenrechtsverletzungen. Das ist seit Jahren absehbar; Merkel hat das mit ihrem Türkei-Deal ja zur offiziellen Regierungspolitik gemacht. JedeR schwarz-rote PolitikerIn die jetzt über Moria entsetzt ist heuchelt, und die meisten anderen ebenfalls - es ist schließlich seit einer halben Dekade offenkundig, was da passiert und welche politische Dynamik am Werk ist. Man muss es nur wissen wollen.
But the more fundamental reason for scepticism about future government policy is that public officials and their economic advisers still subscribe to models that assume economies normally do best without government help. Stimulus measures can be justified in an emergency, but they are not seen as part of the policy framework, any more than keeping people in intensive care is seen as a prescription for healthy living. As the Chicago economist Robert Lucas once observed, all governments are “Keynesians in the fox hole”. The fact the stimulus measures advocated by JM Keynes – such as higher public spending and tax cuts – are expected to be for emergencies only reflects the damage the neoclassical (or free-market) economics of the 1980s and 1990s inflicted on his theory: damage has never been repaired. [...] One result of the discrediting of Keynesian theory has been the collapse of state investment: the UK government’s share of total investment fell from an average of 47.3 per cent in 1948-76 to 18.4 per cent in 1977-2007. This left the economy much more dependent on the variable expectations of the business community. More pertinently for today, it left the public health services denuded of capacity to cope with the pandemic, and unduly reliant on foreign supply chains for essential medical equipment. A sound principle in today’s world is that all the goods and services necessary to maintain the health and security of the nation should be produced within its own borders, or those of its close political allies. If that means curtailment of market-led globalisation, so be it. [...] Keynes was convinced that if democracies failed to tackle mass unemployment, people would turn to dictatorships. He gave democracies a programme of action. We must build on it today. The economics profession has a special responsibility to show the way, which it has shamefully shirked. (Robert Skidelsky, The New Statesman)
Wenig überraschend stimme ich der Grundthese des Artikels, dass die Austerität zu Instabilität, Ineffizienz, Abhängigkeit und schlechten Leistungen geführt hat, zu. Gleiches gilt für die These von den "Keynesians in the fox hole". Bisher hat noch jede Regierung, ob sozialdemokratisch, linkspopulistisch, rechtspopulistisch, liberal oder konservativ, in der Krise zu massiven Ausgabeausweitungen gegriffen. Es ist einfach alternativlos, wenn man den demokratischen Staat erhalten will. In fast allen Fällen braucht es nicht mal Krise oder foxhole dazu; Konservative wie Liberale finden immer gute Gründe für massive Transferleistungen wenn sie selbst an der Regierung sind. Das ist normal; Linke werfen ja auch immer genügend eigene unantastbare Grundsätze über Bord sobald sie selbst an der Verantwortung sind. Dieses Phänomen wird zwar gerne kritisiert, ist aber das Schmiermittel der Demokratie. Regierungen, die ihre Prinzipien behalten wollen, sind fundamental instabil und halten nicht lange, wenn sie überhaupt je an die Regierung kommen. Es ist kein Zufall, dass die Sanders' und Corbyns dieser Welt als Protestfiguren viel erfolgreicher sind als als tatsächliche Anführer.
Gleichzeitig halte ich es für super wichtig, was im Schluss des Artikels über die Erweiterung der Diskussion steht. Ich schrieb schon über die Öffnung des Overton-Fensters, und wenn Linke ihre Politik umsetzen wollen, müssen sie aus den Narrativen ihrer politischen Gegner raus. Da führt kein Weg dran vorbei. Solange SPD und Grüne überzeugt sind, den ausgeglichenen Staatshaushalt als Goldenes Kalb betrachten zu müssen, werden sie niemals eine wirklich eigenständige Politik treiben können. Dasselbe Phänomen erlebt die CDU ja auch seit Jahren, weswegen man da ja auch am rechten Rand so stinkig auf Merkel ist. Wenn man das Narrativ der Gegner übernimmt, von Menschen- und Bürgerrechten für alle etwa, kann man schlecht die radikaleren Positionen der Parteibasis umsetzen und muss ständig Kompromisse auf dem Feld machen. Schmiermittel der Demokratie und so.
Den Bürgerinnen und Bürgern ist ihr Land unheimlich geworden. Die Französinnen und Franzosen möchten Macron vielleicht gern glauben, wenn er von der Einheit spricht. Aber je öfter er sich wiederholt, desto stärker werden die Zweifel, aus denen Frankreich nicht mehr herausfindet. [...] Wer ist Opfer, wer ist Täter - darauf ist die Hebdo-Debatte in Frankreich im Moment reduziert, ein perfektes Setting, um sich jahrelang im Kreis zu drehen. Denn wirklich erforscht, aufgeklärt und gelehrt werden die Geschichte des Kolonialismus, des Algerienkriegs, der Beziehungen zu Afrika nicht. Eine große, populäre Ausstellung über Verstrickungen, Versprechen, Migration und Propaganda in den Beziehungen Frankreichs zum Maghreb und Schwarzafrika fehlt dringend. Wirklich zu Wort kommen auch die Bewohner der Vorstädte nicht. Das Attentat auf "Charlie Hebdo" wurde als Anschlag von außen, als Tat fremder Mächte gewertet - das war aber nur ein Teil der Wahrheit. [...] Die einen sehen überall eine unaufgearbeitete koloniale Vergangenheit, die anderen sind davon überzeugt, der große Bevölkerungsaustausch gehe vonstatten, in dem die alteingesessenen Gallier durch Menschen aus Afrika ersetzt werden. [...] In Frankreich bricht sich etwas Grundlegendes Bahn, ein Ringen um Zivilisation und Identität. Wie stiftet man Vertrauen und überwindet das Beschweigen? Welche Extreme vergiften den Diskurs, statt ihn zu befördern? Wer ist Charlie? (Nils Minkmar, SpiegelOnline)
Für Frankreich und Großbritannien gilt in viel größerem Maße als für Deutschland: Ohne Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit wird es keine Integration geben. Diese Länder haben nie mit ihrer kolonialen Vergangenheit abgerechnet, und auch wenn sie integrierende nationale Erzählungen entworfen haben - Commonwealth hier, Francophonie dort - blieben diese hohl, weil sie außer der weißen Mehrheitsgesellschaft niemand anderen respektiert oder ernst genommen haben. Es ist wie die Integrationsdebatte in Deutschland auch unglaublich einseitig. Niemand interessiert sich für die Kultur von Türken, Syrern oder sonstwem, außer, wo sie als defizitär wahrgenommen wird. Bei uns ist die Kolonialvergangenheit kein so großes Thema, weil wir keine großen Minderheiten aus den ehemaligen Kolonien haben; ihre aktuelle Halb-Prominenz verdankt sie eher den BLM-Protesten und Jürgen Zimmerers Aktivismus. Heißt nicht dass die Diskussion nicht gut wäre, nur erklärt das die weniger hervorgehobene Stellung.
7) Klimawandel: Europa und USA fast allein für Klimakatastrophe verantwortlich
Schlimmster CO2-Sünder sind der Analyse zufolge erwartungsgemäß die USA. Eigentlich dürfte das Land insgesamt nur 41,5 Gigatonnen CO2 ausstoßen, 2015 seien es aber schon 420,4 Gigatonnen gewesen. Das sei nicht nur das Zehnfache des Budgets, sondern auch 40 Prozent der übermäßigen CO2-Emissionen insgesamt. Auf dem zweiten Platz folgt Russland (105 statt 27 Gigatonnen) vor Deutschland. Mit 91,3 statt 18,4 Gigatonnen CO2 haben die deutschen Staaten fast das fünffache ihres Budgets ausgestoßen und landen bezüglich der Gesamtmenge an zu viel ausgestoßenem CO2 sogar vor dem Mutterland der Industrialisierung Großbritannien. [...] Insgesamt kommt Hickel zu dem Ergebnis, dass die EU-Staaten (inklusive Großbritannien) für 29 Prozent des zu viel ausgestoßenen CO2 verantwortlich sind, der Rest Europas für weitere 13 Prozent. Zusammen mit dem Anteil der USA sind das 82 Prozent des übermäßigen CO2. Die anderen Staaten des globalen Nordens – also laut Hickel noch Kanada, Israel, Australien, Neuseeland und Japan – kommt auf 10 Prozent. Der gesamte Rest der Welt steckt demnach lediglich hinter 8 Prozent des zu viel ausgestoßenen CO2 und den dadurch ausgelösten Klima-Zusammenbruchs. Hickel meint, man könne von atmosphärischer Kolonisierung sprechen, denn die reichsten Staaten hätten die Atmosphäre weit stärker verschmutzt als ihnen zusteht, während der globale Süden von den Folgen überproportional betroffen ist und sein wird. (Martin Holland, heise.de)
Deutschland war mal führend beim Thema Klimawandel. Nur ist das 20 Jahre her. Seither ist es vor allem ein bequemes Narrativ, während andere Länder und Regionen längst an uns vorbeigezogen sind, während wir von der Substanz gelebt und unter Merkels Regierung zahlreiche Programme abgebrochen haben (etwa die Energiewende). Letztlich ist Merkels Kanzlerschaft eine einzige Periode verlorener Zeit, was den Kampf gegen den Klimawandel angeht, und wir werden die Folgen und Kosten davon noch sehr lange zu tragen haben - vorausgesetzt, es passiert endlich was, was angesichts der extrem hohen Wahrscheinlichkeit einer fortgesetzten CDU-Kanzlerschaft eher unwahrscheinlich ist.
Ich finde es absolut wertvoll darauf hinzuweisen, wie stark die ganze Flüchtlingsdebatte im Allgemeinen und die Krise 2015/16 im Speziellen von Mediennarrativen geprägt ist. Für ein halbes Jahr war der Tenor des #RefugeesWelcome unglaublich dominant, was zahlreiche eher konservativ oder rechts schlagende Herzen sehr befremdet hat. Dann kam ein radikaler Umschwung, und der Wahlkampf 2017 wurde im Zeichen einer unglaublich toxischen Debatte geführt (ich erinnere an das unsägliche Kanzlerduell und damit einhergehende Totalversagen der Leitmedien). Aber das ist ja kein Naturzustand. Die überwiegende Mehrheit der Deutschen ist weiterhin für eine flüchtlingsfeindliche Politik nicht zu haben (nur, siehe Fundstück 4, auch nicht für eine Neuauflage von #RefugeesWelcome; aktuelle Meinungsumfragen sehen einen 40:40:10 Split in Deutschland für Aufnahme, Aufnahme nur EU-weit und keine Aufnahme).
Besonders spannend finde ich in dem Zusammenhang auch, dass das Vertrauen der Deutschen insgesamt sowohl in die Medien als auch in die Regierung seit 2015 konstant gestiegen ist. Obwohl permanent von Regierungsversagen und Misstrauen gegen die Medien gesprochen wird, ist der Glauben an beides gerade in dieser Zeit eklatant zurückgegangen. Total merkwürdig; möglicherweise eine Variante von el-Mafalaanis "Integrationsparadox".
9) Democrats must bow to the Electoral College
But now Shadi Hamid at The Atlantic has written a column of his own in which he treats this latter scenario as the one most likely to push the country into full-on democratic breakdown and civil unrest. That's because it's the Democrats, Hamid claims, who may find it impossible to concede the election if Trump manages to win by carrying the Electoral College. [...] I have no idea if Hamid is right about this, and very much hope we never get to test the prediction. But a glance at the political militancy of left-wing protesters on the streets of American cities this summer, not to mention the conspiracy-addled speculations and hyperbolic warnings of incipient fascism emanating from self-described members of the "resistance" on cable news and social media, shows that the scenario is at least plausible, if not exactly likely. [...] The Democrats' problems are contingent, not systematic. [...] This points toward a way for the party to improve its likelihood of winning — by trading some of those wasted votes for votes it needs far more in other (more culturally conservative) regions of the country. They could do this by soft-peddling positions on the left side of the culture-war, finding, for example, 21st-century equivalents to Bill Clinton's pledge to make abortion "safe, legal, and rare." That is a winning path forward for the Democrats within the current system. And indeed, Joe Biden's record of moderation and capacity to appeal to more culturally conservative voters than Hillary Clinton managed to do four years ago could well turn out to be key to a Democratic victory in November. (Damon Linker, The Week)
Gleich vorweg sei bemerkt, dass das Erheben einer solchen Forderung natürlich immer sehr leicht fällt, wenn du die Position eh teilst. Damon Linker gehört eher zum rechten Flügel der Democrats, wenn man ihn der Partei überhaupt zuordnen will (The Week ist kein linkes Medium wie etwa Washington Monthly oder Vox). Ich bin immer sehr skeptisch, wenn Leute einer Partei zur Lösung eines Problems genau das empfehlen, was sie schon immer geglaubt haben, ob das jetzt ein "weniger Identitätspolitik" von Linker ist oder ein "höhere Steuern und Medicare for All" von den Bernie-Leuten. Seiner grundsätzlichen Analyse stimme ich aber zu, und Biden fährt ja ziemlich offensichtlich einen Wahlkampf genau unter diesen Prämissen.
Noch eine Seitenbemerkung zum Szenario der Nicht-Akzeptanz des Wahlergebnisses: Ja, vor allem auf der radikaleren Basis-Seite bestehen solche Tendenzen schon, aber es erfordert extrem viele Annahmen und Reifen, durch die das Argument springen muss, um diese als sonderlich realistisch zu sehen. Die Democrats sind nicht die Gefahr, sondern die Republicans. Anders als jedeR PolitikerIn der Democrats muss ich bei denen nicht irgendwelche Annahmen bemühen, dass sie das Ergebnis vielleicht nicht anerkennen könnten, wenn A, B und C passieren. Sie sagen völlig offen, dass sie ein nachteiliges Ergebnis nicht akzeptieren wollen und dass sie die Wahl manipulieren. Hier muss man mit Bothsiderismus schon extrem vorsichtig sein.
10) How the 1970s Changed the U.S. Economy
Oil had represented a big improvement over coal. It was much cheaper to extract and transport and had a higher energy density. That permitted vast and rapid improvements in transportation technologies such as airplanes, internal combustion cars, and so on. But after 1973, that energy bonanza was no longer a sure thing. The smooth progress of industrial technology toward bigger, faster, and more powerful machines, already in trouble due to the failure of nuclear power to supplant oil, crashed to a halt in 1973. Instead of finding new ways to use ever-more-abundant energy, manufacturers shifted toward finding ways to do more with less. Manufacturing productivity kept increasing, but the sector became less and less important to the economy [...] So the oil shock must be the prime suspect in the economic shift that began in the early 1970s. Of course, there are other potential culprits. One is shrinking union membership, which probably reduced workers’ bargaining power: [...] But even here, the oil crisis could have exacerbated the trend, by shrinking heavily unionized manufacturing and mining industries and by weakening labor’s bargaining power via the Volcker recessions. [...] If the end of the age of cheap oil was truly responsible for many of these negative structural shifts in the U.S. economy, then one obvious remedy is to find an energy source better than oil. That alternative may already be available: Solar power is becoming startlingly cheap. But to truly replace oil, solar energy will have to be not just cheap to gather but easy to transport from place to place. That means we need much more progress in batteries or other storage technologies. Governments should push hard to make big leaps in these technologies, so that the era of cheap energy can return — and with it, hopefully, widely shared prosperity. (Noah Smith, Bloomberg)
Die 1970er Jahre sind tatsächlich wahnsinnig interessant, weil sich in diesem Jahrzehnt so viel verändert hat. Smiths These hier, dass die steigenden Ölpreise zu einem Abwürgen von Innovation geführt haben, ist sehr interessant. Denn wenn Computer etwas nicht brauchen - arguably DIE Innovation nach 1980 - dann ist das Öl. Von daher ist das zumindest als Hypothese nicht völlig abwegig. Mir fehlt das Fachwissen, um das beurteilen zu können; KommentatorInnen vor. Aber das Fazit des Artikels kann ich auf jeden Fall unterstützen. Es ist ziemlich offensichtlich, dass wenn wir super billige Energie hätten, das sich positiv auf die Innovationskraft auswirken würde - auch im Hinblick auf den Klimawandel. Ob die Lösung durch Solarenergie kommen wird weiß ich nicht, aber Kohle und Atomstrom sind es sicherlich nicht. So teuer und ineffizient wie die zwei sind....
11) After Abe: How Japan’s new prime minister should handle diplomacy
So, what are the implications of Suga’s victory? The Suga administration will bring continuity and stability to Japanese politics, and will most likely set the national political agenda. As the longest-serving chief cabinet secretary in Japan’s history, Suga has dedicated his life to running the Abe government and has been significantly involved in all its major domestic and international policies. Unlike Abe, Suga has navigated the world of Japanese politics without the privileges that come with membership of a political dynasty or, until now, strong backing from a party faction. He excelled under the Abe administration partly because he has kept a tight hold on the nation’s bureaucracy. Suga has successfully coordinated domestic affairs (including through several scandals that struck the Abe administration) and overseen crisis management at home. Domestically, his priority is to tackle the effects of the covid-19 pandemic and to decide what to do about the Tokyo Olympics. The Japanese economy has been deeply affected by the crisis. Consumption, international trade, and other forms of economic activity have declined. The biggest challenge for Suga is to spark an economic revival that leads to sustained growth. His government is likely to adopt an enhanced version of “Abenomics”(a concept based upon the “three arrows” of monetary easing, fiscal stimulus, and structural reform), and to pursue a proactive fiscal policy that includes stimulus packages until the pandemic is under control. In addition, Suga promised during his campaign to introduce measures to protect jobs, create vibrant regional economies, and build a reliable social security system suited to a rapidly ageing society. (Elli Pohlkamp, European Council on Foreign Relations)
Ich habe aus dem Artikel die innenpolitischen Punkte herausgepickt, weil ich kurz noch einmal darauf hinweisen will, wie transformativ Abes lange Amtszeit war. Nicht nur hat er für japanische Verhältnisse ungewöhnlich lange regiert, er scheint auch zumindest ansatzweise einen Weg aus dem langen Dilemma japanischer Wirtschafts- und Währungspolitik gefunden haben. Abe hat sich zudem massiv für eine Ausweitung der Frauenerwerbstätigkeit eingesetzt, die in Japan auf einem für Industrieländer absurd niedrigen Niveau ist und sowohl Produktivität als auch Gleichberechtigung hemmt. Er hat sich außerdem deutlich gegen den Kult der familienzerstörenden langen Arbeitszeiten ausgesprochen, der in Japan seit Jahrzehnten prävalent ist (wie auch in den USA übrigens).
Auch in der Sicherheitspolitik hat Abe einen massiven Umschwung bewirkt und eine fast 60jährige Tradition beendet; wie in der Bundesrepublik versucht Japan gerade, seine Verteidigungspolitik und Armee grundsätzlich zu reformieren und kämpft da natürlich mit massiven Problemen und Umsetzungsschwierigkeiten. Generell spannend zu beobachten, was in Nippon passiert, auch wenn das natürlich wegen Entfernungen und kultureller Fremdheit für uns hier nur mittelbar von Belang ist.
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