Mittwoch, 30. September 2020

China verschiebt den Diskurs zu Keir Starmers Verwicklungen im Senat mit Friedrich Merz - Vermischtes 39.09.2020

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. 1) Schutz der Rechtsstaatlichkeit in der EU: Die deutsche Ratspräsidentschaft muss das Budget und die Glaubwürdigkeit der EU sichern

Auf dem Juli-Gipfel gelang es dem Europäischen Rat, eine Einigung über die Notwendigkeit eines Konditionalitätsregimes für EU-Gelder zu erzielen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die EU diesen politischen Konsens nun in eine gesetzliche Regelung umsetzt, die anders als das Artikel-7-Verfahren als wirksame Abschreckung für Mitgliedstaaten wirkt, die gegen die Rechtsstaatlichkeit verstoßen. Zwei Elemente werden wesentlich sein: den Rechtsstaatlichkeitsmechanismus zu konkretisieren und ihn gleichzeitig zu entpolitisieren. Den Verordnungsvorschlag der Kommission von 2018 als Ausgangspunkt zu nehmen, scheint der einfachste Weg zu sein, der offenbar auch von der deutschen Regierung favorisiert wird. Er enthält die notwendige rechtliche Begründung sowie eine klare Artikulierung der Fälle, in denen der Mechanismus ausgelöst werden kann, die sich weitgehend mit den gegen Ungarn und Polen erhobenen Vorwürfen decken. Vor dem Hintergrund der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates erscheint es schwierig, die vom Europäischen Parlament geforderte umgekehrte qualifizierte Mehrheit beizubehalten. Damit es nicht jedes Mal, wenn die Kommission vorschlägt, einem Mitgliedstaat EU-Gelder vorzuenthalten, zu langwierigen politischen Debatten kommt, muss der Mechanismus umso konkreter auf die Art von Verstößen, die zu Sanktionen führen können, und deren Bewertung eingehen. (Natascha Wunsch, Der Europäische Föderalist)

Bedenkt man, wie Ungarn und Polen angesichts dieser Ideen aufheulen, wo sie beim Formellen Artikel-27-Verfahren bestenfalls müde lächelten, ist das Konzept ziemlich erfolgversprechend. Dass EU-Mitgliedsstaaten bereits seit Monaten offiziell Blockadepolitik betreiben, damit die EU von ihrem verfassten Ziel ablässt, die Rechtsstaatlichkeit durchzusetzen, ist ohnehin ein viel zu unterbewerteter Skandal. Da die EU-Strukturen die Missetäter aber schützen, muss man sie anderweitig angehen. Da, wo es wehtut. Und das ist in korrupten Autokratien immer das Geld.

2) No, Democrats Are Not Eternally Doomed in the Senate

The weird thing about judicial "originalism" is that the explicit principle of judicial review is nowhere to be found in the Constitution. All of that document's stipulations on how the courts are to be constructed are contained in one single sentence in Article III: "The judicial Power of the United States, shall be vested in one supreme Court, and in such inferior Courts as the Congress may from time to time ordain and establish." Actual judicial review was a product of a cynical power grab from Chief Justice John Marshall, who simply asserted out of nothing in Marbury vs. Madison that the court could overturn legislation — but did it in a way to benefit incoming president Thomas Jefferson politically, so as to neutralize his objection to the principle. Jefferson famously hated judicial review. In one letter, he said it is "a very dangerous doctrine indeed, and one which would place us under the despotism of an oligarchy. Our judges are as honest as other men, and not more so." But because of Marshall's canny political strategy, from that day forward Congress and the president have mostly deferred to the court's views and allowed it to strike down laws or establish entirely new legal principles even on completely spurious grounds. As Matt Bruenig argues at the People's Policy Project, it would be quite easy in practical terms to get rid of judicial review: "All the president has to do is assert that Supreme Court rulings about constitutionality are merely advisory and non-binding, that Marbury (1803) was wrongly decided, and that the constitutional document says absolutely nothing about the Supreme Court having this power." So, for instance, if Congress were to pass some law expanding Medicare, and the reactionaries on the court say it's unconstitutional because Cthulhu fhtagn, the president would say "no, I am trusting Congress on this one, and I will continue to operate the program as instructed." (Ryan Cooper, The Week)
Ich bin sehr skeptisch, ob diese Option tatsächlich besser als court packing wäre. Einfach mal 200 Jahre Präzedenzfall über den Haufen zu werfen ist jetzt auch nicht unbedingt weniger invasiv als das Ding einfach nur aufzustocken. Spannend ist, dass es auch im konservativen Spektrum Leute gibt, die diese Linie vertreten (siehe Fundstück 9). Der relevantere Teil des Artikels ist denke ich aber im aktuellen Stadium auch, dass es plötzlich selbst im moderaten Spektrum völlig normal ist, über eine Reform des SCOTUS nachzudenken. Das ist ohnehin überfällig. Meine "Lieblingsreform" wären ja gestaffelte Amtszeiten, damit dieser anachronistische Blödsinn der lebenslangen Amtszeiten aufhört. Und dann ernennt jedeR PräsidentIn pro Amtszeit zwei Richter und gut. Das passt dann auch zu Fundstück 2: Wahlen sorgen eh für konstanten Wandel. Es ist die Kombination der Kurzfristigkeit dieser Ergebnisse mit der praktischen Permanenz der Gerichtszusammensetzung, die gerade Legitimationsprobleme schafft. 

4) Trump, Orbán, and Putin Are Forming an Authoritarian Alliance
Trump is not a fascist. Nor, for that matter, are his Eastern European allies. But that hardly dispels the concern. Experts in the field express serious concern that Trump has moved the United States along the continuum toward authoritarianism, and that a prospective second Trump term could very well do enough additional damage that the government would no longer be characterized as democratic at all. Democratic governments do not usually perish in a sudden march of jackboots, but instead see their democratic norms slowly disintegrate. [...] The most chilling aspect is how Trump and his supporters have embraced authoritarianism as a kind of kitsch. Just as they picked up on Trump’s threats to prosecute Hillary Clinton in 2016, they have begun echoing his unprecedented talk of holding office beyond the constitutional limits [...] At a recent rally, Trump gloated about an attack on a journalist who was injured covering a peaceful demonstration [...] It is easy to dismiss this all as a kind of shtick. But the distance between Trump’s violent rhetoric against journalists (“enemies of the people”) and the reality of his administration has shrunk. The rubber bullet that struck Velshi was very real. [...] [...] And a vanguard of Trumpist intellectuals has embraced the rhetorical mode of the Putinshpere. Conservatives like Michael AntonTucker Carlson, and Michael Brendan Dougherty have likened Democratic plans to organize rallies in response to Trump as a “color revolution.” [...] It’s natural and expected for Trump’s allies to ignore Trump’s provocations and treat the planned response thereto as if it is the provocation itself. What’s amazing is that, by depicting Democrats as a “color revolution,” they are implicitly likening Trump to an autocrat. [...] Unlike under the last Republican administration, the United States is no longer declaring a crusade against an “axis of evil.” That is the good news. The bad news is that we’ve joined one. (Jonathan Chait, New York Magazine)
Wie ich bereits in Fundstück 1 angedeutet habe kann der liberale Westen in seiner groben Konzeption kaum bestehen bleiben, wenn zum Club Autokratien gehören. Dass die USA zwar noch keine sind, sich aber offensichtlich als mit ihnen im Bündnis betrachten, ist angesichts der Rolle, die die USA als Leitstern liberaler Demokratie einnehmen beziehungsweise bisher einnahmen, mehr als bedenklich. Aber auch wenn oft betont wird, dass Trump "noch" kein Autokrat ist - das stimmt sicherlich, aber es macht seine proto-faschistischen Ausfälle nicht weniger bedeutend. Denn die Präsidentschaft ist ein Amt mit solcher Machtfülle, dass jede Aussage, jede Andeutung und auch jede Auslassung seitens der inhabenden Person zu Aktivität oder ihrer Unterlassung im Behördenapparat führt. Wenn Trump öffentlich Polizeigewalt gegen Journalisten beklatscht, wird es mehr Gewalt seitens der Polizei gegen Journalisten geben. Wenn er beharrlich jede Diskussion von Arbeitsmarktpolitik unterdrückt, werden die entsprechenden Behörden in diese Richtung nicht weiterarbeiten. Und so weiter. Für all das braucht es keinen Masterplan, das ergibt sich einfach nur aus der Machtfülle des Amts, und deswegen braucht es verantwortungsvolle InhaberInnen. Trump aber äußert sich gegen demokratische Normen, untergräbt die entsprechenden Prozesse. Dementsprechend fühlen sich andere Gruppen ermutigt, ebenfalls dagegen vorzugehen: Das Signal, dass sie nicht aufgehalten werden, ist ja deutlich. Trump Jr. etwa rekrutiert seit Wochen rechtsextremistische Schlägertrupps, die Wahllokale in mehrheitlich schwarzen Vierteln belagern und dort die Stimmabgabe erschweren sollen. Die Demokratie geht nicht mit einem großen Schlag unter, sondern zerbricht unter einer Vielzahl solcher kleinen Hiebe und Schnitte über einen längeren Zeitraum. Sie erodiert. Kein einzelnes dieses Ereignisse scheint für sich wichtig und bedeutsam, aber in der Rückschau erkennt man dann immer, dass es die Summe war. Nur ist es dann zu spät. 

5) Warnung vor der Diskursverschiebung - Interview mit Jürgen Zimmerer
Kassel: Nun ist das aber eine Meinung, die durchaus vertreten wird in Deutschland und Europa – und auch nicht nur von rechten Kreisen. Es gibt Politiker in Deutschland, die sagen, wir können das im Moment nicht tun, weil Griechenland das auch gar nicht wünscht. Es gibt andere europäische Länder – ich will gar nicht darüber diskutieren, ist das eine richtige oder falsche Meinung, das ist, glaube ich, nicht unsere Aufgabe. Aber es ist doch eine mögliche Meinung. Muss es dann nicht möglich sein, die auch in einem öffentlich-rechtlichen Sender so zu veröffentlichen? Zimmerer: Es ist ja offenbar möglich. Kassel: Ich frage mich das langsam schon bei den Reaktionen … Zimmerer: Sie haben die ja auch veröffentlicht. Und es muss doch auch möglich sein, diese Meinung dann in aller gebotenen Schärfe zu kritisieren und darauf hinzuweisen, welches Framing, welcher Diskursverschiebung auch dadurch wieder Vorschub geleistet wird und wie wir uns immer weiter von dieser Staatsräson, wir hätten aus der Zeit vor 1945 gelernt, entfernen. Das muss ja auch möglich sein. Frau Hasselmann kann sagen und schreiben, was sie will, das ist nicht das Problem, aber die Zuhörerinnen und Zuhörer haben das Recht, das auch in aller gebotenen Deutlichkeit zu kritisieren. (Dieter Kassel, DLF)
Ich bin froh, dass Professor Zimmer hier mal Klartext redet. Dieses weinerliche, selbstmitleidige "man wird das doch wohl noch sagen dürfen" ist unerträglich. Jüngst erst wieder Dieter Nuhr; beschwert sich im Primetime darüber, dass es Shitstorms gegen ihn gäbe und vergleicht die mit Juden-Pogromen. Im öffentlich-rechtlichen Primtime stellt der Typ sich hin und erklärt, weil auf Twitter ein paar Leute böse Dinge über ihn schreiben, sei er wie die Juden 1938. Als es dann einen Shitstorm deswegen gab (dir Ironie) verteidigte er den Vergleich noch einmal bekräftigend als "lustig und gut". Das ist das Niveau dieser Debatte. Was mich so ärgert ist dieses völlige Gleichsetzen von Gegenwind und Kritik mit Cancel Culture oder wie man es auch immer nennt. Ein öffentlich-rechtlicher Sender, der einen Kommentar veröffentlicht, der sich kritisch gegenüber der Aufnahme von Moria-Flüchtlingen zeigt und dann kritisiert wird - und sofort heißt es "Oh mein Gott, die Meinungsfreiheit ist in Gefahr!" Bis in die 1980er Jahre bekamen die öffentlich-rechtlichen Anstalten wäschekörbeweise wütende Post von Parteigängern der jeweiligen Volkspartei, wenn diese kritisiert wurde. Wo kommt diese neue Weinerlichkeit her? Wer von Mainstream abweichende Dinge sagt hat schon immer eine Welle der Kritik und Gegenrede bekommen.
   

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