Bonn, im Jahr 1982. Eine SPD-FDP-Koalition regiert. Die wirtschaftliche Lage ist im Tal einer weltweiten Rezession und zwei Ölpreisschocks eher schlecht. Die Ostpolitik, entscheidendes Vehikel der sozialliberalen Koalition, ist durchgeführt. Die CDU hat sich daran gewöhnt und hat ihren innerparteilichen Machtkampf zwischen Kohl und Geißler ausgefochten. Wirtschaftspolitisch schwenkt sie auf den monetaristisch-neoliberalen Kurs ein, den dieser Tage in den USA ein gewisser Ronald Reagan und in Großbritannien Margaret Thatcher propagieren. Die Gemeinsamkeiten zwischen FDP und SPD scheinen aufgezehrt.
In dieser Situation verfasst der FDP-Wirtschaftsminister
Otto Graf Lambsdorff ein Papier auf (das Lambsdorff-Papier), das eine radikale Abkehr vom bisherigen Regierungskurs hin zu einer neoklassischen Angebotspolitik mit massiven Sozialkürzungen beinhaltete. Gleichzeitig kündigten er und die drei anderen FDP-Minister an zurückzutreten. Daraufhin sprach Helmut Schmidt ihnen das Misstrauen aus; die FDP wählte mit der CDU Helmut Kohl zum Kanzler. In den folgenden Neuwahlen (durch Auflösung des Bundestags nach planmäßig verlorener Vertrauensfrage) wurde schwarz-gelb bestätigt. Kohl kündigte eine "geistig-moralische Wende" an.
Der Rest ist Geschichte. Die SPD wurde auf die Oppositionsbank verbannt, während die FDP gravierende Einbußen bei den folgenden Landtagswahlen erlitt (man bezichtigte sie nicht unangebracht des Verrats). Relativ schnell schwenkte die BRD auf einen neoliberalen Wirtschaftskurs ein, der jedoch die versprochene Rendite nicht erbrachte (Senkung der Arbeitslosigkeit und der Schulden, par exemple). Stattdessen stiegen die Arbeitslosenzahlen weiter, die Staatsschulden explodierten und die Rückführung der deutschen Gesellschaft in trostlos-konservative Gefilde sorgte auch für Unmut. 1989 hatte schwarz-gelb abgehalftert, die Zeichen standen auf starken Zugewinnen für die SPD; die Bevölkerung war Kohls müde.
Dann kam die Einigung. In einem Schurkenstück von geradezu gigantischen Ausmaßen gelang es Kohl, die Einigung sowohl außenpolitisch abzusichern als auch innenpolitisch als Kickstart zu benutzen und auf der Welle der Einigungseuphorie die Wahlen 1990 zu gewinnen, was ihm durch das Attentat auf den SPD-Spitzenkandidaten Lafontaine noch zusätzlich erleichtert wurde. Gleichzeitig wurde gezielt die ostdeutsche Wirtschaft eliminiert - zugunsten reicher Investoren. Beteiligt war damals unter anderem federführend Horst Köhler, aber das ist eine andere Geschichte. Um den Wahlsieg nicht zu gefährden, bezahlte Kohl die Einigung aus den Sozialsystemen, anstatt eine einmalige Steuer zu erheben. In der Folge explodierten die Staatsschulden weiter, und der Einigungsboom wurde von der Bundesbank ohne Not durch eine Zinserhöhung von etwa 3% auf über 12% (!) abgebrochen. 1994 konnte sich schwarz-gelb knapp behaupten, 1998 wurde es dann endlich abgewählt. Der Muff und Filz blieb, bekanntlich.
Warum erzähle ich diese Geschichte? Der obige Text fasst in Kürze die politische und wirtschaftliche Dimension des Geschehens zusammen. Die "geistig-moralische Wende" (die in Wirklichkeit eher eine geistig-moralische Verwahrlosung ist, aber dazu später) tat jedoch weit mehr, als nur die Wirtschaftspolitik zu ändern. Um das zu verstehen müssen wir zurücksehen, in das Ende der 1960er und die 1970er Jahre.
1965 brach die Dominanz der CDU in der Regierung, die seit 1949 vorgeherrscht hatte; es musste eine große Koalition gegründet würden. Zusammen mit zahlreichen anderen, bislang unterdrückten Konflikten in der Gesellschaft (das Erbe des Dritten Reiches, der Generationenwechsel, die Spießermoral, die überkommenen moralischen Vorstellungen hier nur als pars pro toto) ergab die GroKo dabei eine explosive Mischung, die in APO und 1968 mündete. Das jedoch soll hier nur am Rande Thema sein. Die Meinungführerschaft eines Götz Aly und seinesgleichen ist zwar ein Crux, aber wir wollen uns an dieser Stelle mit anderen Dingen beschäftigen. Der "Aufbruch" (in doppeltem Wortsinne) aus verkrusteten Strukturen Ende der 1960er Jahre mündete in eine Erneuerungseuphorie, die trotz gelegentlicher Rückschläge einen Großteil der 1970er Jahre in Atem hielt. Dazu gehört nicht nur keynesianische Wirtschaftspolitik und der Glaube an die Globalsteuerung (also an die zentrale Steuerung der wichtigen Abläufe), sondern auch eine Erneuerung im gesellschaftlichen Sinne. Der Ausbau der Sozialleistungen war schließlich nur die fiskalpolitische Ausprägung einer Umsetzung sozialdemokratischer Utopien: die Bildungsoffensive, die - einzigartig in der deutschen Geschichte davor wie danach - sozial benachteiligten Bevölkerungsschichten durch Bafög und zahllose andere Förderungsmaßnahmen ein Studium ermöglichte und auch das System der Weiterbildung extrem ausbaute. Die Rentenerhöhung, um die Rentner endlich am Aufschwung teilhaben zu lassen (verbunden mit den vergeblichen Versuchen, sie aus der konservativen Dauerumarmung der CDU zu lösen). Der Ausbau der Kinderbetreuung, um Frauen bessere Erwerbsmöglichkeiten zu geben. Zahllose Gesetze zur Verbesserung der Bürgerrechte und Partizipationsmöglichkeiten (die 1970er waren ein unglaublich politisches Jahrzehnt). Zahllose weitere Reformen. Überhaupt war "Reform" damals ein positiv konnotiertes Wort und keines, das von Furcht und Kürzung spricht.
Gegen diese Entwicklungen positionierte sich die CDU offen, und diese Entwicklungen waren es, die sie mit der "geistig-moralischen Wende" rückgängig zu machen gedachte. Und das gelang ihr auch, gründlichst. Denn 1998 wechselte zwar die Regierung, aber nicht die Mentalität. Gerhard Schröder und seine Entourage waren spätestens nach dem Rücktritt Lafontaines von der schwarz-gelben "Opposition" in den politischen Positionen nicht allzuweit entfernt. Die "geistig-moralische Wende" wurde sicher nicht nahtlos weitergeführt, aber sie wurde auch nicht abgeschafft. Erst dieser Tage, seit etwa Ende 2006, Anfang 2007, macht sich ein Umschwung der öffentlichen Meinung bemerkbar.
Es ist eine längst überfällige Diskussion in Gang gekommen, eine Diskussion nach Werten und Grenzen. Die neoliberale Wirtschaftspolitik ist wie Hartz-IV mit seinem Fördern und Fordern gescheitert, und die Erkenntnis setzt sich immer mehr durch. Alte Werte wurden aufgelöst, ihr Propagieren ist hohl geworden. Dazu gehören Ehrlichkeit und Solidarität in besonderem Maße; beides wurde geradezu zum Unding gemacht - von der geistig-moralischen Wende, die Kohl und seine Spießgesellen initiiert haben und noch immer in zahlreichen Organisationsformen (wie dem
Deutschlandkonvent oder der
Aktionsgemeinschaft soziale Marktwirtschaft zu erhalten suchen. Einige Jahre lang konnte die BILD im Verbund mit zu boulevardesken Zerrbildern ihrer selbst degenerierten Blättern wie dem Spiegel den Fokus auf der Unterschicht halten: dem Archetyp des Hartz-IV-Empfängers, der faul in der sozialen Hängematte liegt und Leistungen erschleicht, auf die er keinen Anspruch hat. Dieses Bild hat Risse bekommen, und die neueste
Affäre um Zumwinkel ist der Dammbruch. Damit wären wir am Ausgangspunkt.
In der Süddeutschen Zeitung ist heute ein
Artikel erschienen, in dem sich der Autor Kurt Kister gegen die, wie er es ausdrückt, "Raffzahn-Mentalität, die in den achtziger Jahren begann", erschienen:
In Wirklichkeit aber lebte auch er [Zumwinkel, Anm. d. Autors] offenbar nach der Devise: Ich habe so viel Geld, dass ich selbst bestimme, welche Regeln für mich gelten. Natürlich wusste Zumwinkel, dass die Millionen in Liechtenstein gegen Moral und Gesetz seines Heimatlandes verstießen. Aber erstens zahlt man ja sowieso so viel Steuern, zweitens ist es jahrelang gut gegangen mit der Stiftung, und drittens machen es doch alle...
Nein, es machen nicht alle. Aber es machen viel zu viele. In etlichen Golfclubs und an noch mehr Stammtischen führen die das Wort, die sich damit brüsten, wie sie das Finanzamt, die Arbeitsagentur oder die Krankenkasse austricksen. Der Staat wird von viel zu vielen grinsend, pardon, beschissen - von Hartz-IV-Empfängern, von Angestellten, von Millionären.
Raffzahn-Mentalität nimmt zu
Die im Betrug vereinten Schlauberger jeden Besitzstandes interessieren sich mehr dafür, wie man Gesetze umgeht, als dass sie sich dafür interessierten, warum und zu wessen Wohl diese Gesetze erlassen worden sind. Für die res publica, den Staat als Angelegenheit aller, haben zu viele nur noch Missachtung bis hin zur Verachtung übrig. Dies ist auch eine Folge der Raffzahn-Mentalität, die in den achtziger Jahren begann.
Die Tatsache, dass in allen Schichten betrogen wird, mindert nicht die Verantwortung der besonders vermögenden Betrüger. Die meisten von ihnen gebieten nicht nur über Besitz, sondern als Eigentümer oder Vorstandschefs auch über Menschen. Warum sollte man in der Firma keine silbernen Löffel klauen, wenn der Boss seine Silberbarren nach Liechtenstein schafft? (Quelle)
Damit wären wir auch bei dem Ergebnis der geistig-moralischen Wende: Die Moral wurde abgeschafft, und Geist gibt es längst nicht mehr. Die Wende hat Raffgier und Einsamkeit gebracht, Solidarität und Ehrlichkeit aus diesen Gefilden verbannt. Es sind nicht nur die Manager, die sich tagtäglich schuldig machen, und sicherlich auch nicht alle von ihnen - sie sind nur die plakativen Galeonsfiguren, sie, die sich selbst zu den Führungs- und Vorbildpersönlichkeiten unserer Zeit stilisiert haben und nun im
Verbund mit vielen anderen vor dem
Scherbenhaufen stehen, den ihr Vorbild angerichtet hat. Es ist Zeit für eine neue Wende. Eine echte Wende. Und sie wird kommen.
Nachtrag: Indessen zeigt die FAZ eindrucksvoll die Qualität der Wende: sie gibt Tips zur besseren Steuerhinterziehung und dem Verstecken von Laptops und Dokumenten, wie die
NDS aufzeigen.