Donnerstag, 22. April 2021

Quo vadis, Linke?

 

Anlässlich des Deutungsstreits um Sahra Wagenknecht und ihre Hinwendung zur Kritik am Zeitgeist hat Cimourdain in den Kommentaren zum letzten Vermischten eine Frage gestellt, die ich gerne in ihrer Gänze aufgreifen möchte:

Nachdem hier im Forum weitgehend Konsens herrscht, dass die Differenzen zwischen ‚traditionellen‘ und ’neuen‘ Linken im Wesentskern ein Generationenkonflikt ist, möchte ich eine These aufstellen, woher diese Entfremdung kommt – sozusagen mein persönliches Hufeisen: Die ‚woke‘ Linke steht inhaltlich und methodisch dem Neoliberalismus unangenehm nahe.
Das beginnt bei klassisch linken Positionen, die sie aufgegeben hat(z.B. Pazifismus) ; unter diesen sticht insbesondere die universell freie Rede hervor. Von der „Freiheit der Andersdenkenden“ (mit Ausnahme offener Faschisten) ist es ein deutlicher Abstieg zur ‚cancel culture‘
Der nächste Punkt sind die falschen Freunde. So wie der Zuspruch der AfD zu Wagenknecht einen unangenehmen Nachgeschmack hinterlässt, so erregt auf der anderen Seite die Unterstützung, die die ‚woke‘-Kultur durch (klassische) Medienoligarchen und die ‚Robber Barons‘ der Digitalkonzerne genießen, Misstrauen.
Eine weitere Rolle spielt der Wechsel des Fokus linken Denkens von materiellem zu kulturellem Kapital (Aufmerksamkeit und Deutungshoheit). Hieraus resultiert auch der andere Blick, der statt materiell messbaren (Lohnungleichheit) lieber subjektiv ‚gefühlte‘ (Sprachdiskriminierung) Ungerechtigkeiten in den Mittelpunkt rückt.
Und – hart gesprochen – in Bezug auf kulturelles Kapital agiert die neue Linke erzkapitalistisch – Klassendünkel, rücksichtslose Akkumulation, Herausdrängen von Konkurrenten (z.B. Wagenknecht) aus dem Meinungsmarkt.
Und dann ist da noch der Elefant im Raum: die Klassenfrage. Es gibt selbstverständlich immer noch eine Arbeiterklasse und ein Präkariat, jeweils definiert durch materielle Lebensumstände. Angesicht der massiven Ungerechtigkeit materieller Klassenunterschiede wirken die kleinen Konflikte, die ‚die linken‘ gegen ‚die Rechten‘ ausfechten wie Nebenkriegsschauplätze -schlimmer noch: wie Prokrastination. Weil die großen Probleme zu schwer sind (dazu muss man sich mit den Mächtigen anlegen), machen wir lieber sauber (z.B. die Sprache). Und weil es immer irgendeinen total wichtigen Streit um die Deutungshoheit gibt, bleibt die Klassenfrage halt liegen.
Aber das problematischste ist der Mangel eines utopischen Gegenentwurfs. Die Uhr Klimawandel und Ressourcenübernutzung wird wahrscheinlich einen Systemwechsel notwendig machen – und andere haben Pläne zur digitalen Komplettdiktatur. Der progressive Ansatz klingt eher wie „Weiter so, aber alle ein bisschen netter zueinander“…

Ich würde das gerne ausführlicher kommentieren.

Erstens sehe ich nicht, dass sich die moderne Linke vom Pazifismus verabschiedet hätte. Hier liegt glaube ich eine Verwechslung mit dem Establishment der linken/progressiven Parteien vor, ob die Democrats in den USA, die Grünen in Deutschland oder Labour im UK. Die Basis ist in all diesen Fällen immer noch genauso pazifistisch, wie sie es früher war. Genauso ist es keine Neuigkeit, dass diese Haltung an der Regierung kaum aufzufinden ist. Man denke nur an Helmut Schmidt. In den USA und dem UK (oder Frankreich) ist die Sache sowieso anders gelagert, weil hier der "support for the troops" und Patriotismus so eng verwoben sind und der Linken generell nie fremd waren, einmal davon abgesehen, dass gerade in den USA weite Teile der Bevölkerung hinter diesen Ideen stehen.

Das scheint mir daher vor allem ein Phänomen zu sein, das sich auf Parteiführungen und Regierungsverantwortung bezieht. Die SPD war immer am pazifischsten, wenn sie in der Opposition war. Gleiches gilt für Labour oder die Democrats; Tony Blair war ein begeisterter Unterstützer des Irakkriegs, während die damals oppositionellen Democrats wenig Probleme hatten, denselben Krieg in Bausch und Bogen zu verdammen. An der Regierung zeigte sich für alle, auch für die Grünen, schnell, dass das Ideal mit der Wirklichkeit kollidierte.

Die "Freiheit der Andersdenkenden" ist ein Konzept, das gerade von Linken sehr gerne missverstanden wird. Rosa Luxemburg war nie für Meinungsfreiheit. Ihr ging es um den offenen Meinungskampf innerhalb der sozialistischen Bewegung, in der sie eine "skurrile Minderheit" war, um es in Wagenknechts Worten auszudrücken. Die Idee, in der Räterepublik hätte Meinungsfreiheit für die Bourgeoisie oder gar den reaktionären Adel bestanden, ist absurd. Und ich wage zu behaupten, dass im Falle eines Erfolgs Liebknechts und Luxemburg es auch mit innerparteilicher Meinungsfreiheit nicht weit hergewesen wäre. Die heutigen Campus-Pöbler haben es deutlich mehr mit der Meinungsfreiheit als Rosa Luxemburg oder die anderen klassischen sozialistischen Agitator*innen.

Das heißt im Übrigen nicht, dass Cancel Culture und Meinungsfreiheit keine Probleme unserer Tage wären; sie waren nur zu allen Tagen Probleme, und sie sind es von links wie rechts, oben wie unten. Ich habe dazu geschrieben. Es ist an ideologischen Nachbarn, jeweils den eigenen Stall sauber zu halten. Ich muss zugeben, da in letzter Zeit arg relativierend gewesen zu sein und gelobe Besserung.

Relevanter ist die Kritik, die Cimourdain an der Unterstützung der "woken" Ideen durch die robber barons aus dem Silicon Valley anbringt. Und ja, das ist natürlich erst einmal verdächtig, genauso wie der Beifall, der Sahra Wagenknecht aus dem rechten Spektrum entgegenschlägt. Nur begeht Cimourdain hier den Fehler, den Jetzt-Zustand auf die Vergangenheit linear zurückzuschreiben. Die aktuelle gesellschaftliche Dominanz der "woken" Ideen, der progressive Sieg im Kulturkampf, ist das Resultat von Jahrzehnten erbitterter Auseinandersetzungen.

Als Mark Zuckerberg seine Karriere begründete, tat er dies mit einem Portal, auf dem Frat Boys Mädchen nach ihrem Aussehen bewerten konnten. Das ist nicht gerade woke. Es sind die letzten 5-10 Jahre, in denen der Kulturkampf entschieden wurde. Und der Kapitalismus liebt Gewinner und wird immer auf ihrer Seite sein. Nicht umsonst kann man heute Che-Guevara-T-Shirts bei H&M kaufen. Das heißt nicht, dass H&M die Vorteile des revoltionären Klassenkampfs für sich entdeckt hätte. Man sollte performative Bekenntnisse zur Mehrheitsmeinung nicht mit ernsthafter Überzeugung oder gar Aktivismus verwechseln.

Völlig korrekt dagegen ist, dass die Linke einen Bedeutungswandel vom materiellen zum kulturellen Kapital durchgelebt hat. Das ist in meinen Augen das Resultat des überzeugenden, durchschlagenden und totalen Sieg der Rechten (hier, das sei betont, explizit nicht als rechtsradikal, sondern nur als Gegenstück zu "links" zu verstehen) in den 1980er Jahren. Ohne diesen totalen Sieg ist weder Bill Clinton, noch New Labour, noch Gerhard Schröder zu verstehen. Die Linke hat sich von dieser totalen Niederlage immer noch nicht erholt, wenngleich Bidens Präsidentschaft als zartes Hoffnungspflänzchen dient.

Auf der anderen Seite aber hat sich die Rechte letztlich überdehnt. Bis heute hat sie die Totalität ihres Sieges nie anerkannt und begreift sich immer noch als ständiger Underdog, der von allen Seiten unter Beschuss steht. Wo das Bürgertum während der 68er in wohligem Grausen vor der Revolution der Student*innen erzitterte, liest es heute vom unerbittlichen Vormarsch der Cancel Culture. Eine ernsthafte Gefahr für den Status Quo ist beides nicht, aber die Selbstradikalisierung des Bürgertums vor allem in den USA hat dafür gesorgt, dass eine entsprechende Gegenreaktion einsetzte. In den resultierenden Kulturkämpfen verlor die Rechte nach weiteren großen Siegen in den 1990er und frühen 2000er Jahren (man denke an Clintons Sister-Souljah-Moment, Bushs homophoben Wahlkampf 2004 oder die rassistische Doppelpass-Kampagne Roland Kochs 1999) in den späteren 2000er und vor allem 2010er Jahren in einem rapiden und entscheidenden Ausmaß an Boden, das bis heute noch weitgehend unverstanden scheint. Die Rapidität dieses Wandels verwirrt viele, und zurecht. Aber sie ist unleugbar.

Wie jeder Kampf kennt auch ein Kulturkampf Gewinner und Verlierer, kennt solche, die den Weg mitgehen, und solche, die zurückgelassen werden. Ob Kohlekumpel im Ruhrrevier oder linke Klassenkämpferin, der Fortschritt ist unerbittlich, und am Ende wird noch jeder von uns an einen Punkt geraten, an dem wir die ganze moderne Welt furchtbar finden. Ich hoffe einfach, dass das für mich noch 20, 30 Jahre dauern wird, bin da aber weder sonderlich optimistisch noch zweifle ich daran, dass der Moment kommt, an dem ich mich über irgendeine neue Entwicklung beklagen und von ihr zurückgelassen werde. Das ist der Lauf der Zeit, und wenn die Analyse stimmt, dass die Welt sich beschleunigt, wird dieser Wandel eher früher denn später kommen.

Gibt es noch eine Klassenfrage? Selbstverständlich. Gibt es noch eine "Arbeiterklasse", für die Wagenknecht ostentativ zu kämpfen gedenkt? Das ist wesentlich unklarer. Cimourdain hat völlig Recht, dass diese Fragen immer noch sehr wenig verhandelt werden (wenngleich sich hier gegenüber den letzten Jahrzehnten sehr viel getan hat). Das allerdings liegt, erneut, am so vollständigen Sieg der Rechten seit 1980. Die ganzen Denkstrukturen und Begrifflichkeiten, in denen etwa Wagenknecht, Corbyn und Sanders operieren, sind zwar Krücken im Meinungskampf und besser als nichts, aber sie laufen für große Teile des Prekariats ins Leere.

Wie andere Kommentator*innen bereits angedeutet haben, lässt sich das Prekariat nicht mehr ohne intersektionelle Ansätze denken. Die Linke ist weiter als vor 50 Jahren. Der "Klassenkampf", der früher verhandelt wurde, war extrem ausgrenzend. Die Arbeiterklasse war ein exklusiver Club, der effektiv nur weißen, männlichen Facharbeitern offenstand. Diese Gruppe war groß und homogen genug, um diese Ausgrenzung vergessen zu machen, und die Ausgegrenzten hatten keine Stimme.

Das hat sich geändert. Sie haben nun eine Stimme, und sie haben diese Stimme innerhalb der Linken. Dass das die Vertreter*innen der alten Hierarchie stört, ist nachvollziehbar, weil es ein Verlust von Macht, Einfluss und Deutungshoheit ist. Aber die Kritik an der Existenz neuer Hierarchien läuft ins Leere, wo wie bei Wagenknecht letztlich nur eine Restauration alter, nicht unbedingt egalitärer Deutungsmuster wiederhergestellt werden soll. Das ist es, was sich hinter dem Fehlen der Klassenfrage wirklich verbirgt.

Zuletzt bleibt Cimourdains Kritik am Fehlen einer umfassenden Gegenerzählung, eines utopischen Zukunftsentwurfs der Linken. Hier kann ich nur unumschränt zustimmen, ich habe über dieses Problem immer wieder selbst geschrieben. Nur kann das kaum im Aufwärmen der Ideen der 1970er Jahre bestehen. Die Linke braucht definitiv ein großes Narrativ, für was sie steht, was sie erreichen will. Es muss ein positives Bild sein, groß und mutig. Eine Vision. Mit einer solchen muss man nicht zum Arzt, ohne eine solche hat sich die Linke noch jedes Mal schwer getan, Mehrheiten zu erringen und zu halten.

Aktuell ist nicht absehbar, was das sein könnte. Aber die Rechte hat vier Jahrzehnte gebraucht, als sie in einer ähnlichen Situation war, bevor sie ihre Erzählung gefunden hatte - eine Erzählung, deren Sieg so umfassend war, dass sie die nächsten 40 Jahre dominierte. Das Pendel wird irgendwann wieder zurückschwingen, eher früher als später. In einer pluralistischen Demokratie hält keine ideologische Vorherrschaft ewig. Aber die alten Ideen werden es wohl nicht sein. Ihre Kritik mag fruchtbar sein. Ihre Lösungen sind es nicht.

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