Montag, 26. April 2021

Der unerträglichste Diskurs

 

Ich hab die Schnauze voll. Wirklich. Worum geht es? Natürlich um Cancel Culture. Ich kann den Blödsinn nicht mehr hören. Und trotzdem schreibe ich wieder einen Artikel. Warum? Weil diesem schwachsinnigen, unerträglichen Diskurs nicht mehr zu entkommen ist. Er ist die aktuell größte Mode im Medientreiben, und er ist unerträglich dumm. Und ich mag einfach nicht mehr. Der aktuelleste Anlass ist die missratene Aktion einer Riege B-Schauspieler*innen, die unter dem Hashtag #allesdichtmachen satirische Beiträge gegen die Corona-Maßnahmen veröffentlichten. Dass es öfter danebengeht, wenn deutsche Kulturschaffende sich satirisch zur Politik äußern, lässt sich ja wöchentlich in der heuteShow beobachten. Insofern stehen Jan Josef Liefers und seine Mit-Video-Erstellenden in einer guten Tradition. Es gibt keinen Grund, sich groß mit der Meinung einiger Tatort-Kommissare zu beschäftigen, aber natürlich ging es auch nie darum, hier irgendeine Debatte zu führen. Es ging um das Generieren von Aufmerksamkeit, und die haben sie bekommen.

Denn natürlich wurden die Videos, deren Inhalt - ob beabsichtigt oder nicht - rechtsradikale Narrative mitbedienten, kritisiert. Das war zu erwarten; niemand kann irgendetwas ins Internet packen, ohne kritisiert zu werden, und wenn es nur ein Katzenvideo ist. In diesem Fall war es offensichtlich auch erwünscht. Das Drehbuch begann auch sofort abzulaufen: Liefers beklagte sich, er werde von einem "Lynchmob" gejagt, die entsprechenden Verdächtigen schrieen so laut sie konnten "Cancel Culture", und für drei Tage beherrschte das übliche Geschrei die deutschen Twitter-Feeds.

Was das Ganze so unerträglich macht ist seine ritualisierte, jeglichen Inhalts entkleidete Form. Die Videos werden eingestellt, damit man kritisiert wird und sich dann in die Pose des Verfolgten werden kann. Das wird zunehmend als wirtschaftliches Modell benutzt, wie man etwa zuletzt an der konstruierten Debatte um die weitere Karriere Gina Cararos sehen konnte, die ebenfalls bewusst eine Kontroverse schuf, indem sie Instagram-Posts veröffentlichte, in denen sie trotz expliziter Aufforderung ihres Arbeitgebers, das künftig zu unterlassen, Nazi-Vergleiche postete. Eine neue Stellung bei eher rechtsgerichteten TV-Produktionen hatte sie bereits in der Tasche; die "Kontroverse" um Cancel Culture, die in den USA für einige Tage die Medien beschäftigte, schuf dafür kostenlose Werbung. Genau dasselbe ist das mit Liefers und seinen Kolleg*innen; deren Karrieren sind von einem Allzeithoch reichlich weit entfernt, da sind ein paar Leitartikel und Talkshow-Einladungen gerade Recht.

Und - gut für sie. Die Leute müssen von irgendwas leben, und man kann nicht von allen Kunstschaffenden erwarten, dieselbe Reife wie eine Punkband mitzubringen. Ich mache Liefers und den anderen gar keine großen Vorwürfe.

Vorwürfe mache ich vielmehr einer völlig hohldrehenden bürgerlichen Öffentlichkeit. In der Welt etwa fabuliert der liberale Leuchtturmintellektuelle Stefan Aust, die Vorgänge erinnerten an "die Ausbürgerung Wolf Biermanns". Nachdem einige der beteiligten Schauspieler*innen ihre Videos zum #allesdichtmachen-Projekt zurückzogen, weil sie offensichtlich nicht wirklich nachgedacht hatten was sie eigentlich sagten und in welchem Kontext das erscheinen würde, schreibt Aust, die Website "gleiche jetzt mit ihren schwarzen Flecken den zensierten Seiten einer Zeitung in einer Militärdiktatur".

Da sind wirklich alle Sicherungen durchgeknallt. Wolf Biermann wurde von einer totalitären Dikatur ausgebürgert und über Nacht seiner Existenz und eines Teils seiner Identität beraubt. Jan Josef Liefers wurde von Jens Spahn gelobt und auf eine Diskussion ins Ministerium eingeladen. Armin Laschet persönlich verteidigte die Aktion (natürlich, ohne Stellung zum Inhalt zu beziehen, das Merkeln kann er mindestens genausogut wie die aktuelle Inhaberin des Kanzleramts), weil Satire alles dürfe.

Und: Fair enough. Das ist Satire, natürlich darf sie das. Das steht völlig außer Frage. Nur darf ich das halt auch scheiße finden. Und wer den Gegenwind nicht aushält, der darf halt auch nicht in die Manege steigen. Ich muss die Kritik in den Kommentaren hier auch aushalten, ohne dass das Cancel Culture ist. Und wer vom wahrscheinlich nächsten Kanzler Deutschlands verteidigt und vom Gesundheitsminister zur Gesprächsrunde eingeladen wird, der ist nicht der nächste Wolf Biermann. Liefers Thesen wurden in der deutschen Presselandschaft tagelang kontrovers diskutiert. Das ist Meinungs- und Pressefreiheit in Reinform, und diese Selbstradikalisierung der Bürgerlichen, wie sie etwa bei der Welt betrieben wird, ist einfach nicht mehr auszuhalten. Es ist ein Verlust jeglichen Maßes, jeglichen Anstands, jeglicher Relation. Sollen nicht gerade das bürgerliche Kerntugenden sein?

Das ganze wird extra eklig dadurch, dass es alles so heuchlerisch ist. Denn es geht ja nicht mal um die Verteidigung der Meinungsfreiheit oder um die Freiheit von Kunst und Satire. Es geht um die Dominanz im Meinungsdiskurs, um das Unterdrücken unliebsamer Meinungen. Die gleichen Leute haben nämlich überhaupt kein Problem damit, Satire zu canceln und als unzulässig zu erklären, wenn sie ihnen nicht ins Konzept passt. Beispiel gefällig?

Letztes Jahr produzierten die gleichen Leute einen Mini-Skandal um den satirischen Beitrag des WDR, in dem ein Kinderchor in einem Lied eine fiktive Oma als "Umweltsau" besang, um auf die Probleme des Klimawandels aufmerksam zu machen und meine These zu belegen, dass die meisten deutschen Kulturschaffenden einfach die Finger von Satire lassen sollten. Derselbe Armin Laschet, der gerade mit Verve für die Freiheit der Satire eintritt ("Man darf das sagen in einem freien Land"), erklärte noch vor Jahresfrist, das Lied habe "Grenzen des Stils und des Respekts gegenüber Älteren überschritten. Jung gegen Alt zu instrumentalisieren ist nicht akzeptabel."

Das macht auch vor Friedrich Merz nicht halt. Der schlug letzte Woche ein Verbot von Gendersprache vor:

Der CDU-Bundestagskandidat Friedrich Merz (CDU) hat ein Verbot von geschlechtergerechter Sprache nach französischem Vorbild ins Spiel gebracht. [....] "Es gibt nach meiner Wahrnehmung einen kulturellen Konsens in der Republik – die überwiegende Mehrheit der Menschen lehnt die Gendersprache ab." [...] "Wer gibt Nachrichtenmoderatorinnen und -moderatoren das Recht, in ihren Sendungen einfach mal so eben die Regeln zur Verwendung unserer Sprache zu verändern?" [...] Merz erinnerte daran, dass Frankreich allen staatlichen Institutionen untersagt habe, geschlechtergerechte Sprache zu verwenden. "Die Franzosen haben offenbar ein besseres Feingefühl für den kulturellen Wert ihrer sehr schönen Sprache", sagte Merz dem Nachrichtenmagazin. Gerade in gesellschaftlich verantwortungsvollen Positionen "kann das nicht jeder so machen, wie er das vielleicht gerne hätte." Die Bevölkerung habe das Recht, "dass gerade die mit Pflichtbeiträgen finanzierten Medien Rücksicht nehmen auf ihre Empfindungen und ihre Meinung". (AFP, T-Online.de)

Das ist natürlich nicht Cancel Culture. Die CDU ist natürlich keine "Verbotspartei", sie folgt nur dem "gesunden Volksempfinden". Die Argumentation Merz' ist ungeheuer inkonsistent, sie ist heuchlerisch, und auch hier können wir gut sehen, worum es wirklich geht: um die Dominanz des Diskurses. Genau deswegen war ich immer gegen Merz; der Mann hat kein Problem, seine hervorgehobene Stellung und Autorität für solche identätspolitisch motivierten Attacken zu nutzen. Dabei sollte man nicht den Fehler machen, mit tumben Trump-Vergleichen um sich zu werfen; Merz ist bei allen Schwächen geschickter. Er will zwar bei der CDU-Basis den Eindruck erwecken, mit autoritärer Hand Denkverbote zu erteilen (die CDU liebt das, wenn es gegen Meinungen geht, die sie nicht teilt - wie jede andere Gruppe auch). Aber sein Verweis auf Macron zeigt, dass er sich eine Rückzugslinie offen hält. Denn wer sich jetzt wundert, warum die Schlagzeilen Deutschlands so merkwürdig leer waren, als Macron in Frankreich die Meinungs- und Pressefreiheit abgeschafft hat: hat er selbstverständlich nicht. Was Macron gemacht hat war, den Behörden die Verwendung geschlechtergerechter Sprache in ihren offiziellen Formularen und Verlautbarungen zu verwenden. Das kann er machen, und das ist natürlich genau das, was Konservative den Progressiven vorwerfen, wenn das Gegenteil an Unis gemacht wird. Aber erneut, der Diskurs ist endlos beknackt und heuchlerisch, und es geht nur um dessen Dominanz.

Damit könnte ich den Artikel beenden. Mache ich aber nicht, denn ich habe ein Geständnis abzugeben.

Ich lag die letzten Monate falsch. Ich habe viel zu oft die Bedrohung der Cancel Culture durch die Progressiven relativiert, weil mich mein Zorn über die oben beschriebenen Dynamiken und der unterirdische begleitende Diskurs geblendet haben. Das war falsch. Zwar halte ich weiterhin daran fest, dass die wahre Gefahr, die wahre Cancel Culture aktuell eher von rechts kommt (einfach nur, weil die Leute im Gegensatz zu einem Mob Idioten auf Twitter, der das Thema morgen wieder vergessen hat, reale, institituonelle Macht besitzen) und dass solche Versuche, die Dominanz über den Diskurs zu erwerben, einfach schon immer da und zu allen Zeiten normal waren.

Aber ich war zu nonchalant, die Gefahr beziehungsweise die Schäden durch eben jene Mobs zu relativieren. Mea culpa. Ursprünglich hatte ich vor, aus dieser Entschuldigung einen eigenen Artikel zu machen und sie nicht mit dem vorangegangenen Teil zu verwässern, aber so trete ich eben als Vertreter des Hufeisens und Bothsiderismus auf.

Anlass für den Sinneswandel war kein spezifisch hervorstechendes Ereignis, vielmehr ein Tropfen, der das Fass eines seit länger nagenden Zweifels zum Überlaufen brauchte (schiefe Metapher, sorry). Konkret geht es um die Pinky Gloves, ein Produkt aus der TV-Serie "Die Höhle der Löwen", in denen mittelprächtige Unternehmer*innen Geschäftsideen bewerten und finanzieren oder eben nicht. Konkret ging es bei dem Projekt zweier männlicher Gründer (das Geschlecht ist relevant, ihr werdet gleich sehen warum) um einen pinken Plastikhandschuh, mit dem Frauen ihr Tampon entfernen und entsorgen können, ohne mit dem gebrauchten Hygieneprodukt in Berührung kommen zu müssen.

Das Produkt (und seine Finanzierung durch den ebenso männlichen Investor) zog eine Welle des Protests nach sich, die erst einmal gut nachvollziehbar ist. Denn die Begründung der beiden Gründer war, dass sie in ihrer WG entsetzt darüber waren, gebrauchte Tampons im Müll sehen zu müssen. Dieses "period shaming" gehört zu den vielen Dingen, die in der progressiven Welt kritisiert werden; dass die beiden Männer (!) den Intimbereich der Frauen (!!) mit einem umweltschädlichen (!!!) pinken (!!!!) Produkt regulieren wollten, setzte dem Ganzen nur die Krone auf. Kurz, es war eine dumme Idee, es wurde kritisiert, der Investor zog zurück. Dabei hätte man es belassen können. Tat man aber nicht. Wie der Spiegel berichtet:

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