Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.
1) Wagenknecht warnt vor "immer skurrileren Minderheiten"
Wörtlich schrieb Wagenknecht: "Die Identitätspolitik läuft darauf hinaus, das Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten zu lenken, die ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden, durch die sie sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und aus der sie den Anspruch ableiten, ein Opfer zu sein." Als Beispiel für solche "Marotten" nennt sie sexuelle Orientierung, Hautfarbe und Ethnie. Arme Menschen, die lediglich "weiß und hetero" seien, würden dagegen den angeblich begehrten Opferstatus nicht erhalten. [...] Wagenknecht hatte bereits 2018 versucht, Politik für die Gleichbehandlung von LGBTI pauschal als unwichtig darzustellen. Weltoffenheit, Antirassismus und Minderheitenschutz seien lediglich "Wohlfühl-Label, um rüde Umverteilung von unten nach oben zu kaschieren und ihren Nutznießern ein gutes Gewissen zu bereiten" (queer.de berichtete). [...] Die nach wie vor anhaltende Popularität Wagenknechts innerhalb von Partei und Fraktion zeigt einen großen Unterschied zwischen Homophobie in der Linkspartei und bei SPD und Grünen. Denn das Duo Thierse/Palmer hat in ihren Parteien nichts (mehr) zu sagen: Thierse ist schon längst aus der aktiven Politik ausgestiegen, während Palmer in seiner Partei weitgehend isoliert ist und seine Autorität nur aus seinem Bürgermeisterposten herleitet. Wagenknecht und ihre menschenverachtenden Äußerungen scheinen hingegen in der Mitte der Partei zu wachsen. (Dennis Klein, queer.de)
Mit "immer skurrileren Minderheiten" kennt Wagenknecht sich ja aus. *Mic-Drop* Aber ernsthaft, Wagenknecht erhält gerade genau die massive Aufmerksamkeit, auf die sie es mit ihren überzogenen Thesen abgesehen hatte, von daher: alles richtig gemacht. Die Frau ist ohnehin weniger Politikerin als Publizistin mit angeschlossenem Marketingbüro im Bundestag. Dass sie gerade begeistert in der FAZ hoch und runter besprochen wird verwundert nicht, ich würde ein Buch von Markus Söder über die Notwendigkeit einer weltoffenen Politik und Bewältigung der Klimakrise auch besprechenswert finden.
Aber Wagenknecht setzt damit das ständige Werben um AfD-Wählende fort, das sie seit der Flüchtlingskrise begreift. Ihr Ehegatte dürfte da aus "Fremdarbeiter"-Erfahrung zustimmen. Ich halte wenig von dem Versuch, über rassistische und homophobe dog-whistles diese Wählendenschichten gewinnen zu wollen. Zum einen, weil Wagenknechts Behauptung von der AfD als Arbeiterpartei einfach nicht greift (genausowenig übrigens, wie die ständige Wiederholung der Behauptung, Trump sei von "den Arbeitern" gewählt worden, diese Aussage richtiger gemacht hätte). Wer auf sie hörte, würde keinen Erfolg damit haben.
Letztlich ist Wagenknechts Wahl auf Listenplatz in NRW aber auch nur ein Signal dafür, dass es zu R2G im Bund wieder nicht kommen wird. Ihre Berufsopposition, der sie ja auch einen guten Teil ihrer Außenwirkung verdankt - nur dort wo keine Verantwortung zu tragen ist kann man ideologisch rein und unberührt bleiben - wird ihr Scherflein dazu beitragen. Da hilft auch diese Kampfansage an die eigenen möglichen Koalitionspartner nicht. Ihr wird es aber ordentlich Tantiemen in die Kasse spülen. Es sei ihr gegönnt, der Kapitalismus funktioniert auch für seine Gegner*innen.
2) „Führt keine Kulturkämpfe!“ (Interview mit Anne Applebaum)
Teilen Sie die Analyse, dass die Alternative nicht mehr rechts oder links ist, sondern liberal oder illiberal?
Das kommt auf die Gesellschaft an, Deutschland ist anders als die USA. Aber ja: Um die Kräfte des Illiberalismus zu schlagen, kann es sehr breite Koalitionen brauchen. Liberale, Konservative, Linke, Grüne. Das Parteiensystem verändert sich, ob Christ- oder Sozialdemokrat, ob mitterechts oder mittelinks, die Unterscheidung entspricht nicht mehr den politischen Fragen.
Führ bloß keine Kulturkämpfe, das ist einer Ihrer Leitsätze.
Ja, sei vorsichtig mit Kulturkämpfen, weil du sie verlieren kannst und sie Leute spalten, und wenn sie mal gespalten sind, wird es schwer, über etwas anderes zu sprechen.
Populisten brauchen Kulturkämpfe: Familie vs. Gender, Christentum vs. Islam, Diesel vs. Elektro, weil sie genau das anstreben, die Spaltung und Vermeidung, über die Lösung gemeinsamer Probleme zu sprechen.
Kulturkämpfe füttern Verschwörungsdenken und konzentrieren sich auf symbolische Fragen, die die Leute wütend machen. Für Liberale und Leute, die sich um die Demokratie sorgen, ist es wichtig, sich über die Grundlagen eines Kulturkampfes klarzuwerden, es braucht also die Behandlung der Wurzeln von Kulturkämpfen: richtige Bildungspolitik, Einwanderungspolitik, Sozialpolitik, Regulierung des Internets, man muss darauf achten, dass Leute sich nicht ausgeschlossen fühlen. Dumme Streits auf links-rechts-Twitter beinhalten keine Lösungen für die ganze Gesellschaft. (Peter Unfried, taz)
Ähnlich dem Thema von Fundstück 1 ist dieses Interview mit Anne Applebaum, wenngleich etwas Gehaltvoller als Wagenknechts Provokationen. Applebaum ist eine Konservative, das nur für den Hintergrund. Mir ist das deswegen wichtig zu betonen, weil sie völlig korrekt die Kulturkämpfe auf beiden Seiten des politischen Spektrums ausmacht. Das absurde ist, dass diese zur Zeit ja vor allem von rechts geführt werden. Die Rechte braucht diese Kulturkämpfe, um die eigene Basis zu mobilisieren, und die Ironie an der Geschichte ist, dass sie sämtliche dieser Kulturkämpfe verliert - wie bereits die letzten Dekaden.
Solange sie im Gegenzug Wahlen gewinnt, ist das ein attraktiver Tausch (den Linke schon viel früher hätten erkennen müssen), aber das ist eine zunehmend wackelige Annahme, vor allem im Mutterland dieser Kulturkämpfe, den USA. Aber selbst in Osteuropa verfängt die Rhetorik immer weniger, müssen Orban und Konsorten zu immer extremeren Aussagen greifen, um einen schwindenden Enthusiasmus zu generieren. Das sind gute Nachrichten. Meine Prognose ist, dass die Ära der Kulturkämpfe im Abwind ist und sich in den nächsten Jahren weiter abflauen wird. Bin gespannt, ob ich damit richtig liege :)
3) Moskau sieht sich im Krieg mit dem Westen
Machen wir uns nichts vor: Tatsächlich geht es nicht um den Donbas und auch nicht um die Krim – obwohl das Problem der Wasserversorgung dort Russland sicher zu schaffen macht – und schon gar nicht um die NATO-Osterweiterung. In Osteuropa wird in härterer Währung bezahlt: es geht um Macht und Legitimität und für den Westen auch um Werte. Hier entscheidet sich nämlich, welche politischen Ordnungsmodelle sich auf diesem Kontinent durchsetzen: Imperium oder Nation, Demokratie oder Autokratie, Recht oder Willkür. Diese grundlegenden Unterscheidungen machen den Konflikt mit Moskau grundsätzlich und damit auch gefährlich. Wie bereits im Kalten Krieg stehen der Westen und Russland wieder für unterschiedliche Modelle und Vorstellungen. Die russische Führung hat das lang erkannt und wähnt sich deshalb – aus eigener Perspektive zu Recht – im Krieg mit dem Westen, was das Gros der westlichen Politik nicht wahrhaben will. Wenn man diesen grundsätzlichen Gegensatz verstanden hat, wird auch klar, warum Deutschland, Europa und der Westen in dieser Auseinandersetzung einen langen Atem brauchen. Es geht zunächst nur um Konfliktmanagement, nicht um conflict resolution. Doch auch dazu bedarf es einer entschlossenen Politik mit klarer Rhetorik. Kluge Diplomatie sieht nicht zu, sie interveniert. In Berlin und Paris ist es bereits vergessen, doch in Kiew weiß man: Die Zögerlichkeit des Westens im Jahr 2014 hatte einen hohen Preis, den die Ukraine bezahlt hat. In diesen Tagen entscheidet sich, wieviel Handlungsspielraum Moskau in diesem Sommer bekommt. Noch ist es nicht zu spät, eine Neuauflage von 2014 zu verhindern. (Jan C. Behrends, Salonkolumnisten)
Da ist nichts zu verhindern. Selbstverständlich ist es dazu zu spät. Wie sollte das denn noch funktionieren? Als ob die EU, Deutschland vorne dran, sich zu einer einheitlichen und glaubhaften Abschreckung zusammenfinden würde. Wenn die Jahre seit 2014 eins bewiesen haben, dann, dass niemand bereit ist, für die Ukraine etwas zu riskieren. Unsere völlige Schnitzpiepe im Außenamt, Heiko Maas, hat mit seinem unerträglichen Bothsiderismus das Seinige dazu beigetragen (von wegen "rufen beide Seiten auf sich friedlich zu einigen"). Wirklich, das Kabinett Merkel IV vereinigt einige der größten Pfeifen aller Zeiten in den Ministerien. Das ist doch echt systemisch langsam.
Eine weitere Bemerkung: Es handelt sich hier nicht um einen Systemkonflikt. Das ist keine Neuauflage des Kalten Kriegs. Russland ist da wesentlich weiter als viele westliche Beobachtende. Ebenso wie China wollen sie niemanden bekehren, haben keine Notwendigkeit, die Überlegenheit ihres eigenen Systems zu beweisen. Alles, was Putin will, ist nackte Machtpolitik betreiben, und genau das tut er. Da gibt es keinen Wettstreit der Ideen. Das ist Interessenpolitik von Nationalstaaten wie im 19. Jahrhundert. Alles, was fehlt, ist eine Berliner Kolonialkonferenz zur Aufteilung der unglücklichen Opfer.
4) Your Diet Is Cooking the Planet
Reforming the food system to save the planet is going to require new corporate practices, and new laws and regulations at the national and international levels. But individual consumer behaviors matter as well—more than you might think. Your diet is likely one of your biggest sources of climate emissions. But what should you do? Eat locally? Get your food from small-scale farmers? Choose organics and fair trade? Avoid processed foods? Eat seasonally? The choices are many; the stakes are high. But experts on land use, climate change, and sustainable agriculture told me that two habits tower above all others in terms of environmental impact. To help save the planet, quit wasting food and eat less meat. [...] Households, not restaurants or schools or corporate cafeterias, are the dominant wasters. The problem is worse in the United States than in most other countries, and it has worsened over time. When you toss a spoiled chicken breast or moldy tomato into the trash, you’re wasting a greenhouse-gas-intensive product. You’re also sending it to a landfill, where it will emit methane. [...] The main, mooing offender is beef. Cattle are responsible for roughly two-thirds of the livestock sector’s greenhouse-gas emissions, while beef and dairy products are responsible for about one-tenth of global emissions overall. Gram for gram, beef produces roughly eight times more greenhouse-gas emissions than farmed fish or poultry, 12 times more than eggs, 25 times more than tofu, and even more compared with pulses, nuts, root vegetables, bananas, potatoes, bread, or maize. (Annie Lowrey, The Atlantic)
Die Bedeutung unserer Ernährung für die Rettung des Weltklimas gehört zu den immer wieder verblüffendsten und schmerzhaftesten Erkenntnissen. Die Elektrifizierung des Verkehrs ist ja eine Geschichte, das ändert wenig am eigenen Lebensstil. Aber auf Fleischprodukte zu verzichten, nur noch saisonales Obst und Gemüse zu verzehren und die Lebensmittelverschwendung einzudämmen - was auch einen Verzicht auf die lange eintrainierten ästhetischen Vorlieben bedeutet, mit gleichfarbigem, druckstellenfreiem Gemüse etc. - dürfte eine wesentlich schwierigere politische Forderung sein als praktisch alle anderen Klimaschutzmaßnahmen. Ich habe keine Ahnung, wie man das politisch verkaufen will. Jeder Versuch ist effektiv politischer Selbstmord. Siehe Veggie-Day.
5) Janet Yellen's proposal to revolutionize corporate taxation
One of the key legal strategies that corporations use to avoid tax is by stashing their money overseas. Google, for instance, books much of its profit in Ireland, where the headline corporate tax rate is 12.5 percent (and in practice lower than that) and Bermuda, where the corporate tax is zero. As Saez and Zucman explain, companies do this basically through trickery. By selling assets that have no market price (above all intellectual property) to foreign subsidiaries for cheap, they can then book profits relating to those assets there and pay little in tax. In an economic sense, this is tantamount to fraud. There is not anything like the level of business activity that would justify all those profits being "made" in Ireland or Bermuda. They are overwhelmingly profits made elsewhere that are sheltered from tax authorities through accounting gimmicks. [...] Now, America is so big and powerful that it could probably destroy tax havens by itself. Biden's tax plan would double the tax rate U.S. companies pay on their foreign profits, which would strike a substantial blow by itself. [...] But Yellen is pushing a different argument. The corporate tax race to the bottom is a poisonous zero-sum game — the benefits to Ireland or Bermuda must come at the expense of other countries, and erode the global rate of corporate tax over the long term. It follows that it is in the interest of all nations to set up a universal minimum standard so that nobody is tempted to go for beggar-thy-neighbor development strategies. That holds even for Ireland, where the flood of corporate money has badly corrupted national politics, and the average Irish person barely sees any of those fake profits anyway. (Ryan Cooper, The Week)
Wie bereits in meinem Artikel zur policy-Revolution unter Joe Biden geschrieben, bewegt sich die ganze finanz- und wirtschaftspolitische Diskussion in den USA gerade in einem Ausmaß, das eineN Europäer*in nur vor Neid erblassen lassen kann. Die Erkenntnis, dass das globale tax regime zu nichts anderem als einem race to the bottom führt, das unter den Volkswirtschaften nur Verlierer produziert, ist in progressiven Kreisen längst Allgemeingut, aber der gesamtwirtschaftliche Analphabetismus des Mainstreams hat sich dieser Erkenntnis leider allzu lange verweigert. Ich glaube nicht, dass gegen den konservativen Konsens Europas, gerade Deutschlands, hier irgendwelche Reformen möglich sind. Aber vielleicht retten uns die Amerikaner erneut vor der Borniertheit unserer eigenen Eliten, wie das schon in der Finanzkrise passiert ist. Nur dass dieses Mal der Leidensdruck in Europa nicht annähernd groß genug ist. Aber wer weiß, möglicherweise finden die USA ja auch ganz andere Verbündete in den G20. Man wird ja noch hoffen dürfen. Die Mechanik ist im Übrigen dieselbe wie beim Mindestlohn auch. Der Wettbewerb wird durch die Unterschranken nicht zerstört, sondern überhaupt erst ermöglicht, auch wenn neoklassische Ideolog*innen das nicht sehen wollen.
Wissenschaftler sind da schon weiter. Unter Testpersonen ist die Einigkeit oft sehr groß, wer hässlich ist. Im Alltag sind Menschen auch oft sehr einig. [...] Der Hamburger Sozialpsychologe Hans-Peter Erb beschreibt Schönheit als eine Form der Durchschnittlichkeit. „Das hängt damit zusammen, dass unser Gehirn symmetrische Formen leichter verarbeiten kann. Das löst ein positives Gefühl aus. Wir freuen uns darüber. Das attraktive Gesicht ist also eigentlich ein Durchschnittsgesicht.“ Schönheit ist auch keine reine Kulturfrage. Deutsche und Japaner sind relativ einig, welche Vertreter der jeweils anderen hübsch sind. Sogar der Blick von Babys verharrt länger auf Fotos von objektiv attraktiven Menschen. [...] Individuelle Nachteile passen nicht in das Schema, mit dem sonst über Diskriminierung gesprochen wird. Es gibt keine Unterdrücker, kein Patriarchat wie im Sexismus, keine weiße Vorherrschaft wie im Rassismus. Es ist nämlich nicht die verschworene Gemeinschaft der Schönen, die Hässliche missachtet, sondern es sind alle Menschen. Viele Hässliche missachten sich sogar selbst oder andere Hässliche. [...] Auch Steffen Augsberg kann den Hässlichen nicht helfen. Er ist Jurist und Mitglied im Deutschen Ethikrat. Er hat das Recht, das Thema dort vorzuschlagen. Bekäme es eine Mehrheit, würde der Ethikrat ein Papier schreiben, eine Arbeitsgruppe einsetzen und der Bundesregierung etwas empfehlen, zum Beispiel, dass die Koalition das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ändert. Augsberg will das aber nicht. „Das ist ein komplexes gesellschaftliches, für den Ethikrat kaum geeignetes Thema. Es geht um die Akzeptanz des Zufalls; aber es gibt auch Verbindungslinien zur allgemeinen sozialen Ungleichheit. So kann ein vergleichsweise unattraktives Kind, das in eine wohlhabende Familie geboren wird, langfristig nicht nur erfolgreicher, sondern auch attraktiver sein als das hübschere Kind aus prekäreren Verhältnissen, das frühzeitig ungesund ernährt wird.“ Es gibt viele Ungerechtigkeiten im Leben. Manche sind weniger intelligent als andere. Sie können nichts dafür und haben doch lebenslange Nachteile, in der Schule, im Beruf, aber auch in der persönlichen Gesundheit, die Intelligenteren leben gesünder, das zeigen Studien. Es gibt Menschen, die haben eine sportliche Natur, andere haben mit 30 den ersten Bandscheibenvorfall. Es gibt Farbenblinde, die nicht Piloten werden, und Leute mit einer krächzenden Stimme, die nie Radiomoderatoren werden. „Es gibt Leute, denen fällt es leichter, morgens um 7 Uhr aufzustehen und direkt an den Schreibtisch zu gehen. Andere haben ein größeres Schlafbedürfnis“, sagt Augsberg. Kurzum: Manche haben mehr Glück als andere, bei den meisten ist es eine Mischung aus vielem. (Justus Bender, FAZ)
Justus Bender hat hier einen sehr klugen, reflektierten, langen und lesenswerten Artikel geschrieben. Das Problem ist natürlich unlösbar. Ich bin unsicher, ob er damit darauf hinauswill, dass Anti-Diskriminierung-Politiken generell sinnlos sind - eine Meinung, die ich sicher nicht teile - oder ob er nur einen Bereich aufzeigen will, in dem sie naturgemäß nicht greifen können. Aber es ist wertvoll, sich diese Mechanismen bewusst zu machen. Ein weiterer solcher Faktor, den Bender nicht erwähnt, ist übrigens Körpergröße - alle US-Präsidenten sind überdurchschnittlich groß, und in seinem letzten Artikel hat Stefan Pietsch ein schönes Beispiel für Körpergrößendiskriminierung gebracht, als eines seiner vielen abwertenden Formulierungen gegen Armin Laschet dessen Körpergröße von nur 1,70m war (mit der er gegen die 1,94m Markus Söders natürlich alt aussieht). Hier kann ich als 1,70m-Mann (ich gebe meine Größe immer mit 1,71m an, wie der traurige Körpergrößen-Loser, der ich bin) natürlich voll mit Laschet fühlen. Kleine Männer und Frauen werden ebenfalls diskriminiert. Dicke Menschen werden diskriminiert. Und eben hässliche. Wir Menschen sind für die Welt, die wir uns gebastelt haben, irgendwie generell nicht geeignet, habe ich manchmal das Gefühl. Das beste, was wir in diesen Fällen tun können, ist, uns diese Mechanismen bewusst zu machen und zu versuchen, sie in unserem Alltag bewusst zu umgehen. Damit werden wir notwendigerweise scheitern, aber jedes Mal, in dem es doch gelingt, ist ein Gewinn.
7) Mitch McConnell Learns It Isn’t Personal—It’s Strictly Business
“Corporations are people, my friend,” Romney replied. He was jeered in the crowd, and jeered even more by Democrats afterward. “I don’t care how many times you try to explain it,” Barack Obama said on the stump. “Corporations aren’t people. People are people.” Ten years later, there’s been a strange inversion. Corporations, responding to pressure from Democrats, are acting more like people—using their clout to weigh in on legislation and social-justice issues that don’t immediately affect their taxes or bottom line. Republicans, meanwhile, are furious at the idea that companies might act this way. “My warning, if you will, to corporate America is to stay out of politics,” Senate Minority Leader Mitch McConnell said Tuesday. “It’s not what you’re designed for. And don’t be intimidated by the left into taking up causes that put you right in the middle of America’s greatest political debates.” In arguing that companies should absolutely continue to donate money to politicians, but also that they should stay out of politics, McConnell embraced the tortured position that money, and only money, is speech—and that actual speech is not speech. Although McConnell quickly and unconvincingly tried to walk his comments back (“I didn’t say that very artfully,” he said Wednesday. “They’re certainly entitled to be involved in politics”), it’s clear that his original view is gaining sway among Republicans. Governor Brian Kemp of Georgia called Major League Baseball’s decision to move the All-Star Game from Atlanta “cancel culture,” while Lieutenant Governor Dan Patrick of Texas was blunter. “You’ve meddled in a lot of issues lately … Stay out of things you don’t know anything about, and if you want to get involved, then you’re taking that risk,” he warned companies that have criticized voting-law changes under consideration in his state. Noting that many corporations have moved to Texas seeking low taxes and minimal regulation, he said, “Don’t, on one hand, say ‘Thank you, Texas,’ while, on the other hand, slap us in the face. We’re not going to put up with it anymore.” What these politicians are expressing is the fury of people who thought they had a deal, and have learned that they don’t, at least not on the old terms. The old arrangement was simple: The fiscally conservative wing of the Republican Party would push for lighter regulation, lower corporate taxes, and lower taxes on the high earners who ran corporations. In return, the corporations would cut generous checks to Republicans and remain circumspectly quiet about the culture-war issues that the social-conservative wing of the party cared about. (David A. Graham, The Atlantic)
Man erwartet natürlich nichts als blanke Inkonsistenz und Heuchelei, was die Positionen der Republicans angeht, aber ihr radikaler Umschwung zum Thema "Persönlichkeitsrechte von Unternehmen" ist geradezu erheiternd. Es ist vor allem die Offenheit, mit der sie ihren Unmut kommunizieren. "Unternehmen, die sich in die Politik einmischen, sind toll, aber nur, wenn sie es für uns machen. Wenn nicht, werden wir versuchen sie zu bestrafen." Das ist die Mentalität, mit der Putin Russland regiert. Besonders geil war dazu Mitch McConnells eilig nachgeschobener Kommentar, dass man selbstverständlich weiter die Geldspenden der Unternehmen haben wolle, aber sie mögen sich doch bitte aus der Politik heraushalten. Das ist geradezu rührend.
Dieser innerparteiliche Konflikt der GOP ist aber aus anderen Gründen interessant. Er dient nämlich als deutlicher Indikator dafür, dass die Republicans eine Minderheitenpartei sind. Profitberechnungen von Privatunternehmen sind ziemlich unbestechlich. Und die amerikanischen Firmen, das wird bereits seit mehreren Jahren deutlich - man denke an Nikes Sponsoring-Deal mit Colin Kaepernick, Pepsis Werbespot mit Cailtyn Jenner, etc. - sehen keinen Wert in der Identitätspolitik der GOP. Immer mehr Unternehmen wenden sich davon ab. Nicht einmal eine urkonservative Institution wie NASCAR beteiligt sich an diesen Kulturkämpfen, sondern kommuniziert progressive Werte nach außen. Die Republicans verlieren (siehe Fundstück 2) den Kulturkampf auf allen Ebenen, und wie immer schlagen ihre autokratischen Instinkte durch. Sie wollen wie Putin die Macht des Staates nutzen, um gewaltsam ihre Minderheitenposition durchzusetzen. Von einem Clinton'schen "Sister Souljah-Moment" sind sie weit entfernt. Und deswegen sind die Democrats gerade im Aufwind.
8) What I learned rewatching The West Wing in the Biden era
The West Wing is what you get if you take the outlook of the most committed Democrats during the two terms of Bill Clinton's presidency, add an overlay of rhetorical grandiosity derived from John F. Kennedy's speeches, and toss in a dash of Jimmy Carter's Christian piety, with Carter's Southern Baptist evangelicalism swapped out for the flinty New England Catholicism of the fictional President Josiah "Jed" Bartlet (played by Martin Sheen). When the show originally aired, this was a liberal fantasy, but it was one grounded in the real world. It was a sanctified vision of how the resolutely center-left Democrats who took over the party in 1992 understood themselves. [...] On every other issue, Clintonism reigns. Fear of deficits — and public opinion — limits every spending proposal. The boundaries of the possible are set by Republicans, who are often quite willing to cut a deal, but only if it gets them a tax cut or shrinks the size of government. Remember Bill Clinton's post-1994 State of the Union speeches that went on forever as the president rattled off dozens of initiatives so modest even many Republicans would politely applaud them? The West Wing gives us a world in which that's all a Democratic president can ever do — and it treats this not as a necessary compromise with a temporary political reality but as something as unchangeable as the law of gravity and somehow also the highest calling of democratic politics as such. But if the show's policy stances now feel like they emanate from a bygone political era, its treatment of women comes off today like a dispatch from an entirely different, and thoroughly archaic, sociocultural epoch. This is a show that in nearly episode of its first six seasons matter-of-factly dramatizes the White House Deputy Chief of Staff (Josh Lyman played by Bradley Whitford) harassing, belittling, mocking, emotionally abusing, and fragrantly condescending to his assistant Donna Moss (Janel Moloney). And that's far from all. Hardly an episode goes by in the show's first four Sorkin-dominated seasons without two or more of the male characters making gratuitous comments about the importance of "speaking as men" or "acting as men." (One half expects them to punctuate these lines by butting heads and grunting.) And the most devastating put-down anyone in the Bartlet White House can utter is that someone has "sounded like a girl." (Damon Linker, The Week)
Ich bin mir auch ohne einen Rewatch ziemlich sicher, dass "The West Wing" heute unerträglich ist. Ich habe dasselbe Gefühl mit meinem geliebten "Battlestar Galactica", oder auch "The Wire" (siehe dazu mein ausführlicher Serien-Post auf Nerdstream Era). Sie sind Produkte ihrer Zeit, und die letzten 20 Jahre waren eine Zeit radikaler gesellschaftlicher und politischer Transformation. Die Welt 2021 unterscheidet sich fundamental von der von 2001. Es ist ja gerade die Geschwindigkeit dieses Wandels und seine Tiefe, die so viele Menschen zurückgelassen und verwirrt hat und die den reaktionären backlash befüttert, von dem die AfD, Trump, Orban und Konsorten leben. Es ist ein Fehler von Progressiven so zu tun, als ob es diesen Wandel nicht gäbe. Der Kulturkampf tobte fast drei Jahrzehnte, und er ist entschieden - mit einem überragenden Sieg der Progressiven. Und jeder Kampf kennt Verlierer. Zwar sind 30 Jahre eine vergleichsweise kurze Zeit, aber es reicht für eine komplette Generation - und damit auch dafür, dass Leute, die in den 1990er und 2000er Jahren an der Speerspitze des Fortschritts standen, 2021 wirken wie Dinosaurier. Deswegen die wütend-verwirrten Artikel eines Wolfgang Thierse, deswegen das Buch von Sarah Wagenknecht (siehe Fundstück 1). An einem gewissen Punkt fühlten auch sie sich abgehängt, und es ist dieser Punkt, an dem sie den Anschluss verloren und offen für reaktionäre Botschaften wurden. Der Wandel von "The West Wing" vom liberalen Utopia zum Artefakt einer überwundenden Ära ist ein Symptom dieser Entwicklung.
9) Trump finally jumps the shark
I think Trump may have finally jumped the shark. [...] But now? Either Trump is the sorest loser in the history of American democracy — the Big Baby his critics always claimed he was — or else he really did win in a landslide and yet nonetheless allowed himself to be deposed and banished to South Florida while Joe Biden effortlessly took over the White House in a coup. Either way, he looks very small indeed. [...] The great irony here is that Trump has been so successful at remaking the GOP in his own image that the party doesn't really need him anymore. Sure, they'll try to avoid provoking his wrath. But every viable candidate for president in 2024 is going to be following Trump's lead on immigration, trade, and waging a rhetorically ferocious culture war against the left — and most of them will be doing it without Trump's own considerable personal liabilities, including the hatred of a large swath of the electorate. Put in slightly different terms, the 2020 election results show that Trump has given Republicans a potentially fruitful way forward — but also that he can't be the one to lead the way there because he's a drag on the party. Trump's own dead weight, and not some cockamamie conspiracy, is what accounts for his loss last year despite Republicans doing so well down ballot. (Damon Linker, The Week)
Ich hoffe ja, dass Linker damit Recht hat. Zwar halte ich es wie er für extrem unwahrscheinlich, dass Trump jemals für seine Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden wird - dafür schützt das US-Rechtssystem die Reichen und Mächtigen viel zu sehr, und wie ich bereits öfter gesagt habe wäre es auch sehr problematisch, Ex-Präsident*innen vor Gericht zu bringen - aber es mag durchaus sein, dass er auf einem deutlich absteigenden Ast ist. Ich halte es aber nicht für ausgemacht, dass es der GOP möglich sein wird, ihn zu ersetzen. Denn egal, was man über Trump sagen mag, er war authentisch in seinem Hass, authentisch in seinem sense of grievance, authentisch in seiner Verachtung für die Eliten - und ebenso authentisch in seinem beständigen, drängenden Verlangen, von ihnen akzeptiert zu werden. Die meisten Republicans - Menschen wie Ted Cruz oder Lindsay Graham - spielen das alles nur, und ihre Basis spürt das. Es gibt einige Leute, allen voran Josh Crawley und Ron deSantis, die das Potenzial haben, diese Rolle auszufüllen. Aber von den Erfahrungen 2018 und den Nachwahlen in Georgia 2020 und Wisconsin 2021 her zu urteilen fällt es der GOP schwerer als vermutet, das Feuer von Hass und Erregung aufrechtzuerhalten, das sie die letzten Jahre angetrieben hat.
10) Laschet versus Söder: Stiller Sieger gegen lauten Verlier?
In der Fraktion meldeten sich deutlich mehr Söder-Anhänger als Laschet-Unterstützer zu Wort. Und doch ist das Lamento über die Aussprache zwischen zwei Bewerbern um die Kanzlerkandidatur das Gegenteil eines Dramas. Zwar ist die zur Schau getragene Harmonie der vergangenen Woche zunächst hinüber. Aber beide Seiten wahrten die Facon. Und intern räumen Gesprächspartner ein, dass die jeweils andere Seite ja durchaus Argumente für ihren Kandidaten habe. So sind die Umfrageergebnisse von Markus Söder weiterhin ausgesprochen stark, während Armin Laschet an der demoskopischen Front schwach abschneidet. Ganz aktuell fragte Forsa für den RTLT/ntv-Trendbarometer, „welche Person des öffentlichen Lebens“, egal ob Politiker, Wirtschaftsvertreter, Wissenschaftler, Künstler oder sonstiger Prominenter, man gern „als Bundeskanzlerin oder Bundeskanzler“ sähe. Ergebnis: 36 Prozent nannten Söder, elf Prozent den Grünen-Chef Robert Habeck, je zehn Prozent dessen Co-Vorsitzende Annalena Baerbock und den SPD-Kandidaten Olaf Scholz, fünf Prozent den CDU-Politiker Friedrich Merz – und nur drei Prozent Armin Laschet. Doch der Hinweis der Christdemokraten darauf, dass Umfragen nicht alles sind, ist ebenfalls überzeugend. Laschet selbst weist immer wieder darauf hin, dass er als Spitzenkandidat der CDU vor der Landtagswahl am 14. Mai 2017 deutlich hinter der von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft geführten SPD zurücklag. Das zuvor zitierte Meinungsforschungsinstitut Forsa hatte am 28. April, also zwei Wochen vor der Wahl letztmalig die Stimmung an Rhein und Ruhr gemessen und für die CDU nur 29 Prozent vorausgesagt, dafür aber für die SPD 35 Prozent erwartet. Stattdessen kam die CDU mit einem Zugewinn von 6,7 Prozentpunkten auf 33 Prozent, während die SPD fast acht Punkte verlor und auf 31,2 Prozent abstürzte. Und dann sind da noch die Erfahrungen der vorigen Bundestagswahl: Infratest/Dimap sah im Februar 2017 für den Fall einer Direktwahl des Bundeskanzlers den SPD-Kandidaten mit 50 Prozent deutlich vor Amtsinhaberin Angela Merkel, die bei nur 34 Prozent taxiert wurde. Im März führte Schulz immerhin noch mit 45 zu 36 Prozent vorne. Im November erzielte die Union dann aber 32,9 Prozent, während die Sozialdemokraten mit 20,5 Prozent das bislang schlechteste Bundestagsergebnis einfuhr. (Ansgar Graw, The European)
Keine Frage, Laschets persönliche Werte sind verheerend, und wie Stefan Pietsch völlig zurecht herausgestellt hat ist es mehr als unwahrscheinlich, dass er bis September dreißig bis vierzig Prozent bei Beliebtheitsumfragen gut machen wird. Aber ich halte diese Umfragen für irreführend. Im September findet die Bundestagswahl statt, nicht die Kanzler*innenwahl. Egal, was Wahlplakate und horse race journalism auch vorgaukeln, zur Wahl stehen Parteien, nicht Einzelpersonen. Man sollte nicht vergessen, dass in Umfragen im Frühjahr vor der Bundestagswahl 2017 Martin Schulz bei der Direktwahl-Umfrage mit 50% vor Angela Merkels 34% führte. Um es vorsichtig auszudrücken: das half der SPD nur sehr eingeschränkt. Das gilt noch mehr für Markus Söder, dessen CSU nur in einem einzigen Bundesland überhaupt wählbar ist.
Vor allem aber: bis September kann viel passieren. Nehmen wir für einen Moment an, der unbeliebte Laschet wird Kandidat. Über den Sommer werden die Corona-Auflagen wegen des Fortschreitens der Impfkampagne deutlich gelockert, und im September wird es sich anfühlen, als sei die Pandemie besiegt. Normalität ist wieder da. Die Grünen haben es geschafft, sich um Kopf und Kragen zu reden (eine Wette mit ungefähr 50:50-Chancen, konservativ geschätzt), die SPD versinkt weiter in der Bedeutungslosigkeit und die Menschen haben wieder erkannt, warum sie Christian Lindner und die FDP nicht leiden können. Ein Szenario, in dem Laschets CDU um die 35% der Stimmen holt und dann eine Regierung mit den gedemütigten Grünen (und vielleicht sogar FDP) anführt, ist alles, aber nicht weit hergeholt. Das muss natürlich nicht so kommen, aber es wäre vermessen, die Umfragewerte von April linear in den September fortzuschreiben. Laschets Verbündeter ist die Zeit. Die Frage ist nur, ob er welche bekommt.
11) Jede:r Dritte zu Unrecht abgelehnt
Von 68.061 überprüften Bescheiden der Bundesbehörde erklärten die Gerichte im vergangenen Jahr demnach 21.224 für rechtswidrig. Die Quote der Entscheidungen, die nach einer gerichtlichen Überprüfung aufgehoben wurden, stieg somit nach einem Rückgang in den vergangenen Jahren wieder an. 2017 lag sie noch bei 40,8 Prozent, sank dann 2018 auf 31,4 Prozent und 2019 auf 26,4 Prozent. Gegen fast drei Viertel (73 Prozent) aller ablehnenden Bescheide des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) wird geklagt, wie es weiter hieß. Besonders hoch ist die Erfolgsquote bei Afghan:innen: Hier wurden nach den Angaben 60 Prozent der gerichtlich überprüften Bamf-Bescheide kassiert. (taz)
Es ist dieselbe Geschichte wie bei Hartz-IV auch: die Bürokratie produziert tonnenweise Entscheidungen, die vor Gericht keinen Bestand haben. Vermutlich wäre die Quote noch schlimmer, würden alle Betroffenen vor Gericht ziehen, was in beiden Fällen eher unwahrscheinlich sein dürfte. Ich bin allerdings unsicher, wie das zu interpretieren ist. Diese Entscheidungen sind qua Natur umstritten, und die Prärogative der Behörden - möglichst viele Sanktionen bei Hartz-IV, möglichst viele Ablehnungen bei Asylanträgen - prallen natürlich immer wieder frontal auf die grund- und menschenrechtlichen Ansprüche. Eine umgekehrt großzügigere Praxis würde vermutlich auch viele Fehlentscheidungen produzieren; man erinnere sich nur an den Visa-Skandal des grünen Außenministeriums in den 2000er Jahren.
Auffallend ist allerdings das Schweigen derer, die in jedem gekippten Corona-Mandat einen Beweis für die Totalität des Staates und die nahende Diktatur sehen. Wo quasi jede gerichtliche Entscheidung gegen die Pandemieverordnungen der Beleg für einen massiven Angriff auf den Rechtsstaat ist, herrscht komplettes Schweigen gegenüber dem mittlerweile seit fünfzehn Jahren andauernden gerichtlichen Massenaufheben von ähnlich gelagerten Beschlüssen bei Hartz-IV-Empfangenden oder dem seit einer halben Dekade andauernden Massenablehnen von Leuten, die man nicht ablehnen dürfte. Aber beim einen geht es eben um die eigene Haut, und beim anderen nur um Schwache der Gesellschaft, zu denen man keinen Bezug hat. Das ist menschlich, aber nicht besonders schön.
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