Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.
1) Ist Gendern der „Tod der Sprache“? (Spoiler: Nein)
Klar ist für mich, dass das – im Deutschen grammatikalisch korrekte – generische Maskulinum keine akzeptable Variante mehr ist. Zig Studien zeigen, dass sich die meisten Befragten bei Pluralformen wie die Ärzte, die Wissenschafter oder die Experten Männer vorstellen und Frauen eben nicht automatisch „mitmeinen“. Gerne werden deshalb geschlechtsneutrale Begriffe vorgeschlagen wie Studierende, Lehrkörper oder Pflegepersonal. Diese drei und noch etliche andere funktionieren auch gut, aber bei Mietperson statt Mieter oder bezeugende Person statt Zeuge sträubt sich tatsächlich mein Sprachgefühl. [...] Ich habe für mich noch keine perfekte Lösung gefunden, weder für schriftliche Texte, noch für TV-Moderationen oder Interviews. Allerdings stimmt auch in diesem Fall, was der US-Epidemiologe Anthony Fauci in ganz anderem Zusammenhang sagt: „Don’t let the perfect be the enemy of the good.“ Jede Variante, die ich oben beschrieben habe, ist besser als das ignorante generische Maskulinum. Ich werde noch ein bisschen experimentieren und vielleicht auf Twitter auf das generische Femininum umsteigen oder in allen geschriebenen Texten auf den Doppelpunkt oder das Trema. (Armin Wolf)
Ich stimme dem Artikel völlig zu. Gute Lösungen für die Problematik gibt es nicht wirklich. Was ich sehr begrüße ist, dass Wolf sich ausführlich mit der Thematik beschäftigt und für sich reflektiert nach Optionen gesucht hat. Das machen ja bei weitem nicht alle. Es spiegelt auch meinen eigenen Ansatz zum Thema. Ich habe ja auch verschiedenen Varianten ausprobiert, von der neutralen Partizip-Nennung zum Binnen-I zur jetztigen Sternchenform. Ideal ist das alles nicht, aber, und das ist das Entscheidende, besser als der Ursprung. Vielleicht setzt sich ja noch eine andere, bessere Idee durch. Wer weiß. Bis dahin weren weiter Experimente betrieben. Und das ist ja wahrlich nichts Schlechtes.
2) Enttabuisiert den Vergleich!
Nun wird jeder verstehen, warum ein Bekenntnis zur Einzigartigkeit des Holocausts hierzulande zentral ist. Aber handelt es sich dabei um ein Entweder-oder? Besteht zwischen Einzigartigkeit und Relationalität ein unüberwindbarer Gegensatz, schließt das Letztere das Erstere grundsätzlich aus? Wird die Erinnerung wirklich in der Familie tradiert? Wurde sie dort nicht vielfach totgeschwiegen und ist deshalb längst eine kollektive Aufgabe geworden? Und versucht irgendeine ernsthafte Stimme, die deutsche Verantwortung zu minimieren, indem man sie globalisiert? Hier wird ein Strohmann errichtet, um eine Ersatzdebatte zu führen, über deren Folgen, ethische "Kosten" und "Kollateralschäden" nicht gesprochen wird: Das Verbot jedes Vergleichs und In-Beziehung-Setzens führt zu einer Herauslösung der Schoah aus der Geschichte und hat weitreichende Folgen. Erstens blockiert das Pochen auf die Unvergleichbarkeit den Blick auf wichtige Wurzeln der nationalsozialistischen Verbrechen, insbesondere auf den deutschen Vernichtungskrieg "im Osten" zur Gewinnung von kolonialem "Lebensraum". Zweitens vermindert es die moralische Schlagkraft des "Nie-wieder", denn singuläre Ereignisse können sich nicht wiederholen. Drittens erlaubt es rechten Regierungen in Europa, die vieltausendfache Komplizenschaft der Vorfahren ihrer Bürger zu vertuschen, womit der notwendige Hinweis auf die deutsche Hauptverantwortung zur Apologie eines neuen Nationalismus missbraucht werden kann. Und viertens verzerrt es die pluralen Dynamiken öffentlicher Erinnerung und vergibt so die Chance, eine inklusivere Erinnerungskultur zu entwickeln, wie sie der immer heterogeneren deutschen Gesellschaft angemessen wäre: Denn wenn die Erinnerung an den Holocaust in Familien tradiert würde, wie könnten die Millionen von Deutschen, deren Familien zur Zeit des "Dritten Reiches" noch nicht hier lebten, eingebunden werden? (Jürgen Zimmerer/Michael Rothberg, ZEIT)
Auch hier kann ich den beiden Autoren nur zustimmen. Die bornierte Beharrung auf der Singularität des Holocaust zur Verhinderung von Debatten ist nicht sonderlich fruchtbar, weder für die Holocaustforschung selbst (wo relevante Ansätze längst aus anderen Ländern kommen) noch für die gerade blühende Kolonialgeschichtsforschung oder, wesentlich aktueller, die Außen- und Sicherheitspolitik (Internationale Beziehung/Friedenspolitik in der Politologie).
Am wichtigsten aber finde ich das Argument, dass die Singularität des Holocaust auf diese Art auszulegen bedeutet, dass sich das Ereignis auch nie wiederholen kann. Wenn es absolut einzigartig war, müssen wir uns heute keine Gedanken mehr machen. Das ist mehr als gefährlich, und es öffnet ungewollte Türen, in die Leute wie Gauland stoßen können, die dann versuchen, die Erinnerung vollends zu konservieren.
Gleichzeitig macht es die Erinnerung an den Holocaust auch rituell und sorgt dafür, dass die meisten Leute eigentlich nur noch die Augen verdrehen, während bei öffentlichen Äußerungen eine Art PC-Polizei dafür sorgt, dass ja keine "falschen" Aussagen getätigt werden. Das vernichtet den ganzen Diskurs.
3) 12 months on, is Macron winning his ‘war’ on Covid in France?
Amongst the big, industrialised countries with which comparison can reasonably be made, France’s record is mid-table. Given the fact that France spends so much of its wealth on state services (54 percent, in a normal year; 62.8 percent last year) that is not a fantastic record. In terms of deaths, France has been better than Britain or Italy or Spain or Belgium or the Netherlands. In terms of health care and economic support, it has been better than the United States. Its vaccine programme – 17th best in the world until last week – has been a calamity wrapped in a mystery. The standard explanation of France’s poor performance on vaccines, mask and tests is that the country is administratively top heavy and slow to respond to new challenges. And yet the economic support system for individuals and businesses was created overnight and rolled out efficiently. As a result France has, so far, taken a less dramatic economic hit than Britain. The paraphernalia of attestations, filling out your own licence to go to the shops or to have a stroll, was classically French. And yet somehow, for France, it worked. Another thing that France has, I believe, got right (some may not agree) is to have kept the schools more or less open after the first lockdown ended in May. This has taken a huge effort, and risk, on the part of France’s sometimes maligned teaching profession. They deserve more praise than they have received. But then the vaccines…. How could France, the country that invented vaccines, have got it so wrong for so long? (John Lichfield, The Local)
Es ist immer wieder instruktiv, den Vergleich mit anderen Ländern zu suchen. Letztlich scheint mir Frankreich mehr oder weniger auf demselben Niveau mit Deutschland zu sein, was die Bekämpfung der Pandemie angeht. Die Fehler, die in Frankreich gemacht wurden, waren teilweise andere als in Deutschland, genauso, wie die französischen Erfolge teilweise andere als deutsche sind. Aber das Endresultat ist im Großen und Ganzen vergleichbar. Auch hier wäre der dringend nötige Untersuchungsausschuss gut beraten, später ausführliche Ländervergleiche zu machen. Aber: Letztlich lernen wir von unseren "Kameraden im Versagen" weniger als wenn wir die wirklichen Champions der Pandemie ansehen, von Singapur über Vietnam zu Japan und Taiwan. Auf die müssen wir den Blick richten, und vielleicht auch endlich mal von der albernen "Das ist aber eine Insel" oder "Das ist aber eine andere Kultur" wegkommen, die jeden Erkenntnisgewinn verhindert.
4) Über Vergangenheit muss debattiert werden
Der größte Teil der polnischen Öffentlichkeit ist sich längst im Klaren darüber, dass die lange gepflegte Erzählung, Polen seien ausschließlich Opfer gewesen, nicht zu halten ist. Wie viel Mitschuld wer auf sich geladen hat, darüber wird energisch debattiert. Und so muss das sein. Verzerrungen der Geschichte sollten in einer demokratischen Gesellschaft mit den Mitteln von Kritik und Gegenkritik bekämpft werden. Es muss ein Prozess der Selbstverständigung stattfinden. Das Bild der Geschichte darf nicht von Gerichten – scheinbar objektiv – festgelegt werden. [...] Doch das Klima in Polen ist gerade ein anderes. Neulich erst hatte ein Gericht zwei Historiker zu einer Entschuldigung verurteilt – weil sie in einem rund 1700 Seiten Opus zur Kollaboration möglicherweise einen Einzelfall falsch dargestellt hatten. Am Gesamtbefund des Werkes ändert dieses Detail nichts, aber das Signal ist fatal: Wissenschaftler müssen mit Klagen rechnen. Und jetzt gilt das auch für Filmemacher. Gerichtsurteile wirken einschüchternd und beschneiden somit die Freiheit der Kunst und der Wissenschaft. Es gibt einige Organisationen, wie zum Beispiel »Reduta dobrego Imienia«, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, diejenigen vor Gericht zu zerren, die durch ihr künstlerisches oder wissenschaftliches Wirken angeblich das Image Polens beschädigen. Auch die Klage von Radłowski hat Reduta unterstützt. [...] Der Widerstandskämpfer Zbigniew Radłowski hat mit seinen Einwänden gegen »Unsere Mütter, unsere Väter« wahrscheinlich recht – aber dass ein Gericht darüber befindet, macht Angst. (Jan Puhl, SpiegelOnline)
Jan Puhl hat absolut Recht. Die historische Konsensbildung über Gerichte laufen zu lassen ist mehr als problematisch. Schon das EU-Verbot der Holocaustleugnung ruft ja immer wieder Protest hervor; die Monokultur, die in Fundstück 2 beklagt wurde, mag auch mit daher herrühren, dass dieses Thema kaum mehr jemand anfassen will.
Was den konkreten Gegenstand angeht - die Serie "Unsere Mütter, unsere Väter" - so habe ich meine frühere positivere Meinung mittlerweile ziemlich revidieren müssen. Ich habe seither deutlich dazugelernt und kann nur sagen, dass die Kritik an dem Mist ziemlich korrekt ist.
Nur, diese Kritik hat nicht von Gerichten zu kommen. Das ist der Wert von Cancel Culture - nicht staatlich sein. Und massive öffentliche Kritik ist eben ein Weg, wie man dafür sorgen kann, dass so etwas wenigstens in Zukunft nicht mehr vorkommt. "Unsere Mütter, unsere Väter" zu canceln wäre sicherlich nicht gerade falsch. Es ist diese Janusköpfigkeit, die den Themenkomplex so problematisch macht; es kann eben gut oder schlecht sein. Die staatliche Zensur à la Polen dagegen ist grundsätzlich schlecht - auch, wenn sie wie das sprichwörtliche blinde Huhn mal ein Korn trifft.
5) Pop-Up-Radwege animieren Autofahrer zum Umstieg
Sie waren als Provisorium während des ersten Lockdowns im April 2020 gedacht, mittlerweile haben sie sich bewährt und wurden auch in zahlreichen anderen Orten eingerichtet: die Pop-up-Radwege Berlins. Mit einfachsten Mitteln wie Farbe und Verkehrszeichen hatte die Stadt quasi über Nacht Teile wenig befahrener Straßen für den Radverkehr abgetrennt. Tatsächlich sind die schnell eingerichteten Radwege eine Erfolgsgeschichte, wie eine Studie des Berliner Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC) jetzt belegt hat. Wie die Forscher um den Politikanalysten Sebastian Kraus im Fachmagazin Proceedings of the National Academy of Sciences berichten, waren im Erhebungszeitraum von März bis Juli 2020 in Städten mit Pop-up-Radstreifen elf bis 48 Prozent mehr Fahrradfahrer unterwegs. Das zeigen die Daten von 736 Zählstationen aus 106 europäischen Städten. [...] Angesichts der Ergebnisse raten die Studienautoren, häufiger von der günstigen Pop-up-Methode Gebrauch zu machen. Für einen Kilometer Radweg bezahlte die Stadt Berlin lediglich 9500 Euro. "Die Chance, hier mit wenig Aufwand den Verkehrsmittelmix erheblich zu beeinflussen, wird in vielen Städten zu Unrecht vernachlässigt", so Kraus. Zugleich verweisen er und seine Kollegen auf die gesundheitlichen Vorteile. In der US-amerikanischen Forschungsliteratur gibt es eine Faustregel, wonach jeder geradelte Kilometer einen halben Dollar Gesundheitskosten einspart. Allein für die neuen Wege in den untersuchten Städten summiere sich das auf mindestens eine Milliarde Dollar im Jahr. (Peter Strigl, Süddeutsche Zeitung)
Studie um Studie kommt mit solchen Belegen um die Ecke, gerade auch, was Straßen anbelangt. Nirgendwo wird das Verkehrsaufkommen durch den Bau neuer Straßen oder Fahrbahnen reduziert. Wo Straßen gebaut werden, gibt es danach mehr Autos. Dementsprechend läuft das auch umgekehrt: wo der ÖPVN besonders gut ausgebaut ist, wird er viel genutzt. Wo es viel Radwege gibt, fahren viele Leute Rad. Gerade hier im Südwesten, wo das Auto (natürlich mit Verbrennermotor) auch unter einer grünen Regierung geradezu sakralen Status hat, ist der Stand der Radwegeinfrastruktur beklagenswert. Dementsprechend fahren die wenigsten Menschen mit dem Rad. Der Blick auf unsere Nachbarn ist hier instruktiv: Die Niederländer etwa haben ja kein "Fahrrad-Gen"; sie haben nur bereits vor langer Zeit eine Richtungsentscheidung getroffen, die in Deutschland wegen der absurden Auto-Identitätspolitik immer noch aussteht.
But the media’s focus on the AfD has overshadowed the continued support for migrants among ordinary Germans. Although the Willkommenskultur has faded from public view, it has not disappeared. A study by the Family Ministry from 2018 showed that one in five Germans helped the refugees in some capacity. Silke Radosh-Hinder, a pastor working with the Refugee Church, a religious organization helping migrants in Berlin, recently told me that many volunteers remained as committed as during the height of the influx: “I still know an incredible number of people who support and mentor refugees, and what I think has ebbed is the put-on aspect, where people want to be publicly recognized for helping people.” [...] It’s clear that the influx has accelerated this change. Refugees have opened Berlin’s first Arabic library and have founded start-ups. Syrian restaurants, bakeries, and grocery stores have proliferated. In a shift welcomed by some observers, Syrians are now the second-largest population in Germany’s Muslim community after Turks. Many Muslim leaders in Germany are affiliated with the Erdoğan government, which has long made officials suspicious of their political agenda. The Syrians’ arrival has thus broken up what one Islamic scholar has described as Germany’s “Islamic monoculture.” (Thomas Rogers, New York Review of Books)
Es ist gut, auch mal die eher positiven Entwicklungen - die es ja auch gibt - in der Flüchtlingspolitik und -entwicklung seit 2015 herauszuarbeiten. Abgesehen von der durchaus positiven Erweiterung des notorisch engen deutschen kulinarischen Horizonts (die ich leider nicht beurteilen kann; in der schwäbischen Provinz hier endet das gastronomische Angebot immer noch bei Pizza, Spätzle mit Soße und Brathähnchen) ist auch der Aspekt des Aufbrechens der islamischen Monokultur durch die Deutschtürken sicherlich ein bisher unterbelichteter Faktor. Auch ist es richtig zu betonen, dass nicht nur die Flüchtlingsgegner*innen immer noch da sind, sondern eben auch die Vertreter*innen der "Willkommenskultur". Parteien, die sich explizit dazu bekennen, bekommen zusammen gerade auch dreimal so viel Stimmen wie die, die sie ablehnen. Das sind eigentlich gute Zeichen.
7) ‚Neue Menschen‘ oder Jubelmasse? Die Rechte, die Linke und die ‚kleinen Leute‘
Dass die „einfachen Leute“ als vermeintliche „Helden“ der Linken von ihnen niemals als „Rassisten und Sexisten beschimpft“ worden wären, ist umso entschiedener zurückzuweisen. Eben weil die Linke den Arbeiter nicht einfach so, mit all seinen Vorurteilen, hinnahm, war der Kampf gegen solche Vorurteile ein zentrales Anliegen. Dabei setzte sich die Linke auch für Anliegen ein, die keineswegs populär waren. Die Linke trat damit dezidiert antipopulistisch auf, d.h. sie schöpfte die Begründung für ihre Positionierungen und Aktionen nicht aus der Imagination einer statischen und homogenen „Volksmasse“, sondern positionierte sich aus Überzeugung für mitunter nicht mehrheitsfähige Anliegen – auch unter der Gefahr, ihre eigenen Parteigänger vor den Kopf zu stoßen. Ein bekanntes Beispiel ist der Einsatz der Arbeiterbewegung für Frauenrechte; keineswegs vorbehaltlos und von Anfang an, jedoch lange vor dem Konsens der bürgerlichen Gesellschaft in dieser Frage. Als Bebel 1879 „Die Frau und der Sozialismus“ publizierte, war die darin geforderte Gleichberechtigung der Geschlechter im Arbeitermilieu alles andere als verankert – dennoch wurde das Buch, auch kraft der Autorität des Verfassers in der Bewegung, europaweit zur Standardlektüre der Aktivisten an der Basis. [...] Dennoch verabschiedeten sich die Kommunisten nicht sofort vom ‚Neuen Menschen‘ als individuellem Bildungsprojekt – ganz im Gegenteil. Bis in die zweite Hälfte der 1920er Jahre unternahm die Partei gewaltige Anstrengungen, um ihre keineswegs popularitätsheischenden Maßnahmen, etwa die Ausweitung der Frauenrechte, aber auch die Solidarität mit den Revolutionen im Ausland, für die Bevölkerung rational nachvollziehbar zu machen. Die Agitprop-Apparate hämmerten nicht bloß Parolen in die Köpfe der Menschen, sondern versuchten sie auch mithilfe von Logik und Fakten davon zu überzeugen, warum man die Ehefrau nicht mehr schlagen solle oder sich für einen Arbeiterstreik in Wales zu interessieren habe. (Gleb Albert, Geschichte der Gegenwart)
Man sollte immer vorsichtig sein, wenn einem ideologische Gegner*innen empfehlen, wie man sich künftig ausrichten sollte, oder interpretieren, was der Kern der eigenen Gruppe "eigentlich" ist. Das gilt sowohl wenn Leute wie ich über Konservatismus reden als auch wenn Konservative oder Liberale über die Linke sprechen. Die spätestens seit Trumps Wahlsieg 2016 häufig zu hörende Argumentation, dass eine Begrenzung der Menschenverbesserungsversuche ("woke" culture) zugunsten von einer scheinbar engeren, an ihren Wurzeln ausgelegten Konzentration auf die ökonomische Umstände betrieben werden müsse, ist zumindest historisch so nicht haltbar. Gegen die egalitären Zumutungen der sozialistischen Bewegungen ist die heutige Linke geradezu zahm. Damals wie heute aber gilt sicherlich, dass zwar viele Leute sich dazu bekennen, aber wesentlich weniger es auch tatsächlich leben. Man mache daraus, was man will.
8) Warum Tübingen nicht als Vorbild taugt
Allein, wer genau nachfragt, stellt fest, dass das Universitätsklinikum Tübingen keine dieser Fragestellungen überhaupt untersucht, selbst wenn es den Versuch wissenschaftlich begleitet. Es geht vielmehr darum zu erfassen, wie viele positive Schnelltests auch zu einem positiven PCR-Ergebnis führen, und die Getesteten zu ihren Lebensumständen zu befragen. Um es klar zu sagen: Es gibt bisher keine wissenschaftliche Evidenz, dass das Tübinger Modell funktioniert. Vielleicht kann es die nach zwei Wochen Versuchszeit auch noch gar nicht geben. Auch in Tübingen steigen die Infektionszahlen. Die Stadt ohne jede wissenschaftliche Grundlage zum Vorbild für Deutschland zu machen, ist gefährlich. Denn es weckt Hoffnungen in der Bevölkerung, noch dazu in einer Phase der Pandemie, in der die Infektionszahlen wieder exponentiell steigen und Intensivmediziner vor einer Überlastung des Gesundheitssystems warnen. Falsche Versprechungen haben die Regierenden in dieser Pandemie schon zu häufig gemacht. Statt Dutzender Tübingen-Kopien bräuchte Deutschland eine echte Modellprojekt-Strategie. Einzelne, kluge Ideen mit klaren Definitionen, wann das Projekt ein Erfolg ist – und wann nicht. Mit Daten, die die Auswirkungen auf das Infektionsgeschehen erfassen und den Versuch mit anderen Orten vergleichbar machen. Mit der Freiheit, dass die Vorhaben auch scheitern dürfen, ohne in der Öffentlichkeit gegeißelt zu werden. Programme mit ausreichend Geld, denn neue Methoden sind anfangs immer teuer und werden erst später günstig. Wissenschaft statt Wunschdenken eben. Dann könnten die Modellprojekte tatsächlich Wege aus der Pandemie aufzeigen. (Philipp Kollenbroich, SpiegelOnline)
Ich kann nicht beurteilen, ob das Tübinger Modell sonderlich zukunftsträchtig ist oder nicht. Aber der Verweis auf die mangelnde wissenschaftliche Begleitung ist wichtig und richtig. Denn was gerade mit dem Begriff der "Modellstadt" für Schindluder getrieben wird ist echt wieder typisch für die deutsche Corona-Politik. Völlig ignorant gegenüber wissenschaftlicher Methodik aber mit jeder Menge Bauchgefühl wird irgendein Blödsinn gemacht. Am Ende wissen wir dann zwar immer noch nicht, ob Zufall oder irgendein zu isolierender Faktor für das Ergebnis verantwortlich war (welches auch immer), aber immerhin hat man ein "Modell" gemacht. Siehe Tübingen. Erst scheint irgendwas gut gewesen zu sein, jetzt hat sich irgendwas zum Schlechten verändert. Was es war? Who knows?
9) Studie: No-Covid-Länder haben ihre Wirtschaft am besten geschützt
Einer neuen Studie aus Frankreich zufolge gehen No-Covid-Strategien mit deutlich geringeren Belastungen für die Wirtschaft einher als Eindämmungsstrategien. Wie das Institut Economique Molinari festgestellt hat, sind die volkswirtschaftlichen Schäden knapp dreimal größer, wenn Regierungen nicht auf eine möglichst rasche Ausrottung des Virus im Land setzen – ganz abgesehen von deutlich höheren Sterbezahlen bei Strategien, die lediglich auf eine Beherrschung des Virus abzielen. [...] Die Ergebnisse widersprächen der auch in Frankreich weit verbreiteten Auffassung, dass man sich bei der Virusbekämpfung zwischen dem Schutz der Wirtschaft und dem Schutz von Menschenleben entscheiden müsse, heißt es nun seitens der Wissenschaftler. Insgesamt sei das Bruttosozialprodukt in No-Covid-Ländern 2020 um etwa 1,2 Prozent gefallen, in den anderen Staaten um 3,3 Prozent. [...] In Deutschland lag die Zahl der Toten mit etwa 400 pro eine Million Einwohner deutlich darüber, hier nahm die Wirtschaftsleistung um 5 Prozent ab. In Frankreich starb jeder Tausendste von einer Million Einwohnern, die Wirtschaftsleistung sank um gut 8 Prozent. „Zero-Covid ist mit Abstand die beste die Strategie, die Pandemie zu bekämpfen“, schlussfolgern die Wissenschaftler – wobei ihr Begriff von Zero-Covid am ehesten dem entspricht, was in Deutschland unter No-Covid verstanden wird. (Christoph Höland, RND)
Ich halte es nach wie vor für eine der dümmsten Argumentationslinien, dass ein kurzer, funktionierender Lockdown teurer wäre als dieser Dauermurks, mit dem wir uns seit mittlerweile einem Jahr herumschlagen. Der Versuch, die Pandemie auf einem gewissen Sockel zu halten und Eindämmung zu betreibeen anstatt, wie erfolgreichere Länder, auf eine Bekämpfung zu setzen, könnte sich noch als der folgenreichste Fehler dieser ganzen elenden Periode herausstellen. Es bleibt auch die Frage, wie schnell sich das Land von den verheerenden Folgen dieser Fehlpolitik erholen werden kann. Die Zerstörung zahlreicher selbstständiger Betriebe, die Verschiebung in diversen Branchen - all das dürfte uns noch auf Jahre hinaus beschäftigen.
10) Most Americans Know Nothing About Politics. Nothing.
Those of whose hobby is politics consistently overestimate how much the rest of the country knows about politics. Let me be clear: Even when we try really hard to take into account that most people don't know much about politics, we still overestimate how much they know. [...] We should think of ourselves as, say, Star Trek nerds who simply can't get it through our heads that about 98% of country has no idea what we're talking about when we say "He's dead, Jim" in an ironic way. Most people, if they know anything at all, sort of vaguely understand that there's a space ship, some kind of Spock guy, and maybe a weird finger salute that the geeks are into. [...] Frankly, for the vast majority of Americans, your best bet is to assume not that they are "low information voters" but that they know nothing about politics. Literally nothing. (Many, of course, know less than nothing because they spend a lot of time listening to Fox News and come away with misinformation that makes them mad. They forget about the misinformation quickly, but they don't forget that they're mad.) So that's that. No matter how little you think most people know, cut it in half and then cut it in half again. That should get you somewhere close to the truth. (Kevin Drum, Jabberwocky)
Drum spricht hier leider eine Wahrheit an, die auch auf Deutschland übertragbar ist. Die meisten Leute haben praktisch keine Kenntnisse über Politik. Das fängt in Deutschland ja schon bei dem Dauerbrenner an, dass vielen nicht richtig klar ist, worin Erst- und Zweitstimme sich unterscheiden und welche wichtiger ist (von den überkomplexen Kommunal- und Kreiswahlrechten gar nicht erst zu reden).
Das Faszinierende ist, dass auch die Parteien selbst das nicht zu wissen scheinen. Ihre Kommunikation jedenfalls scheint nicht darauf ausgerichtet. Unter Wahlkämpfenden ist eigentlich eine Binsenweisheit, dass dann, wenn dir als politischem Menschen die immergleiche Botschaft zu den Ohren heraushängt die durchschnittliche Bevölkerung überhaupt erst beginnt, sie wahrzunehmen.
Gerade im US-Wahlkampf sind auch die verzerrten Zeithorizonte auffällig: für Fans wie mich beginnt der Wahlkampf anderthalb Jahre vor dem Wahltermin, für die meisten Amerikaner*innen bestenfalls sechs Wochen vorher. In Deutschland dürfte das nicht anders sein. Während wir hier mögliche Koalitionen durchdiskutieren, dürfte den meisten Leuten kaum geläufig sein, dass im September Bundestagswahl ist.
11) Joe Biden’s Non-Existent Mandate
But the mandate represented by Reagan’s victory went beyond those numbers. Many congressional Democrats who survived the GOP onslaught quickly acquired powerful fears that their constituents would turn on them if they flouted the lessons of the electoral outcome. Some 63 House Democrats joined Republicans in passing Reagan’s 1981 budget blueprint, and 48 Democratic representatives crossed over to support Reagan’s controversial tax-cut program. [...] Perhaps it can, and that’s a worthy topic of debate. But is there a consensus for this unprecedented degree of governmental activism? Not based on any political evidence. [...] Based on extensive interviews in three swing congressional districts, however, the paper suggested that “attacks on the spending push are beginning to take hold.” It said that the window of cooperation seems to have closed already for congressional Republicans—”and it may be closing for GOP voters, as well.” Would that induce some swing-district Democrats to desert the party on some crucial votes? Perhaps, perhaps not. Either way, in the meantime, the Biden plan is highly incendiary, in part because of the boldness of its intent to remake America, and in part because the boldness is backed up by no consensus. When Joe Biden was elected, he inherited a cleft nation, riled up over definitional issues, its political temperature rising ominously. He promised “unity” and serene waters. His actions so far seem destined to yield instead further voter anxiety, political strife, and civic instability. (Robert W. Merry, The American Conservative)
Ich habe an dieser Stelle sowohl während der Regierungszeit Obamas als auch Trumps immer wieder die bescheuerte Idee eines "Mandats" kritisiert, und dieser lächerliche Artikel macht da keine Ausnahme. Ein Präsident oder eine Partei hat das Mandat das umzusetzen, wofür sie eine Mehrheit im Kongress zusammenbekommen und was verfassungsgemäß ist. Diese dämliche Kaffeesatzleserei von einem "Mandat" ist Humbug, mit dem üblicherweise die Verlierer*innen der letzten Wahl die Regierung zu delegitimieren versuchen. Für die Erteilung eines Mandats sind Wahlen da. Und Wahlen haben Konsequenzen. So viel Reife muss man den Wählenden schon zugestehen.
Davon abgesehen ist Merrys Argumentation auch ganz besonders bescheuert. Wenn alles, was ich als Oppositionspartei machen muss, um ein Mandat zu verweigern, nicht überparteilich abstimmen ist - nichts leichter als das. Vor allem in einer so undemokratischen und destruktiven Partei wie den Republicans würde nie einE demokratischeR Präsident*in ein "Mandat" haben, weil sie sich ja nur verweigern müssten - was sie so oder so tun, wie wir gesehen haben ja auch gerne gegenüber einem Präsidenten der eigenen Partei! Das ist nicht ernstzunehmender Blödsinn.
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