Es ist noch zu früh um Analysen zu erstellen die mehr tun als die eigenen Vorurteile zu bestätigen, daher möchte ich eine Betrachtung der gestrigen General Election in Großbritannien in Form eines Fragenkatalogs verfassen. Der Gedanke ist, bei der Sichtung von zusätzlich verfügbaren Daten darauf zu achten ob sich irgendwelche Rückschlüsse ziehen lassen. So oder so ist das Ergebnis unerwartet. War vor einigen Wochen noch ein Erdrutschsieg der Tories mit einer dreistelligen Mehrheit in den Karten gewesen, hat Theresa May nun weniger Sitze als zuvor. Im Großen und Ganzen haben die Umfrageinstitute den stetigen Trend zu Labour und weg von den Tories auch abgebildet; einige haben angesichts des Versagens von 2015 (wo der tatsächliche Erdrutsch der Konservativen übersehen worden war) wohl etwas überkorrigiert. Doch nun genug der Vorrede, auf in medias res!
Gegen May oder für Corbyn?
Wenn es eine Sache gab in der sich Beobachter des Wahlkampfs einig waren dann, dass Jeremy Corbyn ein Mühlstein um den Hals der Chancen von Labour sein würde. Die Frage ist nun, ob diese Wahl hauptsächlich ein Votum gegen May oder für Corbyn darstellt. Für erstere These spräche der desaströse Wahlkampf der Tories, die wirklich alles gegeben haben um die Wahl in den Wind zu werfen (von Mays Weigerung an einer TV-Debatte teilzunehmen über ihre über-harte Linie zu der Definition der Wahl über krasse Haushaltskürzungen zulasten der Armen und Mittelschicht, die für Labourwähler ausschlaggebendes Thema waren), für letzteres die Tatsache, dass die Wahlbeteiligung der Jungwähler (18-24 Jahre) mit 74% gigantisch hoch war und dieses demographische Segment überwiegend Corbyn-Fan ist. Vermutlich ist es am Ende ein Mix aus beidem.
Siegstrategie für Labour?
"Besser als erwartet" war schon immer der Trostpreis der Politik. Man bekommt eine Menge positive Medienaufmerksamkeit, aber kaufen kann man sich davon wenig. Mit knapp 270 Sitzen ist Labour zwar bei weitem nicht so vernichtet worden wie es erwartet worden war, ist aber andererseits auch weit von einer Mehrheit entfernt. Wenn man bei gleichbleibenden Faktoren einen kompetenten Tory-Wahlkampf annimmt, sollte das Ergebnis kein Grund für Freudenschreie bei Labour sein. Die Partei ist weiterhin auf dem Pfad der SPD in einen permanenten zweiten Platz.
Schottland wird Tory-Gebiet?
Vor dem Siegeszug der SNP war Schottland ein zuverlässiger Sitzproduzent von Labour. Genauso wie Theresa May scheint sich aber auch SNP-Chefin Sturgeon verrechnet zu haben, denn ihr zweites Unabhängigkeitsreferendum wird von der Bevölkerung klar abgelehnt. Die Partei dient nun wohl vor allem dazu, den linken Stimmenpool aufzuteilen und den Tories mit Minderheitenergebnissen Sitze zuzuschanzen. Wenn sich daraus tatsächlich ein Trend ergibt, sind das sehr schlechte Nachrichten für Labour und, natürlich, die SNP.
Mehrheit für soft Brexit?
Bereits klar ist, dass die meisten Briten den Bullshit geglaubt haben, den die Tabloids, UKIP und die Tories ihnen über Brexit erzählt haben: es wird total einfach, wir bekommen alles was wir wollen, und danach geht es allen besser. In den letzten Monaten ist die Wahrheit über den hard Brexit immer mehr eingesackt. Theresa May hat wohl darauf gebaut, es mit einer "Schweiß, Blut und Tränen"-Strategie erreichen zu können, das Volk hinter dem hard Brexit zu vereinen. Gibt es nun eine Mehrheit für einen soft Brexit, mit verlängerter Austrittsdauer, Konzessionen oder eventuell sogar ein zweites Referendum? Ich bin eher skeptisch, aber da gilt es ein Auge drauf zu halten.
Was wollen die Lib Dems?
Die Liberal Democrats wollten nach den desaströsen Erfahrungen 2010-2015 keine weitere Koalition mit den Tories. Das war zumindest am Wahlabend die offizielle Linie. May ist nun offen für eine Koalition (zwangsläufig), aber wenn die Lib Dems diese weiterhin kategorisch ablehnen wird es wohl Neuwahlen geben. Solche wären sicher das Ende für May. Aber was genau wollen die Lib Dems erreichen? Spielen sie einfach nur auf Zeit und Konzessionen? Oder wollen sie tatsächlich keine Koalition? Corbyn ist sicherlich keine Alternative, weder ideologisch noch von einer möglichen Sitzverteilung her.
Gibt es einen europäischen Trend zur Mitte?
Das ist die für mich im Moment spannendste Frage: die europäische Dimension. Seit Donald Trumps Sieg im vergangenen November verloren die Rechtsradikalen in jeder europäischen Wahl klar zugunsten der Zentristen Stimmen. In den Niederlanden traf es Geert Wilders, dessen Träume von einer Regierungsübernahme sich zerschlugen, in Frankreich scheiterte Le Pen an Macron, in Großbritannien wurde UKIP völlig zerstört und der ultrarechte Kurs von Theresa May brachte ihr nicht den gewünschten Erfolg, während in Deutschland Angela Merkels Position sicher wie eh und je scheint. Ich neige derzeit dazu, einen Trend zu einer Europäisierung der Politik zu konstatieren. Die gesamteuropäische Dimension der Politik nimmt eine größere Rolle ein (wenngleich sicher noch keine entscheidende) und hier sah es für die Tories in Großbritannien echt schlecht aus. Sie haben damit auch das gleiche Problem wie alle rechten Parteien: ihre Wählerschaft ist alt und stirbt aus, die Jungen wählen Mitte-Links.
Soweit ist das alles. Ich halte den Artikel offen und werde ihn ergänzen, wenn sich neue Fragen auftun - gerne auch in den Kommentaren.
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