Bundesarchiv, B 145 Bild-F074398-0021 / Engelbert Reineke / CC-BY-SA 3 |
Ich respektiere Helmut Kohl als Staatsmann. Ich glaube, das ist das
Statement das in seiner Präzision genug Raum lässt einerseits der
Kritik, die ein in den 1980er und 1990er Jahren regierender CDU-Kanzler
von jemandem wie mir offensichtlich erwarten kann, und andererseits der
Würdigung seiner unbestrittenen Erfolge als Bundeskanzler. Anlässlich
seines heutigen Todes soll hier beidem Platz gewidmet werden.
Ich selbst habe Kohl nicht sonderlich bewusst erlebt, er ist für mich vor allem ein historisches Fakt. Meine erste aktiv wahrgenommene Bundestagswahl war 1994, und damals war ich 10 Jahre alt und erfuhr, dass man CDU wählt. 1998 habe ich dann beiläufig einige TV-Spots im Fernsehen gesehen, unter anderem einen, in dem Kohl nicht von der Enterprise gebeamt wird. Das war halbwegs clever. Keine Ahnung, ob ich damals den Namen seines Konkurrenten gekannt hätte. Von daher habe ich mich mit dem Mann erst auseinandergesetzt, als Schröder bereits einige Jahre Kanzler war. Persönliche Gefühle und Erinnerungen an seine Zeit habe ich nicht.
Ich stelle dies voran, weil die Kanzler, die man selbst erlebt hat - vor allem die ersten, die man so richtig wahrgenommen hat, als das politische Ich gerade erwachte - prägend sind. Bei mir war das Schröder. Bei denen, die sich an Kohl gerieben haben und die damals erbittert über Vergangenheitsbewältigung und Wiedervereinigung gestritten haben, wird der Name vermutlich noch einige Affekte wachrufen. Das ist hier nicht der Fall.
Helmut Kohl war eine hervorgehobene Figur deutscher Bundespolitik seit den frühen 1970er Jahren. Er gehörte zu den großen innerparteilichen Konkurrenten von Rainer Barzel, dessen Karriere 1972 im gescheiterten Misstrauensvotum gegen Brandt endete und den Weg für die Kandidatur des Rheinland-Pfälzischen Ministerpräsidenten 1976. Seine reichlich eindeutige Niederlage gegen Nemesis Helmut Schmidt gefährdete ihn zwar, aber sein taktisches Geschick ermöglichte es ihm, als CDU-Leitfigur erhalten zu bleiben und 1980 Franz-Josef-Strauß die Bühne zu überlassen. Derart als loyaler Parteisoldat etabliert, war er es, der vom Koalitionswechsel der FDP 1982 profitierte.
Als Kohl damals unter demokratisch nicht ganz lupenreinen (wenngleich völlig legitimen) Umständen an die Macht kam, deklarierte er die "geistig-moralische Wende". Der Begriff war nie so genau ausdefiniert gewesen, wie es in der Rückschau oft dargestellt wurde, aber er enthielt eine Aura von wirtschaftlichem Aufbruch bei gleichzeitigem Eingrenzen der alternativen Milieus und Protestbewegungen. Vage wie er war erlaubte er es außerdem jedem, seine eigenen Hoffnungen und Wünsche darauf zu projizieren. Die Rezession der frühen 1980er Jahre hatte die Bevölkerung außerdem mürbe gemacht für neue Ideen, und so konnte Kohl sich mit den schnell ausgerufenen Neuwahlen 1983 eine eigene, nun geruchsneutrale Mehrheit sichern - und zudem die Genugtuung, dass die FDP beinahe an dem Koalitionswechsel zerbrach.
Seine Anfangszeit war reichlich holprig. Mehrmals vergriff er sich stark im Ton, machte den konservativen Scharfmacher (ein Job, den er bald Getreuen wie Heiner Geißler überließ) und beleidigte den neuen sowjetischen Staatschef Gorbatschow, ohne sich über die internationale Wirkung seiner Stammtischparolen klar zu sein. Auch in den USA machte er sich nur wenig Freunde damit, als er den Präsidenten über einen Soldatenfriedhof führte, auf dem Waffen-SS-Mitglieder mit militärischen Ehren bestattet waren und diesen zu einer verkappten Ehrenbezeugung vor dieser nicht gerade rühmlichen Episode zwang. Es ist ein Urinstinkt der Politiker rechts der Mitte, gegen das was sie als "politische Korrektheit" begreifen¹ anzurennen, und vermutlich war dies bei Kohl Überkompensation. Er wurde bald merklich vorsichtiger.
Dazu hatte er auch allen Grund. Ende der 1980er Jahre war die Stagflation zwar vorbei, aber die Arbeitslosigkeit unverändert hoch, während die Staatsschulden - seit jeher Bewertungslatte der konservativen Politiker - stiegen und stiegen. Zudem hatte sich Kohl bereits damals in seinen Privatkrieg mit den Journalisten von stern, Spiegel, Zeit und - später - taz verbissen, der nicht gerade Stimmungsfördernd war. Der rechte Flügel der CDU fand ihn zu lasch, die Republik zu langweilig, die Wirtschaft zu wenig energisch, kurz: Kohl hatte wenig Fans. So wenig, dass die Wahlen 1991 als düstere Aussicht am Horizont erschienen und einen innerparteilichen Putsch auslösten. Kohls taktisches Geschick sicherte ihm ein zweites Mal in der sicher geglaubten Niederlage die Parteispitze, und es war Lothar Späth, der sich nie von dem Versuch erholen sollte. Kohl hatte stets einen langen Atem und ein Elefantengedächtnis, wenn es um Rache ging.
So oder so sah es allerdings 1989 danach aus, als ob Kohl vor allem als ein gescheiterter Kanzler in die Geschichte eingehen würde, vielleicht noch kurz vor Erhardt und Kiesinger, aber sicher nicht vor Adenauer, und wohl auch nicht vor Brandt und Schmidt. Sehr zum Chagrin der hartgesottenen Konservativen hatte er schließlich in guter bundesrepublikanischer Tradition die Ergebnisse der sozialliberalen Jahren, von Mitbestimmung über Ostpolitik, stehen lassen und sogar auf ihnen aufgebaut. Darin sehen wir zum ersten Mal Kohl, den Staatenlenker. So wie Willy Brandt nie danach trachtete, die Adenauer'sche Politik ungeschehen zu machen, sowenig suchte Kohl, die seine zu vernichten. Ändern, reformieren, umgestalten - gewiss. Aber abschaffen? Kohl war ein echter Konservativer, kein Republican.
Die eigentliche Schicksalsstunde aber schlug dann im Herbst 1989. War die schwarz-gelbe Regierung in den 1980er Jahren systemstabilisierend für die DDR gewesen (man erinnere sich nur an den Milliardenkredit Strauß'!), so nutzte er nun die Chance, die ihm die ostdeutsche Zivilgesellschaft verschafft hatte. Die Wiedervereinigung war die wohl größte außenpolitische Einzeltat in der ganzen bundesrepublikanischen Geschichte. Vier Alliierte und ein Satellitenstaat mussten alle von ihr überzeugt werden, dazu noch die eigene Partei und in guten Teilen das eigene Volk. Auch wenn heute viel Folklore über Spaziergänge mit Gorbatschow dabei ist, so zeigte sich hier doch deutlich, wie gereift Kohl im Gegensatz zu seinen frühen Ausbrüchen in die Außenpolitik war. Die Situation war ungeheuer chaotisch und mit Sicherheit auch in höchstem Maße stresserfüllt. Er blieb gelassen und verhandelte ein Jahr lang das effektive Ende des Kalten Krieges (auch wenn das damals, auch für ihn, noch nicht absehbar war).
Gleichzeitig zeigte sich hier auch wieder sein taktisches Genie. Es würde eine vorgezogene Bundestagswahl 1990 geben. Noch 1989 schickte die CDU ihre Leute nach Ostdeutschland, assimilierte die "Allianz für Deutschland" und wandelte sie innerhalb kaum eines halben Jahres in fünf neue Landesverbände der CDU um. Die Ressourcen des Staates, die ihm als Kanzler zur Verfügung standen, nutzte er für einen massiven Wahlkampf in seinem Sinne. Die Chancen seines Konkurrenten Lafontaine sanken stetig, aber der Todesstoß war vermutlich seine Entscheidung, gegen allen wirtschaftlichen Rat eine Währungsunion auf Basis 1:1 zuzulassen. Bis heute ist in höchstem Maße umstritten, ob politisch überhaupt eine andere Maßnahme wirklich realistisch war. Kohl gab damit aber bereits den Startschuss für die breit angelegte Deindustrialisierung der DDR.
In Teilen war diese angesichts des Stands der ostdeutschen Wirtschaft sicherlich unvermeidbar. Aber wo die Währungsunion und Reisefreiheit noch mit dem Druck des Augenblicks und den politischen Notwendigkeiten begründet werden konnten, gab es für die Treuhandanstalt und die absolute Ideenlosigkeit eines Umgehens mit den Verlierern der Einheit weniger Entschuldigung. Vielleicht war Kohl 1991 auch ähnlich erschöpft wie Willy Brandt es 1973 war. Jedenfalls erlaubte er es, dass die zweite Reihe der Partei den Profiteuren und Wirtschaftskriminellen freie Bahn ließ. Innerhalb von zwei Jahren war Ostdeutschland nicht voller blühender Landschaften, sondern voller Industrieruinen. Die großen Erwartungen, die er selbst aus wahlkampftaktischen Gründen genährt hatte, holten die Politik ein.
Die Zeit zwischen 1993 und 1998 wurde von praktisch allen Seiten als eine Zeit der Lähmung und des Stillstands empfunden. Für Progressive geschah zu wenig: in der Umweltpolitik, in der Familienpolitik, in der Wirtschaftspolitik. Für Liberale geschah auch zu wenig: viel zu wenig Deregulierung, viel zu viel Bürokratie, viel zu viel Staat. Bundespräsident Herzogs berühmte "Ruck-Rede" von 1997, die quasi der Startschuss für den Reformwahnsinn von 2002-2006 war, war mindestens so sehr an Kohl wie an die Gewerkschaften und anderen traditionellen Gegner der neoliberalen Wende gerichtet. 1998 trat Kohl gegen alle Vernunft ein weiteres Mal als Kanzler an, anstatt Schäuble das Feld zu überlassen. Er verlor krachend gegen Gerhard Schröder, nun als der Pattex-Kanzler, der seinen Sessel nicht aufgeben konnte. Vollends zerstört wurde sein Ruf in der Spendenaffäre 1998-2000, als er die Aufklärung massiv behinderte und für seinen eigenen Status lieber die Partei und, vor allem, Wolfgang Schäuble mit in den Untergang zog. Es war kein schönes Bild.
Heute ist das alles im Dunst der Geschichte verschwunden. Wie bei jeder historischen Person bleibt maximal ein prägender Moment zurück. Bei Kohl ist das die Wiedervereinigung. Sie nötigt schon allein deswegen Respekt ab, weil es sich um eine absolute Krisensituation handelte. Die obigen Kritikpunkte einmal beiseite: die Situation hätte in einem Desaster enden können. Es ist Kohls Verdienst, dass sie das nicht wurde, weil er im Moment größter Bedrohung den Staat sicher durch die turbulenten Zeiten brachte. Das ist genau das, was ein Kanzler können muss, egal, welcher Partei er angehört. Wir sehen um uns herum genug Beispiele von Staatenlenkern, die in einer Krise zusammenbrechen². Für Kohl war es die größte Stunde. Sie ist seine Legende.
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¹ Wenn es den Begriff damals schon gegeben hätte, Kohl hätte ihn geliebt.
² Man denke an Chamberlain 1938/39, an Bush 2005, May 2017. Umgekehrt kommt Kennedys ganzer Ruhm aus der einen gemeisterten Krise 1962.
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