Donnerstag, 24. März 2022

Gedanken zur Haushaltsdebatte

 

Ich schaue ja normalerweise eigentlich nie Politik im O-Ton, weder in Bundestagsdebatten noch in Talkshows. Aber das mag noch ein Überbleibsel der Merkel-Ära zu sein, denn die Haushaltsdebatte im Bundestag am 23.03.2022 hat mich dann doch genug interessiert, um die Wortbeiträge von Friedrich Merz und Annalena Baerbock komplett anzuschauen (warum die beiden? Weil Schnippsel von Baerbocks Rede in meiner Timeline landeten und ich den ganzen Kontext wollte). Die Haushaltsdebatte gehört zu den Ritualen des Parlamentarismus, an denen die ganz großen Leute aus Regierung und Opposition ihre Reden gegeneinander halten und an denen der parlamentarische Diskurs praktiziert wird. Im Idealfall kommen da rhetorische Meisterstücke heraus (etwa Lafontaine preisgekrönt 2007), allzu häufig eher nicht. Ich fand aber sowohl Merz als auch Baerbock bemerkenswert genug, dass ich die beiden etwas ausführlicher diskutieren will.

Starten wir mit Friedrich Merz, weil dessen Rede vor Baerbocks kam und sie sich explizit darauf bezieht.

Merz' Auftreten und Rhetorik sind in meinen Augen völlig in Ordnung, aber nicht außergewöhnlich gut. Er hält sich, aber ein mitreißender Redner ist er auch nicht (ich wüsste aber spontan in der aktuellen Riege niemanden, der an Lafontaine herankommen würde, der, ungeachtet seiner politischen Irrlichterei, eine rhetorische Naturgewalt war). Das ist ja aber auch nicht notwendig. Man kann Merz problemlos zuhören, er legt genügend Emotionen hinter seine Worte, wirkt nicht steif, erweckt den Eindruck, frei zu reden und seiner Sache sicher zu sein. Alles in allem eine runde, gute Performance. Mit Sicherheit kann er besser reden als Scholz, was im Hinblick auf den Wahlkampf 2025 schon einmal auf Wiedervorlage gelegt werden sollte.

Aber relevanter ist ja der Inhalt. Auffällig fand ich hier von Anfang an, dass Merz sich rhetorisch hinter die Ziele der Bundesregierung stellt. Anders kann er auch nicht, die CDU ist ja nun nicht eben gegen mehr Geld für die Bundeswehr, Hilfe für die Ukraine oder Widerstand gegen Putin. Merz muss hier aus purer Notwendigkeit staatstragend sein, wenn er die CDU nicht zu Deutschlands Republicans machen will, und das will er glücklicherweise nicht. Stattdessen beginnt er nach einigem einleitenden Lob zu Scholz' "Zeitenwende" das große "Aber" folgen, das jede solche Rede zwingend enthalten muss. Ich bin sehr glücklich darüber, dass hier in Deutschland unter den demokratischen Parteien ein großer gegenseitiger Respekt und eine ordentliche parlamentarische Kultur herrschen. Das ist ein Land, in dem ich gerne lebe und mit dem ich mich identifizieren kann.

Merz' folgende Kritik kapriziert sich dann erwartbar vor allem auf Detailfragen der Finanzierung (erneut, an der Zielrichtung hat er ja nichts auszusetzen). Dass die CDU an der Regierung auch nicht anders handeln würde als die Ampel ist dabei irrelevant; sie ist an der Opposition und keinerlei Sachzwängen unterworfen, da kann sie sich den Luxus reiner Ideale leisten, so wie es die vorherigen Oppositionsparteien Grüne und FDP ja auch konnten. Das ist nicht verwerflich. Merz' Kritik ist, dass das Sondervermögen der Bundeswehr von Scholz in die Zusage der "mehr als 2%" gerechnet wird, was ja auch wirklich mehr als ein bisschen unsauber ist, und dass die Verwendung des Sondervermögens für die Bundeswehr nicht so wasserdicht festgeschrieben ist, wie man sich das vorstellen könnte.

An der Stelle geht Merz in die Offensive: er wirft der Regierung implizit vor, das Geld nicht nur für die Bundeswehr ausgeben zu wollen, sondern auch für andere außenpolitische Projekte. Hier holt er kurz den Kulturkämpfer wieder hervor und macht den in der CDU/CSU beliebten Gegensatz von "feministischer Außenpolitik" und "Geld für Waffen" auf. Das wird für Baerbocks Antwort nachher relevant, hier ist es vor allem eine rhetorische Spitze, denn Merz kommt jetzt von der Kritik zum eigentlich inhaltlich relevanten Teil, in dem er konkrete Forderungen formuliert.

Da Scholz das Sondervermögen ins Grundgesetz schreiben will, braucht er die Mitarbeit der Union. Merz ist bereit diese zu geben (erneut: das ist nicht die zerstörerische GOP), aber (natürlich) nur unter Bedingungen. Meine Vermutung ist, dass Scholz die GG-Regelung will, um einerseits die Mitarbeit der CDU/CSU zu erzwingen und andererseits die Schuldenbremse verfassungsrechtlich sauber zu umgehen (was in meinen Augen nur einmal mehr zeigt, was für ein beknacktes Instrument sie ist, aber lassen wir diese Diskussion erst einmal beiseite). Merz vollführt nun ein Manöver, bei dem ich sehr unsicher bin, ob es brillant ist oder nicht eher gefährlicher Unfug: er erklärt, nur so viele Unionsstimmen bereitzustellen, wie die Ampel braucht, um eine Zwei-Drittel-Mehrheit zu erreichen, aber nicht eine mehr. In einem rhetorischen Höhepunkt der Rede, in dem auch seine ganze Emotion herauskommt, wehrt er die Idee ab, dass die Unionsfraktion ein Reservoir von Ersatzstimmen sein könnte.

Das ist auf der einen Seite sehr clever. Es gibt in der Koalition genug Spannungen, die wahrscheinlich machen, dass einzelne Abgeordnete nicht mitmachen: linke Putin-Versteher wie Stegner, grüne Radikalpazifist*innen, liberale Schuldenbremsefundamentalist*innen. Im Idealfall erzwingt er eine Verknüpfung mit der Vertrauensfrage. Merz dürfte gut das Verhalten der FDP 2009-2013 vor Augen haben (das er übrigens explizit angreift, woraufhin eine gewaltige Unruhe im Plenum ausbricht), die seinerzeit der Koalition die Mehrheit verweigerte, und auch das Verhalten der SPD, die staatstragend die fehlenden Stimmen bereitstellte. Das aber, auch das hat er vor Augen, ist natürlich eine Falle: die SPD profitierte von ihrer staatstragenden Verantwortung nie, selbst unter Schwarz-Gelb wirkte sie wie ein Koalitionspartner. Diesen Eindruck muss Merz vermeiden; er zeigt sich hier schon als wesentlich besserer Stratege als sämtliche SPD-Vorsitzenden seit Schröder.

Nur, und das ist das, wo ich mir bezüglich der Brillanz des Manövers unsicher bin, letztlich ist diese Forderung Merz' ein gewaltiger Bluff, weil er das ja gar nicht garantieren kann. Er hat nicht die formale Macht, die Unionsabgeordneten dazu zu zwingen, einerseits in der exakt benötigten Personenstärke zur Abstimmung anzutreten und andererseits deren Abstimmungsverhalten zu kontrollieren. Natürlich wird er, mit der Erfahrung als ehemaliger Fraktionsvorsitzender, schon wissen, was er tut und sein Bestmögliches in der Vorauswahl zu leisten. Aber garantieren kann er es eben nicht. Das macht dieses Manöver zu einer haarigen Geschichte. Ich bin in Parlamentsverfahren zu unbelesen um zu wissen, ob die Abstimmung namentlich ist (ich vermute?), was natürlich wieder disziplinierend wirkt, aber wenn Merz es tatsächlich "auf die Stimme genau" macht (und nur dann wirkt das Ganze wie es soll), ist das ganz schön kritisch. Deutscher Parlamentarismus, taktisch geschickt, riskikoreich und spannend? Sign me up.

Als letzte Bemerkung zu Merz sei hier erwähnt, dass er den Anspruch der Union, "die beste Opposition aller Zeiten" sein zu wollen einzulösen zu versuchen scheint. Aus seiner ganzen Haltung, der Kritik, die er vorbringt und der Strategie, die er einschlägt, spricht das Selbstverständnis der Kontrolle der Regierung. Die ganze kleinteilige Kritik an den Finanzierungsplänen bei gleichzeitiger Unterstützung der Richtung entspricht 1:1 dem geäußerten Anspruch und schafft so eine rundere, in sich ruhendere CDU, als dies in den letzten Jahren der Fall war.

Mein Fazit: Auch wenn ich die inhaltlichen Punkte natürlich ablehne, komme ich nicht umhin, Merz' taktisches Geschick und seine Risikobereitschaft zu bewundern und seine parlamentshygienisch positive Haltung zu loben. Chapeau. Kommen wir zu Baerbock, die in vielerlei Hinsicht eine Replik auf Merz darstellt.

Baerbock hat in den letzten Monaten echt einen Lauf. Ich frage mich andauernd, wo diese Frau im Bundestagswahlkampf war. Warum hat sie nicht für das Kanzlerinnenamt kandidiert? Das wäre echt was gewesen. Stattdessen haben die Grünen ihren Zwilling aufgestellt, vermute ich. Irgendsowas.

Das fängt schon bei der Rhetorik an. Auch Baerbock schafft es, wie Merz, die richtige Mischung aus Emotion und Sachlichkeit zu finden, eine ganze eigene Sprache für das, was sie vertritt. Genauso wie Merz' staatstragende, aber streng kontrollierende Opposition einen Weg zwischen platter Blockade und allzu konstruktiver Mitarbeit finden muss (was der SPD nie gelang), so muss Baerbock einen weg zwischen pragmatischer Zurückhaltung und wertegleitetem Realismus finden. Jeder Ausschlag zu sehr in eine der beiden Richtungen schafft ihr (und der deutschen Außenpolitik) Probleme. Die Rede ist ein Musterbeispiel dafür, wie ihr das gelingt.

Sie steht, wie auch Habeck, für das Problem, der eigenen Partei eine Politik verkaufen zu müssen, die nicht unbedingt zu den Herzensangelegenheiten der Partei gehört, um es milde auszudrücken. Der größte Vorteil der Grünen hier ist, dass es allen anderen auch so geht: die SPD hat die gleichen Phantomschmerzen bezüglich eines falsch verstandenen Pazifismus, wenn nicht noch mehr, und die FDP muss irgendwie über den eigenen Schatten springen und den Gedanken an einen ausgeglichenen Haushalt begraben (offiziell erstmal bis 2024, aber das ist nichts als Rhetorik). Über die CDU hatten wir es ja oben schon. Dieser geteilte politische Schmerz schweißt natürlich zusammen.

Daher auch das Zitat, das die Welt zurecht oben besonders hervorhebt: Baerbock greift ein wenig in die "Blut, Schweiß und Tränen"-Kiste der Rhetorik und erklärt die erhöhten Militärausgaben und Waffenlieferungen zur bitteren Notwendigkeit, die "nicht stolz macht", aber etwas ist, "das wir tun müssen". Ich halte das für einen cleveren Kompromiss, aber ich bin kein Grüner; ich habe meinen Daumen nicht am Puls der Basis.

Baerbocks größte Herausforderung ist aber, den hohen Ansprüchen zu genügen, die sie sich selbst gesetzt hat (anders als die anderen Außenminister seit mindestens Fischer, die eher keine großen Ambitionen hegten) und die unter den Schlagworten "wertegeleitete Außenpolitik" und "feministische Außenpolitik" agiert. Beide Begriffe öffnen Baerbock im Speziellen und die Regierung im Allgemeinen gegenüber kulturkämpferischen Attacken, wie Merz sie auch mit Blick auf gegnerische Schwächen sofort durchführt, und die Partei muss sich durchaus die Frage gefallen lassen, ob nicht zumindest die begriffliche Übernahme der "feministischen Außenpolitik" angesichts des baggage, den der Begriff "Feminismus" mit sich bringt, ein Fehler war und es nicht gereicht hätte, "wertegeleitet" zu verteidigen statt gleich einen Zwei-Fronten-Krieg zu führen. Das wird die Zeit zeigen.

Die Außenministerin ist aber natürlich gezwungen, auf Merz' Angriff zu reagieren. Er war recht vorhersehbar, weswegen ich ihr nicht zu viel Improvisationstalent zugestehen will (wenn sie sich darauf nicht vorbereitet hat, wäre das echt unprofessionell), aber sie verkauf ihre Erwiderung zumindest sehr gelungen als etwas, das aus der Emotion des Augenblicks kommt. Bemerkenswert ist, dass sie nicht vor Emotionen zurückscheut. Dies sorgt für die vorhersehbar ironische Reaktion Merz', der sich theatralisch an die Brust greift und die Augen aufreißt, um genau diese Emotion lächerlich zu machen. Anders als andere prominente Politikerinnen vor ihr, von Hillary Clinton zu Angela Merkel, greift sie offensiv nach sowohl Emotion als auch Werten zur Rechtfertigung der eigenen Politik ("Mir bricht das Herz").

Exemplarisch deutlich wird das in der sehr gelungenen Retorte zu Merz' Vorwurf. Baerbock greift auf ihren Besuch auf dem Balkan zurück und erinnert an den Völkermord von Srebrenica. Das ist aus mehreren Gründen geschickt. Es nimmt die eigene Partei und die SPD in die Verantwortung, weil es die Erinnerung an den Kosovo-Krieg wachruft - und auch an das Schließen der Reihen, Farbbeutelwurf und alles inklusive. Und das, ohne es explizit zu erwähnen. Damit macht sie den ersten Antwortzug auf Merz' parlamentarisches Mehrheitsspiel und sucht die Einigung der Koalition. Gleichzeitig nimmt sie aber auch die CDU und FDP in Verantwortung, weil Srebrenica in die schwarz-gelbe Koalitionszeit unter Kohl fällt und ein Versagen des Westens war, dem Morden Einhalt zu gebieten.

Auf dieser Basis pivotiert sie dann dazu, sich mit den weiblichen Opfern unterhalten zu haben, die Opfer von Vergewaltigung als Kriegswaffe wurden, was Baerbock zu der vernichtenden Anklage an die Welt von 1995 bringt, dass das damals nicht einmal anerkannt war. Hier schnappt die Falle an Merz zu, denn genauso wie der in der eigenen Unterstützendenschaft garantierten Applaus für die Gegenüberstellung von "feministischer Außenpolitik" und "Waffen für die Bundeswehr" bekam, so ist Baerbock der Applaus hier sicher. Denn die implizite Assoziation ist für Eingeweihte mehr als deutlich: Vergewaltigung wurde 1995 nicht als Kriegswaffe, nicht als Problem anerkannt. 1997 stimmte Friedrich Merz dagegen, Vergewaltigung in der Ehe als Strafbestand anzuerkennen. Meine Timeline war voll von diesem Vergleich; ich glaube nicht, dass Baerbock diese Assoziation vollkommen unklar war. Das ist rhetorisch sehr clever.

Auch für Baerbock gilt daher: beeindruckendes rhetorisch-parlamentarisches Taktieren. Hier sind Leute, die echt mit Plan und Ambition vorgehen. Ich bin vom hohem Niveau des parlamentarischen Diskurses und der politischen Auseinandersetzung seit der Wahl wirklich sehr angetan. Bei Gelegenheit muss ich mich auch näher mit Scholz und Lindner auseinandersetzen, denn die beiden zeigen ihre jeweils eigenen entsprechenden Strategien und Fähigkeiten. Aber das verschiebe ich auf das nächste Mal.

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