Montag, 28. März 2022

Rezension: Isabel Wilkerson - Caste. The lies that divide us

 

Isabel Wilkerson - Caste. The lies that divide us

Der Umgang mit dem Holocaust war und ist für die Deutschen ein schmerzhafter und von Konflikten und Auseinandersetzungen geprägter Prozess. Von der Weigerung, sich damit zu befassen, zu dem Versuch, eine klare Trennung zwischen einigen wenigen "bösen Nazis" und dem Rest der unwissenden, unbescholtenen Mehrheit zu ziehen bis hin zu dem qualvollen Prozess der Anerkennung, dass Mitwissendenschaft und sogar Mittäter*innenschaft wesentlich weiter verbreitet waren als vorher wahrgehabt dauerte es Jahrzehnte. Der Prozess ist noch immer nicht abgeschlossen, hat seine blinden Stellen und zwingt uns ständig zur immer wieder neuen Auseinandersetzung. Ich erwähne diese Geschichte deswegen, weil solche Auseinandersetzungen mit der eigenen Vergangenheit keine Selbstverständlichkeit und nicht die Regel sind. Dass die ständigen Rufe nach einem Schlussstrich bisher in Deutschland nicht verfangen konnten, ist ein kleines Wunder. Solche Auseinandersetzungen aber sind nicht exklusiv für uns. Großbritannien beginnt langsam, sich mit seiner Kolonialgeschichte auseinanderzusetzen, und die USA führen seit mehreren Jahren einen scharfen Kampf um das Erbe von Sklaverei und Rassismus, der noch in seinem Anfangsstadium steckt. Es ist vor diesem Hintergrund, vor dem man Isabel Wilkersons Buch "Caste. The lies that divide us" gesehen werden muss. Es gibt zahlreiche Abhandlungen über Rassismus, die sich in einer erschreckenden Geschichte nach der anderen erschöpfen. Wilkerson hat, obwohl sie mehr als genug Geschichten in diesem Kontext zu erzählen hat, eine andere Zielrichtung vor. Sie versucht, ein neues Theoriesystem zu schaffen, um über den Rassismus in den USA, seine Natur und seine Wurzeln nachzudenken. Ihre These: es geht nicht so sehr um Rassismus, sondern um das Schaffen eines Kastensystems. Dazu weitet sie den Blick und zieht das nationalsozialistische Deutschland und das indische Kastenwesen als Vergleiche heran.

Ihre grundsätzliche These ist, dass der (amerikanische) Rassismus nicht nur verstanden werden darf als ein individuelles Element abwertender Haltungen, sondern als die Gesellschaft ordnendes und strukturierendes System. Sie verwendet dazu den Begriff "Kaste". Die Gesellschaft ist in mehrere Kasten unterteilt, denen unterschiedliche Wertigkeiten zugesprochen werden und für die andere Rechte und Gesetze gelten, mal explizit - wie etwa während der Sklaverei oder der späteren Segregationsphase -, mal implizit bei der Benachteiligung von Jobs, den Morden durch die Polizei und vielem mehr.

Der Beginn dieses amerikanischen Kastensystems findet sich im Jahr 1619, als die ersten Sklaven amerikanischen Boden betreten. Es ist also fast so alt wie die angelsächsische Besiedlung des Kontinents selbst. Dieser lange Zeitraum von über 400 Jahren ist es auch, der zu der tiefen Verankerung dieses Kastensystems in der amerikanischen Gesellschaft führte, die zwar von den US-Konservativen harsch bestritten wird, aber geschichtswissenschaftlich eindeutig feststellbar ist. Wilkerson zeichnet die Genese dieses Kastensystems nach, das zu Beginn grundsätzlich noch rechtlich gleichberechtigte schwarze Bürger*innen der Kolonien kannte, aber unter dem vergiftenden Einfluss der Sklaverei zunehmend zu einer biologisch begründeten Kastenordnung überging, die in den 1700er Jahren fest installiert war und selbst freien Schwarzen keinen gleichen Status zuerkannte.

Aus diesem System heraus bildeten sich zahlreiche soziale Konventionen und institutionelle Normen, die zu guten Teilen bis in die heutige Zeit überdauert haben. Anhand von Praxisbeispielen führt Wilkerson eine theoretische Unterfütterung ein, unter anderem "Die Acht Säulen der Kaste" und zahlreiche Wirkungsmechanismen. Dabei zieht sie immer wieder den Vergleich zum Nationalsozialismus einerseits heran, in dem ein neues Kastensystem aus dem Boden gestampft wurde, das auf einem übersteigerten Rassismus basierte, und das indische Kastensystem, das nicht von rassischen, sondern eher klassismischen Systemen ausgeht und religös untermauert ist.

Die Stärke dieser Vergleiche finden sich vor allem dann, wenn etwa aufgezeigt wird, wie sehr Amerika für die Nationalsozialisten ein Vorbild war. Die jüngere Holocaustforschung hat darauf immer wieder hingewiesen, aber Wilkerson zeigt besonders deutlich, dass die amerikanische Rassengesetzgebung den NS-Funktionären ein Vorbild war, das sie aber nicht komplett umsetzten, weil es ihnen zu radikal war (!). Diese Vergangenheit ist in den USA völlig weichgewaschen und weitgehend noch nicht aufgearbeitet. Auch die Strukturen des indischen Kastenwesens helfen, weil es wegen seiner langen Bestehenszeit das besterforschte Kastensystem ist und so ebenfalls zahlreiche Vergleiche zulässt, vor allem was den Umgang mit der niedrigsten Kaste anbelangt, zu der Wilkerson ein widerwärtiges und fürchterliches Beispiel nach dem nächsten bringt.

Diese Vergleiche finden allerdings auch deutliche Grenzen, die immer wieder die Frage aufbringen, ob Wilkerson sich wirklich einen Gefallen damit getan hat. So düster faszinierend die Traditionslinien der Nürnberger Rassegesetze gegenüber den Jim-Crow-Gesetzen sind, so fällt doch in Details immer wieder auf, dass Wilkerson nicht firm in der Geschichte ist, etwa wenn sie bezüglich der Lynchings, bei denen die Weißen Souvernirs der getöteten Afroamerikaner*innen kauften und ausstellten, behauptet, dass nicht einmal die Nazis so etwas getan hätten. Ich stand nur von einer Museumsscheibe getrennt vor einer NS-Geldbörse aus Menschenhaut, das ist leider nicht wahr. Auch die vorbildhaft herangezogene deutsche Vergangenheitsbewältigung steckt voller Detailfehler. Das alles bringt die Frage auf, ob bei der (mir nicht besonders bekannten) indischen Geschichte ähnliche Fehler sind. Wilkersons journalistische Wurzeln scheinen hier deutlich durch, die einer klaren und guten Geschichte den Vorzug vor historischer Akkuratheit zu geben scheinen.

Das allerding ist Detailkritik. Die eigentliche Argumentation besteht problemlos aus eigener Kraft, so sehr, dass sich die Frage stellt, ob der (ohnehin nicht kohärent durchgehaltene) Ansatz des Vergleichs und der Allgemeingültigkeit nicht einfach ein Sich-Übernehmen der Autorin darstellt. Denn ihre scharfsinnige Betrachtung der Geschichte und Funktionsweise des amerikanischen Kastensystems hätte ja auch mit einem einzelnen Kapitel zu den Einflüssen auf die Rassegesetze einerseits und die ähnliche Funktionsweise Indiens andererseits genügt. Aber zurück zur Substanz.

Wilkerson zeichnet das amerikanische Kastenwesen aus der Genese der Sklaverei nach. Es umfasst auch von Anfang an mehr als nur die simple binäre Ordnung Weiß vs. Schwarz. Die indigene Bevölkerung, Einwander*innen aus dem nicht angelsächsischen (und, absurderweise, skandinavischen Raum, der in einer beängstigenden Parallele zum NS-Rassenwahn laut Wilkerson in den USA höher geschätzt wird als eine Herkunft aus England!) weißen Europa, Einwander*innen aus Süd- und Osteuropa, Lateinamerikaner*innen, asiatische Einwander*innen, karibische Einwander*innen, Inder*innen - alle werden in eine differenzierte rassische Kastenhierarchie sortiert, in der nur eines beständig ist: Schwarze sind ganz unten. Und selbst die Schwarzen selbst werden, wie Wilkerson mit scharfem Blick analysiert, intern in Unterkasten sortiert.

Die Sklaverei stellt sicherlich den Höhepunkt der blutigen Ausbeutung, Unterdrückung und Ermordnung der Afroamerikaner*innen dar. Aber das in den USA so lange gehegte Narrativ, dass die Emanzipation mit Ende des Bürgerkriegs das Problem quasi gelöst habe, dass aber spätestens Martin Luther King es beseitigt habe, wird von Wilkerson klar zerlegt. Der Horror der Sklaverei wird in den Südstaaten praktisch sofort durch neue Strukturen - Stichwort Jim Crow - ersetzt, die die Schwarzen weiterhin unten halten, und durch brutalen und tödlichen Terror durchgesetzt. Es handelt sich um ein rassistisches Terrorregime, das den Vergleich mit Besatzungsregimen des 20. Jahrhunderts in Osteuropa nicht zu scheuen braucht, ein Kapitel der Geschichte, das die Hälfte des amerikanischen politischen Spektrums gerade per Gesetz totzuschweigen versucht. Die Lynchjustiz, die über mehr als 70 Jahre ungehemmt im Süden der USA herrschte und der zehntausende von Menschen zum Opfer fielen, ist einer kollektiven, bewussten Amnesie unterworfen, die erst seit den späten 2010er Jahren langsam gelüftet wird.

Doch das Ende der Sklaverei brachte das Kastensystem des Südens paradoxerweise auch nach Norden. Die Freiheit der Schwarzen, ihren Wohnort und ihr Glück im Norden zu suchen, brachte diesen dazu, eine jahrhundertelange Trennung aufzuheben - die zwischen Nord und Süd - und ebenfalls ein Kastensystem zu installieren, das zwar nicht so blutig wie das Terrorregime des Südens war, aber an Effektivität wenig nachstand. Systematisch wurden Schwarze am sozialen Aufstieg gehindert, diskriminiert und an ihre untergeordnete Stellung erinnert.

Wilkersons Verdient ist weniger, die Geschichte nachzuzeichnen (wobei sie das als herausragende Journalistin mit großem Geschick tut), sondern dem Ganzen durch ihre Begrifflichkeit und theoretischem Unterbau der Kaste Struktur und Erklärungsgehalt zu geben. Anstatt vor individuellen Akten des Terrors und der Unterdrückung zu stehen und kopfschüttelnd zu fragen, wie "damals" so etwas geschehen konnte, zeigt sie die Logik eines Systems auf - und wie es sowohl Unterdrückende als auch Unterdrückte in seinen eigenen Erhalt zwingt, von der Rekrutierung armer weißer Südstaatler in Sklavenpatrouillen zu heutigen selbsternannten Vigilanten und Bürgermilizen, die den Erhalt der "Ordnung" auf sich nehmen. Der Vergleich mit der deutschen Holocaustverarbeitung drängt sich auf, wo die Erkenntnis, dass es eben nicht einige wenige moralisch pervertierte Täter in einem mystischen "früher", sondern ein systemischer Massenmord war, ebenfalls eines langen und schmerzlichen Prozesses bedurfte.

Wilkerson weist auch immer wieder darauf hin, dass der Erhalt dieses Kastensystems nicht nur der unterdrückten Kaste schadete, sondern auch der durchsetzenden Kaste selbst (in einer gespenstischen Parallele zu "Das Patriarchat schadet allen"). Seit 400 Jahren leben die Weißen in den USA bei Kontakt mit Schwarzen in einem ständigen Stresszustand, früher weil man stets Rebellion befürchten musste, heute wegen völlig überzogener Kriminalitätsbefürchtungen. Neben diesen gesundheitlich-emotionalen Kosten leidet die herrschende Kaste auch unter anderen sehr realen Kosten. Wilkerson geht auf diese Aspekte nicht schwerpunktmäßig ein, aber ich halte sie für mehr als diskussionswürdig. Das Ausmaß, in dem das amerikanische Kastensystem - und weniger die liberale Philosophie, die die USA ja durchaus mit Großbritannien teilen - die Struktur des Landes bestimmt, ist atemberaubend.

So etwa das lange Wehren der USA gegen auch nur den geringsten Sozialstaat. Während in Europa ein Land nach dem anderen Grundsicherungen einführte, kamen diese in den USA erst ein halbes Jahrhundert später im Rahmen des New Deal, und auch dann mit so vielen komplizierten und ineffizienten Einschränkungen, damit ja keine Schwarzen in ihren Genuss kommen konnten. Die Verabschiedung einer allgemeinen Krankenversicherungen im Rahmen dieser Reformen scheiterte an den Democrat-Südstaatlern, die verhindern wollten, dass Schwarze davon profitieren. Als ab den 1950er Jahren die Desegregierung erzwungen wurde, reagierten die Südstaaten mit einer geradezu absurden Selbstverletzung.

Diese ist übrigens glaube ich der Teil der ganzen Geschichte, der am heftigsten unterdrückt wird. So kennen heute alle einschlägig Gebildeten zwar die Geschichte von Little Rock, wo Bundestruppen schwarzen Schüler*innen den Zugang zur Schule erzwangen (spätestens die aus heutiger Sicht problematische Szene aus "Forrest Gump" ist vielen geläufig), aber praktisch niemand, wie es weiterging. Die Schüler*innen wurden von ihren weißen "Mitschüler*innen" systematisch ausgegrenzt und körperlich attackiert. Sie bekamen kein Essen und nachdem die Bundestruppen verschwunden waren, wurden sie aus der Schule herausgedrängt. Um der Desegregierung zu entgehen, schlossen die öffentlichen Schulen für mehr als anderthalb Jahre komplett, in denen es einfach für niemanden Unterricht gab - nur damit die Schwarzen nicht auch zur Schule konnten! Danach eröffneten die Schulen als Privatschulen wieder, denen das oberste Gericht der herrschenden Kaste, der Supreme Court, das Recht auf Diskriminierung bis heute zugesteht, und die Segregation hielt an.

Dasselbe Spiel findet sich in Parks, Schwimmbädern und anderen öffentlichen Einrichtungen. Als die Rechtsprechung des Supreme Court ihre Desegregierung erzwang, öffneten sie nicht für alle, sondern wurden komplett geschlossen. Zahlreiche Städte gingen soweit, ihre Schwimmbäder mit Beton auszugießen, damit sie nicht gezwungen werden konnten, diese für Schwarze zu öffnen. Die öffentlichen Institutionen wurden privatisiert, geschlossen oder ihrer Mittel beraubt. Diese atemberaubende Vernichtung öffentlicher Güter geschah zur Aufrechterhaltung des Kastensystems.

Auch andere Mechanismen dieses Systems verschlagen einem die Sprache. Die berühmte amerikanische Demokratie etwa dient ebenfalls direkt der Aufrechterhaltung des Kastensystems. Die in den USA gewählten "school boards", über die Eltern massiven Einfluss auf Unterricht, Bildungspläne und Schulen erhalten, sind bis heute deutlich weiß dominiert. In den Südstaaten stellten die weißen "school boards", die auch für schwarze Schulen zuständig waren, immer die schlechteren Kandidaten ein - damit die Qualität der Schulen, die zudem keine Finanzmittel erhielten, mit Sicherheit schlecht war. So erhielten die guten Kandidat*innen keine Jobs, sondern nur die Schlechten, ein System, das sich auch durch die Privatwirtschaft zog und die generationenlang eingeübte Tradition schuf, auf keinen Fall gut in der Schule zu sein - was die herrschende Kaste dann wiederum zur Rechtfertigung des Kastensystems nutzte, weil die untere Kaste ja offensichtlich nichts taugt.

Ich könnte endlos so weitermachen. Das Buch ist voll mit diesen Beispielen, die die Funktionsweise des Kastensystems in über 30 geordneten Kapiteln untermalen. Selbst für jemanden, der sich mit dieser Geschichte bereits recht gut auskannte, ist es voll mit Details und Analysen, die das Ganze in einen Zusammenhang setzen, der in seiner erschreckenden Allumfassenheit vorher schlicht undenkbar schien. Diese Lektüre ist schmerzhaft, aber sie lohnt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.