Samstag, 1. September 2018

Flugzeugträgerkapitäne in Chemnitz kaufen zu viele Eigenheime und diskutieren den Sozialismus - Vermischtes 01.09.2018

Die Serie "Vermischtes" stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Das lange Schweigen der sächsischen Regierung
Drei Jahre danach ist die Polizei mit solchen Situationen immer noch überfordert. In Heidenau mussten sich die Beamten zurückziehen damals, sie überließen den Neonazis das Feld. Auch in Chemnitz wirkte die Polizei nun hilflos: 800 Menschen konnten durch die Stadt ziehen, als gehöre sie ihnen. Dass nicht Schlimmeres passierte, war reines Glück. Von Staatsversagen zu sprechen, ist deswegen keine Übertreibung. Es ist ein Staatsversagen, das weit zurückreicht. Über Jahrzehnte hinweg hat die sächsische Regierung Rechtsextremismus verharmlost. Sie ließ zu, dass sich weitreichende Strukturen entwickeln konnten. Sie kriminalisierte zuweilen sogar jene, die sich diesen Strukturen entgegenstellten. Bis heute greift in Sachsens CDU der alte Mechanismus: Wer den Rassismus und Rechtsextremismus thematisiert, der begeht Sachsen-Bashing. Die Medien: berichten angeblich immer nur negativ über dieses ach so schöne Bundesland. Diese Haltung sickerte in die Justiz ein, in die Sicherheitsbehörden, in die Kommunen. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der hässlichen Wahrheit hat auf der obersten politischen Ebene bis heute nicht stattgefunden. Es reicht nicht, dass Ministerpräsident Michael Kretschmer, CDU, die Schirmherrschaft für ein Friedensfest übernimmt, das sich gegen Rechtsextreme richtet, es reichen auch nicht harte Haftstrafen gegen die Mitglieder der Terrorgruppe Freital - solange die Strukturen, die deren Bildung überhaupt begünstigten, immer noch existieren. Angesichts der jüngsten Szenen in Chemnitz stellt sich die Frage, ob die nächste Terrorgruppe nicht längst im Werden ist, im Erzgebirge, in der Sächsischen Schweiz. Die sächsische Regierung muss endlich begreifen, dass Rechtsextremismus eine Bedrohung darstellt: eine Bedrohung für Menschen mit anderer Hautfarbe, eine Bedrohung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Es ist eine Bedrohung, die mit aller Macht bekämpft werden muss. Doch Ministerpräsident Kretschmer hat nach den Ausschreitungen lange geschwiegen, bis er sich dazu durchringen konnte, die rechtsextreme Stimmungsmache zu verurteilen. Das ist eine Schande für Sachsen. (SZ)
Der laxe Umgang mit Rechtsextremisten, den die CDU an den Tag legt, ist ein Schandblatt. Sobald irgendwo die Antifa aufläuft, werden sofort Hundertschaften mobilisiert (zurecht!), aber wenn Nazis Ausländer durch die Straßen jagen oder Politterror begehen, dann fühlt sich die Staatsmacht überfordert. Gerade in Sachsen ist das ein riesiges Problem, das ewig einfach geleugnet wurde. Aber statt dass da die ganze Gesellschaft aufsteht, wo es glasklar gegen Nazis geht, die auf den Fotos in Glatzen Hitlergruß zeigen, haben wir unseren eigenen Charlottesville-Moment: in der FAZ fabulieren sie von "Rechten und Bürgerlichen", die gegen "Linksextreme" kämpfen, während die BILD sich den Umweg gleich schenkt und die "linken Chaoten" für die Geschehnisse verantwortlich macht. Die sächsische CDU versucht sich auch darin, beide Seiten irgendwie zur Verantwortung zu ziehen, statt das zu tun, was jeder aufrechte Demokrat tun sollte: gegen Nazis sein, immer und überall. Es ist dieser unbändige Wunsch, die Geschehnisse nicht als originäre Nazi-Orgie zu sehen, der dahinter steckt. Es muss einfach Merkels Flüchtlingspolitik sein, wie es immer Merkels Flüchtlingspolitik sein muss. Und deswegen können es auch nicht Nazis sein, wenigstens nicht nur, denn das Narrativ der ehrlich empörten Wutbürger, die vor allem der Bruch des Dublin-II-Abkommens und nicht etwa dumpfer Rassismus umtreibt, ist den Leuten einfach zu wichtig. Hier zeigt sich dann auch das moralische Versagen der FDP besonders deutlich. Wenn Kubicki etwa erklärt, dass "die Wurzel" der Gewalt in Chemnitz Merkels Politik sei oder Lindner sekundiert, sie habe "unsere politische Kultur zum schlechten verändert", sehen wir das besonders deutlich. Nein, Herr Kubicki, das sind Nazis, die Gewalt ausüben. Die muss man nicht in Schutz nehmen, um am rechten Rand nach Stimmen zu fischen. Das erinnert fatal an die Ausflüchte von gemäßigten Linken, bei denen die Ausschreitungen vom Schwarzen Block und Antifa auch grundsätzlich immer durch Polizeigewalt provoziert sind und die eigentlich ja gar nichts mit der eigenen Bewegung zu tun haben. Aber es ist diese Art von Legitimisierung, die diese Bewegungen am Leben hält. Und in Sachsen (oder Thüringen oder oder oder) geht es halt nicht um Sachbeschädigung, sondern Körperverletzung und Mord.

Möglichst viele Menschen sollen also die vier Wände, die sie bewohnen, auch besitzen. Diese Idee hat sich fest ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Der Besitz eines Eigenheims gilt in der Schweizer Politik als eine gute Sache. Doch ist das wirklich so? Ist Wohneigentum wirklich erstrebenswert? [...] Die Ökonomie des Eigenheimbesitzes ist zugegebenermassen etwas unlogisch. Vergleicht man nämlich Individuen miteinander, so stellt man fest: Je reicher eine Person ist, desto eher besitzt sie ein Eigenheim (wie Sie in Ihrem Bekanntenkreis wohl unschwer feststellen werden). Vergleicht man allerdings geografische Gebiete miteinander, so gilt: Je reicher ein Gebiet ist, desto weniger Eigenheimbesitzer gibt es da. Der Widerspruch löst sich auf, wenn man sich die ökonomischen Argumente zum Eigenheimbesitz genauer anschaut. [...] Lässt man das fragwürdige Argument weg, wonach Eigenheimbesitzer die besseren Gemeindebürger sind, so zeigt sich unter dem Strich: Der Nutzen des Wohneigentums fällt überwiegend beim Individuum an. Der Schaden entsteht dagegen beim Kollektiv, bei der Volkswirtschaft. Lohnt sich also das Wohneigentum? Der Ökonom Andrew Oswald kommt in einem Buchbeitrag zu einem ziemlich klaren Schluss: «The world would be a better place if nearly everyone rented their homes.» Die Welt wäre also ein besserer Ort, wenn wir fast allesamt Mieter wären, sagt Oswald. Zu dieser Schlussfolgerung kam er, indem er US-Bundesstaaten hinsichtlich ihrer Wohnsituation verglich. Und feststellte: Staaten, in denen die Wohneigentumsquote stieg, verzeichneten in der Folge eine höhere Arbeitslosigkeit. Das Paper ist bei CNBC und beim «Independent» zusammengefasst. [...] Der Markt für Immobilien, Hypotheken und Eigenheime ist gesetzlich verzerrt – und dies wirkt sich auf die Volkswirtschaft unter dem Strich nicht förderlich aus.
Das ist eine spannende Untersuchung. Ich gehe davon aus, dass sich die Zahlen in Deutschland nicht wesentlich von der Schweiz unterscheiden werden, was das angeht. Der Besitz eines Eigenheims ist tatsächlich in den meisten westlichen Staaten erklärtes Ziel der Politik und wird mal mehr, mal weniger stark gefördert (in Deutschland fiel die entsprechende Förderung dem allgemeinen Sparwahn zum Opfer). Das volkswirtschaftliche Argument ist auch interessant. Ich denke aber, der Artikel vergisst einen wichtigen Faktor: Leute, denen die bewohnte Immobilie gehört, gehen wesentlich pfleglicher mit ihr um und investieren mehr in sie und ihren Erhalt beziehungsweise Renovierung und Ausbau. Kein Mieter hat ein großes Interesse an Investitionen in eine gemietete Immobilie. Das ist beim Besitzer anders. Zudem ist der private Immobilienmarkt für die Finanzwirtschaft ja auch wichtig. Hier gibt es vergleichsweise große und sichere Gewinnmargen (wenn man nicht gerade in Subprime investiert...), was vor allem für Wald- und Wiesenbanken relevant ist (weniger für Goldman Sachs). Auch volkswirtschaftlich relevant: Eigenheimbesitzer sind nicht flexibel, was wiederum wirtschaftliche Folgen hat - sie ziehen für Jobs im Allgemeinen nicht weg und nehmen meist auch keine an, die einen längeren Fahrtweg bedeuten - was auch wieder volkswirtschaftlich relevant ist, und so weiter.
Zudem darf man nicht die politischen Folgen vergessen, die am Eigenheim hängen. Das gilt besonders für die Kommunalpolitik. Diese wird von den Besitzern von Immobilien völlig dominiert (ganz besonders von solchen, die auch noch Land besitzen). Mieter interessieren sich bei weitem nicht so sehr für Kommunalpolitik wie die Besitzer des jeweiligen Eigenheims, und das ist ein Kreislauf, der sich selbst füttert. Bedenkt man die große Stellung des eigenen Hauses gerade in der süddeutschen Mentalität (der "schwäbische Traum" nenne ich es immer), wird klar, dass die volkswirtschaftlichen Argumente zwar schon irgendwie stichhaltig sind, aber politisch überhaupt nicht durchsetzbar sind. Zudem ist die eigene Immobilie für viele immer noch die beste und sicherste Form der privaten Altersvorsorge. Und an der Altersvorsorge herumzuspielen ist an den Wahlurnen ja immer ein Kracher...

In his dignified bearing, civility, and respectful bipartisanship, McCain displayed the classical virtues like few in our time. Honor, nobility, courage, public-spiritedness — he esteemed them all and did his best to embody them in his life. That, far more than his policy positions or well-known chumminess with reporters, is the source of the heartfelt tributes that have flowed forth from so many at the news of his death. His life was a reminder of an older, elevated notion of politics that places country before party and self-sacrifice before self-interest. [...] It also provoked him to swipe at those in his own party he considered to be "agents of intolerance" and to take stands against Republican voters who displayed small-minded bigotry. He did both knowing full well that such acts could harm him politically. At a time when many on the right deny the possibility of standing on principle, McCain made a habit of doing exactly that. [...] But he didn't do it enough. In one of his weakest moments, he helped to empower the very forces in our politics that aim to do away with everything McCain stood for. In picking Sarah Palin to be his running mate in the 2008 presidential election (in part to please the elements of the GOP base he'd previously antagonized), McCain elevated right-wing populism far beyond anything the U.S. had previously seen. Republican voters heard on a national stage a candidate who knew nothing about the issues and offered little beyond empty expressions of cultural resentment. And they loved it. In compromising his high-minded principles for the sake of expediency, McCain inadvertently paved the way for the debasement of American politics. This decision was encouraged by members of the political establishment on the center-right — Bill Kristol, Ross Douthat, and others. [...] But perhaps even more than his elevation of Palin, McCain's stances on foreign policy helped pave the way for the electoral collapse of the country's once vital center. McCain was a hawk for all seasons, consistently pushing the form of full-spectrum idealistic militarism that came to be associated with neoconservativism. Whatever the geopolitical problem, McCain was there (usually in the form of an op-ed co-authored with latter-day Trump toady Lindsey Graham) to place his moral authority and reputation behind a proposal to launch a barrage of bombs, and sometimes send ground troops as part of an invasion designed to overthrow tyrannical governments, in the name of freedom and democracy. [...] As the old saying has it: Fool me once, shame on you; fool me twice, shame on me. America's political (and foreign policy) establishment has made an awful lot of foolish mistakes and earned an awful lot of shame since the conclusion of the Cold War. And John McCain was a leading member of that establishment, far too often backing up and encouraging its follies. Any attempt to reach an honest and sober assessment of his career and contribution to our politics must wrestle with this decidedly mixed track record and its far-reaching unhappy consequences. (The Week)
Damon Linker bietet hier eine gute Übersicht über Leben und Wirken von John McCain, die dessen positive und negative Seiten gut zusammenfasst. McCain ist ein gutes Beispiel für wirkmächtige Narrative. Immer wieder hat er geschafft, sich als "Maverick" zu positionieren, eine Charakterisierung, die er nicht verdient hatte. McCain war kein Politiker, der von der Orthodoxie seiner Partei abwich, weil er bestimmte Policies verfolgte. Er war ein Politiker, der sich rächte, indem er Parteilinien überschritt, wenn es die Partei nichts kostete (besonders nach Bush und Trump). Aber er war ein treuer Parteisoldat. Was in vielen Elogien nicht ausreichend gewürdigt wird ist meiner Ansicht nach die Rolle, die McCain in der Legitimierung der radikalen Rechten spielte. Zwar ist seine persönliche Integrität im Wahlkampf 2008 zu recht legendär. Aber er war es, der Sarah Palin nominierte und damit völlig abgedrehte, anti-intellektuelle und aggressiv-unwissende Politik hoffähig machte. Die Geister, die er aus der Flasche ließ, konnte die GOP nie wieder einfangen. 8 Jahre später gewann dann Trump die Präsidentschaft. Der jetztige Mann im Weißen Haus ist auch McCains Hinterlassenschaft.

4) "Alle Bösen sollen wieder gehen"
Sie finde den Aufmarsch der Rechten gut, sagt Judy. Einige hätten es zwar übertrieben mit der Gewalt. "Aber wir brauchen die Rechtsextremen, wir brauchen Menschen, die mal in den Stadtpark gehen und einen umklatschen. Wenn wir Frauen demonstrieren gehen, wäre das doch allen egal", sagt die 32-Jährige. Wegen der männlichen Flüchtlinge fühle sie sich unwohl. Ihre Freundin nickt. [...] Da ist zum Beispiel der für den Innenstadtbereich zuständige sogenannte Bürgerpolizist: Es gebe dort eben ein allgemeines Gefühl der Angst. Auch er persönlich frage sich, "ob wir das Geld, das wir für Einwanderer ausgeben, nicht lieber Deutschen geben sollten, die hier jeden Morgen Briefe austragen". Da ist der Mann mit dem Laptopkoffer, den kurz geschnittenen Haaren und dem südosteuropäischen Akzent. "Es sind nur die Moslems, die hier mit dem Messer rumlaufen, Angst und Schrecken verbreiten", sagt er. "Denen muss man zeigen, wer hier das Sagen hat. Wenn sie heute wieder protestieren, gehe ich auch mit." [...] Der schwelende Hass erklärt möglicherweise, wie die Stimmung innerhalb weniger Stunden nach der Meldung über den mutmaßlichen Totschlag so eskalieren konnte, wieso sich auch Familien mit Kindern den Protesten anschlossen. [...] Ziel der Hooligans sei das Stadtfest gewesen, sagt er. "Sie sind mitten über die Wiese rüber", eine Machtdemonstration. Das Stadtfest war zu diesem Zeitpunkt offiziell längst beendet - aus Angst vor den Rechten. Anschließend zog der Mob wohl weiter Richtung Innenstadt, durchbrach eine Polizeikette. Männer traten und schlugen vereinzelt auf ausländisch aussehende Menschen ein, die wie jeden Abend neben "McDonald's" standen [...] "Wir müssen ein Zeichen setzen, irgendwann ist das Maß voll", begründet ein 66-jähriger Rentner, warum er am Montagabend mitdemonstrieren will. Er trägt eine Deutschlandflagge auf seiner Mütze. Ob er denn keine Bedenken habe, sich mit Nazis gemeinzumachen? "Nein, da habe ich keine Berührungsängste." (SpiegelOnline)
Als Ergänzung zu Fundstück 1 sehen wir hier deutlich die Radikalisierung der Gesellschaft. Und ja, das hat sicherlich mit der Ankunft der Flüchtlinge zu tun. Aber der ungeheure Hass, den diese Leute empfinden und schamlos hinausposaunen, war bereits vorher da. Und es ist dieser Hass, nicht Merkels Flüchtlingspolitik, in dem die Wurzel der Ereignisse liegt, von der Kubicki fabuliert. Was mich am meisten erschreckt ist glaube ich weniger, dass die Leute so empfinden, sondern dass es in Sachsen inzwischen überhaupt nicht als Problem empfunden wird, so zu reden. Offener Hass ist inzwischen satisfaktionsfähig und komplett aus der Schmuddelecke raus. Und dass das so ist liegt eben auch zu einem Gutteil an der Legitimierung durch kdie onservative Presse (wie FAZ, Welt oder BILD), die das beständig schönreden und als unvermeidliche und legitime, wenngleich irgendwie unschöne Begleiterscheinung von Merkels Politik lesen. Damit machen sie nichts anderes als die LINKE vorher. Als die Ostdeutschen ihre Protestwahl noch bei Gisy und Lafontaine gemacht haben, war dieser Hass immer der irgendwie unschöne, aber legitime Ausfluss bürgerlichen Ungerechtigkeitsempfindens über die Wiedervereinigung, den Neoliberalismus und das Schweinesystem, eine ständige Schönrednerei, die genau diese konservative Presse damals aufs Schärfste bekämpft hat. Jetzt nimmt man sie zur Unterstützung der eigenen Position heran und sieht sie plötzlich als Leute des eigenen tribalistischen Politikverständnisses und legitimiert sie. Dabei sind es die gleichen dauerzornigen Leute wie eh und je. Und statt dass Parteien, die sich die Eigenverantwortung auf die eigenen Fahnen geschrieben haben, wie die CDU und besonders die FDP, diese Entmündigung des Pöbels kritisieren und darauf verweisen, dass irgendwie schon jeder seine eigenen Entscheidungen trifft, stellen sie sich hin und präsentieren die von ihnen ungeliebte Politik als Zauber, der die Leute verhext. Ganz großes Kino. Dazu gehört dann das offensichtliche Versagen des Staates, das in weiten Teilen Ostdeutschlands zu bewundern ist, wo die Polizei offensichtlich zu großen Teilen rechtsextremistisch unterwandert ist und das keinen stört.

5) Als Flüchtling in Chemnitz
Schneeberg war schrecklich. Eine Kaserne, ein großer Block, sonst nichts. Keine Karten, kein Schach, kein Deutsch lernen, nichts zu tun. Eine Aufbewahrung. Man geht dorthin, um zu warten. Und die Helfer haben uns gehasst. Es waren Malteser, ich würde sagen jeder zweite von denen war ein Neonazi. Nein wirklich, ich weiß das, weil uns manchmal die Kollegen beiseite nahmen und sagten: ‚Der und der Kollege, die haben eine andere Meinung. Damit müssen wir zurechtkommen.‘ Ich akzeptierte das. [...] Einmal, ich bin im Hof Skateboard gefahren, schubste mich einer der Aufpasser vom Brett, ich flog voll hin. Einfach so. Er hat sich nie bei mir entschuldigt. Auch nicht, als sein Chef ihn dazu aufforderte. Ein anderes Mal wollte ich beim Essen Nachschlag, es gab Erbsen mit Kartoffelbrei. Die Frau schrie mich an: ‚Nein, nur eine Portion.‘ Als ich wieder wegging, kippte sie das restliche Essen in den Mülleimer. Da habe ich gemerkt, so kann es in Sachsen auch sein. Ich hatte schon Geschichten gehört, von den brennenden Flüchtlingsheimen. Bis dahin waren das für mich Geschichten. Jetzt wusste ich, dass es real war – der Hass. [...] Auf der Arbeit gibt es eine Frau, die mich hasst. Sie ist heute auch bei der Neonazi-Demo dabei. Sie hasst Ausländer. Manchmal frage ich sie, warum. Dann sagt sie: ‚Weil die nicht arbeiten.‘ Ich sage: ‚Du kennst doch mich, ich arbeite.‘ Sie sagt: ‚Du bist anders.‘ Als ich sie einmal fragte, wie viele Ausländer sie neben mir kennt, fiel ihr niemand ein. In der Chemnitzer Innenstadt kommen manchmal Menschen zu mir und sagen: ‚ Was hast du hier zu suchen?‘ Ich kenne die nicht. Wenn ich gute Laune habe, lasse ich mich auf die Beleidigungen ein und sage was. Aber das kostet Kraft. Ehrlich gesagt glaube ich, dass ich mehr Verständnis erwecke, wenn ich einem Mülleimer oder der Wand meine Situation erkläre. Ich habe schnell gelernt: Mit den Menschen hier gibt es nichts zu verhandeln. Es gibt keine Meinungen zu ändern. Man kann mich hier nicht leiden, so ist das. Aber ich lasse jedem seine Meinung. (Krautreporter)
Als weiteres Fundstück im Chemnitzer Kontext habe ich diesen Artikel, der mal die andere Seite zeigt. Auch das ist übrigens auffällig bei der Pro-Hass-Presse dieser Tage: man hat unendlich viel Verständnis für den Mob, aber die Opfer fallen völlig unter den Tisch. Denn während es wahrhaftig genug Flüchtlinge gibt, die sich daneben benehmen (man denke an die Gruppe in Berlin, die jüngst eine Disco überfallen hat), der überwältigende Großteil verhält sich regelkonform ist einfach nur Opfer dieser legitimierten Ausschreitungen und des alltäglichen Hasses, der ihnen entgegenschlägt.

6) China's new aircraft carrier is all about political prestige, not military power
China's emerging aircraft carrier fleet is not designed for combat power, but rather in the pursuit of prestige. [...] Yet, while the carrier represents a milestone in Chinese naval history, it does not offer Beijing any significant military advantages. [...] Of course, these carriers aren't actually about military power; they're about political prestige. When it comes to war-fighting capability, the key to China's actual military threat is its advanced missile capabilities, not floating "please kill me" targets like China's carriers. But when we consider Chinese President Xi Jinping's broader strategy to replace the U.S.-led international order, the carriers do serve an important purpose: They make good propaganda. Showing large aircraft carriers sailing across the high seas, Xi is able to tell his domestic audience, "Look, I am making China the new great power." Xi's carriers also amplify his strategic influence on the international arena. And while this messaging has an outsize influence in persuading regional states like Vietnam, Malaysia, and the Philippines to reluctantly support Xi's agenda, it also carries impact further afield. To nations around the world, the carriers suggest that Xi is challenging American power and if necessary, will fight that power. It doesn't matter that the carriers aren't a practical means of challenging America; it only matters that they proffer a perception of Chinese resolve. And that understanding of resolve is crucial to Xi's ability to persuade foreign governments to support his economic interests over America's. Ultimately, however, even if China's carrier reality doesn't pose a significant threat to U.S. security, America has no excuse to be self-confident here. After all, our own carrier fleets are increasingly vulnerable to Chinese missile, submarine, and air-attack swarming forces. And China is determined to challenge America in just about every avenue of international affairs. (Washington Examiner)
Wegen unserer permanenten Nabelschau in der EU (und neuerdings auch in den USA) achtet kaum jemand darauf, was China eigentlich tut, aber das Land wird mit Riesenschritten zur dominanten Regionalmacht in Asien. Die künstlichen Inseln, mit denen sie ihren Herrschaftanspruch im südchinesischen Meer aufbauen, sind ja nur eine Bestandteil davon; die militärische Rüstung dient auch deutlich der Machtprojektion. Der Artikel liegt daher komplett richtig: Flugzeugträger sind Symbolpolitik, im Endeffekt die 21.-Jahrhundert-Variante der Dreadnoughts, mit denen Großbritannien und Deutschland zwischen 1900 und 1910 so wettrüsteten (und die nachher im eigentlichen Kriegsfall vor allem teure Metallhaufen ohne Wert waren). Was der Autor hier als "Please kill me target" beschreibt ist übrigens eine Art Dauergag unter Sicherheitsexperten in den USA: Flugzeugträger sind ungeheuer teuer und ein elementarer Bestandteil der US-Flottenstrategie, aber ihr militärischer Wert ist mehr als zweifelhaft. Sie sind super praktisch, wenn man Macht projizieren will - also etwa im Golf von Aden herumhängen und dem Iran zeigen, dass man jederzeit angreifen könnte - oder wenn man eine schwimmende Basis für irgendwelche Schläge gegen Dritte-Welt-Länder braucht. Aber ihr tatsächlicher Kampfwert in einem echten Konflikt ist angesichts der Verbreitung von billigen Raketensystemen, gegen die die Dinger keine Verteidigung haben, mehr als zweifelhaft. Aber Flottenstrategie hatte schon immer eine starke symbolisch-politische Komponente, deswegen ist es ja Großbritannien und Frankreich auch so wichtig, dass sie eine eigene Trägergruppe unterhalten.

7) Eine Zäsur findet nicht statt
Die Silvesternacht 2015/2016 in Köln sei eine Zäsur gewesen, sagen viele, und ich hoffe sehr, dass der Augustabend in Chemnitz auch eine Zäsur sein könnte. Wahrscheinlich ist er das nicht. Denn das Naziproblem ist ein strukturelles, gesellschaftliches und führende Vertreter der Strukturen und der Gesellschaft bewiesen, dass ihnen so gar nicht nach Zäsur ist. "Die deutschen Konservativen und ihre Führungsriege sind unfähig, sich von rechts wirklich bedroht zu fühlen. Für sie steht der eigentliche Feind immer noch links. Rechts - das sind irgendwie ungezogene Verwandte." So Ralph Giordano 1992 im SPIEGEL, es ist ein ewiger Satz, auch wenn er eindeutig nur noch für Teile der Konservativen gilt. [...] Die sächsische Polizei ist bei Rechten überrascht und überfordert, bei Linken übergriffig und übereifrig. Natürlich steckt dahinter ein strukturelles Problem, und auch ein politisches, wenn zu einem G8-Gipfel 20.000 Polizisten zusammengezogen werden, aber zu einem Naziaufmarsch mit Ansage auf einmal Polizisten fehlen. Polizeichef Georgie: "Es wäre bei einer anderen Prognoselage möglich gewesen, mehr Einsatzkräfte hinzuzuziehen". Allerdings hatte der Verfassungsschutz die Polizei offenbar schon Montag Mittag informiert, dass Horden gewalttätiger Nazis aus halb Deutschland nach Chemnitz reisen. Eine überraschend unüberraschende Überraschung also. [...] Ab wann genau werden offensichtliche Nazis in deutschen Medien eigentlich auch als "Nazis" bezeichnet? Hitlergruß und Migrantenjagd reichen offenbar nicht aus. In vielen Artikeln und in sozialen Medien ist die Rede von "Hooligans" oder "Protestlern". Hätte ich eine Zeitmaschine, würde ich ins Jahr 1933 fahren, und Hitler erstmal nicht umbringen, sondern für eine Pressekonferenz nach 2018 bringen. Wahrscheinlich könnte ich Zitate lesen wie "der als rechtsnational geltende A. Hitler". Ein strukturelles Problem, nicht nur in Sachsen, sondern auch in den Köpfen, erkennbar an den Worten. [...] "Selbstverständlich gibt es bei mir eine Lernkurve" meint Kretschmer, aber sie scheint so flach wie das Wattenmeer. Keine Zäsur. Kretschmer sagt: "Der Staat ist handlungsfähig", aber gerade Handlungsfähigkeit gehört zu den Dingen, die man nicht behaupten kann, sondern beweisen muss. Kretschmer bescheinigt sich selbst "Klarheit in den Antworten". Kretschmer fordert einen Ruck. Hört sich fast nach Zäsur an, aber eben nur fast. Abgesehen davon, dass er den Ruck nicht fordern, sondern selbst endlich rucken sollte. Eine Zäsur findet nicht statt. (SpiegelOnline)
Und noch einmal Chemnitz: Es ist tatsächlich beschämend, wie wenig Konsequenzen gezogen werden. Ich habe das bereits weiter oben ausführlich kommentiert und kann Sascha Lobo hier daher eigentlich nur zustimmen. Der Unwillen auf der konservativen Seite, die Nazis als solche zu verdammen und aus der feinen Gesellschaft auszustoßen, ist wirklich derselbe, den die LINKE immer gezeigt hat (und zeigt), die Kommunistische Plattform und ähnliche Spinner und DDR-Nostalgiker wegzuhalten.

8) The missing statues that expose that expose the truth about confederate monuments
This time, they’re angered by the toppling of a statue honoring the common Confederate soldier at the University of North Carolina, known locally as Silent Sam. In defense of the statue, they’ve drawn on a time-honored set of arguments. Slavery was never central to the Civil War, they insist, and regardless, the Confederate everyman at UNC had no direct relation to the South’s peculiar institution. Instead, Silent Sam and similar monuments across the country are simply tributes to the valor and sacrifice of Confederate soldiers. Yet if valor and sacrifice are the benchmarks for memorialization, where are all the statues to James Longstreet? Take Gettysburg: Nearly every soldier who shouldered a musket or drew a saber during that battle is represented in some form there. But before 1998, there was no likeness of Longstreet, one of the Confederacy’s greatest generals, in the 6,000-acre park. Only after a grass-roots campaign raised sufficient money was a statue erected. The finished product was then tucked behind a screen of trees at the far edge of the park. And unlike virtually every other major monument at Gettysburg, the Longstreet statue rests on the bare earth without a pedestal. Longstreet’s monument is significant precisely because it lacks grandeur and prominence. In fact, few pieces of Civil War statuary have as much to tell about the politics of historical memory (and amnesia), especially in the wake of events at UNC. That’s because, while Longstreet was a remarkable soldier, he was also an agent of federal Reconstruction — and black suffrage — in the postwar South. For that, his former comrades purged him from memory, thereby reinforcing the link between white supremacy and Confederate iconography. (Washington Post)
Die Debatte um die Beseitigung der neokonföderierten Monumente in den USA zeigt deutlich die Probleme mit Geschichte. Von rechts kommt immer das Argument, es sei "heritage" (so etwas wie Erbe, aber schwierig zu übersetzen) und jeder Versuch, das Zeug wegzumachen, würde Geschichte umschreiben. Das ist aber nicht korrekt. Erstens sind diese Statuen, die ja alle erst im 20. Jahrhundert aufgestellt wurden, selbst ein Versuch, Geschichte umzuschreiben (und ein erfolgreicher, muss man leider hinzufügen). Und zweitens zeigt der Artikel schön auf, welche Version der Geschichte hier geschrieben werden soll. Diese Statuen müssen fallen, oder wenigstens durch relativierende Plaketten ergänzt werden, und es braucht Monumente für die andere Seite der Geschichte, die bisher verschwiegen wird. Gerade in den USA ist eine Neubetrachtung der Reconstruction-Periode mehr als überfällig.

Conservatives have spent decades depicting liberals as coastal snobs. Entire campaigns were built from this theme, from Michael Dukakis’s “Harvard Yard boutique” to various Democrats failing to display the requisite enthusiasm for Nascar. Every image of Barack Obama in the right-wing media cast him gazing downward imperiously, a pose that conservatives seemed to think captured his contempt for the good people of the heartland. [...] But as is so often the case, the accusation that was made falsely against Democrats turns out to be true of Trump. For all his vaunted populism, he is filled with contempt for average people in general and his own supporters in particular. [...] Trump is the ultimate snob. He has no sense that working-class people may have equal latent talent that they have been denied the chance to develop. He considers wealthy and successful people a genetic aristocracy, frequently attributing his own success to good genes. Attempting to explain his penchant for appointing plutocrats to his Cabinet, Trump has said, “I love all people, rich or poor, but in those particular positions I just don’t want a poor person. Does that make sense?” It makes sense if you assume a person’s wealth perfectly reflects their innate intelligence. [...] The declassé image of his fan base has rubbed off on Trump, to his evident frustration. He regularly proclaims that his supporters are the true elite, but his unconvincing attempts to make the case usually devolve into boasts that Trump himself is the elite. [...] Obviously, the most elemental feature of populist politics is to associate one’s opponents with “elite.” But Trump is unable to maintain the pose because he cannot stand the stink of the people upon him. (New York Magazine)
Ich kann Jonathan Chait in seinem Artikel hier nur zustimmen. Mich erinnert das ungeheuer an Gerhard Schröder. Der war auch ein Populist, der sich hervorragend darauf verstand, ständig an diese Bevölkerungsgruppen zu appellieren und der sich gleichzeitig nichts sehnlicher wünschte, als von den oberen zehntausend als einer der ihren anerkannt zu werden. Nicht, dass er es je geschafft hätte, wahrscheinlich sucht er sich deswegen auch so verzeifelt die Ersatzbestätigung in Russland. Aber diese gleichzeitige Verachtung der ungewaschenen Massen, während man sich als ihr Champion inszeniert, ist bei beiden Politikern gegeben. Gut möglich, dass kontrollierter Populismus ein Merkmal vieler erfolgreicher Spitzenpolitiker ist. Helmut Kohl konnte das ja auch ganz gut, Lafontaine versteht sich darauf, und so weiter.

Elizabeth Warren: I believe in markets and the benefits they can produce when they work. Markets with rules can produce enormous value. So much of the work I have done—the Consumer Financial Protection Bureau, my hearing-aid bill—are about making markets work for people, not making markets work for a handful of companies that scrape all the value off to themselves. I believe in competition. [...]
Foer: In your description, that’s markets working.
Warren: The problem is that when the rules are not enforced, when the markets are not level playing fields, all that wealth is scraped in one direction. For example, leading up to the financial crash, there were a lot of mortgage brokers out there selling mortgages. Wow, did they get rich doing it. Families thought they were buying a product they could afford, whose payments they understood. Many of them lost everything. That’s a market that clearly was not working. [...]
Foer: What does it say about human nature? We have this almost innate inclination to trade with one another. And yet, the market also brings out an innate human tendency toward avarice and greed.
Warren: I would describe it differently. There’s always somebody who will see if they can run the light. The question is whether we maintain good rules and an effective cop to enforce those rules. This is where the wheels came off starting in the ’80s. This is a political issue. It’s not a markets issue. There were years of not perfect but fairly well-enforced rules that were pretty firmly hit and held. Then you hit the ’80s and the lobbying by the wealthy and the well-connected steps up and the rules start shifting. The rules tilt just a little more toward the rich and the powerful. Just a little more, just a little more. Enforcement gets weaker and weaker. Remember the whole description that started in the ’80s about deregulation and the beauties that deregulation would bring America? I understand no one wants to have to abide by dumb regulations. I get that, but deregulation became a code word for “fire the cops.” Not the cops on Main Street, the cops on Wall Street. (The Atlantic)
Ich lasse dieses Interview vor allem deswegen da, weil Warrens hervorgehobene Stellung als (sehr) vorläufiger Frontrunner im Bewerberfeld der Democrats für die Präsidentschaftswahlen 2020 bedeutet, dass diese Ideen über kurz oder lang in der amerikanischen Presselandschaft diskutiert werden werden. Zumindest in ihrem progressiven Teil; in der rechten Presselandschaft wird Warren ja bereits als verkappte kommunistische Kriegerin aufgebaut, etwa im National Review oder auf FOX News. Diese Karikatur Warrens gibt übrigens auch ein gutes Bild für die alternative Geschichte mit einem Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders 2016. Ich bin ja immer noch sehr skeptisch, dass dessen Ideen irgendeine Chance im amerikanischen Politikbetrieb hätten, aber wir werden mit Warren ja sehen, wie das läuft.

11) Eine Modelleisenbahn für Thilo Sarrazin
Stellen Sie sich vor, der pensionierte Bankvorstand Ihrer örtlichen Sparkasse hat ein Steckenpferd, eine Vorliebe für ein bestimmtes Thema, mongolischen Obertongesang etwa oder die Kultur der Samurai im Japan des 17. Jahrhunderts. Nun hat ein Sparkassendirektor nicht die Zeit, sich in alle kulturwissenschaftlichen Feinheiten einzuarbeiten. Aber er liest doch alles über das Thema, was er so in die Hände bekommt. Irgendwann hat er so viel gelesen, dass er sich dazu entschließt, ein Buch zu schreiben. Man kennt solche Bücher. Sie erscheinen in Kleinstverlagen mit edlen Einbänden und Lesebändchen aus roter Seide. Sie umfassen viele Hundert Seiten, weil der Autor einfach alles aufgeschrieben hat, was er zum Thema zu wissen glaubt. Und sie werden von niemandem gelesen, denn diese Bücher erscheinen nicht nur in Kleinstverlagen, sondern auch in Kleinstauflage und meistens zahlen die Autoren eine ganze Menge Geld, damit sie ihren Freunden und ihrer Familie zu Weihnachten eine kleine Aufmerksamkeit bescheren können. [...] Natürlich gehören zu einer solchen Simulation von Gelehrsamkeit immer auch steile Thesen. Menschen mit ein bisschen geisteswissenschaftlichem Hintergrund wird es zum Beispiel kaum erstaunen, dass die Übersetzung eines religiösen Textes, wörtlich genommen, viel eindeutiger wirkt als eine, verschiedene Kontexte einbeziehende, Lektüre des Originaltextes. Das haben neben Sarrazin auch islamische Fundamentalisten erkannt, weswegen die, wie er, einfach alles weglassen, was ihre Lesart stören könnte. Auch ein Statistiker hätte seine Freude am fröhlichen Dilettantismus des ehemaligen Finanzsenators und Vorstands der Deutschen Bundesbank. Weiß er doch, dass Statistiken immer nur so aussagekräftig und überzeugend sind wie die Voraussetzungen, die sie machen. Und dass man sehr leicht in einen sogenannten Scharfschützenfehlschluss gerät. Der heißt so, weil jeder Scharfschütze sein kann, wenn er erst schießt und dann erst die Zielscheibe um die Treffer herum malt. Übertragen bedeutet das: Wer seine Daten so auswählt, dass sie immer nur die eigene Voraussetzung bestätigen, wird immer davon überzeugt sein, dass er richtig liegt. Aber das sind systematische Probleme, die man nicht in zwei Sätzen beheben kann. Hier müsste man eigentlich nachschulen. Das ist bei diesem Werk aber gar nicht notwendig, denn auch Privatgelehrte und ihre Fans haben ihren Platz in dieser Gesellschaft. Nur sollte man solche Texte nicht mit Sachbuch- oder gar Fachbuchliteratur verwechseln. Es sind Fleißarbeiten, aus Unkenntnis methodisch schlecht gemacht, dafür umfangreich und meinungsstark. Man kann sie jemandem schenken, den so etwas freut. Für alle anderen sind sie nicht der Rede wert. (Die Zeit)
Hier wird glaube ich alles zu Sarrazin gesagt, was man sagen muss. Der Mann hält sich für einen public intellectual, aber er ist vor allem ein Amateur. Darin erinnert er mich an Schulze Rohndorf, dessen wirre Thesen ich in einem Artikel auseinandergenommen habe. Es ist der gleiche Mechanismus: Ohne die methodischen Kenntnisse wird irgendwas gelesen, mit den eigenen Vorurteilen auf Linie gebracht und zusammengemischt. Dass dieser ganze Quatsch dann ernsthaft besprochen wird, statt wie bei Schulze Rohndorf in feiner Gesellschaft ignoriert zu werden, ist die ganze Tragik Sarrazins.

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