Montag, 2. März 2020

Ist Deutschland wirklich eine Demokratie? - Teil 1: Verfassungstheorie und Verfassungswirklichkeit

Es gibt in der öffentlichen Debatte eine Gruppe, die ich als die Besseren Demokraten (tm) bezeichnen möchte. Mit Warenzeichen, damit Unverkennbarkeit besteht. Die Besseren Demokraten (tm) sind jene, die immer am besten wissen, was genau demokratisch ist. Besser als alle Verfassungsrechtler, Politikwissenschaftler, Politiker und besser als die Journalisten sowieso. Alle Jahre wieder kommt von den Besseren Demokraten (tm) die Vorstellung, dass wir eigentlich gar nicht in einer Demokratie leben. Schließlich wurde dieses oder jenes vom Parlament beschlossen, das in Umfragen keine Mehrheit findet. Oder ohne vorherige Volksbefragung. Das ist Quatsch. Ich will in diesem Artikel einen umfassenden Überblick darüber geben, wie die deutsche Demokratie eigentlich tatsächlich funktioniert - und warum die Besseren Demokraten (tm) häufig (wenngleich nicht immer) mit ihrer Kritik Unrecht haben.

Macht, und woher man sie bekommt - Die Ursprünge

Alle Macht geht vom Volke aus. Das ist das Prinzip der Volkssouveränität. Jedes Land hat einen Souverän, der den eigentlichen Quell der Macht darstellt. Ist die Machtfrage jemals ungeklärt, fällt die Macht an den Souverän zurück. Andere Quellen von Souveränität sind vor allem historisch relevant.

Einen Sonderfall will ich gleich zu Beginn ansprechen: In Großbritannien ist das Parlament souverän. Es entscheidet allein über seine Zusammensetzung, über seine Kompetenzen und über seine konkrete Ausgestaltung. Zwar ist Großbritannien de facto eine normale westliche Demokratie. Aber es bezieht seine Souveränität weder aus Volk noch aus Monarch, sondern aus dem Parlament, auf dessen Einladung der Monarch überhaupt erst im Buckingham Palace sitzt.

Die häufigste Quelle von Souveränität aber ist Gott; in absoluten Monarchien etwa speist sich die Souveränität direkt aus dem Auftrag Gottes an den Monarchen, das Land in seinem Sinne zu regieren. Die einzig verbliebene absolute Monarchie in Europa ist der Vatikanstaat, ein in den internationalen Beziehungen eher irrelevanter Faktor.

Besonders im Mittelalter wurde Souveränität auch mittelbar verliehen, etwa durch Wahlen hervorgehobener Personen. Der deutsche König wurde durch Wahl der Kurfürsten bestimmt. Auch das zweite deutsche Kaiserreich bezog seine Souveränität aus der freien Entscheidung der deutschen Landesfürsten, sich zum Reich zusammenzufügen; das Volk selbst spielte dafür keine Rolle.

Zuletzt spielt Gott heutzutage in den Theokratien eine Rolle, in denen oberste Priester die Macht beanspruchen. Das war der Normalfall in der Antike (die Pharaonen Ägyptens etwa waren Theokraten) und trifft heute etwa in Teilen auf den Iran zu.

Moment, mag nun der geneigte Leser fragen. Gott trifft selten direkte Entscheidungen; die letzte Meinungsumfrage im Himmel ist schon eine Weile her. Auch sonst sind die Träger der Souveränität nicht unbedingt die entscheidende Größe. Was ist mit dem Reichstag im Kaiserreich? Oder den Wahlen im Iran?

Und damit sind wir bereits beim Thema. Die Souveränität sagt nur aus, woher sich Macht legitimiert. Viele Diktaturen berufen sich auch auf die Volkssouveränität. Sie ist ein legitimatorisches Vehikel. Aus ihr leitet sich noch keine konkrete Verfassungswirklichkeit ab. Ihren größten Ausdruck findet sie im Grundgesetz in Artikel 146, dem Recht zum Widerstand und zum Finden einer neuen Verfassung. Nach so etwas sucht man im Kaiserreich vergeblich. Dort konnte (theoretisch) der Kaiser eine neue Verfassung geben, weil er der Souverän war.

In der Bundesrepublik kann dies nur "das Volk". Ohne, dass die Verfassung sich Mühe geben würde zu erklären, wie das dann funktionieren soll. Eine Versammlung der 81 Millionen auf einem großen Platz wird es sicher nicht sein. Aber darum geht es hier auch nicht. Relevant ist, dass das Volk die Legitimation dafür hat. Es ist die letztlich entscheidende Größe. Dafür muss es aber im politischen Alltag erst einmal keinerlei reale Macht innehaben. Es handelt sich, erneut, um ein legitimatorisches Konstrukt. Das ist der erste wichtige Faktor, den wir verstehen müssen.

Im Folgenden befassen wir uns nur mir Demokratien, also solchen Nationen, in denen die Volkssouveränität auf regelmäßiger Basis ausgeübt wird (anders als in Diktaturen, die sich auf irgendeinen Wahlakt in der Vergangenheit oder irgendwelche Deklamationen berufen). Noch konkreter: Wir befassen uns mit der Bundesrepublik Deutschland. In der leben wir ja schließlich.

Der allseits geliebte Föderalismus

Deutschland ist ein föderaler Bundesstaat. Gleichwohl haben die Bundesländer selbst keine eigene Legitimationskraft, können also weder ihnen unleidige Gesetze nullifizieren noch die Bundesrepublik verlassen (auch wenn Bayern und Sachsen das notorisch anders sehen möchten). Wir haben daher einen recht eindeutigen pyramidenförmigen Aufbau: Bundesrepublik --> Bundesland --> Kreis --> Gemeinde.

In jeder dieser Pyramidenebenen wählen wir die entsprechende übergeordnete politische Instanz: Bundestag --> Landtag --> Kreisrat --> Gemeinderat. Die Gemeinden weisen darüberhinaus die Besonderheit auf, dass ihr Exekutivoberhaupt (BürgermeisterIn) mit langer Amtszeit direkt gewählt wird; der Kreisrat besitzt gar keines. Die Landtage und der Bundestag aber wählen ihr Exekutivoberhaupt (MinisterpräsidentIn und BundeskanzlerIn). Das ist von erheblicher Bedeutung, und wir werden darauf zu sprechen kommen.

Eine Ausnahme übrigens sind die kreisfreien Städte; wer etwa in Stuttgart wohnt, wählt keinen Kreisrat, sondern "nur" den jeweiligen Gemeinderat (dafür aber in Teilstadtgliederungen) und BürgermeisterIn. Generell aber gilt, dass in Deutschland auf jeder Ebene ein legislatives Gremium existiert, das von den Bürgern in direkter, gleicher und geheimer Wahl gewählt und ihnen direkt verantwortlich ist. In keinem dieser Fälle gibt es eine Möglichkeit seitens der BürgerInnen, diesem Gremium nach der Wahl das Vertrauen zu entziehen und es vor der nächsten Wahl neu zu wählen; sehr wohl können einige dieser Gremien sich aber selbst auflösen und dem Souverän für den Wahlakt die Macht zurück übertragen.

Die konkreten Machtverhältnisse zwischen diesen Gremien sind in beständigem Wandel. Zu Beginn der Bundesrepublik etwa waren die Bundesländer stärker, als sie es heute sind. Besonders seit dem Ende des Kalten Krieges hat zudem ein Prozess an Fahrt aufgenommen, in dessen Verlauf die Bundesländer Kompetenzen zugunsten des Bundes verloren haben. Stellvertretend hierfür mag etwa die Förderalismusreform II von 2006 stehen.

Ein spiegelbildlicher Prozess findet in den Bundesländern selbst statt. Die Gemeinden hatten (sehr zum Leidwesen der amerikanischen Besatzer, die andere Vorstellungen von der zukünftigen bundesdeutschen Demokratie hatten) nie besonders viel Macht, aber von dem bisschen, das sie hatten, haben sie seit 1949 ebenfalls größere Teile verloren, sowohl an die Bundesländer als auch an den Bund. Generell sind die Kommunen nicht sonderlich souverän; die geringe Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen mag auch in einem instinktiven Verständnis dieses Zusammenhangs beim Bürger liegen.

Nachdem wir jetzt also die Gliederung Deutschlands verstanden haben, schauen wir einmal genauer darauf, wie der Wahlprozess eigentlich funktioniert.

Macht, und woher man sie bekommt - Wahlen, Teil I

Die relevanteste Größe in er einer Demokratie sind Wahlen. In Deutschland wählen wir vergleichsweise wenig verschiedene Gremien, die zudem alle eher mittelbar organisiert sind. Schaut man etwa in die USA, darf man dort als mündiger Bürger vom Hundefänger über den Sheriff bis zum Richter Einfluss auf viele Ämter nehmen. Nicht, dass das deren Qualität notwendigerweise verbessert; wir begnügen uns hier mit der Feststellung, dass wir in Deutschland nur die jeweiligen übergeordneten politischen Verantwortlichen wählen, während die Behörden selbst unserem wählenden Zugriff entzogen sind.

Diese Behörden waren früher vor allem von Beamten besetzt. Beamte sind eine spezifisch deutsche Erfindung. Sie sind Staatsdiener, und als solche Ausdruck eines Staatsverständnisses, das mit dem Prinzip der Volkssouveränität wenig anzufangen weiß. Es mag eine historisch interessante Fußnote sein, dass die Amerikaner zwischen 1945 und 1949 in ihrem Versuch, das zu ändern, gegen Wände liefen. Der Zahn der Zeit war erfolgreicher. Heute ist ein Großteil der Behörden aus Angestellten zusammengesetzt, und die Mentalität ist deutlich bürgerfreundlicher und offener geworden. Da dies sich aber auch auf Beamte erstreckt, dürfte der Grund dafür eher in einem allgemeinen Mentalitätswandel als im geänderten Beschäftigungsverhältnis zu suchen sein. Aber zurück zum Thema.

Wahlen sind, wie bereits etabliert, unmittelbar, frei, geheim und gleich.

Unmittelbar bedeutet, dass das Wahlrecht nicht, wie etwa in den USA, durch eine weitere Instanz "verwässert" wird. Die Deutschen geben ihre Stimme den jeweiligen Kandidaten, sei es durch Direktwahl oder über eine Liste. Aber sie wählen nicht Vertrauensleute, die dann an ihrer statt die Stimme abgeben. Das ist das Prinzip der Unmittelbarkeit.

Frei bedeutet konkret, dass jede BürgerIn unter den vorhandenen Optionen wählen darf, was auch immer er oder sie will; es beinhaltet aber auch ein Recht zum Nichtwählen. Zu einer Demokratie gehört das Recht, sich nicht für Politik zu interessieren, wenngleich der Anstand dann gebietet, sich danach auch nicht lautstark zu beklagen. Das ist der Aspekt der Freiheit.

Geheim heißt, dass niemand die Wahlentscheidung nachvollziehen können darf. Dies macht die Wahl sogar ungültig, um dem Prinzip größten Nachdruck zu geben. Die DDR etwa hatte keine geheimen Wahlen, entsprechend die Praxis des Zettelfaltens und Zustimmungsraten von 97% aufwärts. Deswegen ist die DDR auch keine Demokratie, wenngleich sie sich als eine bezeichnete. Das ist der Aspekt des Geheimen.

Gleich heißt, dass sämtliche StaatsbürgerInnen ab einem gewissen Alter (früher 21, seit Willy Brandt 18) ohne Ansehen seiner/ihrer Hautfarbe, des Geschlechts oder anderer Faktoren wahlberechtigt sind. Davon gibt es einige Ausnahmen (psychisch Kranke, Auslandsdeutsche, Obdachlose und einige Straftäter), deren Zahl ist aber mit rund 80.000 in Deutschland vernachlässigbar. Das ist der Aspekt der Gleichheit.

Verfassungstheorie vs. Verfassungswirklichkeit, Teil I: Das Bundeskanzleramt

Damit haben wir geklärt, was die theoretischen Grundlagen des Wahlprozesses sind. Wie aber sieht das in der Praxis aus? Hier stoßen wir zum ersten Mal auf jenen Konflikt, den die Politikwissenschaften als den zwischen Verfassungstheorie und Verfassungswirklichkeit beschreiben. Nicht alles, was in der Verfassung steht, ist zwingend wörtlich zu nehmen. Für unsere Zwecke sind dafür zwei Bereiche besonders relevant: die Rolle der Parteien und des Bundeskanzleramts.

Kümmern wir uns zuerst um den leichteren der beiden Aspekte, das Bundeskanzleramt. Laut Artikel 65 des Grundgesetzes bestimmt zwar der/die BundeskanzlerIn die so genannten "Richtlinien der Politik", also eine Art grobe Vision, wohin die Reise gehen soll. Weiter heißt es: "Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung. Über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesministern entscheidet die Bundesregierung. Der Bundeskanzler leitet ihre Geschäfte nach einer von der Bundesregierung beschlossenen und vom Bundespräsidenten genehmigten Geschäftsordnung." Klingt das nach der Realität, in der in Deutschland Politik gemacht wird?

Vielmehr hat sich, vor allem unter Deutschlands erstem Kanzler, Adenauer, eine Realität herausgebildet, die diesen Verfassungsrahmen interpretiert und ausdehnt. Und bevor wir schauen, inwiefern das passiert ist, möchte ich einen zentralen Punkt machen, den die Besseren Demokraten (tm) häufig nicht verstehen und der für alle unsere Themen wichtig ist:

Diese Interpretation und Ausdehnung des Verfassungsspielraums ist absolut in Ordnung. Aus den dürren Sätzen des GG, die ich oben zitiert habe, lässt sich keine Realität schaffen. Diese erfordert wesentlich detailreiche Regelungen. Wo diese Regelungen nicht durch ein nachgeordnetes Regelwerk erfolgen, etwa ein Bundesgesetz (wie es für die Parteien der Fall ist), ist es Aufgabe und Pflicht der Politik, diese Regeln zu interpretieren und mit Leben zu füllen.

Was Adenauer tat war zu sehen, inwieweit der (formaljuristisch undefinierte) Begriff der Richtlinienkompetenz trägt. Anstatt dem Wortlaut zu folgen und anzunehmen, er sei primus inter pares und die Entscheidungsfindung fände konsensual in Kabinettssitzungen statt, was durchaus eine Lesart des Artikels 65 wäre, entschloss er sich, den ersten und letzten Satz besonders in den Blick zu nehmen: Richtlinienkompetenz und Leitung der Regierungsgeschäfte. Der Rest war ihm Makulatur. Und jeder Kanzler hat es seither ähnlich gehalten.

Eine Kaskade von Konsequenzen

Das hat Folgen. Eine der offensichtlichsten ist die herausgehobene Stellung des Bundeskanzleramts. Innerhalb der Regierung liegt die Macht unzweifelhaft im Kanzleramt. Selbst unter nicht besonders dominant auftretenden KanzlerInnen wie Kurt Georg Kiesinger oder Angela Merkel bestand nie Zweifel darin, wer im Fall des Falls eine Entscheidung herbeiführen könnte. Erfolgreiche Aufstände einzelner Ministerien sucht man in der bundesdeutschen Geschichte vergebens. Solche Konflikte endeten noch immer mit dem Rücktritt des jeweiligen Ministers (und ja, es waren bisher nur Männer).

Aber auch in der öffentlichen Wahrnehmung bestimmt diese Verfassungswirklichkeit vor jeder Realität. Es gibt, auch wenn dies viele Menschen immer wieder überrascht, keine formale Möglichkeit für WählerInnen, Einfluss auf die BundeskanzlerInnenwahl zu nehmen. In der Theorie hält nichts die CDU davon ab, mit Merkel in den Wahlkampf zu ziehen und dann Philipp Amthor zu wählen. Oder, sagen wir, für die CDU und FDP mit dem Versprechen in den Wahlkampf zu ziehen, nicht mit der AfD zu kooperieren und dann mit ihren Stimmen einen FDP-Mann zum Ministerpräsidenten zu wählen, dessen Partei mit 12 Stimmen über die 5%-Hürde kletterte und dessen Wahl im Wahlkampf selbst nie eine Rolle spielte.

Die Absurdität dieses Szenarios auf Bundesebene und der gewaltige Backlash auf die tatsächliche Umsetzung in Thüringen zeigen aber, dass die Verfassungstheorie ein schlechter Ratgeber für politische Entscheidungen ist. Weder Amthors hypothetische noch Kemmerichs sehr reale Wahl entsprechen dem, was der Souverän unter Politik versteht. Die Kanzlerkandidatur, die dem Grundgesetz völlig fremd ist, ist seit der Bundestagswahl 1953 ein Fixpunkt deutscher Politik. Legitime(r) KandidatIn für das Amt ist (bislang!) nur, wer auch in den Bundestagswahlen selbst bereits als KandidatIn gehandelt wurde.

Der Grund dahinter ist einfach.  Jegliches politisches System braucht Legitimität. Ohne Legitimität bricht es zusammen. Man muss nur auf den geräuschlosen und vollständigen Zusammenbruch der DDR 1989/90 sehen, um das zu erkennen. Das System genoss in den Augen der Bevölkerung keine Legitimität, ergo gab es keinen Widerstand gegen sein Wegfallen, gab es niemanden, der es in seiner Form erhalten wollte. Wäre dies nicht so gewesen, hätte die SED keinen Grund gehabt, sich in PDS umzubenennen. Legitimität gewinnt in unserer Demokratie aber nur, wer sich vorher auch zur Wahl stellte.

Deswegen ist die theoretisch eigentlich mächtige Rolle des Parlaments in der Kür des/der BundeskanzlerIn auch eine rein praktisch rein zeremonielle. Folgen wir dem Wortlaut des Grundgesetzes, könnte der Bundestag in einer riesigen, lebendigen Debatte bei der ersten konstituierenden Sitzung in freier Wahl eine beliebige Person deutscher Staatsbürgerschaft über 35 Jahren zur/zum KanzlerIn wählen. De facto ist das unvorstellbar.

Aber: Solche in der Verfassungstheorie vergrabenen Relikte können in Zeiten der Krise urplötzlich mit gewaltiger Wirkmacht hervorbrechen. Würden die Wahlen 2021 etwa keine Mehrheit für irgendeine Seite ergeben - ein Szenario, das ja 2017 bereits für einige Tage Realität war, ehe der Bundespräsident die SPD zu der staatsbürgerlichen Verantwortung zwang, aus der die FDP sich zuvor geflüchtet hatte -, so könnte ein solcher Passus urplötzlich wieder hervorgegraben werden. Thüringen hat gezeigt, wie schnell solche formaljuristisch korrekten Prozesse die etablierten demokratischen Normen aushebeln können. Systemzersetzende Parteien wie die AfD warten nur auf solche Momente, um mit Verfassungstheorie die Verfassungspraxis auszuhebeln - und neue Praxis zu schaffen.

Als Seitenbemerkung zu diesem ganzen Themenkomplex wäre es im Übrigen durchaus möglich, das Bundespräsidentenamt wesentlich expansiver auszulegen, als das bisher getan wird. Die Verfassung erlaubt es durchaus, eine wesentlich aktivere Rolle im Politikgeschehen einzunehmen. Dass dies bisher nicht passiert ist, liegt an der starken Kraft der Normen, die vor allem durch Theodor Heuss' Präzedenzfall als erster Bundespräsident und die Selbstbindung aller folgenden Bundespräsidenten an diese Normen. Aber es gibt keinen Grund, warum nicht etwa ein AfD-Bundespräsident das Amt nicht nutzen sollte, um die Demokratie aktiv zu zerlegen. Die Mittel dafür stünden ihm (und sind wir ehrlich, es wäre ein "er") zur Verfügung. Dieses Horrorszenario liegt aber außerhalb des Fokus dieses Artikels. Es sei nur darauf hingewiesen, dass man solche Normen nicht für gegeben halten sollte.

Damit haben wir gesehen, wie die Exekutive durch den Konflikt von Verfassungstheorie und Verfassungswirklichkeit definiert wird. Aber im Guten wie im Schlechten geht die Bevölkerung, selbst die Besseren Demokraten (tm), ohnehin davon aus, dass die Regierung umsetzt, was auch immer die Regierung umzusetzen in der Lage ist. Die Hoffnung auf ein Korrektiv richtet sich daher nicht an das Kabinett - auch wenn diesem laut GG die Rolle eigentlich durchaus zusteht - sondern auf die Judikative und die Legislative. Und letztere wird von den Parteien dominiert, im Guten wie im Schlechten.

Verfassungstheorie vs. Verfassungswirklichkeit, Teil II: Die Parteien

Nirgendwo wird der Widerspruch zwischen Verfassungstheorie und Verfassungswirklichkeit so deutlich wie bei den Parteien. Der entsprechende Passus des Grundgesetzes, Artikel 21, verdient es, dazu zur Gänze zitiert zu werden. Keine Bange, das dauert nicht lange.
(1) Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben.
(2) Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig.
(3) Parteien, die nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgerichtet sind, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind von staatlicher Finanzierung ausgeschlossen. Wird der Ausschluss festgestellt, so entfällt auch eine steuerliche Begünstigung dieser Parteien und von Zuwendungen an diese Parteien.
(4) Über die Frage der Verfassungswidrigkeit nach Absatz 2 sowie über den Ausschluss von staatlicher Finanzierung nach Absatz 3 entscheidet das Bundesverfassungsgericht.
(5) Das Nähere regeln Bundesgesetze.
Nur wenig an der bundesdeutschen Verfassungsordnung fasziniert mich so sehr wie die offensichtliche Diskrepanz zwischen diesem Artikel und dem, was in der Realität passiert. Und hier besteht, glaube ich, auch das größte Verständnisproblem der Besseren Demokraten (tm). Sehen wir uns zuerst kurz die harmlosen Absätze an.


Absatz 2 gibt dem deutschen Staat das Recht, verfassungswidrige Parteien zu bekämpfen. Was hier in einem Satz abgefrühstückt wird ist das Kernstück der so genannten "wehrhaften Demokratie", einer der entscheidenden Lehren aus Weimar: Die Demokratie muss, im Sinne Karl Poppers, intolerant gegenüber den Intoleranten sein, um tolerant bleiben zu können. Seit den Urteilen von 1952 und 1956, die die SRP und KPD verboten, kam es in der BRD zu keinem erfolgreichen Urteil mehr. Drei Versuche, die NPD zu verbieten, scheiterten.

Aber wie so häufig ist es die aus der Theorie entstehende Praxis und die aus ihr strömende Legitimität, die den eigentlichen Kernpunkt ausmacht: Zwar werden keine Parteien verboten; aber die Existenz dieses Artikels, die Drohung mit dem scharfen Schwert des Rechtsstaats sorgt dafür, dass Parteien gewisse Grenzen nicht überschreiten. Ohne die Drohung von Absatz 2 wäre die AfD sicherlich eine weitaus extremistischere Partei, als sie es ist.

Absatz 3 und 4 sind dafür nur Ergänzungen; sie geben die formaljuristische Grundlage für den Entzug von Geldern - in Deutschland das Todesurteil jeder Partei - und regeln, wo der Prozess stattfindet (im BVerfG).

Kommen wir zum eigentlichen Kern des Artikels: Absatz 1.

Die drei Sätze dieses Artikels haben es in sich. Sie ziehen die Leitplanken der gesamten politischen Realität in Deutschland ein, weit mehr noch, als es die meisten anderen Artikel tun. Schauen wir sie uns nacheinander an.

Der zweite Satz ist, ebenso wie gerade diskutierten Parteiverbote, ein Erbe Weimars. Jede Partei Deutschlands muss zwingend demokratisch sein, nach innen wie nach außen. Das ist von zentraler Bedeutung. Damit sind in der BRD Parteien, die die parlamentarische Demokratie in der Form des Grundgesetzes ablehnen, nicht zulässig. Aber noch mehr: Die Parteien müssen alle parteiintern ebenfalls demokratisch sein. Das ist eine clevere Setzung, denn sie sorgt dafür, dass die Funktionsträger dieser Parteien demokratisch sozialisiert werden und in demokratischer Politik versiert sind.

Der dritte Satz klingt nach dröger Verwaltung, ist aber ebenfalls von herausragender Wichtigkeit. Die öffentliche Rechenschaftspflicht über ihre Gelder sorgt dafür, dass die Parteien nicht von mächtigen Einzelinteressen gekapert werden können. Es ist kein Zufall, dass sich CDU und FDP mit Händen und Füßen gegen diese Regel wehren und dass gerade aus der CDU der größte Parteispendenskandal der bundesdeutschen Geschichte entsprang (oder dass die PDS ihr Parteivermögen mit so großem Aufwand verschleierte). Ohne Geld gibt es keine Macht. Demokratie ist teuer. Aber nur auf demokratischem Weg erzieltes Geld garantiert demokratische Ergebnisse. Daher dieser Absatz.

Der erste Satz ist der faszinierendste. Die Parteien "wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit". Das ist Verfassungstheorie in Reinform. In der Verfassungsrealität läuft die politische Willensbildung des Volkes praktisch ausschließlich über die Parteien. Wir werden gleich sehen, warum.

Die Antwort auf diese Frage findet sich im fünften Absatz. "Das Nähere regeln Bundesgesetze." Ein Satz von geradezu poetischer Schlichtheit, in dem sich der Sprengstoff verbirgt, der die Besseren Demokraten (tm) zur Verzweiflung treibt und den sie auf Teufel komm raus nicht verstehen. Im nächsten Artikel dieser kleinen Serie werden wir uns damit auseinandersetzen, warum, und einen Blick auf die Maschinisten der deutschen Politik werfen.

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