Dienstag, 26. November 2019

Die verlorene Generation

Eines der beliebtesten Bonmots der politischen Demographie ist das Churchill zugeschriebene Zitat: „Wer mit 20 nicht liberal ist, hat kein Herz; wer mit 30 immer noch liberal ist, hat keinen Verstand.“ In unzähligen Abwandlungen ist die Formel von „Jung=Progressiv, Alt=Konservativ“ in den Wissensbestand der Gesellschaft übergegangen. Wie so häufig bei Dingen, die „jeder weiß“ entbehrt es jeglicher Grundlage. Vielmehr haben politikwissenschaftliche Studien ergeben, dass die politische Prägung der Jugend und des frühen Erwachsenenalters in den allermeisten Fällen beibehalten wird. Die Generation der Millenials wird also wohl auch im Rentenalter noch grünen Parteien zuneigen.

Diese Geschichte hat natürlich eine Moral. Wenn der Terroranschlag von Halle etwas gezeigt hat, dann, dass wir drauf und dran sind, eine Generation von jungen Männern an die extreme Rechte zu verlieren. Und wenn die Politikwissenschaftler Recht haben – wonach alles aussieht – dann verlieren wir sie nachhaltig.

Innenminister Horst Seehofer hat viel Spott für seine direkt nach dem Anschlag geäußerte Forderung geerntet, die Gamerszene stärker zu überwachen. Gleich einer kaputten Uhr, die zweimal am Tag richtig geht, ist der CSU-Minister damit aber ausnahmsweise einmal grundsätzlich auf dem richtigen Weg, wenngleich man bezweifeln darf, dass Seehofer das wirklich klar ist und er nicht davon spricht, alle zu überwachen, die einen Account bei Steam, Origin oder im Epic Store haben. Die gute Nachricht für die Sicherheitsbehörden ist, dass die zu überwachende Gruppe wesentlich kleiner ist als die Millionen, auf die Seehofer abzielt.

Der Terrorist von Halle hat sich im Internet radikalisiert. Seine politische Blase befand sich im Morast der Messageboards um 4Chan und 8Chan (letzteres mittlerweile dankenswerterweise offline). Diese Foren sind voller extremistischen Unrats. Subforen, in denen Mord-, Vernichtungs- und Gewaltfantasien, auch sexualisierter Natur, Raum gegeben wird, unmoderiert und unkontrolliert. Austauschforen für Memes extremistischen Inhalts. Einschlägige YouTube-Kanäle, Discord-Kanäle und Twitch-Streams. Es handelt sich um einen einzigen gärenden Nährboden für rechtsextreme Ansichten.

Man sollte dabei nicht den Fehler machen, sich ein Message-Board von Nazi-Glatzen vorzustellen. Das Bild, das man sich vor dem geistigen Auge halten muss, sind die College-Buben von Charlottesville mit ihren Tikifackeln. Diese neuen Rechten kommen nicht aus den heruntergekommenen Verlierervierteln des Ostens, erfüllen nicht das Klischee von Hartz-IV, Springerstiefel und Bierflasche. Es sind junge Männer, die durch einen Prozess der Selbstradikalisierung liefen, der von ihrer (digitalen) Umgebung mitgestaltet wurde.

Die Ausläufer dieser Radikalisierung finden sich – und hier deckt sich die aktuelle Uhrzeit mit Seehofers kaputten Chronometer – beispielsweise in der Gamerszene. Homophobe und sexistische Beleidigungen sind ebenso gang und gäbe wie rassistische Bemerkungen. Diese sind von den Leuten, die sie in Momenten der Wut eintippen oder direkt in den VoiceChat speien, nie so gemeint. Aber sie werden auch nicht sanktioniert. So findet eine Enthemmung statt, die, wenn moderierende Einflüsse fehlen, Rückwirkung auf die restliche soziale Umgebung hat.

Hierzu dienen denn etwa die Chan-Foren oder die zahllosen Meme-Generatoren und -Multiplikatoren des Internets. Hier finden sich zahllose lustig gemeinte Memes, die fast durch die Bank in sexistische, homophobe oder rassistische Richtung gehen. Das zieht sich vom Feiern des Sturmtrupplers aus „Star Wars – Das Erwachen der Macht“, der den (schwarzen) Rebellen Finn einen „Verräter“ schimpft und mit einer Science-Fiction-Variante eines Polizeischlagstocks attackiert über gewalttätige alternative Enden des „You and me“-Comicstrips zu zahllosen Vergewaltigungsfantasien bezüglich Frauen, die mit halbnacktem oder nacktem Körper mit der Aufschrift „Still not asking for it“ genau gegen solche Fantasien protestieren.

Oft genug werden solche Memes „nur ironisch“ konsumiert. Genauso ironisch, wie man die Hasskommentare beim Spielen und Streamen ja gar nicht meint. Aber es ist ein merkwürdiger psychologischer Effekt, dass Dinge, die man ironisch gut findet, binnen Jahresfrist Teil der eigenen Identität werden. Das ironische Feiern der Popkultur der 1980er Jahre hat nicht ohne Grund binnen kürzester Zeit zu einem der größten nostalgiegetriebenen Unterhaltungstrends unserer Zeit geführt.

Diese Desensibilisierung gegenüber Rassismus, Sexismus und Homophobie ist in der Gamerszene weit verbreitet. Sie wird durch die tiefe Unsicherheit des Wandels der Szene und des Mediums befeuert. Rund 30 Jahre lang, vom Entstehen der Szene in den 1980er Jahren bis in die frühen 2010er Jahre, gehörte es stets zum Selbstverständnis, zu einer kleinen, ab- und ausgegrenzten Minderheit zu gehören.

Die Älteren werden sich noch an die Flut von stupiden Debatten erinnern, die besonders zu Beginn der 2000er Jahre über die Bundesrepublik hinwegrollten, als die ersten Amokläufe wie in Erfurt aufkamen und exklusiv Videospiele verantwortlich gemacht wurden. Die FAZ entblödete sich seinerzeit nicht, zu erklären, dass in dem Spiel Counter-Strike Bonuspunkte durch das Schießen auf Großmütter und Kinderwägen erzielt werden konnten, in einem Spiel, in dem es an Bonuspunkten ebenso mangelte wie an Großmüttern und Kinderwägen. Man war beständig missverstanden und fühlte eine Solidarität untereinander. Doch wie bei allen Phänomen des Nerdstreams, so öffnete sich auch das Medium der Games für breitere Schichten. Gelegenheitsspieler noch und nöcher trieben die Gewinne der Entwicklerstudios in die Höhe. Gaming wurde vom sozialen Stigma zur allseits akzeptierten Freizeitbeschäftigung.

Man könnte naiv sagen, dass das ja etwas Gutes sei. Aber für eine Kerngruppe sich als Gamer begreifender und identifizierender Hardcore-Spieler handelt es sich um den Verlust des Paradieses, ein Eindringen ungewaschener Barbaren in den Garten Eden. Denn wie jeder Neuankömmling stellten auch die Millionen neuer „Gamer“ Ansprüche an das Medium. Und diese Ansprüche vertrugen sich nicht mit den eingeübten, oft arkanen Praktiken der Originalszene.

Diese Spannungen explodierten 2014 an die Oberfläche. Eine Generation weiblicher Entwickler und Gamer – Zoe Quinn und Anita Sarkeesian seien pars pro toto genannt – gingen neue Wege und kritisierten lange tradierte Formen des Gamings. Die Reaktion war ebenso virulent wie gewalttätig. Hasspostings und Hassvideos fluteten die einschlägigen Kanäle. In den Chan-Foren wurde ein programmiertes Mini-Game durchgereicht, in dem man Sarkeesian blutig schlagen konnte. Die reale Aktivistin brauchte ob der zahlreichen Morddrohungen Polizeischutz.

Die Reaktionen der Gamerszene reichten von Ignoranz über Leugnung zu Relativierung und direkter Unterstützung der Täter. Diese Phänomene haben sich seither nicht verbessert. Die Subkultur fühlt sich attackiert und führt die Attacke auf eine sich wandelnde Gesellschaft zurück, in der Frauen und Minderheiten gleiche Rechte und Repräsentation einfordern – was in einem einst so männlich dominierten Medium wie Videospielen zu ähnliche Verwerfungen und Sinnkrisen führen muss wie die Herausforderung der männlich dominierten Vorstandsetagen durch #metoo.

Es ist dieser Nährboden, der bei einer winzigen Splittergruppe dieses so profund verunsicherten Spektrums dazu führt, in der Sprache dieser Subkultur zu Terror zu greifen. Die Zahl dieser Täter ist klein; ihre Einhegung und Überwachung, ganz im Seehofer’schen Sinne, Aufgabe der Sicherheitsbehörden.

Wesentlich weitreichender aber ist die Radikalisierung breiter Schichten dieser jungen Männer, die zwar nicht die ultimative terroristische Konsequenz, sehr wohl aber das sie speisende Unbehagen am gesellschaftlichen Wandel teilen, dieses ständige, unterbewusste Gefühl, etwas teilen zu müssen, das man vorher alleine innegehabt hat. Die jungen Männer driften vermehrt nach rechts.

In Deutschland können wir dies ebenso an den Wahlergebnissen ablesen wie in den USA. Männer unter 30 tendieren wesentlich stärker zu AfD oder Donald Trump, als es ihre weiblichen Gegenparts tun; in Deutschland ist die Zuwendung zu der rechtsradikalen Partei bei jungen Männern mittlerweile stärker als bei alten Männern. Hier wächst eine verlorene Generation heran, die auf Jahrzehnte hinaus für Demokratie, Pluralismus und Freiheit verloren sein könnte. Es ist ein bedrückendes Bild, das Handeln und Vorbilder erfordert – gerade aus der Szene, aus der sie sich speisen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.