Donnerstag, 21. November 2019

Revolution in den Vorstädten: Das neue Realignment

Es ist heute kaum mehr vorstellbar, aber es gab eine Zeit, da waren die Democrats die Partei der Südstaatenrassisten und des Ku-Klux-Klan. Diese Zeit endete in den 1930er Jahren, als in einem als "realignment" - Neuausrichtung - benannten Prozess die beiden Parteien effektiv ihre Wähler tauschten. Aus der historischen Rückschau wirkt der Prozess als klar definierbar und abgeschlossen, aber in Wahrheit zog er sich über Jahrzehnte. Es ist für die amerikanische Geschichte auch nichts Neues. Die Demokratie befindet sich einem ständigen Neuausrichtungsprozess. Die Parteien versuchen, neue Wählerschichten zu erschließen, und bestehende Wählerschichten wandern ab. Aktuell schälen sich die Konturen eines neuen realignments ab: nicht so bedeutend wie der komplette Wähleraustausch des 20. Jahrhunderts, der aus den Republicans eine rechtsgerichtete, ihre Basis im rassistisch-weißen Süden habende machte. Aber spürbar, und mit gewaltigen Auswirkungen auf die Wahlchancen beider Parteien.

Ein Blick zurück

Bevor wir allerdings darauf schauen, möchte ich einen Blick auf ein beinahe abgeschlossenes kleines realignment werfen, das uns als Folie für unsere Analyse dienen soll. Zu diesem Zweck müssen wir eine kleine Zeitreise machen, in die Jahre um die Mitte des letzten Jahrzehnts. Der Irakkrieg hatte begonnen und trieb seinem blutigen ersten Höhepunkt in Falludscha zu, und die Bush-Regierung zeigte der Welt ein Bild des hässlichen Amerikaners, wie es bis zu Trumps Wahl nicht wieder gesehen werden sollte.

Tonangebend in Bushs Regierung waren die so genannten Neocons. Bei ihnen handelte es sich um außenpolitische Falken. Sie waren für eine aggressive US-Interventionspolitik, um Demokratie und Freiheit mit den Stiefeln der US-Army überall in die Welt zu exportieren. Es war eine Zeit, in der Max Boot davon schwärmen konnte, dass das amerikanische Imperium für die Welt ähnlich segensreich wie "100 Jahre zuvor aufgeklärte Europäer in Tropenhelmen" wäre.

Heute ist Boot einer der wenigen verbliebenen Never-Trumper (wir haben hier über sie geschrieben). John Bolton wurde gefeuert. Lindsay Graham, noch nie für übermäßig viel Rückgrat oder Integrität bekannt, hat sich von einem der heißblütigsten Neocons komplett als Trump-Kreatur neu erfunden, die möglichst effektiv Frauen und Minderheiten beleidigt. Kurz, die Neocons sind raus. Sie haben in der GOP keinen Platz und keinen Einfluss mehr. Es gab ein realignment. Wenigstens rhetorisch sind die Republicans zu ihren isolationistischen Wurzeln zurückgekehrt, wenngleich der Appetit an Interventionen nicht nachgelassen hat. Wie bei allen Dingen Trump sagt man jetzt nur die schockierendsten Dinge, etwa, dass man in anderen Ländern wegen des Öls einfällt oder gerne Schutzgeld hätte.

Vietnam-Syndrom

Für die Neocons, die tatsächlich aufrichtig an ihre Mission, die Welt durch B52-Bomber und M4-Sturmgewehre zu einem besseren Ort zu machen, geglaubt haben, ist das keine neue Erfahrung. Sie haben sie bereits einmal durchgemacht. Zwischen 1968 und 1972 verließen sie ihre damalige Heimat, die Democrats. Der Abgang von Präsident Johnson, dessen Amtszeit synonym mit dem Vietnamkrieg geworden war, und die Niederlage seines Vizepräsidenten 1968 und dann bei der Nominierung 1972 gegen den Linksaußen George McGovern brachte den Pazifismus als Mainstreamströmung in die Partei.

Die Falken waren raus, und die Ex-Hippies und ehemaligen Friedensdemo-Gänger hatten eine neue politische Heimat. Im Verlauf der 1970er Jahre erfanden sich die vormals demokratischen Falken als Neo-Konservative neu und hängten sich an die Kandidatur Ronald Reagans, unter dem sie schnell zu alter Macht und Einfluss zurückkehrten. Der Rest ist Geschichte.

Woher kam es? Beim ersten Mal versuchten die Democrats, ihre zunehmend progressivere Parteibasis wieder einzufangen und an die Partei zu binden und reagierten auf deren verbreiteten Wunsch, den Vietnamkrieg als Fehler zu betrachten und außenpolitische Abenteuer künftig zu opponieren, was sie denn bis zur Präsidentschaft Clintons auch taten. Dafür gewannen sie die 68er-Demonstranten. Angesichts der Wahlergebnisse der kommenden Dekaden kann man darüber streiten, ob das für die Partei ein Gewinn war.

Echos von South Carolina

2016 brach Donald Trump entschieden mit den Neocons, als er auf offener Bühne in South Carolina Jeb Bush mit den Worten "Bush lied, people died" einen bisher eigentlich linken Punkt als Fehdehandschuh hinwarf - und Bush feststellen musste, dass die Zahl derer, die Neocon-Ideen nahestanden, wesentlich geringer war als gedacht, während umgekehrt eine bisher politisch heimatlose Gruppe prekär lebender Weißer den Ideen des Trump'schen Protektionismus und Rassismus aufgeschlossen gegenüberstand. Die Neocons waren raus, die Globalisierungsverlierer drin. Auch hier steht ein großes Fragezeichen über dem Gesamtnutzen für die Partei.

Wechselnde politische Prioritäten der Wähler können für solche kleinen, übersichtlichen Gruppen einen schnellen Wandel bedeuten. Doch natürlich finden solche Prozesse auch mit größeren, elektoral wesentlich relevanteren Gruppen statt (die Neocons besaßen zwar viel publizistischen Einfluss, aber wie bei den Libertären ist ihre Zahl deutlich geringer als ihre öffentliche Wirksamkeit). Und aktuell sind wir in einem Realignment-Prozess, der zwar langsam, aber stetig die Zusammensetzung der Wählerschaften ändert - und damit auch Personal und Politiken der beiden Parteien.

Männer und Container

Bereits seit längerem verliert die politische Linke die Loyalität der Schicht, die sie einst überhaupt erst zu einem Machtfaktor machte: männliche weiße Arbeiter. Dabei handelt es sich um ein weltweites Phänomen, das aber eben auch in den USA zu begutachten ist. Das bisherige Synonym von "links" und "Arbeiterpartei" gilt immer weniger. Diese Entwicklung zu konstatieren ist nicht gerade eine neue Idee, sie wurde seit 2016 landauf, landab diskutiert - vor allem unter dem Schlagwort der Analyse der "Obama-Trump-Wähler" - und ist uns hier von der Analyse der AfD-Wahlergebnisse ebenfalls bekannt.

Der politische Durchbruch des Rechtspopulismus, der so lange Jahre keine politische Heimat hatte und nun entweder konservative Parteien gekapert hat - wie in den USA oder im UK - oder sich als Partei neu etabliert hat - wie in Deutschland oder Frankreich - hat damit auch ein politisches Angebot zurück auf den Tisch gebracht, das seit dem Rechtsschwenk der sozialdemokratischen Parteien in den 1980er und 1990er Jahren als Reaktion auf den Dauererfolg der Konservativen nicht bedient wurde: ökonomischer Populismus.

Trump gewann die Stimmen der weißen Arbeiter mit zwei zentralen policy-Versprechen, die er rhetorisch stets geschickt mit ungewohnt direktem und scharfen Rassismus und Sexismus zu verknüpfen wusste. Diese Versprechen waren die Abschottung des heimischen produzierenden Gewerbes (beziehungsweise seiner kläglichen Reste) und die staatliche Subventionierung der absterbenden Branchen. Man denke nur an Trumps Auftritt in West Virginia, als er in einem weißen hard hat das Schaufeln von Kohle imitierte, während Tage zuvor Hillary Clinton die ungeschminkte Wahrheit verkündete, dass der Kohlebergbau ohne Zukunft war und es Umschulungs- und Umstrukturierungsmaßnahmen brauchte.

Wie immer in der Politik bestand keine Nachfrage an Wahrheit, aber an Mythen und identity politics. Trump identifizierte sich selbst, so oberflächlich und hohl diese Identifizierung angesichts seines ganzen Werdegangs auch sein mochte, mit den Verlierern und gab ihnen, was sie wollten: "Ihr seid nicht schuld. Mit euch ist alles okay. Es sind die anderen, die schuld sind." Und das ist es, was jeder Mensch hören will.

Trump wirkte wie ein Brandbeschleuniger in einem seit den 1980er Jahren andauernden Prozess der Ablösung der weißen Arbeiterschicht von den Democrats zu den Republicans, mit nicht geringer Schützenhilfe von einem Clinton-Wahlkampf, der ein geradezu handgeschneidertes Feindbild abgab. Dieses realignment hat seither auch nicht aufgehört, sondern setzt sich unvermindert fort - in allen Ländern des Westens.

Frauen und Hosenanzüge

Natürlich waren weder Clinton und ihr Wahlkampfteam noch die Democrats zu blind, um das zu sehen. Ihre Wette war vielmehr, dass eine andere Kraft des realignment ihre Verluste nicht nur kompensieren, sondern übertreffen würde. Keine Partei ist je in der Lage, alle gesellschaftlichen Gruppen zu repräsentieren. Deswegen gibt es Wahlergebnisse jenseits der 60% für eine Partei eigentlich auch nur in autoritären Staaten, in denen der Pluralismus allenfalls ein theoretisches Dasein fristet (von Ausnahmen wie Verhinderungswahlen à la Chirac oder Macron einmal abgesehen).

Wann immer eine Partei neue Wählerschichten erschließt, wird sie irgendwo auch alte verlieren. Das mag manchmal ein klares Plus-Geschäft sein: der Verlust der Neocons etwa bescherte beiden Parteien in beiden Fällen mehr Wähler, als sie verloren. Es gab mehr Hippie-Demonstranten als Vietnamkriegsbefürworter, und es gab mehr Globalisierungsverlierer als Irakkriegsbefürworter. Häufig genug aber ist die Rechnung nicht so einfach. Die Wette, die die Democrats 2016 eingingen, war folgende: Die geringen Verluste bei der weißen Arbeiterschicht würden durch die zahlreichen Affronts Donald Trumps gegen republikanische Kernideen und Kernwählerschaften aufgehoben, so dass die Democrats massiv in republikanische Wählerschichten einbrechen konnten: den Heiligen Gral Suburbias, die Vorstädte mit ihren gepflegten Rasen vor breiten Garageneinfahrten und großen Einfamilienhäusern. Sie waren seit Jahrzehnten fest in der Hand der GOP, und der DNC war entschlossen, sie ihnen zu entreißen.

Die Rechnung ging beinahe auf. Die weißen Frauen in den Vorstädten, seit Jahrzehnten eine verlässliche Kernwählerschaft der Republicans, stimmte 49:49. Erstmals verlor die GOP ihre klare Mehrheit. Dass es NUR 49:49 ausging, trotz Access Hollywood und all den anderen Skandalen, lag vor allem an zwei Faktoren: Comeys Brief und der Langsamkeit solcher Wandlungsprozesse.

Kurz gesagt: Die Ablösung der weißen Arbeiter von den Democrats war seit längerer Zeit in Gange als die weißer Frauen von den Republicans, und Trump war ihnen ein wesentlich besserer Avatar als Clinton der Gegenseite.

Backlash

Aber wie jedes Mal bringt jeder Wandel eine Gegnerschaft, jede Aktion eine Reaktion, jeder Aktivismus einen Backlash hervor. Wir Progressiven sind daran gewöhnt. Trumps Sieg ist das erste Mal seit langem, dass die Dynamik unter umgekehrten parteipolitischen Vorzeichen abläuft. Der Sieg Trumps mobilisierte die Frauen in einem Ausmaß, das der vorherigen Mobilisierung der weißen Arbeiter durch den Präsidenten im Wahlkampf (die Wahlbeteiligung war wesentlich höher als in den Jahrzehnten zuvor, ein zentraler Faktor für die 77.000 Stimmen Unterschied in vier Staaten, die ihm den knappen Sieg brachten) in nichts nachstand.

Bereits am Tag nach seiner Amtsübernahme protestierten Millionen Frauen im ganzen Land. Und die Einschläge folgten. Die Pussyhats. Harvey Weinstein. #metoo. Judge Moore. Brett Kavanaugh. Seit zwei Jahren jagt ein Ereignis nach dem nächsten. Das öffentliche Bewusstsein, die gesamte Debatte, hat sich völlig gewandelt. Und mit ihr die Democrats. Der Kampf, den sie 2016 mit einer auf den Rücken gebundenen Hand führten - man erinnere sich an Trumps vernichtende Reaktion auf die Veröffentlichung des Access-Hollywood-Videos: "Bill Clinton war noch schlimmer" - war nun offen.

Erneut tätigen beide Parteien eine Wette. Die Republicans wetteten, dass die Wut und der Protest der Democrats den realignment-Prozess der weißen Männer zu ihrer Partei ein weiteres Mal anfeuern und ihnen den Sieg bringen würden. Die Democrats wetteten, dass dieser Prozess seinen Zenit erreicht hatte und dass die Wählerwanderung, auf die man 2016 gehofft hatte, 2018 verspätet folgen würde.

Die Einsätze waren hoch. Um die 2016 noch unscharfe Position der Partei in diesen Fragen zu schärfen, hatten die Democrats gnadenlos ihr Haus in Ordnung gehalten. Am offenkundigsten wurde dies 2017 beim Rücktritt Al Frankens. Franken war ein Shooting-Star der Partei, ein überaus beliebter und super-effektiver Senator. Als glaubhafte Anschuldigungen von sexueller Belästigung aufkamen, zwangen die Parteifrauen - Kirsten Gillebrandt und Nancy Pelosi ganz vorne - ihn zum Rückzug. Es war ein hoher Preis. Und viele Beobachter bezweifelten, dass sich die Säuberung der Partei von Sexualstraftätern auszahlen würde.

Dann kamen die Midterms 2018. Weiße Frauen in den Vorstädten wählten 54:45 die Democrats. In einem Erdrutschsieg eroberte die Partei bei den Midterms 2018 über 40 Sitze im Repräsentatenhaus, knapp die Hälfte durch junge Frauen.

Ein Blick nach vorn

Die Hoffnung der Democrats ist, diesen Sieg als Sprungbrett zu einer völligen Eroberung der Vorstädte nutzen und damit in Staaten vordringen zu können, die von Suburbia dominiert und bisher feste Basen der GOP sind. Der erste Preis ist Texas, ein Staat, der seit mittlerweile 20 Jahren jedes Jahr ein ganz kleines bisschen blauer wird und so etwas wie der Weiße Wal des DNC ist. Aber auch andere Staaten des Sun Belt wie Arizona oder Georgia sowie natürlich Florida sind Ziele, die die Democrats nur zu gerne übernehmen würden.

Denn das ist das größte Problem, dem sie sich aktuell gegenübersehen. Das realignment schreitet voran, aber es tut das nicht gleichmäßig und nicht besonders schnell. 2016 profitierten die Republicans davon, dass es in den Staaten des Mittleren Westens schneller vorangeht als im Sun Belt. Obwohl die Partei bereits seit gut zwei Dekaden praktisch nicht mehr fähig war, landesweite Mehrheiten zu mobilisieren, reicht es dank der Verzerrungen des Electoral College noch, das Präsidentenamt zu erobern. Und in den Bundesstaaten selbst verzögern die Republicans den realignment-Prozess durch Wahlunterdrückung und gerrymandering.

Allen Beteiligten ist klar, dass diese Dynamik gegen die Republicans arbeitet. Das ist der Grund, warum Mitch McConnell seit Jahren nur daran arbeitet, der künftigen demokratischen Mehrheit möglichst viele Hürden in den Weg zu legen. Die Frage ist nur, wann das passiert - und wie die Republicans dann darauf reagieren werden. Jedes realignment lässt Verlierer zurück, hinterlässt Lücken im politischen Angebot, stößt bisherige Verbündete ab. Das Wohl und Wehe von Parteien entscheidet sich daran, wie gut sie in der Lage sind, darauf zu reagieren.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.