1) Economic populism is the new center
Even lower-income Republicans are far more supportive of progressive economic policies than conventional wisdom suggests. This is according to a June study from the Democracy Fund Voter Study Group, which revealed that lower-income Republicans are "substantially more economically progressive" than higher-income Republicans. One in five Republicans, they found, hold views on economics that are more in line with progressive Democrats. Another survey found that more than 75 percent of Americans support raising taxes on the wealthy, and more than 60 percent favor a wealth tax, as proposed by Warren and Sanders. Even a Fox News poll from earlier this year found that a majority of Republicans support increasing taxes on the super-rich and increasing domestic spending. [...] Presenting tax plans to voters without attributing them to a specific candidate, the plans of Warren and Sanders received a combined 65 percent of respondents' support, and the Warren's plan was more popular with independents and Republicans than the tax legislation passed by Trump and Republicans in 2017 (all together, Trump's plan had the support of only 1 in 5 voters and 3 in 10 Republicans). If this tells us anything, it's that many voters (including Republicans) are far more progressive than they realize. If the "center" denotes policies that tend to unite the general electorate, then progressive policies are the center, while the policies advocated by Wall Street Democrats and Republicans are fringe. The truth is that the center is very different for general voters than it is for economic elites, who cloak their arguments in the language of pragmatism yet ultimately care more about their own interests. (Conor Lynch, The Week)I hate to break it to you, but: It always was. Ernsthaft, ökonomischer Populismus war immer populär und wird es auch immer sein, wie Populismus generell. Deswegen ist es ja Populismus. Es war schon immer mehrheitsfähig, die Reichen zu besteuern und dafür Wohltaten für die Mitte auszuschütten. Der gigantische Erfolg der Neoliberalen war es, ein Tabu darüber zu errichten, quasi ein political-correctness-Konstrukt, innerhalb dessen es als politisch inkorrekt galt, darüber zu reden. Dieses Meinungskartell hat recht lange gehalten - den besseren Teil von 20 Jahren mindestens. In den USA waren es halt die Rechtspopulisten, die diese political correctness als erste brachen. Während sich Hillary Clinton nicht traute, für eine Mindestlohnerhöhung einzutreten, zertrat Donald Trump den bis dato sakrosankt gehaltenen Konsens zum Freihandel - und legte damit offen, WIE populär ökonomischer Populismus war. Die Rolle seiner Gegnerschaft zu NAFTA und Konsorten, während seine Gegnerin sie gleichzeitig verteidigte, ist bei der Erklärung seines Wahlsiegs (auch von mir) glaube ich immer noch unterbewertet. Und Kandidaten wie Sanders und Warren wetten auf zweierlei: Erstens, dass die Leute bei Kapitalismuskritik das Original wählen, wenn man ihnen die Wahl gibt. Und zweitens, dass tatsächlich eine überwiegende Mehrheit der Leute ökonomischen Populismus wählt und nicht Clinton, Biden und Buttigieg Recht damit haben, dass die Mehrheit den "moderaten" Konsens teilt. Wir werden sehen, was stimmt.
2) Against Economics
There is a growing feeling, among those who have the responsibility of managing large economies, that the discipline of economics is no longer fit for purpose. It is beginning to look like a science designed to solve problems that no longer exist. A good example is the obsession with inflation. Economists still teach their students that the primary economic role of government—many would insist, its only really proper economic role—is to guarantee price stability. We must be constantly vigilant over the dangers of inflation. For governments to simply print money is therefore inherently sinful. If, however, inflation is kept at bay through the coordinated action of government and central bankers, the market should find its “natural rate of unemployment,” and investors, taking advantage of clear price signals, should be able to ensure healthy growth. These assumptions came with the monetarism of the 1980s, the idea that government should restrict itself to managing the money supply, and by the 1990s had come to be accepted as such elementary common sense that pretty much all political debate had to set out from a ritual acknowledgment of the perils of government spending. This continues to be the case, despite the fact that, since the 2008 recession, central banks have been printing money frantically in an attempt to create inflation and compel the rich to do something useful with their money, and have been largely unsuccessful in both endeavors. We now live in a different economic universe than we did before the crash. Falling unemployment no longer drives up wages. Printing money does not cause inflation. Yet the language of public debate, and the wisdom conveyed in economic textbooks, remain almost entirely unchanged. (David Graeber, New York Review of Books)Wenn ich Graebers Kritik so lese, kommt mir die Stagflation in den 1970er Jahren in den Sinn. Die Situation in den Wirtschaftswissenschaften ist durchaus vergleichbar. Der vorherige keynesianische Konsens war nicht mehr in der Lage, Antworten auf die wirtschaftliche Dynamik der Zeit zu geben. Die Globalsteuerung war an ihre Grenzen geraten; man flog quasi auf Autopilot. Das ging so einigermaßen, aber die grundsätzliche Dynamik der Stagflation ging damit nicht weg, und mit jedem Jahr, in dem ein Zustand, den es laut der Lehrmeinung nicht geben sollte, weiter bestand, erodierte die Legitimität des Konsens' - und eröffnete den Weg dafür, dass die bis dahin randständigen Monetaristen übernehmen konnten. Heute ist es der "Washington Concensus", der in einer ähnlichen Situation ist. Laut der Lehrmeinung müssten die hohen Staatsverschuldungsquoten und permanent niedrigen Leitzinsen zu Inflation und Instabilität führen - und beides passiert nicht. Eine Antwort darauf haben die Konsens-Ökonomen nicht; stattdessen warnen sie beständig davor, dass bald - dann aber wirklich! - die Inflation kommt. Und liegen permanent falsch. Und mit jedem Jahr, in dem die neue, in den Modellen nicht vorgesehene Dynamik weiter besteht, erodiert ihre Legitimation weiter und macht Platz für bisher randständige Meinungen. Wer danach als neuer heißer Scheiß übernimmt ist aktuell unklar - theoretisch könnte es MMT sein, wenngleich ich das nicht glaube - aber die Zeit des bisherigen Konsens ist erkennbar abgelaufen.
3) Warum die schwarze Null für uns alle fatal ist
Olaf Scholz steht für die schwarze Null wie sonst nur Wolfgang Schäuble und Angela Merkel. Eine häufig gehörte Begründung für Niedergang und Wiederaufstiegschance der SPD lautet: Hartz IV. Das halte ich für verkürzt, wer der SPD diese zweifellos problembehafteten Reformen übelnimmt, ist meist unwiederbringlich zur Linkspartei abgewandert. Der Niedergang der SPD - der durch die Vorsitzendenwahl aufgehalten werden soll - ist enger verbunden mit dem Politikkonzept, das hinter der schwarzen Null steht: Austerität. Die deutsche Begeisterung dafür lässt sich daran erahnen, dass die Schuldenbremse 2009 von CDU und SPD im Grundgesetz verankert wurde. Und daran, dass Merkel und Schäuble die Austerität ganz Europa überstülpten: Ein ausgeglichener Haushalt hat das Ziel zu sein, und Sparsamkeit ist der Weg dorthin, so lässt es sich vereinfacht beschreiben. Aber das ist nur die Oberfläche. Denn eigentlich verbirgt sich hinter Austerität und Schuldenbremse eine Umkehrung der Politik, die Folge des konservativen Blicks auf die Welt. Progressive Politik sagt: Wir legen ein Ziel fest und besorgen dafür das Geld. Konservative Politik sagt: Wir schauen, wieviel Geld da ist und machen nur damit Politik. Für beide Spielarten gibt es sinnvolle Anwendungsszenarien, aber wir leben in Zeiten von mehreren radikalen Veränderungen der Welt, von der heraufziehenden Klimakatastrophe bis zur Digitalisierung. Die schwarze Null funktioniert vor allem als Primat der Finanzpolitik gegenüber allen anderen Ressorts. (Sascha Lobo, SpiegelOnline)Ich habe hier im Blog schon oft die Theorie vertreten, dass es nicht die Einführung von Hartz-IV, sondern die Politik der folgenden Großen Koalition war, die der SPD das Genick gebrochen hat. Sascha Lobo beschreibt hier sehr eingängig die Wechselwirkung zwischen Schwarzer Null, Austerität und Wählerschwund. Ich will dem noch einen weiteren Gedanken hinzusetzen: Die Schwarze Null ist in Deutschland ein in der Theorie extrem beliebtes Konzept. Es ist quasi das Gegenstück des "small state" in den USA. Das Problem ist: in der Theorie. Denn wie auch in den USA lösen sich die ganzen Befürworter eines small state in Luft auf, sobald es um Dinge geht, die einen persönlich interessieren. Personifiziert wird das von dem Tea-Party-Protestler, der Obama entgegen brüllte: "Keep the state's hands off my Medicare!" Ähnlich ist es auch in Deutschland. Jeder findet den ausgeglichenen Haushalt toll, sofern genug Geld für die eigenen Präferenzen ausgegeben wird. Staatsausgaben in der Theorie findet jeder doof, Staatsausgaben in der Praxis findet jeder toll. Die SPD hat diesen Grundwiderspruch nicht verstanden, bis heute nicht. Die CDU und FDP sind da wesentlich schlauer. Solange die linken Parteien nicht ein Gegennarrativ finden, werden sie sich an diesem Paradox die Zähne ausbeißen.
4) How America ends
But sometimes, that process of realignment breaks down. Instead of reaching out and inviting new allies into its coalition, the political right hardens, turning against the democratic processes it fears will subsume it. A conservatism defined by ideas can hold its own against progressivism, winning converts to its principles and evolving with each generation. A conservatism defined by identity reduces the complex calculus of politics to a simple arithmetic question—and at some point, the numbers no longer add up. [...] Ziblatt points to Germany in the 1930s, the most catastrophic collapse of a democracy in the 20th century, as evidence that the fate of democracy lies in the hands of conservatives. Where the center-right flourishes, it can defend the interests of its adherents, starving more radical movements of support. In Germany, where center-right parties faltered, “not their strength, but rather their weakness” became the driving force behind democracy’s collapse. [...] The Republican Party faced a choice between these two competing visions in the last presidential election. The post-2012 report defined the GOP ideologically, urging its leaders to reach out to new groups, emphasize the values they had in common, and rebuild the party into an organization capable of winning a majority of the votes in a presidential race. Anton’s essay, by contrast, defined the party as the defender of “a people, a civilization” threatened by America’s growing diversity. The GOP’s efforts to broaden its coalition, he thundered, were an abject surrender. If it lost the next election, conservatives would be subjected to “vindictive persecution against resistance and dissent.” [...] Even today, large numbers of conservatives retain the courage of their convictions, believing they can win new adherents to their cause. They have not despaired of prevailing at the polls and they are not prepared to abandon moral suasion in favor of coercion; they are fighting to recover their party from a president whose success was built on convincing voters that the country is slipping away from them. (Yoni Appelbaum, The Atlantic)Ich möchte Yoni Appelbaums Artikel allen zur Lektüre anempfehlen; er ist der zentrale Artikel der aktuellen Ausgabe, lang und lohnt die Lektüre generell. Er liegt auf der Homepage auch als Audioversion vor. Angesichts dessen, was Appelbaum schreibt, finde ich den Vergleich zu Angela Merkels CDU ungeheuer relevant. Alles, was er als bei der GOP fehlend beschreibt, hat sie getan. Sie erkannte ebenfalls, dass die traditionelle Wählerschaft, die traditionellen Schichten, die CDU alleine nicht mehr zu tragen vermochten und dass sie zwingend die Partei neu ausrichten musste, um für konservative Ideen eine Mehrheit zu behalten. Das gelang ihr, zumindest bis 2015, brillant. Die CDU marginalisierte alle ihre Gegner und positionierte sich mit spielender Leichtigkeit in der Mitte des Systems. In der gesamten Ära Merkel (und wohl auch darüber hinaus) führt an der CDU kein Weg vorbei. Die Partei ist, mindestens genauso sehr wie zur Zeit Adenauers, die natürliche Regierungspartei Deutschlands geworden. Sie verstand Deutschland, dieses strukturkonservative Land, besser als die Meisten. Entsprechend wenig Konkurrenz hatte sie, entsprechend langweilig vergingen die Wahlen 2009 und 2013. Für die GOP ist es, anders als Appelbaum in seinem Artikel nahelegt, fürchte ich zu spät. Der richtige Zeitpunkt für diese Entwicklung war 2008, die Notbremse hätte 2012 gezogen werden müssen. Nicht ohne Grund wird der Autopsiereport beständig in diesem Zusammenhang diskutiert, nicht ohne Grund versuchte die Partei 2013 mit der "Gang of Eight", genau das in Gang zu setzen. Es kam dann anders, und seither ist die Partei in einer Todesspirale hinaus aus der Demokratie und in die demographische Bedeutungslosigkeit.
In dollar terms, what group of Americans steals the most from their fellow citizens each year? The answer might surprise you: It's employers, many of whom are committing what's known as wage theft. It's not just about underpaying workers. They're not paying workers what they're legally owed for the labor they put in. It takes different forms: not paying workers the federal, state, or local minimum wage; not paying them overtime; or just monkeying around with job titles to avoid regulations. No one knows exactly how big a problem wage theft is, but in 2012 federal and state agencies recovered $933 million for victims of wage theft. By comparison, all the property taken in all the robberies of all types in 2012, solved or unsolved, amounted to a little under $341 million. Remember, that $933 million is just the wage theft that's been addressed by authorities. The full scale of the problem is likely monumentally larger: Research suggests American workers are getting screwed out of $20 billion to $50 billion annually. [...] Some industries, like construction and education, had relatively low rates of wage theft — 12 to 13 percent; restaurants, grocery stores, and warehouses fell in the mid-range of 20 to 25 percent; textile and clothes manufacturing and other services hit 40 percent; and a whopping 66 percent of child care workers endured minimum wage violations, and 90 percent put up with overtime violations. Race and gender played big roles. Women saw minimum wage violations at significantly higher rates than men. Wage theft was three times higher for blacks than for whites, and highest of all for Latinos. Employees at smaller businesses were more at risk, as well as employees with less education — though wage theft happens often even to the college educated. (Jeff Spross, The Week)Die Situation in den USA ist zwar in Deutschland dank stärkerer Schutzgesetze und Gewerkschaften nicht ganz so schlimm. Aber wir haben dasselbe Thema. Nicht-Bezahlung von Arbeitszeit ist überall ein gigantisches Problem. Und wir reden hier nicht von den besser bezahlten Jobs mit Verantwortung, in denen die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit allenfalls eine grobe Richtlinie ist, so es überhaupt eine gibt. Ich habe in genügend prekären Beschäftigungsverhältnissen gearbeitet. Am schlimmsten war das beim Pizza-Lieferdienst. Aber auch anderswo: Ein Bekannter erzählte von seiner Arbeit beim Computerhändler Arlt, wo sie jeden Tag eine halbe Stunde vorher kommen mussten (aufschließen, vorbereiten) bzw. eine halbe Stunde länger bleiben (aufräumen, abschließen). Unbezahlt. Eine Stunde Arbeitszeit gestohlen, jeden Tag, fünf Tage die Woche. Das Ausmaß dieser Zeitdiebstähle in der Wirtschaft ist riesig. Und es ist extrem ungleich verteilt. Überall, wo Arbeitszeit vernünftig gemessen wird - meist dort, wo die Gewerkschaften und Betriebsräte stark sind - ist das Problem wesentlich weniger breit. Mir drängen sich zweierlei Fragen auf. Erstens: Lässt sich das vernünftig kontrollieren und die Einhaltung der vertraglich vereinbarten Arbeitszeiten sichern? Zweitens: Wäre das überhaupt finanzierbar? Zu erstens: Vermutlich lässt sich der Missbrauch niemals komplett eindämmen, dafür ist die Versuchung stets zu groß. Das ist wie der Missbrauch der Sozialsysteme. Irgendjemand bescheißt immer. Aber man kann natürlich versuchen, die Messlatte möglichst hoch zu hängen und den Diebstahl kleiner zu bekommen, als er aktuell ist. Da ist viel Luft nach oben, bevor der Grenznutzen von mehr bürokratischer Kontrolle erreicht ist. Quasi analog zur deutlich besseren Überwachung des ja auch immer für Gesetzesverstöße wahnsinnig anfälligen Fernfahrer-Gewerbes. Zu Zweitens: Ich habe nicht die geringste Ahnung. Einige Branchen des Niedriglohnsektors könnten vermutlich ohne die kriminelle Energie der Arbeitgeber überhaupt nicht existieren. Bei denen stellt sich dann aber immer die Frage nach dem volkswirtschaftlichen Nutzen. Wenn der gegeben ist, muss der Staat über Subventionen nachdenken, statt einfach Kriminalität nicht zu verfolgen. Aber hier wäre ich dankbar für Einschätzungen der Leute, die sich eher auskennen.
Nichts gegen den Placeboeffekt: Er ist mächtig und kann wirklich helfen. Mindestens ebenso wichtig ist vermutlich, dass Homöopathen sich Zeit für ihre Patienten nehmen. Aber könnte man diese Zeit nicht anders finanzieren und vor allem sinnvoller investieren als in die Erörterung eines Glaubenssystems? Und wenn ernstlich Kranken zu Zuckerkügelchen statt Medizin geraten wird, ist das schlicht fahrlässig. Die Freunde der sanften Medizin können ziemlich ruppig werden, wenn man solche Fragen aufwirft. Freunde der Homöopathie beschweren sich regelmäßig beim Presserat oder gehen juristisch gegen ihre Kritiker vor. Ein Globuli-Lobbyist warnte neulich vor "gewalttätigen Ausschreitungen", obwohl es keinerlei Anzeichen für gewaltbereite Homöopathiekritiker gibt. Er sieht außerdem Parallelen zwischen Kritik am Globuliglauben und den Anfängen des Holocaust. Was sollen da erst die Esoteriker sagen, deren Glaubenssysteme nicht von den Krankenkassen alimentiert werden? Es steht jedermann frei, nur levitiertes Wasser zu trinken oder einen "Orgonit-Wolkenbuster" für knapp 4000 Euro im Garten aufzustellen, aber die Solidargemeinschaft kommt dafür zum Glück nicht auf. Und jetzt will der bayerische Landtag Hunderttausende Euro Steuergelder ausgeben, um nachzuweisen, dass Zuckerkügelchen nicht bei Sepsis helfen. Der CSU muss man so etwas nachsehen, immerhin gehört der Glaube an ein unsichtbares Zauberwesen zu ihrem Markenkern. Dass auch die bayerischen Grünen den Antrag unterstützt haben, ist ein Symptom für eines der größten traditionellen Probleme dieser Partei: ihre esoterischen Altlasten. Das quält auch die Grüne Jugend. Diese Altlast wird die Partei schwer belasten, wenn sie sich nicht bald fängt. Eine naive Vorstellung von "Natürlichkeit" wird uns nicht retten. Für alle demokratischen Parteien in Deutschland gilt, gerade in dieser Zeit: Man kann sich nicht einerseits, was die Klimakrise angeht, auf wissenschaftliche Erkenntnisse berufen, und andererseits fortgesetzt Hokuspokus den Anstrich von Wissenschaftlichkeit geben wollen. (Aber-)Glaube ist Privatsache. (Christian Stöcker, SpiegelOnline)Das, sagen wir, ambivalente Verhältnis der Grünen zu dem ganzen Esoterik-Mist ist für mich seit mittlerweile mehreren Jahren der größte Hinderungsgrund, mich voll mit der Partei zu identifizieren. Am allerschlimmsten sind die Impfgegner, die in der Partei leider auch ein leidlich willkommenes Zuhause finden, aber die Globuli-Fraktion kommt kurz hinterher. Was mich allerdings viel mehr erstaunt als dieser Traditionsüberrest der deutlich esoterischer angehauchten Wurzeln der Partei ist der Allparteien-Konsens gegenüber den Homöopathen. Das sind gigantische Kosten jedes Jahr für völligen Bullshit, aber nicht nur unterstützen die Abgeordneten jeder Partei diesen Unfug in einem gewissen Ausmaß; auch die Krankenkassen selbst bezahlen ja bereitwillig diesen Quatsch, sogar über das gesetzliche Maß hinaus. Es ist zum Heulen.
7) No Exit. Warum es so schwer ist, die EU zu verlassen
Neben der banalen Feststellung, dass wir mit dem Brexit-Referendum vor keiner völlig neuen Situation stehen, zeigt sich an Algerien und Grönland erstens, wie komplex das Wechselverhältnis von Integration und Desintegration ist. Die radikale Alternative zur fortgesetzten Beteiligung am Einigungsprozess – die uneingeschränkte Souveränität – wollte keines der beiden Länder realisieren. Dafür wären jeweils die ökonomischen Kosten zu hoch gewesen. Zugleich gibt es keinen Standardfall, der zeigt. welche Konsequenzen ein Austritt nach sich zieht. Dafür überwiegen die Unterschiede zwischen den genannten Fällen zu sehr. Aus dem „super soft exit“ Algeriens in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit entwickelte sich ein „hard exit“ mit ökonomisch gravierenden Folgen. Grönland wählte durchgängig eine „soft exit“-Variante, und ging tendenziell den Weg von „soft“ zu „softer“. [...] Viel grundsätzlicher ist jedoch etwas anderes, das eigentlich nie diskutiert wird: dass sich der Charakter des europäischen Projekts seit Mitte der 1980er Jahre massiv verändert hat und dass genau dies eine Ablösung von der EU so viel schwerer macht als in der Zeit davor. Das hat vor allem mit vielen kleinen Veränderungen im Gefolge der Einheitlichen Europäischen Akte von 1987 und dem Maastrichter Vertrag zu tun, wodurch die europäische und die nationalen Ebenen viel enger verflochten wurden als je zuvor. Insofern heißt Exit heute nicht nur Neuverhandlung von Außenzöllen. Vielmehr müssen in einer Vielzahl von Bereichen, auf welche die EU zunehmenden Einfluss genommen hat, Staatsfunktionen neu organisiert, teilweise sogar erst wieder neu aufgebaut werden. Um lediglich ein Beispiel zu nennen: Ein eigenständiges nationales Umweltrecht gibt es heute angesichts der erreichten Integrationstiefe nicht mehr. Wer „Take Back Control“ auf seine Fahnen schreibt, hat künftig unglaublich viel zu tun. (Kiran Klaus Patel, Geschichte der Gegenwart)
Ich beklage mich nicht. Mir geht es nicht anders als den über 30 Prozent der Deutschen, die in Großstädten wohnen. In einer Stadt - oder in der Nähe einer Autobahn - ist es nie still, außer in gut isolierten Innenräumen. Natürlich gibt es Anwohnerproteste gegen Fluglärm oder für mehr Lärmschutz an Autobahnen, aber deshalb werden Verkehr und Städte nicht einfach stillgelegt. Ähnliches gilt für ästhetische Fragen: Niemand fragt mich, ob mir das neue Einkaufszentrum in der Nähe gefällt, oder die überall sprießenden Wohnanlagen mit schimmelnden Wärmedämmverbundfassaden. Als Städter muss man mit ästhetischen und akustischen Zumutungen leben. Anderswo gelten andere Regeln. Ein einzelnes, kreiselndes Windrad zum Beispiel kann einer einschlägigen Website zufolge "Familien ruinieren" und deren "Lebensleistung zerstören", weil es, aufgestellt im 90-Grad-Winkel in 400 Meter Abstand, die Aussicht stören könnte. Die zitierte Website hält eine "Karte des Widerstands" vor, mit über tausend Anti-Windkraft-Initiativen und -Verbänden. Auf der Karte ist ganz Deutschland mit kleinen roten Verbotsschildern bedeckt. So sieht "Nimbyism" hierzulande aus: "Not in my backyard" als Grundhaltung. Es gibt bei uns eine Zweiklassengesellschaft: Die einen müssen mit den Zumutungen der modernen Welt leben, die anderen nehmen zwar deren Vorteile für sich in Anspruch, möchten aber von Belästigungen bitte schön ausgenommen werden. Und zwar buchstäblich flächendeckend. [...] Die organisierten Freunde des Landlebens ohne ästhetische Störungen sind Deutschlands Gelbwesten. Statt auf Demonstrationen setzen sie auf Verordnungen, Genehmigungsverfahren, Klagen. Der Ausbau der Windkraft ist hierzulande bekanntlich fast vollständig zum Erliegen gekommen. [...] Deutschland ist weiterhin bereit, für die Braunkohleförderung ganze Landstriche samt Dörfern zu opfern. Deutsche Regierungen verwöhnen die Automobilindustrie mit steuerfinanzierten, tempolimitfreien Autobahnen und nehmen sie gegen jeden Grenzwert in Schutz. Eine Industrie aber, mit der die Ingenieursnation Deutschland einen demnächst weltweit gebrauchten Exportschlager im Programm hätte, wird systematisch zerstört. Das beginnt mit dem Genehmigungsstau und endet mit Förderregeln, die dafür sorgen werden, dass demnächst massenweise noch funktionsfähige Windräder abgebaut werden. (Christian Stöcker, SpiegelOnline)Passend zu Fundstück 6 haben wir eine weitere Gruppe von Leuten, die trotz der eigentlich grünen Affinität zu erneuerbaren Energien einen gewissen Überlapp mit der Partei haben (und, in derselben Tradition, auch mit den meisten anderen Parteien). Es ist ein Grunddilemma in jedem demokratischen Rechtsstaat, dass Maßnahmen, die für das Gesamtwohl gut wären, durch Individualrechte zu Fall gebracht werden können. Dieselben Individualrechte sind aber gleichzeitig auch Abwehrrechte gegen einen übergriffigen Staat und elementarer Kernbestandteil rechtsstaatlich-demokratischer Ordnung. Den Mittelweg zu bestreiten zwischen Gemein- und Individualwohl ist ungeheuer schwierig, und dass Nimbys tendenziell gut organisiert sind und zuverlässig wählen gehen, macht das politische Minenfeld nicht ungefährlicher. Eine Förderung der Erneuerbaren ist aber aus mehreren Gründen notwendig. Einerseits ist es aktuell die einzige Möglichkeit, Strom mit minimalen CO2-Emissionen zu produzieren. Andererseits ist es eine Zukunftstechnologie mit hohen Exportchancen, die mehr und mehr Beschäftigte hat. Stöcker weist nicht zu Unrecht darauf hin, dass die völlig absurde Braunkohleförderung eine vierstellige Zahl an Beschäftigten rettet, während hier zehntausende realer oder potenzieller Jobs gefährdet sind oder nicht entstehen und die einstige Weltmarktführerschaft verloren ging - alles aus ideologischer Feindschaft heraus.
9) Trump Clears Three Service Members in War Crimes Cases
Es ist nicht das erste Mal, dass Trump Kriegsverbrecher begnadigt. Er ist auch sonst gut darin, verurteilte politische oder militärische Verbrecher zu begnadigen. Der außenpolitische Schaden und der für das Ansehen des Landes generell ist enorm, abgesehen davon, dass dieser willkürliche Gebrauch des Begnadigungsrechts die Judikative untergräbt. Der Schlüssel zum Verständnis dieser Handlungen - und der ganzen Persönlichkeit Trumps - ist, nicht den häufigen Fehler seiner schärfsten Kritiker zu wiederholen und ihn sich als verhinderten Faschisten vorzustellen. Trumps Vorbild ist nicht Mussolini oder Hitler, Trumps Vorbild ist Don Corleone. Er ist ein Mafioso, und er schützt seine eigenen Leute. Für ihn sind Kriegsverbrechen, wie seine Äußerungen deutlich zeigen, kein Problem. Er sieht die US Army als seine persönliche Schlägerbande (man denke nur an seine Schutzgelderpressung gegenüber Verbündeten), und die Gewalt ist ein Feature, kein Bug. Alles, was Trump tut, tut er mit der Mentallität eines Mafioso. Das ist, angesichts der engen Verbindungen seiner Familie zum organisierten Verbrechen, auch keine große Überraschung.The three men have been portrayed in conservative media outlets and social media posts as dedicated warriors battling enemies who wear no uniforms and follow no laws of war, only to be unfairly second-guessed by military lawyers and commanders far from the scene of battle. Mr. Trump echoed their frustration on Twitter in October, saying about Major Golsteyn, “We train our boys to be killing machines, then prosecute them when they kill!”[...] Mr. Lorance was a rookie Army lieutenant who had been in command of a platoon in Afghanistan for two days in July 2012 when he ordered his troops to fire on unarmed villagers who posed no threat, killing two men. He then called in false reports over the radio to cover up what had happened. He was immediately turned in by his own men. [...] Major Golsteyn was charged in 2018 with premeditated murder over a killing that took place in 2010, [...] Chief Gallagher was charged by the Navy in 2018 with shooting civilians in Iraq, killing a captive enemy fighter with a hunting knife, and threatening to kill fellow SEALs if they reported him, among other crimes. The charges stemmed from a 2017 deployment in Iraq when he was a chief petty officer leading a SEAL platoon. [...] “I truly believe that we are blessed as a Nation to have a Commander-in-Chief that stands up for our warfighters, and cares about how they and their families are treated,” he wrote. “Our military is the best in the world, and with steadfast and supportive leadership; like we have in this president, our fighting force will only get stronger.” (Dave Philipps, New York Times)
10) Billionaires have opinions. But why do we care?
That's not likely considering how cozy many of the New York media elite are with the captains of finance and industry. But given that Trump's most consequential legislative achievement has been his controversial tax plan that further lined the pockets of the wealthy while hurting the middle class — a result that even Mike Bloomberg's media company has acknowledged – they might at least ask different questions of billionaires than how Sanders or Warren's tax proposals will dent their massive fortunes. Surely Bezos or Cuban or Lloyd Blankfein (net worth $1.1 billion) might be confronted on whether their outrage over a possible "wealth tax" should be better directed against a president who is shredding the Constitution and undermining the basic system of American democracy that helped make their great wealth possible? In any event, it's remarkable that a potential Warren presidency rather than the actual Trump atrocity has made so many billionaires finally speak out. [...] Gates hasn't done the math because he doesn't need to. Those who have estimate that Gates would only pay about $6 billion in the first year under Warren, leaving him with more than $100 billion in his coffers. That he's more ready with a bad joke than with real knowledge about what a Warren tax plan would cost him demonstrates exactly how seriously any of this should be taken. Middle-class Americans, of course, don't have the same luxury to not crunch the numbers when it comes to evaluating their political choices, nor can they be as blasé about how any tax policy would affect their wallets. We could stand to hear far more from those Americans. (Neil J. Young, The Week)Das Hemd ist einem natürlich immer näher als der Rock. Und Milliardäre haben natürlich das gleiche Recht, ihre Interessen zu vertreten wie andere auch. Nur ist tatsächlich unklar, warum man so tun sollte, als ob ihre Interessen a) wichtiger wären als die des Rests der Bevölkerung und b) relevant für den Rest des Landes. Während ich bekanntlich Punkt a) für den gefährlicheren der beiden halte, ist Punkt b) für den Wahlkampf der bedeutendste. Wenn es Warren und Sanders gelingt, die Wähler davon zu überzeugen, dass ihnen die Meinung der Milliardäre tatsächlich egal sein kann, ist das ein ähnlich tektonischer Wandel in der Partei wie Trumps Leistung 2016, die republikanischen Wähler davon zu überzeugen dass ihnen die Meinung der Neocons egal sein kann. Wenn die rasend schnelle Adaption eines solchen neuen Status Quo durch die GOP eine Blaupause für die Democrats ist, könnte sich eine Reihe von Milliardären und anderen Superreichen bald dem Offenbarungseid gegenübersehen - einen solchen hat ja etwa Mark Zuckerberg mit seinem Bündnis mit den Republicans bereits geleistet.
11) Managing the EU's declining power in Turkey
Amidst rising anti-immigrant sentiment and the increasing popularity of the authoritarian far-right, the European Union was compelled to devise a new action plan on migration. In 2016, the European Union proposed to strengthen cooperation with Turkey and intensify interventions to decrease irregular migration from Turkey to Europe. To do this, the European Union indicated it would designate funding to assist with the humanitarian response, advance the Visa Liberalization Dialogue for Turkish citizens traveling to Europe, reinvigorate negotiations over the European Union accession process, and accelerate the modernization of its customs union with Turkey. For Turkey’s part, the government agreed to strengthen its border-management capacity, especially on the shores of the Aegean Sea, and accept any new irregular migrants who arrived in Greece from Turkey and whose applications for asylum in Greece were rejected. Finally, European Union member states were supposed to accept a designated number of refugees directly from Turkey, as an incentive for asylum seekers to register with the Turkish government and operate within formal immigration procedures. However, the proposal never fully materialized, and three member states, Hungary, the Czech Republic, and Poland, refused to comply with the European Union asylum quota system as proposed by the European Commission. [...] The European Union no longer has as much influence over Turkey’s democratic trajectory as it once had at the height of the customs union and accession processes. [...] Despite the absence of robust monitoring, verification, and evaluation systems, local administrations and civil society in Turkey have performed exceptionally well. Since the attempted coup in 2016, many organizations, including municipalities located in the south-east, have been operating under severe stress due to government crackdowns, restrictions on their functions, and increased pressure to operate without adequate resources. (Christiane Bache, War on the Rocks)Die Frage, ob das Ende des Assoziationsprozesses die Türkei von Europa entfremdet hat oder umgekehrt die Entfremdung der Türkei das Ende des Prozesses bedeutete, ist ein bisschen wie Henne und Ei. Sowohl die politische Situation in Europa als auch in der Türkei ist eine merklich andere als noch in den 1990er oder sogar 2000er Jahren, so dass das Land mehr und mehr zum Ausland wurde. Das erlaubte einerseits zwar den Flüchtlingsdeal, andererseits bringt es aber eine ganze Latte voller Probleme mit sich. Einmal, weil das Bündnis mit einem bei Bürger- und Menschenrechten sowie rechtsstaatlicher Demokratie eher flexibel agierenden Land nie ohne unschöne Kompromittierung der eigenen Werte abgeht. Zum anderen, weil es der Türkei einen enormen Hebel gegenüber der EU gibt. Letztlich ist der Türkeideal nur ein Pflaster auf der Wunde der zu spät angegangenen Flüchtlingskrise. Die Mittelmeeranrainer hatten seit mindestens 2010 permanent auf die Probleme hingewiesen, die sie durch Dublin-II, allein gelassen mit der sich rapide verschlimmernden Situation, hatten. Der Moment für europäische Quotenlösungen war damals, ebenso eines vernünftigen Deals mit der Türkei, Marokko, Algerien und so weiter. Damals war die Zeit. Aber wir hatten das in einem der letzten Vermischten in den Kommentaren bereits diskutiert: es ist illusorisch anzunehmen, dass in einer Demokratie eine Regierung so etwas tun könnte. Uns bleibt immer nur, die Krise zu managen. Und deswegen muss man dann mit zugehaltener Nase Bettgenossen wie Erdogans Türkei ertragen. Das, oder die Drecksarbeit selbst machen. Und das will halt keiner.
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