Montag, 20. April 2020

Männliche Avokados schlagen Virologen grüne Umverteilungspläne in der Küche vor - Vermischtes 20.04.2020

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Die Krise der Männer
Wären da nicht Angela Merkel, Juli Zeh und die Infektiologin Marylyn Addo, man könnte den Eindruck gewinnen, unser Land bestünde ausschließlich aus Männern. Aber, halt! Das ist ja auch so, unser Land besteht in den Chefetagen noch immer größtenteils aus Männern, und wer in all den feministischen Debatten der vergangenen Jahre eventuell den Eindruck bekommen hatte, daran hätte sich irgendetwas geändert, der wird nun mit den kalten Tatsachen konfrontiert. All die Chefs wissenschaftlicher, medizinischer oder virologischer Institute sind größtenteils Männer, die meisten Chefärzte von Kliniken und Pflegeeinrichtungen sind ebenso Männer wie der übergroße Teil der Ökonomen und Politiker. All das ist bekannt. Man weiß das aus allen möglichen statistischen Erhebungen und Faktenanalysen. Nun, in der Krise, wird es uns noch einmal anschaulich und sichtbar vor Augen geführt. [...] Solche Wortmeldungen sind nichts anderes als Versuche, traditionelle Rollenvorstellungen wieder wie die natürlichste Sache der Welt aussehen zu lassen und emanzipative und progressive Bewegungen und Diskurse als eine Art Luxusprobleme darzustellen. Krisen erleichtern solche Argumentationen. Krisen lassen solche reaktionären Forderungen als irgendwie logisch und plausibel erscheinen. Und so können Krisen, dafür gibt es genügend historische Beispiele, immer auch genutzt werden, um einen Backlash einzuleiten. [...] Wahrscheinlich ist es kein Zufall ist, dass alle diese Männer Bücher männlicher Autoren lesen. Eher ist das ein privates Spiegelbild der vorhin beschriebenen Phänomene. Man nennt das übrigens Homosozialität und es bedeutet, dass sich Menschen am liebsten mit Menschen umgeben, die ihnen ähnlich sind. (Jana Hensel, Die Zeit)
Ariane hat es hier im Blog ja auch bereits öfter angesprochen, aber ich halte es für wertvoll, noch einmal zu betonen, wie krass sich Gendergrenzen in dieser Krise manifestieren. Am deutlichsten finde ich merkt man es daran, welche Bedeutung welchen Bereichen gegeben wird. Die als männlich wahrgenommene Wirtschaft kriegt einen Leitartikel nach dem anderen, während die Schulschließungen vor allem aus Sicht der Personaler betrachtet werden ("Oh mein Gott, wird deren Abi nachher anerkannt?"), ohne dass die psychologischen Bedürfnisse der Kinder jemals vorkommen. Von der Pflege oder Kitas brauchen wir erst gar nicht zu reden, das sind klassische Frauendomänen, die werden gar nicht als Thema erkannt.
Das hat dann wiederum direkte Auswirkungen auf den Alltag. Als Eltern bist du eh abgemeldet, die Probleme, dass hier seit Wochen die Kinder aufeinander sitzen und auch weiterhin werden interessieren praktisch niemanden. Anstatt das wichtige Thema anzugehen, wie die Jahrgangsstufe 1 mit dem Riesenloch in ihrer Bildungskarriere zurecht kommt, wird ein Zinnober um das Abi dieses Jahr getrieben, das man einfach ausfallen lassen könnte. Und nächstes Jahr wird dann das Abi in der dann Jahrgangsstufe 2 geschrieben, die eventuell (je nach Schule) eine Riesenlücke haben, aber da wird dann keiner mehr mit Grabesstimme die Vergleichbarkeit bemühen, weil es ja wieder so aussieht wie vorher, als Bildungsergebnisse schön nach sozialer Herkunft getrennt waren. Es ist zum Heulen.

Thirteen hours before Jay Inslee dropped out of the Democratic presidential race last August, his campaign ― the first in history to make a serious bid for the White House on climate change alone ― rounded out its book-length stack of policy memos with a final 38 pages on rural infrastructure and paying farmers to store carbon dioxide removed from the air. [...] “It was not just a campaign document, it was a governing document, and it could be used by anyone who ends up in the White House,” Inslee told HuffPost that day in August. Now a group of his former staffers is getting the band back together to promote an expanded version of that manifesto to candidates as the general election begins and to Democratic leaders as Congress weighs its next bill to curb the economic fallout of the novel coronavirus pandemic. [...] On Tuesday evening, the group made a soft debut, sending its new 85-page memo to presumptive Democratic presidential nominee Joe Biden’s campaign and to party leaders in the House and Senate. On Wednesday morning, the group planned to loop in several hundred climate activists and policy experts. (Alexander C. Kaufman, Huffington Post)
Jay Inslees Präsidentschaftswahlkampf sticht aus den zahllosen Kandidaten der Democrats dieses Jahr hervor. Wie viele andere Bewerber hatte er nicht auch nur den Hauch einer Chance, aber anders als diese machte er nie einen Hehl daraus. Seine Bewerbung diente von Anfang an nur dazu, die Democrats dazu zu zwingen, sich dieses Jahr (anders als 2016) ernsthaft mit dem Klimawandel zu beschäftigen. Das ist ihm auch gelungen; nur wegen ihm ist das Thema in einigen der Primary-Debatten mit mehr als einer Feigenblatt-Frage behandelt worden. Seine Bedeutung geht aber darüber weit hinaus. Sein Wahlkampfteam produzierte ein policy-paper nach dem anderen, schrieb Gesetzesentwürfe und Grundlagenpapiere. Das alles hatte nicht das Ziel, Umsetzung durch Präsident Inslee zu erhalten, sondern für den siegreichen Kandidaten die Arbeitsgrundlage darzustellen. Warren, Biden und Sanders hatten sich im Laufe des Primary-Wahlkampfs alle zu Inslees Programmen bekannt und diese in ihre jeweiligen Plattformen übernommen. Zu sehen, dass sein Stab nun weitermacht und direkt Vorbereitungsarbeit trifft, ist extrem hoffnungsspendend. Der Grund dafür ist einfach. Sollte das Unerwartete eintreten und nicht nur Biden Präsident werden, sondern auch eine demokratische Mehrheit im Kongress stehen, besteht ein winziges Fenster für vernünftige Reformen. Die müssen zu dem Zeitpunkt fertig in der Schublade liegen. Noch einmal einen Aushandlungsprozess wie mit Obamacare kann sich die Partei nicht leisten. Das Vorbild muss Robert Wagner sein. Und was man hier sehen kann ist super. Jetzt brauchen wir das Gleiche noch für das Wahlrecht und für ein Konzept gegen die Ungleichheit. Ich hoffe einfach mal, dass Elizabeth Warren hier eine entsprechende Rolle spielen kann und wird. Sie ist einzigartig geeignet dafür.

3) Umverteilung? Kein Thema für Grüne
Offensichtlich wurde das Schweigen der Grünen, als die SPD-Vorsitzende Saskia Esken neulich eine krisenbedingte Vermögensabgabe vorschlug. Ihr Gedanke ist schlicht und einleuchtend: Besonders Wohlhabende sollen eine einmalige Zahlung leisten, um die finanziellen Folgen der Anti-Corona-Maßnahmen abzumildern. Esken argumentierte: „Wir werden eine faire Lastenverteilung brauchen.“ Die SPD-Chefin tat das, was man von der Vorsitzenden einer progressiven Partei erwarten darf. Sie dachte über den Tag hinaus, sorgte sich um die Staatsfinanzen und machte einen konkreten Vorschlag. Natürlich ließ der liberalkonservative Shitstorm nicht lange auf sich warten. „Eine Enteignungsdebatte kostet direkt Arbeitsplätze“, twitterte FDP-Chef Christian Lindner und tat so, als habe Esken vorgeschlagen, die komplette deutsche Industrie zu verstaatlichen. Wer jetzt die Steuerkeule auspacke, säe Zwietracht, empörte sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Auf Twitter hagelte es Beschimpfungen, Esken wurden „Umverteilungsfantasien“ und eine „Klassenkampfagenda“ vorgeworfen. Eigentlich hätten sich die Grünen solidarisch an die Seite Eskens stellen müssen. Sie hätten gute Argumente gehabt. Diese Krise kostet die SteuerzahlerInnen Hunderte Milliarden Euro. Wie viel es am Ende wird, weiß noch keiner. Warum sollten mehrfache Milliardäre, deren Firmen gerade vom Staat mit Konjunkturpaketen abgesichert werden, nicht später eine Vermögensabgabe zahlen? Die Frage der Lastenverteilung wird zentral werden, spätestens für die nächste Bundesregierung, in der die Grünen sitzen wollen. Und sie warben im Wahlkampf 2013 ausdrücklich für eine Vermögensabgabe, um Maßnahmen zur Bankenrettung zu finanzieren, für die sich der Staat in den Jahren davor verschuldet hatte. Eine befristete Krisenfinanzierung ist also eine urgrüne Idee, Esken hat sie nur wiederholt. (Ulrich Schulte, taz)
Mir ist völlig klar, warum die Grünen die Klappe halten. Keine Partei hält aktuell mehr die Klappe als die Grünen. Mir ist außer Habecks einem dummen Kommentar zur energetischen Hotelsanierung auch praktisch nichts aus der Corona-Ära bekannt. Das ist sehr vernünftig, denn es gibt hier für die Grünen nichts zu gewinnen. Sie sind in der Opposition, es gibt wenig Substanzielles an der Regierungspolitik zu bemängeln (nur die Feinheiten der Ausführung, aber das macht eh jeder, da fügt die Stimme der Grünen nichts hinzu) und niemand interessiert sich für ihre Kernthemen. Angesichts dessen ist es ein Zeichen für ihre neue Stabilität, dass sie in den Umfragen immer noch bei 20% liegen und nicht wieder abgestürzt sind. Wenn die Krise vorbei ist, ist das ein sehr bequemes Polster für den Wiederaufstieg in die 30%-Region.
Aber das Schweigen hat noch eine ganz andere Ursache. Die Partei ist immer noch traumatisiert vom Veggie-Day 2013. Ein 327-Seiten-Programm. Ein Absatz im Bereich zur Massentierhaltung. Keine Sau interessierte sich für die detaillierten Lösungskonzepte der Grünen (sagt nicht, ich hätte nicht davor gewarnt), stattdessen suchte und fand die unheilige Allianz aus Springer und CDU ein Thema, um die damals in Umfragen gefährlich aussehenden Grünen abzusägen. Man muss es ihnen lassen, sie waren erfolgreich. Aber man braucht sich deswegen nicht darüber zu wundern, dass die Grünen heute einen CO2-Preis lieber mal halb so hoch ansetzen wie selbst konservative Forscher, und dass sie mit Sicherheit keine Aussage zum Lastenausgleich machen werden.
Wozu auch? Aktuell ist das ein Thema für die Regierung, und wenn sie selbst dran kommen ist genug Zeit mit Plänen in die Offensive zu gehen. Sollte die Wahl 2021 eine Mehrheit für einen grünen Kanzler unter G2R ergeben, dann ist die Lastenverteilung der Corona-Rettungskosten ohnehin ein politisches Thema, ohne dass sich auch nur ein Grüner aus der Deckung wagen muss. Und wenn 2021 eine Mehrheit für Schwarz-Grün oder Grün-Schwarz oder sogar Jaimaika entstehen sollte, wäre es kein Thema und daher purer Ballast in Koalitionsverhandlungen. Nein, die Grünen machen das gerade schon richtig.

4) Tweet
Den gelungenen Scherz einmal beiseite gelassen ist die BILD-Schlagzeile ein herausragendes Beispiel für die völlige Verantwortungslosigkeit, mit der sich diese Blattmacher derzeit anschicken, die öffentliche Debatte zu vergiften und das Risiko gigantisch zu erhöhen. Die pejorative Nutzung von "kassiert" passt gut zu der Linie des Blattes, die Virologen anzugreifen - was zu dem Klima des Misstrauens und des Hasses gegen sie beiträgt, von dem unter anderem Christian Drosten im NDR-Podcast berichtet hat und das, abgesehen von dem individuellen Schaden an der Person, zusammen mit Hobby-Tabubrechern wie Christian Lindner maßgeblich mit zu der allgemeinen Unsicherheit beiträgt, deren Auswirkungen Ko-Autor Beermann hier schön beschrieben hat. Neben dem Framing der BILD, Virologen seien irgendwie vergleichbar mit CEOs, fällt die Zeitung auch mit ihrer Hetze gegen Muslime auf. Warum sollte man auch in der Pandemie damit aufhören, auf Minderheiten einzuschlagen? Wie üblich ist man mit diesem Rezept auch außerdentlich erfolgreich unterwegs.

5) Coronavirus Crisis May Keep the Sanders Revolution Rolling
Now that Bernie Sanders has dropped out of the presidential race and endorsed presumptive candidate Joe Biden, it's worth considering just how profoundly Sanders seems to have shifted the policy landscape. Despite the rise of inequality and other long-term economic problems, a majority of Democrats probably felt too comfortable with the current system to embrace revolutionary change. Although the Sanders insurgency is over, many of the progressive ideas he urged on the electorate may yet come to pass in some form -- thanks to the crisis unleashed by the coronavirus. [...] The pandemic has also illustrated the inefficiency and unfairness of the U.S. health-care system. Even insured people have received steep bills for coronavirus testing and treatment -- a typical outcome in the byzantine world of insurance networks. [...] Americans also must be wondering: If enormous surprise bills are unbearable for this disease, why are they ever acceptable? A system that reduces out-of-pocket costs and takes the uncertainty out of billing is looking more and more sensible. Finally, the lockdowns forced by coronavirus have required government to rapidly expand its role in the economy. Much of American industry is now being kept afloat by government loans. [...] So although Sanders’s personal revolution is over, a bigger revolution may just have begun. A major national disaster can spur a country to embrace government in ways that seemed unthinkable just a few short months earlier. (Noah Smith, Bloomberg)
Sanders hatte denselben Effekt übrigens auch 2016. In diesem Jahr drückte er die Plattform der Democrats ebenfalls deutlich nach links (was die konservativen Never-Trumper gerne als Grund für Hillarys Niederlage hernehmen, aber das halte ich für Quatsch). Dieses Jahr war sein Erfolg noch deutlicher, denn eine Übernahme von Positionen reichte schon nicht mehr; vielmehr wurden viele Prämissen Sanders' direkt in Bidens Plattform übernommen. Und das ist eine gute Sache. Der andere Punkt ist Smiths hypothetisches Szenario, das den Amerikanern mehr Staatsfreundlichkeit nach der Krise zuspricht. Das mag auf die Progressiven durchaus zutreffen, wo "Medicare for All" möglicherweise weitere Anhänger gefunden hat. Aber das Land scheint mir zu tief gespalten, als dass groß damit zu rechnen ist, dass Corona über ein "preaching to the choir" hinaus Effekte hier haben wird. Ich lasse mich aber natürlich gerne vom Gegenteil überzeugen.

6) Europa als Haftungsunion – Europa scheitert an deutschen „Juristen“
Hier mischt sich Unkenntnis über die Funktionsweise eines Geldsystems der nicht weiter benannten „Finanzexperten“ mit den Instinkten eines imaginären „Juristen“, der über rudimentäre BWL-Kenntnisse verfügt: Schulden sind durch die Brille der Haftung zu analysieren. Wenn Deutschland weiterhin mit solchen „Juristen“ in Regierung, Presse und Parteien nach Brüssel fährt, wird die Eurozone zerbrechen und damit auch die EU. Was ist das Problem? Das Problem liegt darin, dass die „Juristen“ immer wieder die Haftungsfrage diskutieren, die zwar juristisch gesehen tat­säch­lich beant­wortet werden kann und muss, praktisch gesehen aber komplett irre­levant ist. Denn Eurobonds wären Anleihen der Eurozone und hätten keinerlei Ausfallrisiko. Wenn die Inve­storen wollen, können sie die Eurobonds immer an die EZB verkaufen. Diese dürfte Eurobonds unbe­grenzt von den Investoren ankaufen. Ein Verlust ist also ausge­schlossen. [...] Wir halten also fest: Die bisherigen wirtschafts­politischen Interventionen der EZB und der EU-Kommission haben den Weg für Erhöhungen der Staatsausgaben freigemacht. Alle Ampeln stehen also seit Mitte März auf Grün: Die nationalen Regierungen können ihre Aus­gaben nach den finanziellen Erfordernissen zur Bewältigung der Krise erhöhen. Die Finan­zierungsfrage stellt sich nicht. Staatliche Zahlungsausfälle müssen nicht befürchtet werden. Sämtliche gegen­wärtig diskutierten Haftungsfragen sind obsolet. Allerdings scheint das bei den politischen Akteuren noch nicht angekommen zu sein oder aber sie trauen der EZB und der Kommission nicht. (Dirk Ehnts, Verfassungsblog)
Das war schon in der Euro-Krise etwas, das mich an Wolfgang Schäuble sehr gestört hat: diese Fixierung auf das Juristische. Ist in seinem Fall auch nicht überraschend, der Mann ist gelernter Anwalt, aber die entsprechenden Leute sind halt was Wirtschafts- und Finanzpolitik angeht echt flexibel wie deutsche Eichen. Dasselbe Problem bestand ja bei der Lösung der Flüchtlingskrise auch, wo man jahrelang an der Schimäre der Dublin-Regeln festgehalten hat (pacta sunt servanda und all das), während die Peripherieländer um Hilfe schrien. Viktor Orban liegt ja nicht falsch wenn er sagt, dass Deutschland eine europaweite Lösung erst dann forderte, als Flüchtlinge ins Land kamen. Überhaupt sind wir immer sehr flexibel mit bestehenden Verträgen, wenn wir selbst betroffen sind. Ich weiß nicht ob mich das ärgern oder freuen soll. Ärgern, weil es zeigt, wie sehr diese ganze Prinzipienreiterei Heuchelei ist und dass man sie immer nur dann einhält, wenn man selbst nicht betroffen ist. Freuen, weil es ja äußerst vernünftig ist, in Krisensituationen untaugliche Regelwerke über den Haufen zu werfen. Man kann ja etwa an der Schuldenbremse sehen, dass das (für mich) überraschend gut geschrieben wurde, weil der Notfallmechanismus von Anfang drin war und das Ding jetzt nicht den notwendigen Soforthilfen im Weg steht. Das hat man bei den europäischen Regelungen immer vergessen. Und Deutschland hat ja, um auf den ursprünglichen Punkt zurückzukommen, die Maastricht-Regeln auch immer nur dann durchsetzen wollen, wenn das eigene Defizit gerade gepasst hat, und sie mehr als grobe Richtlinien gesehen, wenn man sie überschreiten wollte.

7) Tweet
Wie irgendjemand diese aufgeplusterte Umweltsau-Debatte ernst nehmen konnte ist mir völlig unklar. Das war ein völlig künstlicher Skandal, genauso wie der Veggie-Day. Rechte Identitätspolitik in Reinkultur. Hauptsache über was empören und hypermoralisieren können. Ich beobachte diese Tendenz, auf immer den nächsten Empörungszug aufzuspringen, übrigens bei sehr vielen Leuten, völlig unabhängig von der politischen Ausrichtung. Vielleicht gerade sogar bei denen, die sich eher peripher mit Politik beschäftigen. Diese Dinger schwappen immer in Wellen durch die sozialen Netzwerke und werden halt geteilt und mit dummem Geschwätz kommentiert. Ich kriege das über Dritte mit (politisch wenig interessierte Bekannte, die mich dann dazu fragen oder das am Rande erwähnen), da kommst mit dem Aufklären oder Gegenhalten überhaupt nicht nach. Ich könnte mir gut vorstellen, dass das tatsächlich ein Internet-Problem ist, weil eben die Vebreitungsgeschwindigkeit hier so hoch ist und keinerlei Filter existieren. In einer Zeit, in der du diesen Dreck nur aus der BILD bekommen hast, dürfte die Verbreitungsgeschwindigkeit geringer gewesen sein. Aber vielleicht auch nicht; über so was täuscht man sich ja immer gerne...

8) "Für Donald Trump ist Geld etwas, das die Banken zaubern" (Interview mit Adam Tooze)
ZEIT ONLINE: Warum?
Tooze: Weil in einer Währungsunion eine andere Logik greift. Die EZB ist nicht für einen Staat zuständig, sondern für 19. Das bedeutet: Über die Bilanz der Zentralbank können im Prinzip Transfers von einem Staat in den anderen organisiert werden.
Das ist aber nicht vereinbar mit der vor allem von Deutschland durchgesetzten Konzeption der Eurozone als Gemeinschaft finanzpolitisch weitgehend eigenverantwortlicher Staaten. Deshalb ist der EZB die Staatsfinanzierung sogar vertraglich verboten. Das führt dann zu der bizarren Situation, dass die Notenbank ihre Handlungen mit allerlei fadenscheinigen Argumenten rechtfertigen muss. Dann kommen die Kritiker aus Deutschland und sagen: Das ist doch alles Quatsch, und ziehen vor das Bundesverfassungsgericht.
ZEIT ONLINE: Ist es Quatsch?
Tooze: Natürlich ist es Quatsch. Über die Anleihekäufe findet eine Vergemeinschaftung von Haftungsrisiken statt. Das ist ein Fakt. Die Verfassungsrichter aber müssen sich dann argumentativ verrenken um der EZB einen Freibrief auszustellen, weil der Euro wahrscheinlich Geschichte wäre, wenn das höchste deutsche Gericht die Politik der Notenbank für unrechtmäßig erklären würde. Und am Ende freut man sich in Berlin, dass die finanzpolitische Souveränität nicht aufgegeben werden musste. Es ist wie im Tollhaus.
ZEIT ONLINE: Sie sagen: Wir machen uns nicht ehrlich?
Tooze: Ja. Mich erinnert das an die deutsche Position in der Sicherheitspolitik. Die Deutschen sagen: Wir wollen Souveränität, sind aber nicht bereit, die Kosten dafür zu tragen, etwa in Form höherer Militärausgaben. Und wenn uns der dumme Trump dann die Rechnung präsentiert, dann schauen wir weg. Die Leute bei der EZB sind Kenner. Die wissen, was sie machen. Die deutsche Regierung verlässt sich auf die funktionale Effektivität dieser Maßnahmen, nimmt aber eine politische Delegitimationsspirale in Kauf. (Mark Schieritz, ZEIT)
Man muss klar sagen: Trump hat's verstanden. Geld ist etwas, das die Banken zaubern. Und Tooze hat völlig Recht, dass alleine die Mentalität der Deutschen (siehe Fundstück 6) dafür sorgt, dass das nicht einfach entsprechend argumentiert wird. Es ist wieder dieses Juristendenken, man will das alles in den bisherigen Status Quo zwängen, Hauptsache es sieht sauber aus. Wo angelsächsische Notenbanken mit großem Erfolg tun, was notwendig ist, verstärken wir völlig unnötig Krisen. Aber alles bleibt im Rahmen der Verträge!

Die zusätzlichen Staatsschulden sind also letztlich die finanzielle Ausdrucksform des von der Gemeinschaft übernommen Anteils der Krisenkosten. Im Kern geht es in der Debatte um den Umgang mit den Schulden, um die Verteilung der Lasten. Prinzipiell gibt es dabei drei Möglichkeiten: Man kann die Schulden erstens abtragen, man kann sie zweitens entwerten oder man kann sie drittens einfach ignorieren. [...] Auch dafür gibt es historische Beispiele: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde in Deutschland eine einmalige Vermögensabgabe eingeführt, der sogenannte Lastenausgleich. Auf diese Weise können Wohlhabendere an den Krisenkosten beteiligt werden. Ein Staat hat jedoch gegenüber einem Privathaushalt einen entscheidenden Vorteil: Er gibt das Geld selbst heraus, mit dem er seine Schulden bezahlt. Deshalb lässt sich die Schuldenlast zweitens auch durch monetäre Interventionen verringern. Die Schulden werden also entwertet. [...] Die Bundesregierung könnte also darauf setzen, dass die deutsche Volkswirtschaft nach der Krise weiter wächst und irgendwann so groß ist, dass die zusätzlichen Schulden keine Rolle spielen. Genau das war die Strategie nach der Finanzkrise. Ob das Kalkül aufgeht, hängt natürlich von der Höhe der zusätzlichen Schulden und damit von der Dauer der Krise ab – aber auch davon, wie hoch die Zinsen sind, zu denen die auslaufenden Schuldtitel refinanziert werden. [...] Am Ende wird die Rettungspolitik weniger teuer sein als es Schuldenapokalyptiker Glauben machen wollen. Aber dass sie komplett zum Nulltarif zu haben sein wird, ist ebenfalls unwahrscheinlich. Es werden Kosten anfallen. Um so wichtiger ist es, über die Verteilung zu reden. Sonst werden sie denjenigen untergejubelt, die sich am wenigsten dagegen wehren können: Den Schwächsten. (Mark Schieritz, ZEIT)
Bereits zu Beginn der Corona-Krise gab es ja einige spannende Diskussionen um einen Lastenausgleich 2.0. Angesichts der krassen Ungleichheit der Belastung fände ich das ein grundsätzlich valides Konzept. Schließlich sind manche Branchen tödlich betroffen, während andere einfach weiterarbeiten können. Dasselbe gilt für die Arbeitnehmer: Ich kann im Home Office bei vollem Gehalt weitermachen, während manche Selbstständige einfach gar nicht arbeiten können und ihr Einkommen auf null reduziert sehen. Es ist daher durchaus fair, nachher zu schauen, wer in der Krise relativ gut durchgekommen ist und wer nicht und entsprechend eine Abgabe zu machen. Ein Problem könnte halt analog zur Vermögenssteuer sein, dass das so komplex ist, dass es den Aufwand nicht lohnt.
Andernfalls ist das Ignorieren sicherlich auch eine gut mögliche Option, vorausgesetzt, die Rezession bleibt V-förmig. Das hat für die Kosten der Finanzkrise ja auch gut geklappt. Die Risiken sind hier natürlich auch vorhanden, aber angesichts der grundsätzlichen Stärke der deutschen Volkswirtschaft überschaubar. Und zuletzt bliebe natürlich auch die Option, die EZB zu reformieren und die Finanzierung analog zur britischen Notenbank einfach direkt übernehmen zu lassen, aber da wird Deutschland sich sicherlich querstellen (vergleiche Fundstücke 6 und 8).

10) Tweet
Auf die vermehrte Kritik erklärte Laschet zudem noch, Nordrhein-Westfalen sei "das Land der Küchenbauer". In der Zwischenzeit spielt auch Ministerpräsident Kretschmer aus Sachsen auf der vollen Flöte der rechten Identitätspolitik, indem er die besseren Zustände in Deutschland vis-a-vis Italien damit erklärt, dass es eben die deutsche Kultur sei, vorher Pläne zu machen, dann "laufe auch alles wie am Schnürchen". Mir ist etwas unklar, was seine Überlegung hier ist. Er bläst ins gleiche Horn wie Lindner und geriert sich als Gegenpol zur Regierung, aber diese Regierung tut ja was sie kann und genießt gigantische Zustimmungswerte, was man von Laschet nicht eben behaupten kann. Und das Problem ist ja, dass sein Widerstand gegen die Maßnahmen aus Berlin nicht mal sinnvoll ist! Er kritisiert ja nicht irgendwelche Versäumnisse, die er in NRW besser angehen könnte oder die ihm schaden, sondern begehrt einfach nur gegen die Regeln generell auf, für diejenigen Branchen, die ihm Wahlkampfunterstützung geben (wie die Möbelbranche). Da kommt dann solcher gequirlter Mist raus.

11) The Coming Avocado Politics
Unfortunately, as the recent Austrian case illustrates, embracing a catastrophic view of climate risk — including the threat of creating massive numbers of climate refugees and migrants — is unlikely to provoke “progressive” responses on the Right, but rather quite the opposite. In particular, while the rhetoric of “environmental emergency” may inspire efforts to protect broad-based populations, it may also drive hoarding by the powerful and the exclusion of out-groups. In other words, the barriers that people may want to build to adapt to the realities of rising temperatures may include not only seawalls to hold back the rising tides, but also border walls to hold back the flood of humans fleeing the consequences of climate change, restricting economic development opportunities to white people, or perhaps even outright advocacy of genocide. This prospect is what for the last decade I have been calling, less descriptively than predictively, “Avocado Politics”: green on the outside but brown(shirt) at the core. The term is an ironic nod to a moniker used in the 1970s and ’80s to describe the green parties in Western Europe: “Watermelon Politics” — green on the outside, red on the inside. This referenced the fact that many first-generation European Green Party leaders, like Daniel Cohn-Bendit, had been prominent members of the New Left student movements. As a term of derision, “Watermelon Politics” suggested that green and environmentalist themes were little more than an environmentalist repackaging of the same old leftist policies these politicians and their followers had favored earlier for other, more explicitly socialistic, reasons. Avocado Politics is the parallel phenomenon on the Right: just as watermelon politics repackaged the political wish list of the Left on the basis of the environmental crisis, Avocado Politics reiterates the policy agenda of the far right, but now justified on the basis of the environmental crisis. As traditional conservative parties crumble and the far right gains power in many countries, embracing the reality of global warming is likely to be used to provide a powerful new set of justifications for the far-right policy program. Indeed, Avocado Politics is a good example of what people in the scenario-planning business refer to as “an inevitable surprise” — something that seems out of the realm of likelihood right now, a possibility largely off the radar, that in fact is almost certain to happen at some point. (Nils Gilman, The Breakthrough)
Die hier geäußerte Befürchtung ist mit Sicherheit nicht von der Hand zu weisen. Weder zucken autokratische Staaten in der Corona-Krise davor zurück, eine Pandemie zur Mehrung ihrer diktatorischen Befugnisse zu gebrauchen, noch werden sie die Chance verstreichen lassen, eine Klimakrise dazu zu nutzen. Gerade deswegen ist es für Progressive ja auch so eine Priorität, die Klimakrise jetzt zu bekämpfen und nicht, wenn sie mit voller Wucht da ist. Dann wird nämlich die Attraktivität für maximal-invasive Maßnahmen, nationale Alleingänge und Gewalt viel zu groß sein. Das sehen wir ja auch an Corona. Gleichzeitig wird für die Bekämpfung der Klimakrise dieselbe toxische politische Dynamik wie bei Corona auch ablaufen: there is no glory in prevention. Sind die Maßnahmen erfolgreich und verhindern die Katastrophe, dann schreien die Rechten, dass man immer übertrieben hat. Und so würde, wenn die Progressiven tatsächlich a) an die Macht kommen und b) diese Macht dann für entsprechende Maßnahmen nutzen ein Pushback entstehen, gegen den der Unsinn eines Lindners oder Laschets wie eine Traumwelt anmutet - und vielleicht erst recht die Tür zur rechten Diktatur öffnen. Es ist zum Heulen.

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