Montag, 22. April 2019

Rubin-Gewalttäter reformieren das Grundgesetz unter dem Existenzminimum - Vermischtes 22.04.2019

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Retiring as a Judge, Trump’s Sister Ends Court Inquiry Into Her Role in Tax Dodges
President Trump’s older sister, Maryanne Trump Barry, has retired as a federal appellate judge, ending an investigation into whether she violated judicial conduct rules by participating in fraudulent tax schemes with her siblings. The court inquiry stemmed from complaints filed last October, after an investigation by The New York Times found that the Trumps had engaged in dubious tax schemes during the 1990s, including instances of outright fraud, that greatly increased the inherited wealth of Mr. Trump and his siblings. Judge Barry not only benefited financially from most of those tax schemes, The Times found; she was also in a position to influence the actions taken by her family. [...] The family also used the padded invoices to justify higher rent increases in rent-regulated buildings, artificially inflating the rents of thousands of tenants. Former prosecutors told The Times that if the authorities had discovered at the time how the Trumps were using All County, their actions would have warranted a criminal investigation for defrauding tenants, tax fraud and filing false documents. Similarly, Judge Barry benefited from the gross undervaluation of her father’s properties when she and her siblings took ownership of them through a trust, sparing them from paying tens of millions of dollars in taxes, The Times found. For years, she attended regular briefings at her brother’s offices in Trump Tower to hear updates on the real estate portfolio and to collect her share of the profits. When the siblings sold off their father’s empire, between 2004 and 2006, her share of the windfall was $182.5 million, The Times found. (Russ Buettner/Susanne Craig, New York Times)
Es gehört zu den völligen Absurditäten der Trump-Ära, dass ein solcher Skandal praktisch keine Rolle spielt. Allein die Vorstellung, Obamas Schwester wäre in nebulöse Finanzgeschäfte verwickelt, von denen Obama selbst auch profitiert hat, und niemand interessiert sich groß dafür, ist völlig unvorstellbar. Das Ausmaß an kriminellen und halbkriminellen Machenschaften, in das die ganze Familie verwickelt ist, ist im 20. Jahrhundert wenigstens ohne jedes Beispiel. Dass die komplette republikanische Partei diese kriminellen Handlungen deckt und jede Aufklärung verhindert, scheint ebenfalls kaum mehr als eine Fußnote zu sein. Das Ganze ist umso lächerlicher, als dass bis heute beständig darauf verwiesen wird, dass Hillary Clinton ja wegen ihrer zahlreichen Skandale verloren habe. Das ist sicher richtig, aber es konnte überhaupt nur passieren, weil Medien und Wähler willentlich die Augen vor dem Ausmaß von Trumps morastigem Untergrund verschlossen und sich bestenfalls zu fadem Bothsiderismus hinreißen lassen. Während die ganze Nation aufgeregt darüber debattierte, dass Bill Clinton auf dem Flughafen Smalltalk mit der Generalstaatsanwälting betrieben hat, trafen sich Trump und sein Umfeld beständig mit Spionen, Verrätern, Kriminellen und anderem Geschmeiß und profitierten davon, ohne dass es zu ähnlichem Interesse gekommen wäre.

2) Trump’s War on Democracy: An Update
That the effort failed allows us to read the story with two minds. On the one hand, we might conclude that the system worked: The department’s lawyers refused to endorse a transparently illegal scheme, and it has now been exposed in the media by a whistle-blower. On the other hand, the bureaucratic resistance to the administration’s demand was followed by a sweeping purge of the department, one specifically predicated on the refusal of its leadership to violate the law. There is little mystery about Trump’s intent to turn the department into an unalloyed instrument of his agenda. So we are left wondering whether the danger has been thwarted, or whether it yet looms over our heads. Trump’s election inspired a wave of concern, sometimes shading into outright panic, over the stability of the republic. It is fair to say that nothing has yet occurred that would irreversibly impair the democratic character of the state or entrench Trump and his allies in power. In this light, an increasingly smug wave of revisionism has taken hold. [...] The most dire outcomes do not have to be the most probable outcomes in order to legitimately command our attention. We know for sure that whatever Trump’s capabilities, the malevolence of his intentions lies beyond dispute. If Trump does win reelection — a prospect that is close to a coin-flip proposition under current economic conditions — that would place us now barely more than a quarter of the way through his presidency. (Jonathan Chait, New York Magazine)
Der ganze Umgang mit Trump und anderen Populisten, die an den Grundfesten der freiheitlich-demokratischen Grundordnung sägen, ist ein paradoxisches Dilemma. Wenn eine Übernahme der demokratischen Institutionen durch die Populisten verhindert wird, sieht es so aus, als ob das Gesamtsystem stabil und sicher wäre. Das Gleiche haben wir beim Klimawandel: wenn Maßnahmen Erfolg haben, scheinen die Warnungen alle übertreiben und die Maßnahmen sinnlos.
Für die "Relativierer" ist durch dieses Paradox auch noch ein Anreiz gegeben, sich aktiv gegen die "Warner" zu stellen: Man sieht am Ende toll rational und mittig aus und kann mit dem Finger auf die "Hysteriker" zeigen (sieht man ja auch an der Sprache, "Klimahysterie", "AfD-Hysterie" und so weiter) und sich clever fühlen. Sie müssen sich dann nicht die Finger schmutzig und mit dem ideologischen Gegner gemeinsame Sache machen. So können Konservative und Liberale Äquidistanz sowohl von Rechtspopulisten als auch vor Klimaleugnern wahren und können vermeiden, auf derselben Seite eines Arguments mit den Grünen erwischt zu werden. Dadurch gefährden sie zwar das Gesamtsystem, aber das ist ihnen natürlich egal. Viel wichtiger ist es, am Ende Recht gehabt zu haben.

Für Familien mit drei und mehr Kindern wächst in Deutschland seit Jahren das Armutsrisiko. Das zeigt eine Untersuchung im Auftrag des Familienbundes der Katholiken und des Deutschen Familienverbandes, die WELT AM SONNTAG vorliegt. Der Grund ist die Belastung mit Steuern und Abgaben, die selbst für Familien mit einem mittleren Jahreseinkommen zwischen 30.000 bis 50.000 Euro brutto schon relativ hoch ist. Zieht man vom Nettoeinkommen das gesetzlich garantierte Existenzminimum von Eltern und Kindern ab, dann rutschen viele Familien sehr schnell in die roten Zahlen. Der Berechnung zufolge liegt das Einkommen einer Familie, die brutto 35.000 Euro im Jahr verdient und zwei Kinder hat, nach Abzug von Sozialabgaben und Steuern monatlich 232 Euro unter dem Existenzminimum. Im Gesamtjahr summiert sich dieses Minus auf 2779 Euro. Für Familien mit fünf Kindern addiert sich der Fehlbetrag sogar auf stattliche 17.839 Euro, zeigen die Datenreihen der Studie. Dabei sind 35.000 Euro Jahresbruttoeinkommen gar nicht so wenig. Der Durchschnitt in Deutschland lag im vergangenen Jahr bei 35.189 Euro. Trotzdem bleibt nach Steuern und Abgaben offenbar zu wenig übrig. Selbst Familien mit 50.000 Euro Jahresbruttoeinkommen fallen mit mehr als drei Kindern bereits in den roten Bereich. Die Lage der Betroffenen hat sich der Studie zufolge nicht verbessert. Im Gegenteil: Vor fünf Jahren fiel das Jahresminus für Familien mit zwei Kindern und 35.000 Euro Jahreseinkommen noch deutlich niedriger aus, es lag bei 807 Euro. Familien mit fünf Kindern verdienten damals netto 14.391 Euro weniger als das Existenzminium. (Jan Dams, Die Welt)
Das Framing der Welt hier ist sehr merkwürdig. Die vorgebrachte Familie am Existenzminimum zahlt pro Jahr kaum 1800 Euro Steuern. Die "Steuerlast" ist sicherlich nicht der Grund für ihr Problem. Selbst wenn man ihre Steuern auf Null reduzieren würde, entkämen sie ja nicht der Armut. Das Problem sind viel zu niedrige Löhne. Man muss sich immer wieder vor Augen halten, dass der DURCHSCHNITTslohn in Deutschland bei 35k im Jahr liegt. Das ist absurd. Und tatsächlich wird es bei Familien ja noch wesentlich schlimmer. Zwar helfen hier Kinderfreibeträge, aber gerade wenn die Eltern nicht verheiratet sind ist das auch nur ein Tropfen auf heißem Stein. Und ich nehme hier Stefan Pietsch gleich vorweg: das Problem sind natürlich nicht nur die vernachlässigbaren Lohnsteuern, sondern auch die Sozialabgaben. Aber ich bleibe dabei, dass das zentrale Problem schlicht zu niedrige Löhne sind, oder im Falle von Familien zu geringe Transferleistungen.

4) There's a reason why Bernie bros and Trump supporters love Julian Assange equally
The Assange saga is also a window into the scrambled ideological politics of the United States in 2019. The most fierce defenders of Assange come from two seemingly disparate ends of the ideological spectrum. First are the fans of Donald Trump, who understand that the leaks of Hillary Clinton’s emails were a political neutron bomb that exploded under her campaign in the closing weeks, the ultimate oppo drop. Joining them are the American Bernie Bros and the Glenn Greenwald demographic of America-can-do-no-good types who look at anything that weakens US influence in the world as a net positive. American political ideology is no longer a line, but a horseshoe, with the extremes looping toward one another in an asymptotic curve of edge-case crazy. [...] Trump’s loudest media cheerleaders — Sean Hannity, Rush Limbaugh, Breitbart, and others — treated WikiLeaks and Assange as the heroes of the play in 2016. They didn’t care about the Russian provenance of the leaks, only that those leaks were an expedient weapon in their hands. A cursory Google search would have turned up US intelligence and law enforcement community concerns that WikiLeaks was an asset of the Russian intelligence services; it’s not that the Trump team and his supporters didn’t know. They didn’t care. (Rick Wilson, The Independent)
Letztlich sehen wir hier doch nur eine Reproduktion der ideologischen Leitlinien aus dem Kalten Krieg. Hier fand sich die politische Linke auch immer zuverlässig auf Seiten der Sowjetunion. Die Rechtsextremen waren damals nur besser in die breite Schicht des Rechts-von-der-Mitte-Konsens integriert und in Folge marginalisiert als ihre linken Gegenstücke. Es ist ja kein Zufall, dass der Linksterrorismus in diesen Jahren das deutlich größere Problem war, während es sich seit der Wende eher gedreht hat. Heute sind unser Problem nicht mehr K-Gruppen, RAF und SDS, sondern die AfD, der NSU und Konsorten. Aber dieser Wandel braucht seine Zeit. Wenn man sich die ideologischen Konturen im frühen Kalten Krieg ansieht, ist das auch bei weitem noch nicht so übersichtlich wie später. Aber durch den gesamten Konflikt hindurch hatten alle Rechten kein Problem damit, sich hinter hartem Anti-Kommunismus zu vereinigen. Der war ein Bindemittel, das einen breiten Konsens ermöglichte. Seit 1990 ist dieser gemeinsame Feind weggefallen, weswegen die Brüche deutlicher zutagetreten. Und das betrifft eben den zentralen Konflikt in der Außenpolitik aller westlichen Staaten, quasi die Gretchenfrage: sag, wie hältst' du's mit den USA? Die Mitte-Parteien haben sich alle mit mehr oder weniger Enthusiasmus hinter die transatlantische Freundschaft gestellt. Die jeweiligen Ränder taten das nie, nur dass der rechte Rand in der Bonner Republik mit Ausnahme einer kurzen Phase in den 1960er Jahren und ganz zu Beginn keine große Rolle spielte. Mir scheint dieser Überlapp von "Bernie Bros" und der "Glenn-Greenwald-Demographie" mit den Trump-Fans daher nicht sonderlich überraschend. Sie alle lehnen, wenngleich aus völlig unterschiedlichen Gründen, den bisherigen Mitte-Konsens ab. Entsprechend feiern sie auch - aus völlig unterschiedlichen Gründen! - diejenigen, die diesen Konsens ebenfalls attackieren.

5) In dieser Sache trifft es den Falschen
„Niemand steht über dem Gesetz“, erklärte die britische Premierministerin Theresa May. Sie meinte damit aber nicht all jene, gegen die 2010 nach der Wikileaks-Veröffentlichung der Daten über Verbrechen im Irak- und Afghanistan-Krieg hätte ermittelt werden müssen – und nie ermittelt wurde –, sondern Julian Assange. [...] Was Wikileaks geleistet hat, trug wesentlich zur Aufklärung der Öffentlichkeit bei. Genau die gleiche Öffentlichkeit allerdings, die es nicht vermochte, politische Konsequenzen zu erzwingen. Dennoch: Es gibt Informationen, die zu veröffentlichen auch Regelbrüche rechtfertigt. Dafür gehört Julian Assange nicht ins Gefängnis, genauso wenig, wie Chelsea Manning je hätte einsitzen dürfen. Aber ein glaubwürdiger Vorreiter für Transparenz und für die demokratische Kontrolle der Macht ist der Selbstdarsteller Julian Assange ganz sicher nicht oder nicht mehr. Der Prozess über die Auslieferung und, wenn diese denn vollzogen wird, das Verfahren in den Vereinigten Staaten werden ihm noch einmal eine mächtige Bühne bieten. Eine, die er eigentlich heute nicht mehr verdient hat. (Bernd Pickert, taz)
Julian Assange ist vor allem ein erfolgreicher Selbstdarsteller. Er ist kein Journalist und sicherlich kein Märtyrer der Pressefreiheit. Seine Veröffentlichungen waren schon immer sehr selektiv. Assange veröffentlichte nie etwas, das den Feinden des Westens geschadet hätte, und er behielt sehr bewusst Informationen über Trump unterm Deckel. Wäre er prinzipiengetrieben, hätte er diese 2016 auch veröffentlicht. Stattdessen arbeitete Wikileaks konzertiert mit der Trump-Wahlkampfzentrale zusammen. Spätestens da, aber eigentlich schon lange vorher, wurde er zum politischen Akteur. Chelsea Manning gebührt jedenfalls wesentlich mehr Aufmerksamkeit und Bewunderung als ihm, und da haben wir mit seiner, gelinde gesagt, problematischen Vergangenheit noch gar nicht angefangen. Dass ausgerechnet die Trump-Administration nun für seine Inhaftierung verantwortlich sein dürfte, ist eine passende Ironie am Ende dieser Geschichte.

6) Was in der Berliner Bildungsverwaltung alles schiefläuft
Berlins Bildungsressort ist ein Höllenkommando. Dieser Eindruck drängt sich zumindest auf, wenn man sich ansieht, wie es den Schulsenatoren seit der Wende so ging: Egal, wer oben saß – er oder sie landete immer sehr schnell im Umfragekeller. [...] Sogar ein bundespolitisches Schwergewicht wie der hoch angesehene rheinland-pfälzische Wissenschaftsminister und stellvertretende Ministerpräsident Jürgen Zöllner (SPD) – erfahren, analytisch, eloquent – hatte 2006-2011 als Berlins Bildungssenator zu kämpfen: Es gelang ihm zwar, die Hauptschulen abzuschaffen und – trotz der Sparpolitik – eine dreistellige Millionensumme in die Schulsanierung zu stecken, aber die Rückkehr zur Lehrerverbeamtung konnte er gegen den damaligen Senatschef Klaus Wowereit (SPD) nicht durchsetzen. [...] Dass in Berlin manches schlechter läuft als anderswo, zeigt nicht nur der Blick auf Hamburgs Schulbau, Personalrekrutierung und Leistungsverbesserung. Es gibt noch ein anderes aussagekräftiges Kriterium, und zwar die Lehrergesundheit: Die hohe Zahl der Langzeitkranken – rund 800 – beschäftigt die Berliner Schulbehörde seit vielen Jahren, weil sie den Unterrichtsausfall hoch treibt und ungeheure Kosten verursacht. Die Dauerkrankenquote liegt bei 2,45 Prozent, vor einigen Jahren sogar bei vier Prozent. [...] „Die Arbeitszeiterhöhungen aus Wowereits Sparjahren wirken bis heute fort“, ist eine der häufigeren Antworten. Damals hieß es: Mehr arbeiten, weniger verdienen. Wowereits Sparsenator Thilo Sarrazin (SPD) war denn auch der Einzige im Kabinett, der auf dem Beliebtheitstreppchen mitunter noch hinter dem Bildungssenator kam: Die Lehrer haben verinnerlicht, dass sie seither schlechter dastehen als die meisten Kollegen im Bund, dabei aber die mutmaßlich schwierigsten Schüler und marodesten Schulen haben. (Susanne Vieth-Entus, Tagesspiegel)
Einmal mehr Sarrazin. Die ideologiegetriebene Kürzungspolitik, die er - wie viele andere seiner Gesinnungsgenossen auch - mit der Subtilität eines Bulldozers und der Durchdachtheit eines Elefanten im Porzellanladen betrieb, hinterließ die verbrannte Erde völlig verfallender Infrastruktur. Wie viel spart ein Land wirklich, dessen Bildungsergebnisse zuverlässig im unteren Bereich der BRD-Vergleiche landen? In dem massig Stellen unbesetzt bleiben und die Leute wegziehen, so schnell sie können? In denen die Krankenstände permanent bundesweite Rekorde aufstellen? Und klar hatte und hat das Land Finanzprobleme. Aber wenn es einen parteiübergreifenden Konsens gibt, von der LINKEn bis zur FDP, dann der, dass Investitionen in Bildung Investitionen in die Zukunft sind. Ein Land, das mit dem Rasenmäher in diesem Ressort kürzt und den Verfall als Tugend feiert, tut sich mittel- und langfristig sicherlich keinen Gefallen.

7) So lösen wir unser Klimaproblem
Noch eine interessante aktuelle Zahl: 15 Billionen Dollar. So viel würde es einer Studie der Internationalen Agentur für Erneuerbare Energien (Irena) zufolge kosten, um die Welt bis zum Jahr 2050 weitgehend auf erneuerbare Energien umzustellen. 86 Prozent des weltweiten Energieverbrauches würden dann mit Strom aus Sonne, Wind, Erdwärme und Wasserkraft abgedeckt. Das sind etwa 480 Milliarden Dollar pro Jahr. Weltweit. Mehr nicht. 480 Milliarden Dollar Ausgaben für die Wandlung zu einer besseren Welt mit Herstellung und Nutzung von Energie ohne Dreck, Gift und Lärm. Das erscheint besonders wenig, wenn man sich ausmalt, wohin die 111 Milliarden Dollar des Aramco-Gewinns so fließen. In teure Uhren und teure Autos für saudische Prinzen. Zum Beispiel. Aktuell ist nicht zu erwarten, dass Aramco und andere Ölfirmen ihren Gewinn in eine bessere Welt stecken, in der kein Öl mehr verfeuert würde. Wo bekommen wir die 480 Milliarden Dollar pro Jahr also her? Die Antwort ist erstaunlich einfach. Einer Studie des Internationalen Währungsfonds zufolge würde eine Besteuerung von CO2-Emissionen in Höhe von 70 Dollar pro Tonne den G20-Nationen eine Menge Geld einbringen: im Schnitt 1 bis 2,5 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes. Das wären, legt man das aktuelle G20-Bruttoinlandsprodukt von 63 Billionen Dollar zugrunde, zwischen 630 Milliarden und 1,58 Billionen Dollar pro Jahr. Legen wir diese Zahlen noch einmal nebeneinander:
  • 480 Milliarden Dollar pro Jahr bis 2050, um auf 86 Prozent erneuerbare Energien umzustellen, weltweit
  • Mindestens 630 Milliarden pro Jahr zusätzliche Einnahmen durch eine flächendeckende Besteuerung des CO2-Ausstoßes mit 70$/t, allein in den G20-Ländern
Diese Steuer wäre sogar noch niedrig angesetzt: Die realen Schäden, die eine Tonne CO2 verursacht, liegen laut Umweltbundesamt in einer Größenordnung derzeit über 200 Dollar. Die "Fridays for Future"-Demonstranten fordern deshalb eine CO2-Steuer von 180 Euro pro Tonne. Aber mit 70 Dollar pro Tonne wäre schon viel gewonnen. Im Moment tragen diese Kosten wir alle, und unsere Kinder und Enkel. (Christian Stöcker, SpiegelOnline)
Die Besteuerung der Emissionen war einmal eine liberale Idee. Die Übernahme dieser Idee durch die Progressiven hat aber nicht dazu geführt, dass sie eine Annahme in der Breite erfahren würde, weil sich auch die Liberalen dahinterstellen würden. Stattdessen verschoben diese die Ziellinie und sind jetzt auch gegen Emissionsbesteuerung (Klima-Hysterie, wir erinnern uns, Fundstück 2)). Es ist das Obama-Problem. Der hat 2009 auch in der Erwartung, die Spaltung des Landes dadurch überwinden und einen überparteilichen Konsens schmieden zu können, überwiegend konservative policies übernommen. Die Republicans schlugen die ausgestreckte Hand aus parteiegoistischen Motiven aus. Dasselbe haben wir hier auch. Lieber nicht regieren als falsch, und so.

8) Die Schuldenbremse ist nicht zeitgemäß
Die Zinskosten des Bundes liegen seit zehn Jahren unterhalb der Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts. In dieser Konstellation kann Deutschland Anleihen permanent überwälzen und läuft keine Gefahr, auch nur in die Nähe einer Schuldenkrise zu kommen. Zwar könnten die Zinsen auch wieder steigen, etwa wenn die EZB ihre lockere Geldpolitik beendet. Doch nach aktuellen Schätzungen des IW Köln hätte selbst das nur einen vorübergehenden und schwachen Effekt. Denn die Haupttreiber der niedrigen Zinsen liegen anderswo: hohe Ersparnisse einer alternden Gesellschaft bei gleichzeitig niedriger Kapitalnachfrage einer sich digitalisierenden Wirtschaft. Diese strukturellen Faktoren werden sich nicht so bald ändern. Deutschland sollte also nicht stur an der Schuldenbremse festhalten, sondern das Jubiläum zu einer Reform nutzen. Nicht zu einer kompletten Abschaffung. Denn es ist auch weiterhin ratsam, Schuldenfinanzierung von Transfers und Sozialausgaben auszuschließen. Aber bei Zukunftsausgaben und Investitionen ist es anders. Sie sollten in einem separaten bundesstaatlichen Vermögenshaushalt abgerechnet werden, für den Kreditfinanzierung grundsätzlich zulässig ist. Das mag zwar theoretisch den Anreiz für Politiker erzeugen, künftig alles als Investition zu bezeichnen, nur um sich verschulden zu dürfen. Aber würde solcher Etikettenschwindel nicht von den Wählern bestraft? Ist die Verfassung der geeignete Ort, um detaillierte Haushaltsvorschriften zu regeln, nur weil man den gewählten Repräsentanten des Staates nicht über den Weg traut? Ein bisschen Vertrauen in die Funktionsfähigkeit unserer Demokratie täte schon gut; dafür spricht übrigens auch die Geschichte bundesstaatlicher Finanzpolitik in früheren Dekaden. Und in Wirklichkeit steht Deutschland vor ganz anderen Herausforderungen. (Michael Hüther/Jens Suedekum, Süddeutsche Zeitung)
Die Schuldenbremse war noch nie zeitgemäß. Es hat sich ja an der gesamten Ausgabendynamik nichts geändert. Es wurde hier in den Kommentaren ja völlig zurecht darauf verwiesen, dass sowohl Steuereinnahmen als auch Staatsausgaben aktuell Höchststände erreichen. Beides geht wegen der guten gesamtwirtschaftlichen Lage. Die Schuldenbremse hat damit nichts zu tun. Wenn die Wirtschaft wieder in schwieriges Fahrwasser kommt und die Bremse greifen würde, genau dann müsste der Staat ja Geld ausgeben. In der Boomphase, wo eine Beschränkung ja keynesianisch gedacht wesentlich sinnvoller wäre, tut die Schuldenbremse gar nichts. Noch wichtiger ist aber der zweite Teil des Auszugs oben. Die Idee, dass wir eine Regel aufstellen, die die notorisch unzuverlässigen Abgeordneten unter Kontrolle hielte, ist sehr antidemokratisch gedacht. Wenn die Schuldenlage tatsächlich zu problematisch würde, würden die Volksvertreter schon tätig werden. Das hat bisher immer funktioniert. Und umgekehrt zeigt der Schuldenstand der letzten fünfzehn Jahre, dass selbst höhere Schuldenstände recht schnell wieder abgebaut werden können, wenn die Wirtschaft halbwegs gut läuft. Wir sind fast wieder innerhalb der Maastricht-Richtlinien, obwohl die Ausgaben nicht merklich zurückgegangen sind. Wie auch die beständigen Unkenrufe von der Inflation, die angeblich bereits im nächsten Jahr "unser" Erspartes auffressen wird, bewahrheiten sich die Warnungen vor dem Schuldendesaster praktisch nie. Der Grund dafür ist derselbe wie in Fundstück 2 beschrieben: wenn die Lage schlimmer wird, wird etwas dagegen getan.

9) Wie robust ist das Grundgesetz? Ein Gedankenexperiment
In Polen waren weder ein offener Staatsstreich noch eine verfassungsändernde Mehrheit nötig, um eine solch zentrale Institution wie die Verfassungsgerichtsbarkeit aus dem Gefüge der Verfassungsordnung de facto herauszubrechen. Wie robust wäre die deutsche Verfassungsordnung in einem entsprechenden Szenario? Dass es das Bundesverfassungsgericht gibt und in welchen Fällen es aktiv wird, steht direkt im Grundgesetz und ist damit nur mit Zweidrittelmehrheit abänderbar, ebenso dass seine Mitglieder je zur Hälfte von Bundestag und Bundesrat gewählt werden. Aber alles andere, von den Details der Richterwahl bis zum Verfahren, überlässt die Verfassung dem einfachen Gesetzgeber. Das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951 (BVerfGG) legt unter anderem fest, dass das Gericht seinen Sitz in Karlsruhe hat, dass es aus zwei Senaten zu je acht Richtern besteht, dass deren Amtszeit zwölf Jahre und die Altersgrenze 68 beträgt und die Wiederwahl ausgeschlossen ist. Es legt außerdem fest, dass die Richter vom Bundestag und Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit gewählt werden. All das entspringt nicht dem Willen des Verfassungsgebers, sondern dem des einfachen Gesetzgebers. Und der kann sich ändern, wenn sich die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag ändern. Er entsteht in der politischen Auseinandersetzung zwischen Mehrheit und Minderheit. Das bedeutet beispielsweise: Eine einfache Mehrheit im Bundestag wäre befugt dazu, das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit bei der Wahl der Richter einfach aus dem Gesetz zu streichen. Sie könnte die Besetzung der Stellen sich selbst vorbehalten, ohne künftig die Opposition zu beteiligen. Sie könnte auch die Zahl der Richter in den Senaten erhöhen und sich so die Gelegenheit verschaffen, auf einen Schlag eine größere Zahl von Stellen mit eigenen Leuten zu besetzen – ein court packing scheme, wie es Viktor Orbán in Ungarn vorgemacht hat. Schließlich könnte sie die Zahl der Senate von zwei auf drei erhöhen (klagt nicht das Gericht seit Langem über seine zu hohe Arbeitsbelastung?) und sich so erstens die Gelegenheit verschaffen, gleich einen ganzen Senat mit neuen Leuten zu besetzen (die Hälfte davon wäre freilich der Wahl durch den Bundesrat vorbehalten) und zweitens die Geschäftsverteilung zwischen den Senaten auf eine Weise neu zu regeln, die die Gefahr verfassungsgerichtlicher Interventionen beim Umsetzen ihres politischen Programms möglichst minimiert. (Maximilian Steinbeis, BpB)
Die völlige Überbewertung des Bundesverfassungsgerichts als Bremse vor einem Zerfall der Demokratie ist so eine Idiosynkrasie von mir. Man begegnet einer Variante dieses Arguments immer bei der Diskussion über Bundeswehreinsätze im Inneren. Die werden aktuell ja durch das Grundgesetz ausgeschlossen, und die Idee, dass dieses Verbot die entscheidende Schranke wäre, die einen Putsch der Armee gegen den Bundestag aufhalten würde, ist gelinde gesagt absurd. Gleiches gilt für das BVerfG. Die Vorstellung, dass das Gericht im Zweifel irgendetwas tun könnte, um einen Putsch aufzuhalten, ist bemerkenswert naiv. Deswegen ist obiges Gedankenexperiment auch so wertvoll. Es zeigt, wie leicht sich selbst eine so alt-ehrenwerte Institution wie das BVerfG aushebeln lässt. Was unsere Demokratie aufrecht hält ist, dass sich alle Beteiligten an die Spielregeln halten. In dem Moment, in dem das nicht der Fall ist, bricht der Laden auseinander. Darin, und nicht in irgendwelchen policy-Fragen, liegt die Bedeutung des Fernhaltens der Populisten von den Schaltstellen der Macht. Oder glaubt jemand, ein Innenminister der AfD würde sich um einen Richtspruch aus Karlsruhe scheren?

10) A Clinton-era centrist Democrat explains why it’s time to give democratic socialists a chance

Zack Beauchamp

I want to start with your notion of “Rubin Democrats.” What does that mean, exactly? What was the movement you identify with?

Brad DeLong

I would say it’s largely neoliberal, market-oriented, and market-regulation and tuning aimed at social democratic ends. It also involves taking a step in the direction of appeasing conservative priorities. The belief is that if you have a broad coalition behind such policy, it will be much more strongly entrenched in America and much better implemented than if it were implemented by a narrow, largely partisan majority. And Rubin Democrats believe that you should prioritize economic growth. Once you have economic growth, electorates want to become a lot less Grinch-y and less likely to feel that redistribution to the poor is coming out of its hide, making them positively worse-off. Economic growth first, redistribution and beefing up the safety net second.

Zack Beauchamp

What you’re describing is a broad theory of political economy, in which a vision for what economic policies are best is intertwined with a particular view of what makes policies popular and sustainable. You say something about this is wrong — do you think it’s the political part, the economic part, or both?

Brad DeLong

We were certainly wrong, 100 percent, on the politics. Barack Obama rolls into office with Mitt Romney’s health care policy, with John McCain’s climate policy, with Bill Clinton’s tax policy, and George H.W. Bush’s foreign policy. He’s all these things not because the technocrats in his administration think they’re the best possible policies, but because [White House adviser] David Axelrod and company say they poll well. And [Chief of Staff] Rahm Emanuel and company say we’ve got to build bridges to the Republicans. We’ve got to let Republicans amend cap and trade up the wazoo, we’ve got to let Republicans amend the [Affordable Care Act] up the wazoo before it comes up to a final vote, we’ve got to tread very lightly with finance on Dodd-Frank, we have to do a very premature pivot away from recession recovery to “entitlement reform.” All of these with the idea that you would then collect a broad political coalition behind what is, indeed, Mitt Romney’s health care policy and John McCain’s climate policy and George H.W. Bush’s foreign policy. And did George H.W. Bush, did Mitt Romney, did John McCain say a single good word about anything Barack Obama ever did over the course of eight solid years? No, they fucking did not. No allegiance to truth on anything other than the belief that John Boehner, Paul Ryan, and Mitch McConnell are the leaders of the Republican Party, and since they’ve decided on scorched earth, we’re to back them to the hilt. So the politics were completely wrong, and we saw this starting back in the Clinton administration. Today, there’s literally nobody on the right between those frantically accommodating Donald Trump, on the one hand, and us on the other. Except for our brave friends in exile from the Cato Institute now trying to build something in the ruins at the [centrist] Niskanen Center. There’s simply no political place for neoliberals to lead with good policies that make a concession to right-wing concerns. (Zack Beauchamp, vox.com)
Ich bin mir nicht sicher, inwieweit ich der Logik "ich finde Position A doof, aber vielleicht hat sie ja elektoral Erfolg" zustimmen will. Brad deLong hat aber völlig Recht damit - wie ich ja in den vorhergehenden Fundstücken schon thematisiert habe - dass der überparteiliche Ansatz völlig in die Hose gegangen ist. Es gibt schlichtweg keinen Grund, in irgendeiner Art und Weise auf die Republicans zuzugehen (ganz anders ist etwa die Dynamik zwischen SPD, CDU, Grünen und FDP). Die Polarisierung der USA ist so krass, dass die policy ohnehin keine Rolle spielt. Egal welche Position die Democrats im Wahlkampf vertreten, sie wird als krassester sozialistischer Extremismus verzerrt werden. Medicare for All oder eine bescheidene Überarbeitung der Exchanges, es wird keinen Unterschied machen. Und es gibt nicht einmal eine Zielgruppe dafür. Die Mitte ist ohnehin ein Mythos, und je eher die Democrats das einsehen, desto eher werden sie sich aus dieser verhängnisvollen Dynamik emanzipieren können.

11) Männlich, mittelalt, angetrunken: Hassgewalttäter in Sachsen
Anfang der 1990er-Jahre waren rechte Gewalttäter meist jugendlich, männlich, hatten untere oder mittlere Bildungsabschlüsse, kamen aus zerrütteten Familien, waren oft arbeitlos und überwiegend polizeibekannt. Ab 2011 fiel in Sachsen auf, dass die rechten Gewalttäter mit durchschnittlich 27 bis 30 Jahren älter waren und nicht mehr der Gruppe "jugendliche Schläger" zugeordnet werden konnten. In der Hochphase der sogenannten "Flüchtlingskrise" fielen immer wieder ältere Männer mit höherem Bildungsniveau auf. In der Studie heißt es dazu: "Offensichtlich gerieten nun auch Individuen in den Strudel der Radikalisierung, die unter anderen Bedingungen nicht gewalttätig geworden wären." Frauen waren meist nur indirekt an Gewalttaten beteiligt. Sie galten eher als Organisatorinnen und waren im Hintergrund für Logistik oder Motivation zuständig. [...] Zu Beginn der "Flüchtlingskrise" stellten die Extremismusforscher öfter spontane Gewalthandlungen mit "Event-Charakter" fest. Das änderte sich, als immer öfter fest strukturierte Gruppen Gewalt ausübten. Wenn bereits rechte Strukturen existierten, erste Gewalttaten juristisch folgenlos geblieben sind, könnte die Gewalthemmschwelle in kurzer Zeit sinken. Dann müssten nur noch Personen mit Gewalterfahrung und technischem Wissen hinzukommen, dass sich Gruppenmitglieder radikalisierten. Als Beispiele für so eine Spirale nannten die Forscher das Wirken der "Gruppe Freital" oder in den Jahren 2006/2007 auch die Gruppe "Sturm 34" in Mittweida. (MDR)
Ich glaube, dieses Phänomen fällt mit in die Entwicklung, die ich die "Selbstradikalisierung der Rechten" nenne. Was wir aktuell beobachten können ist eine sprunghafte Verschiebung des Overton-Fensters nach rechts, die dazu führt, dass früher unsagbare Positionen rechts der Mitte plötzlich mehrheitsfähig werden. Häufig genug läuft das unter der Ablehnung von "political correctness". Auch das ist glaube ich eine Parallele zu der Radikalisierung in den 1970er Jahren, als plötzlich die Frage "Was würdest du tun, wenn die Meinhoff vor der Tür stehen würde?" kontrovers diskutiert werden konnte, so wie heute die Zeit offensichtlich nichts dabei findet, das Ertrinken-lassen von Flüchtlingen als Pro-Contra-Diskussion aufzumachen.

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