Freitag, 2. August 2019

Wird die Wahl 2020 eine Entscheidung oder ein Referendum?

Ich habe es bisher vermusst vermieden, großartig den amerikanischen Vorwahlkampf zu thematisieren. Dieses frustrierende und erkenntnisfreie Polit-Entertaintment ist eine Betrachtung aktuell nicht über grundsätzliche Untersuchungen hinaus wert, wie sie gelegentlich im Vermischten auftauchen. Stattdessen möchte ich über eine fundamentale Dynamik sprechen, die jeden Wahlkampf in den USA bestimmt: Die Frage, ob die Wahl eine Entscheidung oder ein Referendum darstellt. Jede Seite versucht grundlegend, den ganzen Wahlvorgang auf ihre bevorzugte Option festzulegen. Legt die Sicherheitsgurte an, es folgt eine theoretische Erläuterung.

Die Unterscheidung von choice und referendum wird in der politikwissenschaftlichen Analyse von Präsidentschaftswahlen und bei eher analytisch veranlagten Beobachtern des Prozesses gerne verwendet. Die Idee ist, dass die Wähler die Präsidentschaftswahl grundsätzlich in einer dieser beiden Kategorien begreifen. Beide Seiten versuchen die Wähler dabei davon zu überzeugen, ihrer jeweiligen Sicht auf den Prozess zu folgen. Handelt es sich bei der Wahl um eine choice-Wahl, so entscheiden sich die Wähler zwischen zwei klar voneinander abgegrenzten Alternativen. Handelt es sich um eine referendum-Wahl, so dient der Wahlakt dazu, die Zustimmung zum Amtsinhaber kundzutun.

Wann immer eine Mehrheit der Wähler mit der aktuellen Lage weitgehend zufrieden und der jeweilige Amtsinhaber beliebt ist, versucht das jeweilige Wahlkampfteam üblicherweise, die Wahl als referendum zu gestalten. Diese Art der Wahl wird in Deutschland etwa mustergültig in Adenauers Slogan "Keine Experimente!" destilliert. Es ging dezidiert nicht darum, eine Entscheidung zwischen zwei Alternativen - SPD oder CDU - zur Wahl zu stellen, sondern um die Frage, ob man mit der gegenwärtigen Entwicklung grundsätzlich zufrieden war. Die Antwort der Wähler fiel entscheidend aus. Auch Angela Merkel profitierte immer davon, wenn die Wahl ein referendum darstellte.

Wann immer eine Grundstimmung gegen den Status quo herrscht, wenn eine Seite mit einer klar definierten Alternative aufwartet oder wenn es darum geht, als bedrohlich empfundene Entwicklungen abzuwehren, versucht das jeweilige Wahlkampfteam, die Wahl als eine referendum-Wahl zu definieren. Bei dieser Wahl spielt die Vergangenheit keine Rolle, es geht nur darum, wie man in Zukunft vorgehen will. So vermied etwa Helmut Kohl es bei der Wahl 1990 geschickt, seine bisherig weniger glückliche Regierungsführung zur Wahl zu stellen und bot den frisch wiedervereinigten Deutschen stattdessen eine Wahl zwischen zwei unterschiedlichen Visionen für die neue Bundesrepublik an - mit einem eindeutigen Ergebnis.

Das Problem für jeden Wahlkämpfer ist nun zweigleisig. Einerseits muss ein Wahlkampfteam erst einmal erfolgreich darin sein, die Wahl in die gewünschte Variante zu bugsieren. Das ist nicht ganz leicht, schon allein, weil das andere Team üblicherweise das Gegenteil unternimmt. Zweitens muss ein Wahlkampfteam die richtige Entscheidung treffen. Denn es kommt oft genug vor, dass beide Seiten die gleiche Variante wählen. Und dann liegt eine von beiden üblicherweise falsch.

Sehen wir uns in den USA die letzten Präsidentschaftswahlen an, sowohl im Hinblick darauf, welcher Art der Wahlvorgang war als auch, wie sich die jeweiligen Parteien aufgestellt haben.

2016: choice. Beide Wahlkampfteams verfolgten diametral entgegengesetzte Ansätze. Hillary Clinton tat alles, was in ihrer Macht stand, um die Wahl in eine referndum-Wahl zu verwandeln, also für eine dritte Amtszeit Obama zu kandidieren. Trump dagegen versuchte, die Obama-Zeit so weit wie möglich zu ignorieren und das Ganze zur choice-Wahl zu machen. Die Grundstimmung war ziemlich deutlich: ein referendum würde Clinton klar gewinnen. Es brauchte tausend kleine Schnitte, um die berühmten 77.000 Wähler in drei Staaten dazu zu bringen, eine Entscheidung zu treffen und damit Trumps Wahlstrategie gerade so aufgehen zu lassen.

2012: choice. Romney war ein relativ unpopulärer Kandidat mit einer sehr unpopulären Plattform. Seine Wahlkampfstrategie war es, die ganze Wahl zu einem referendum über die Obama-Ära zu machen. Angesichts der nicht besonders beeindruckenden Beliebtheitsraten und Wirtschaftsentwicklung 2011/2012 war das der richtige Plan. Nur war das auch Obama und seinem Wahlkampfteam klar. Ihre überlegene Wahlkampforganisation sorgte dafür, dass 2012 eine choice-Wahl wurde - und in der unterlag Romney deutlich.

2008: referendum. Der Schatten der Bush-Ära hing von Beginn an über dem gesamten Wahlkampf und machte den Sieg eines Democrats - jeden Democrats - zur wahrscheinlichsten Option. John McCains einzige Chance bestand darin, sich komplett von Bush und der GOP zu emanzipieren und noch radikalere Alternative als Obama wahrgenommen zu werden. Dieser Versuch ging elendig unter und bescherte uns den Aufstieg von Sarah Palin und den Rechtsextremisten in der GOP.

2004: referendum. Beide Seiten waren 2004 der Überzeugung, eine referendum-Wahl zu gewinnen. Bushs Zustimmungswerte waren mies, der Irakkrieg war in der Krise und die Wirtschaft auch nicht im besten Zustand. Bush siegte vor allem deswegen, weil ihm und seinem Wahlkampfteam die komplette Demontage des Gegenkandidaten John Kerry gelang - und demgegenüber die Weiterführung in bewährten Händen dann doch besser aussah.

2000: choice. Spannend ist hier dass, anders als 2016, beide Seiten eine choice-Wahl herbeiführen wollten. Ähnlich wie John McCain 2008 sah Al Gore seine Chancen in einer Emanzipierung von Bill Clinton höher als in einer "dritten Amtszeit" Clintons. Wo McCain jedoch Recht hatte, lag Gore falsch. Clintons Zustimmungswerte waren 2000 deutlich höher als von praktisch allen Beobachtern vorhergesagt, während Gore es nicht schaffte, sich selbst als eine tolle Alternative darzustellen. Demgegenüber war Bushs Versprechen eines "compassionate conservatism" sehr attraktiv.

1996: referendum. Die Präsidentschaftswahl 1996 ist faszinierend vor allem deshalb, weil die republikanische Seite sie schon währenddessen praktisch verloren gab. Von Anfang an hatten beide Seiten auf eine referendum-Wahl gesetzt. Die Republicans hatten angesichts ihrer eigenen Ideenlosigkeit in jener Ära wenig andere Wahl, und Clinton ritt voll auf der Welle einen guten Wirtschaft und zentristischer Positionierung.

1992: choice. Die einknickende Wirtschaftsentwicklung und die Unzufriedenheit der rechten Basis mit Bushs pragmatischem Regierungsstil öffnete Clinton die Möglichkeit, sich junge Alternative zu präsentieren und mit einer Betonung auf modernes Wirtschaften und die Belange der Mittelschicht den amtierenden Präsidenten abzulösen. Bush dagegen, der versucht hatte mit einer Betonung von Erfahrung und Stabilität zu punkten, verlor.

1988: referendum. Bush trat 1988 als Erbe Reagans an, der das Amt mit zwar nicht besonders hohen, aber ordentlichen Beliebtheitswerten verließ. Bush gewann die Wahl weniger aufgrund seiner eigenen Stärke oder Reagans durchschlagendem Erfolg als in der Schwäche seiner Kandidaten. Wie 2004 gelang es den republikanischen Strategen, den Gegenkandidaten - Michael Dukakis in diesem Fall - völlig zu zerlegen.

1984: referendum. Reagan setzte alles daran, die sich nach dem Abbruch seiner radikalen Experimente 1983 im Aufschwung befindliche US-Wirtschaft und die nach Aufgabe der krassesten Rhetorik entspannende außenpolitische Lage in eine referendum-Wahl umzumünzen. Unter dem Slogan "Morning in America" demontierte er die ideenlose demokratische Konkurrenz unter Walter Mondale vollständig.

1980: choice. Entstand die moderne demokratische Partei 1992 unter Bill Clinton, so entstand die moderne GOP wohl im Wahlkampf 1980 unter Ronald Reagan, der einen krassen Gegensatz zum amtierenden Präsidenten Jimmy Carter zog und eine konservative Revolution versprach. Unter dem Eindruck von Krisen in Wirtschaft, Gesellschaft und Außenpolitik entschied sich die Mehrheit der Wähler für einen radikalen Schnitt mit dem Status Quo.

Warum ist diese Unterscheidung relevant? Jedes Wahlkampfteam muss eine Grundsatzentscheidung treffen, welche Art Wahl sie mit ihrem jeweiligen Kandidaten bzw. der jeweiligen Kandidatin ansteuern kann. Dazu muss es zu einer Grundsatzentscheidung darüber kommen, gegenüber welcher Art Wahl der jeweilige Gegner besonders verwundbar ist. Diese Entscheidung ist nicht immer offensichtlich.

Bezüglich 2020 gibt es widerstreitende Interpretationen. Für Donald Trump ist die Sache klar. Er strebt eine Neuauflage von 2016 an und will die Wahl zu einer choice-Wahl gestalten. Sein Kalkül ist offenkundig: Er gewann 2016 mit einer Minderheit der Stimmen und hat auch 2020 keine große Chance, eine Mehrheit für sich zu gewinnen. Deswegen braucht er - erneut wie 2016 - eine hochgradig mobilisierte Basis. Eine Basis aber lässt sich nicht mit einem referendum mobilisieren, sondern benötigt ein Feindbild, gegen das sie in Stellung gebracht werden kann. Quasi eine Hillary Clinton 2020. Gelänge es Trump, seinen Gegner entweder als gesellschaftspolitisches Schreckgespenst darzustellen wie 2016 oder aber als sozialistische Bedrohung zu inszenieren, könnte er damit seine Koalition beisammenhalten und gerade genug Leute in der Mitte davon abbringen, gegen ihn ihr Kreuz bei einem Democrat zu machen.

Ob dieses Kalkül aufgeht oder nicht ist völlig unklar. Es ist aber offenkundig die Strategie, die er und sein Wahlkampfteam verfolgen. Es ist vermutlich fair festzustellen, dass er von seinem Wesen und Temperament überhaupt nicht in der Lage ist, eine andere Form des Wahlkampfs zu betreiben. Auf der anderen Seite liegt ihm diese Form aber. Wenn Trump ein politisches Talent hat, dann das Mobilisieren der Basis und das Dämonisieren des Gegners.

Demgegenüber gilt es unter Beobachtern der Szene als common wisdom, dass Trump bei einer referendum-Wahl - Stand jetzt - keine Chance hätte. Seine Beliebtheitswerte sind konstant unter 45%. Die unentschiedenen Wähler widert er an. Die großen Maßnahmen der Regierung - die Sabotage Obamacares, die Steuergeschenke für die Superreichen, die Konzentrationslager an der Grenze - sind überragend unpopulär.

Das macht aber die Entscheidung für die Democrats nicht leichter. Denn ein Kandidat wie Bernie Sanders ode Elizabeth Warren ist nicht gerade geeignet, eine referendum-Wahl anzuführen. Sie stehen ja nicht für eine Rückkehr zum Status quo ante, sondern für eine radikal andere Vision von Amerika. Sie würden Trump in jedem Fall die choice-Wahl geben, die er sich wünscht.

Das heißt aber nicht, dass sie deswegen weniger Chancen hätten als Kandidaten, die per default eine referendum-Wahl produzieren würden. Denn die These von Kandidaten wie Sanders und Warren ist ja gerade, dass die amerikanische Bevölkerung 2016 den Wandel wollte und ihn immer noch will, aber von Trumps Wandel-Versuchen enttäuscht ist. Haben sie damit Recht, sind sie die bestgeeigneten Kandidaten, um es mit ihm aufzunehmen. Haben sie aber nicht Recht, würden sie Trump seine zweite Amtszeit bescheren.

Umgekehrt steht ein Kandidat wie Joe Biden mit seiner ganzen Vergangenheit, seiner Identität und seiner Plattform für eine Rückkehr zur "Normalität" der Obama-Ära. Würde er der Kandidat der Democrats werden, so versuchten diese sicherlich, die Wahl in ein referendum zu verwandeln. Die Wette auf die Stimmung des Elektorats ist hier, dass die Leute eben keinen grundlegenden Wandel wollen, sondern lediglich eine Rückkehr in normale, friedliche Verhältnisse. Hat er damit Recht, erlebte Trump 2020 eine krachende Niederlage. Läge er falsch, würde er von einer weiteren Anti-Establishment-Kampagne aus dem Wasser gefegt.

Ich habe auf dieses Dilemma keine Antwort. Ein Großteil der gerade stattfindenden primaries der Democrats dreht sich im Endeffekt darum, welche dieser beiden Theorien richtig ist. Und die Wählerschaft ist offenkundig gespalten. Warren und Sanders vereinen ungefähr ebensoviele Stimmen auf sich wie Joe Biden. Eine klare Mehrheit in der Partei für Wandel oder für Kontinuität gibt es (noch) nicht.

Umgekehrt hat sich die GOP festgelegt. Sie will den Radikalisierungskurs fortsetzen, mit Trump an der Spitze, komme was wolle. Sie hat wenig andere Alternativen. Trump mag kein sonderlich effektiver Präsident oder sicherer Amtsinhaber zu sein, aber es ist der einzige, den sie haben, und ihre Basis bestraft (noch) jede Abweichung.

Angesichts der hohen Polarisierung spielen zwei Faktoren die entscheidende Rolle. Die erste ist die Mobilisierung der Basis. Gelingt es den Democrats, ihre Basis zu mobilisieren, gewinnen sie. Das hat man 2018 deutlich gesehen. Gelingt ihnen das nicht, wiederholt sich wahrscheinlich 2016. Das zweite ist die Demobilisierung der gemäßigten Ränder:

Wenn die rechte Mitte nicht erneut auf Trumps Narrativ anspringt, dass es um die Verhinderung schlimmer linksradikaler Entwicklungen geht (choice), sorgen seine miesen Beliebtheitswerte dafür, dass sie daheimbleiben (referendum).

Wenn die linke Mitte der Überzeugung ist, dass der Kandidat der Democrats dem aktuellen Präsidenten vorzuziehen ist (referendum), werden sie zur Wahl gehen, auch wenn sie den Kandidaten nicht zu 100% unterstützen - und damit die demokratische Version der Dynamik von 2016 aufbieten. Sind sie der Überzeugung, dass die Partei in ihren Forderungen zu weit geht, werden sie zuhause bleiben (choice).

Jedoch: Eine Garantie für den Wahlausgang ist beides nicht. Denn ein radikaler Kandidat der Democrats kann die Basis so gut mobilisieren, dass die Demobilisierung der gemäßigten Mitte gutgemacht wird. Und Trump kann es gelingen, so viele seiner Anhänger an die Wahlurnen zu treiben, dass seine eigenen Verluste auf diesem Feld bedeutungslos bleiben.

Jeder Kandidat wettet gerade darauf, dass seine bzw. ihre Analyse dieser Dynamiken sich am Ende als die richtige herausstellen wird. Aktuell wissen wir aber nicht, welche sich als korrekt herausstellen wird. Wir können ebenfalls nur Schätzungen abgeben und darüber diskutieren, welcher Kandidat die besten Chancen hat (electability). Aber das ist letztlich abhängig von unseren eigenen Präferenzen.

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